Milwaukee

Um 1865, als Mathilde Franziska Anneke sich endgültig in Milwaukee niederließ, war die Stadt kaum dreißig Jahre alt. In dieser für die Geschichte einer Siedlung kurzen Zeit war aus dem ehemaligen Indianerdorf eine wirtschaftlich und kulturell blühende Stadt geworden.[1] Eine Beschreibung von 1852 lautet: »Milwaukee liegt in einer schönen Gegend. Es liegt am Einfluß des Milwaukee Rivers in den See; die linke und rechte Seite dieses Flusses ist 3 1/2 Meilen lang mit Häusern, zum Teil mit Palästen besät, von beiden Seiten mit ziemlich hohen Bergen begrenzt, von wo aus man eine schöne Aussicht auf die Stadt und eine herrliche Fernsicht auf den See hat. Ein anderer Teil der Stadt liegt am Menommonee River, einem kleinen Flusse. Die größten Schiffe können auf dem Milwaukee bis in das Herz der Stadt fahren.«[2]
Das Klima Milwaukees ist allerdings nicht gerade als ideal zu bezeichnen. Was Mathilde Anneke darüber bemerkte, trifft nicht nur für ein vereinzeltes Jahr zu:

  • Schon fliegen uns die Schneeflocken durch die Straßen, der Winter ist ernstlich eingekehrt, und für den langen Gast im fernen Nordwesten bereitet man sich vor, so gut es eben Ort und Gelegenheit erlauben. Von dem Sommer, weder dem frühen »zivilisierten« noch von dem verspäteten »indianischen« ist es der Mühe wert zu sprechen, so schlecht und unmanierlich hatten sie sich angetan. Der erste glänzte durch ein abscheulich regnerisches Gebaren, die ganze lange Zeit hindurch, verdarb uns alle Freude an Ernte und Erntetanz, und der letzte war wahrlich so kalt und bleich in seinem Sonnenglanz, daß man von ihm nichts lieber tut als schweigen. Den Winter nennt man nach all den Täuschungen, die Frühling, Sommer und Herbst bereiteten, am guten Ende »die beste Jahreszeit«. Nun ja, wir bundeln uns auf, so viel wie möglich, verstopfen Fenster und Türen, die uns die Architektur am Rande des Urwaldes offenherzig, wie ein schlechtes Gewissen gelassen hat, zünden die ewigen Öfen, die als »morning glory« durch unsere trübe Winternacht unausgesetzt scheinen, mit den durch die segensreiche Kohlenspekulation zur grausigen Höhe teuer hinaufgeschraubten »chestnuts« an und freuen uns unseres Lebens und all der Verheißungen, die uns erfüllt und nicht erfüllt werden sollen am nordwestlichen Himmel unseres Daseins. Eins ist und bleibt uns gewiß: das ist eine glänzende Schlittenbahn, auf der die möglichste Eleganz mit obligatem musikalischem Glockengeläute einen Corso einläutet, der den Pariser Longchamps Ehre machen dürfte. Die Springstraße unserer Stadt eignet sich in ihrer stattlichen Breite und mit ihrem glatten hölzernen Pflaster, dem sogenannten Nicholsenschen, herrlich zu solchen Galafahrten.

Wie kaum ein anderer Ort in den Vereinigten Staaten bildete Milwaukee einen Anziehungspunkt für einwandernde Deutsche. Es war eine Stadt, wo die deutsche Sprache für Geschäftsleute und freie Berufe eine unumgängliche Notwendigkeit war. »Die mächtig emporstrebenden Brauereien, der enorme Lederhandel Milwaukees und mit ihm die Schuhfabriken, der Wagenbau, zum großen Teil die Eisenwerke, der Handel mit Schmucksachen und Juwelen, alle diese Geschäftszweige lagen fast ausschließlich in deutschen Händen, und unwillig wandte sich mancher Yankee von Wisconsin ab, wo die ihm nicht sympathischen Deutschen eine so hervorragende Rolle spielten.«[3] Die deutsche Presse war führend in der Zahl ihrer Publikationen wie in der Zahl ihrer Leserschaft. Und so lesen wir in dem Bericht eines Deutsch-Amerikaners: »Milwaukee war der einzige Ort, wo ich es fand, daß sich die Amerikaner mit dem Deutschlernen abgeben und deutsche Sprache und Sitte ein wenig mehr Fuß zu fassen sich erkühnte. Sie finden Wirtshäuser und Bierkeller und Billiards und Kegelbahnen, sowie deutsches Bier, was sie alles hierzulande nicht häufig finden können. Der Dutchman (so heißen die Amerikaner spottweise die Deutschen) spielt hier eine selbständigere Rolle - hat Bälle und Conzerte und Theater - natürlich gegen Deutschland nicht zu vergleichen-und brachte es sogar dazu, daß die Gesetze deutsch gedruckt wurden. Er wirft bei den politischen Wahlen ein starkes Gewicht in die Waage. So viel finden Sie dem Deutschen nirgends zugestanden als eben in Wisconsin...«[4]
Kulturelle, politische und gesellige Vereine erschienen schon in den späten vierziger Jahren, und die daraus resultierende Struktur des städtischen Lebens gewann der Stadt den Namen »Deutsch-Athen«. 1849 wurde der Musikverein gegründet; 1850 fand die erste deutsche Theatervorstellung statt, was bald zur Gründung eines ständigen Theaters und zu Opernvorstellungen führte und Milwaukee als Musikzentrum bekannt machte. In den zahllosen deutschen Biergärten erklang deutsche Musik und deutscher Gesang, es gab Turner-, Schützen-, Sänger- und Schwabenfeste mit Paraden und Blechmusik. Durch ein halbes Jahrhundert brachte das deutsche Theater in Milwaukee die besten europäischen Produktionen in diese Stadt5. Im Jahre 1863 schreibt Mathilde Anneke aus der Schweiz, daß das Züricher Theater gar wohl einen Gast aus Milwaukee zur Verbesserung seines Ensembles beziehen könnte.
Um diese Zeit und bis zum Ende des Jahrhunderts lebten die Deutschen Milwaukees in einer fast geschlossenen Siedlungsgemeinschaft, die etwa ein Drittel der Stadt Milwaukee ausmachte.
Das Leben in der Gemeinde war aber nicht einfach eine Nachahmung der Lebensweise, wie sie in der Alten Welt geführt wurde, sondern stellte eine Angleichung an wesentlich verschiedene Umstände geographischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Natur dar. Das war den Milwaukiern jener Zeit durchaus bewußt, die sich nicht mehr als Deutsche fühlten und über Deutschland sagten: »Wir Amerikaner passen nicht mehr hin.«[6] Diese in sich geschlossene deutsche Gemeinde war groß genug, um nicht nur ständische und wirtschaftliche, sondern auch religiöse und politische Gruppierungen zu gestatten. Katholiken, Protestanten und Freisinnige, Demokraten und Republikaner, Radikale und Konservative, alle bildeten ihre eigenen Kreise. Auch in Mathilde Franziska Annekes Briefen zeichnen sich Freundschaften und Feindschaften in einem relativ kleinen Kreise ab, obwohl sie als Theaterkritikerin und Lehrerin einer größeren Zahl von Menschen begegnete als die durchschnittliche deutsche Hausfrau Milwaukees.
Die Deutschen konnten sich in der Siedlungsgemeinschaft nicht nur ihre Sitten und Gebräuche, sondern auch ihre Sprache erhalten. Und so sprach auch Mathilde Anneke immer und überall nur deutsch. Aus ihrem Zusammenleben mit Mary Booth erwarb sie sich lediglich ein paar Brocken Englisch, die sie, wie die meisten Einwanderer, in ihr Deutsch mischte. Mary Booth hatte bei ihr und in der Schweiz mehr Deutsch gelernt als Mathilde in all den Jahren ihres Amerika-Aufenthaltes Englisch. Sie hatte durchaus kein Sprachentalent und keine »Sprachkenntnisse«, wie Schulte meint,[7] jedenfalls nicht im Sinne einer fehlerfreien flüssigen Konversation. Auch in Paris klagte sie über ihre Unfähigkeit, die fremde Sprache zu erlernen: Ich kann aus meinem Urdeutsch nicht heraus (Paris, Febr. 1865).
Sicherlich war Mathilde Annekes Unkenntnis des Englischen ein gewisses Handikap für sie, wodurch sie sich den Englisch sprechenden Amerikanern gegenüber unsicher fühlte. Das hinderte sie jedoch niemals daran, mit ihnen Freundschaften zu schließen, wie dies am Beispiel von Mary Booth besonders deutlich wird, aber auch an ihren Verbindungen mit den vielen amerikanischen Frauenrechtlerinnen. Man muß bedenken - und das wird heute immer wieder versäumt -, daß die Vereinigten Staaten vom Tage ihrer Gründung an bis heute durchaus keine einsprachige und ethnisch einheitliche Gesellschaft darstellen und die englische Sprache nicht unbedingt dazugehört, um sich als Amerikaner zu fühlen.
Die moderne Forschung kann heute, im Rückblick auf eine abgeschlossene Entwicklung, den Assimilierungsprozeß verfolgen, der Deutsch-Athen, das deutsche Milwaukee, zum Milwaukee des 20. Jahrhunderts verwandelt hat. Immer noch sieht man deutsche Gesichter, aber selten hört man ein deutsches Wort, obwohl noch eine deutsche Presse existiert, die ihre Abnehmer haben muß. Von dem Deutsch-Athen sind nur noch Namen geblieben; man sieht sie überall an Warenhäusern und Geschäften, Schildern von Ärzten und Advokaten.
Milwaukee ist heute eine schöne, moderne Stadt mit unleugbar europäischem Charakter. Breite, saubere Straßen durchziehen das Stadtzentrum, wo im Sommer Platzkonzerte stattfinden. Hübsche, wohlerhaltene alte Villen stehen in kleinen Gärten dicht neben modernen Bauten. Allerdings muß vieles, wie überall, dem sogenannten Fortschritt weichen, so daß großangelegte Wohnkomplexe und Bürobauten mehr und mehr das Stadtbild beherrschen. Reizend ist die Gegend am Seeufer, wo sich weite Parkanlagen dehnen, fast bis hinauf zu dem ehemaligen Ausflugsort der Lüddemanns, wohin Mathilde Anneke so oft ihre Spazierfahrten machte. Sie liebte diese Gegend sehr und schreibt einmal an Fritz Anneke: Du warst wohl noch niemals hier an der Bay, d. h. der nördlichen Rundung derselben? Es führt ein schöner Waldweg unmittelbar längs dem See dahin. Dieser blaue See und der herbstliche Wald, welche Pracht! (3 . Oktober 1870). Die Schönheit der Stadt und die Geschichte Milwaukees haben Mathilde Franziska Anneke stets fasziniert, und sie widmet sich diesem Gegenstand in einer Skizze unter dem Titel »Heimwärts«.

HEIMWÄRTS

  • Ein Wagen brachte uns rasch zum Hafen, wo die stolze Iowa uns mit ihren rauchenden Schloten erwartete. Kapitän Jones empfing uns mit der Höflichkeit eines alten Seemannes und war uns behilflich, die vom Land zum Schiff herüberführende bewegliche Brücke zu passieren. In dem großen Salon des schwimmenden Palastes herrschte all jener Komfort und Luxus, mit welchem die Amerikaner des Nordwestens sich zu umgeben gewöhnt sind. Unsere Kojen waren geräumig und elegant, die Betten einladend und schimmernd in weißlinne-nen Bezügen und weichen Angoradecken. Gleich nach unserer Ankunft an Bord gab der Kapitän das Kommando zur Ausfahrt, und nach einigen weiten majestätischen Schwenkungen hatten wir das glänzende Panorama der weiß strahlenden Stadt, der Königin des Westens - Cincinatti und Chicago eifern mit ihr um die Krone - vor unseren Blicken ausgebreitet... Mit ungeheurer Eilfertigkeit durchschnitt der Kiel unseres stolzen Dampfers die hochwogenden Fluten des alten Michigan, und auf der Höhe des Sees beinahe angelangt, hatten wir noch einmal die volle Aussicht auf die schöne Hügelstadt, die in ihrem eigentümlichen Marmorweiß und im Glänze der Sonne ihre weiten Strahlen rings umher warf. Ich habe einen großen Teil der nordamerikanischen Staaten nach allen Richtungen südlich und östlich durchreist, aber es ist wahr, keine Stadt habe ich gesehen, die eine lieblichere und imposantere Aussicht zugleich böte als Milwaukee.
    Kaum zwanzig Jahre mögen dahingerollt sein, als der erste weiße Mann seinen Schritt nach diesem Hügelufer lenkte und zaghaft seinen Fuß in das kleine indianische Dorf setzte, an dessen Stelle sich jetzt die glänzende »white stone city« ausgebreitet hat. Schon damals, als die »roten Männer« hier noch weilten, wurde der Platz von ihnen »Manawaukie« genannt. Man leitete diesen Namen von der Wurzel her, die, weil die Indianer ihr große Heilkräfte zutrauten und sehr aromatisch war, zu medizinischen Zwecken gebraucht wurde und die auf keiner anderen Stelle ringsumher zu finden war. Diese Wurzel hieß Manwau, und so bezeichnet die Zusammensetzung der Silben Manawaukie in der indianischen Sprache nichts wie »reiches Land des Manwau«. Die Indianer schilderten diese Pflanze, soweit ihre Kenntnis reichte, als eine Wurzel, die sonst nirgends wuchs. Dieselbe wurde unter ihnen für sehr heilkräftig erachtet, und die Chippewas am Lake Superior pflegten für ein Stück davon, so groß wie der Finger eines Mannes, ein Biberfell zu geben. Es war keine eigentliche Medizin, vielmehr nur ein schönes Aroma, was sie in fast alle Arzneien mengten, die sie innerlich nahmen. Das Weib Juneaus, des Gründers des heutigen Milwaukie, und einer der ältesten französischen Händler, war die Tochter eines angesehenen Indianerstammes, hochbegabt in der medizinischen Kunst. Sie wurde durch die Wurzel des Manwau häufig veranlaßt, nach dem Hügel Milwaukie zu steuern und sich mit Vorräten zu versehen. Diese Expeditionen, die sie später in Begleitung ihres Mannes, eines jungen Franzosen, der sich der amerikanischen Pelzkompagnie angeschlossen hatte und das Herz dieser klugen roten Maid erobert hatte, führten zur Gründung der heutigen Stadt Milwaukie. Salamon Juneau und sein junges Weib erfreuten sich der Gunst und Gastfreundschaft Onau-ga-sie's vom Stamme der Menomonen, oberster Häuptling des Ortes. Er war ein freundlicher und würdevoller Indianer, ungleich den meisten seines Milwaukie-Stammes, die als unwirsch und schwer zu leiten betrachtet wurden. Von allen jungen Pelzhändlern französischer Abkunft, die sich damals von Canada herüberwagten, war Juneau vielleicht der einzige, der durch seine freundschaftlichen Beziehungen dauernde Handelsverbindungen anzuknüpfen geeignet war. Er schloß darauf bald Verträge mit den Eingeborenen und erhandelte von ihnen einen großen Teil des Grundbesitzes, darauf die weit ausgelegte Stadt sich heute ausdehnt. Sein Haus, welches in der Division-Street steht, war das erste, welches ein weißer Mann zwischen den Hütten des indianischen Dorfes erbaute. Er lebte darin mit seiner indianischen Frau, die er mit aller Zärtlichkeit liebte und die mit der ihr angeborenen Klugheit bald die Würde und Hoheit einer neuen Stammesmutter bekundete. Umgeben mit einem gewissen Komfort, den ihr die Zivilisation des Gatten und seine Verbindungen in der Handelswelt um sie her zu bereiten vermochten, verschmähte sie nur dasjenige, was in einem zu großen Widerspruch mit ihren natürlichen Gewohnheiten und den Sitten ihres Volkes erschien. Wenn sie sich Mutter fühlte und die Stunde ihrer Niederkunft herannahte, so verschwand sie gleich ihren Schwestern in der Wildnis. Sie floh in das dichteste Dickicht, gebar ihr Kind, eilte zum Quell, es zu baden, und erschien bald nach der Geburt mit demselben, reich beglückt in ihren feinen Gemächern. Sie war auf die ansehnliche Zahl von 22 Kindern gekommen, davon sich die jüngeren aber nicht mehr des Ruhmes, im Wald geboren zu sein, erfreuen konnten. Man hatte sie beredet, von ihrer alten Gewohnheit abzustehen und ihre in späteren Jahren zu erwartenden Kinder mit Hilfe von eingeführten Hebammenkünsten zu gebären. Sie klagte zu Freunden von mir, die mit ihr einigen Umgang pflegten, nicht selten über ihre schlecht angebrachte Nachgebigkeit, und daß sie mit allen Beschwerden der Zivilisation, mit übermäßigen Geburtswehen und wie die Wehen noch alle heißen mögen, seitdem befallen worden sei, von welchen sie bei ihrem ersten Dutzend Kindern nichts geahnt und gekannt habe. Sie starb vor einigen Jahren. Ihr Gatte folgte ihr nicht gar lange darauf zur größten Wehklage aller Hinterbliebenen der roten Stämme von Wisconsin, denen er ein Helfer und Ratgeber stets gewesen war, und den sie verehrten wie einen, den ihnen der große Geist gesandt hatte zum Heile. Sie achteten ihn höher als den Präsidenten in Washington und nannten ihn den großen Vater der roten Kinder. Er starb in Town Juneau, einer kleinen Stadt, die wie die ganze County, darin sie liegt, nach ihm benannt wurde. Als die Indianer von seinem Hinscheiden gehört, kamen sie herbei aus allen Wäldern und Gegenden. Sie kamen in so großer Zahl, daß man heute noch nicht begreift, woher sie alle kamen und wie die Botschaft sie so eilig auf ihren Pfaden erreichen konnte. Sie kamen, um sich an die Bahre des großen Vaters zu setzen, ihre Totengebräuche zu verrichten, und, vor allem, ihren klagenden Totengesang zu halten. Niemals soll sich eine größere Trauer unter dem Volk der amerikanischen Wildnis kundgegeben haben. Als sich die Angehörigen anschickten, den Leichnam in die Gruft zu bringen, wollten sie nicht gestatten, daß man ihn nur anrühre. Keines der Bleichgesichter sollte es wagen, ihren großen Vater fortzunehmen. Nur dem ältesten Sohn, an den sie tagereisenweit Trauerboten gesandt, wollten sie ihn übergeben. Als dieser ankam und der Bestattung nichts mehr im Wege war, folgten sie der Leiche in tiefer Vermummung, einer nach dem andern, Männer, Frauen und Kinder. Der Trauerzug war meilenlang, und an dem Grab noch hörten sie nicht auf, getreulich Totenwacht zu halten, wie es ihre Sitten erheischen bei dem Todesfälle eines Ersten der Häuptlinge. Als die Wächter, welche die Ältesten des Stammes waren, Abschied nahmen, um in das Dunkel der Wälder vielleicht auf immer zu verschwinden, ließen sie sich von den Bewohnern der Gegend, in welcher der Totenhügel aufgetürmt ist, das Gelübde geben, jedes Jahr an dem Todestage des großen Vaters die vorgeschriebenen Speisen auf das Grab zu setzen. Daß das Gelübde von den Bleichgesichtern gehalten wird, dafür sorgt schon die Furcht vor den Indianern, die als rächende Furien erscheinen würden, wenn es gebrochen würde. Am ersten Jahrestage nach dem Tode erinnerte eine alte Frau an das den Indianern gegebene Versprechen und sorgte dafür, daß Bohnen, Mais und Pork zum Totenmahl hinausgesetzt würden. Kaum waren die Vorbereitungen gemacht, als gerade zur Hintertüre drei Indianer schweigend eintraten, sich dem Herd näherten und unverwandt in die Flammen stierten, die die Gefäße mit ihrem Inhalt umleckten. Als dieselben endlich an den Ort der Bestimmung getragen wurden, sah man die roten Männer ebenso schweigend und stumm, wie sie gekommen, wieder ihres Weges ziehen. Seit jenem Jahre wird zeitig Sorge getragen für die Bereitung des Mahles, welches der Tote, wie sie glauben, für das Fortleben seines unsichtbaren Daseins bedarf. Seither sah man die roten Männer nicht mehr und sie, wie der Schlummernde, haben Ruhe.
    Nach und nach verschwand Milwaukie uns aus dem Auge, und bald auch war die Südspitze des Landes, die weit in unser kleines Meer hineinreicht, nicht mehr sichtbar. Das Gewässer wurde blauer und blauer, und die weißen Segel der Schooner und kleineren Fahrzeuge stachen wie blendendes Schneegefieder von dem wundersam gefärbten Wellengrunde ab. Es war schwer, sich von diesem zauberhaften Anblick zu trennen, aber dennoch zogen wir uns von dem Verdeck in den Salon zurück...[8]

Als Mathilde Franziska Anneke »heimwärts« - nun in entgegengesetzter Richtung - zog, hatte sich in den Vereinigten Staaten politisch eine grundlegende Veränderung vollzogen. Nach Lincolns Ermordung rückte der Vizepräsident Andrew Johnson in die erste Stelle im Weißen Haus auf. Er bemühte sich, den von Lincoln vorgezeichneten Plan im Wiederaufbau der Staaten sowie in der Normalisierung der Verhältnisse zu den Südstaaten zu verwirklichen. Seine erste und wesentlichste Forderung war, daß die Südstaaten das 13. Amendment zur Konstitution ratifizierten, das der Kongreß am 1. Februar 1865, noch vor dem Zusammenbruch der Rebellion erlassen hatte und das die Aufhebung aller Sklaverei zum Inhalt hat. Die Radikalen, die die Mehrheit im Kongreß darstellten, waren aber mit den auf Mäßigung und Konzilianz ausgerichteten weiteren Maßnahmen des Präsidenten den Südstaaten gegenüber nicht einverstanden. Zwischen Kongreß und Präsident baute sich allmählich ein Gegensatz auf, der beinahe dazu führte, daß der Präsident abgesetzt wurde. Erstaunlicherweise stellte sich Fritz Anneke in seinen Briefen auf seiten Johnsons, auf Seiten der Mäßigung, gegen die Regierung der »Radikalen«, zu denen damals auch Carl Schurz gehörte. Ob Fritz Annekes Ansichten auf objektiver Beurteilung oder auf Opposition zu Carl Schurz beruhten, wird sich nicht feststellen lassen. Er sprach sich aber auch positiv für die Regierung Bismarcks aus - sehr im Gegensatz zu Mathilde -, wozu er sich zehn Jahre vorher wahrscheinlich nicht hätte entschließen können. Fritz Anneke lebte um diese Zeit in St. Louis, wo er bei deutschen Zeitungen als Journalist tätig war. Im Jahre 1869 übersiedelte er nach Chicago und schrieb dort für die Illinois Volkszeitung, gab kurz darauf den Zeitungsberuf auf und verwaltete hinfort die »Deutsche Gesellschaft«, welche neu ankommende deutsche Einwanderer betreute.
Aus Mathilde Annekes Briefen und Tagebuch-Eintragungen zu schließen, war die Rückkehr nach den Vereinigten Staaten für sie eine Entscheidung, die ihr wesentlich schwerer fiel als ihr Umzug in die Schweiz. Diesen hatte sie als eine kurzfristige, ja angenehme Unterbrechung ihres um jene Zeit noch ungefestigten Daseins betrachtet. In der Schweiz aber hatte sie sich daran gewöhnt, selbständig und unabhängig in jeder Hinsicht zu sein. Auch emotionell standen sich die beiden Eheleute vor dem Schweizer Aufenthalt näher als nachher. Nun war eine vierjährige Entwöhnung, wenn nicht Entfremdung eingetreten. Mathilde schrieb in ihren Briefen an Fritz vielerlei aus Ärger, schlechter Laune, wohl auch ihrer häufigen Krankheiten wegen, was nicht immer ernst gemeint war. Eines scheint jedoch seine Richtigkeit gehabt zu haben, daß sie nämlich wegen ihrer sterbenskranken Mutter zurückkehrte, die sie noch einmal sehen wollte. Es ist fraglich, ob sie ohne diesen Beweggrund in die Vereinigten Staaten und zu Fritz zurückgekommen wäre. So beginnt sie ihr Tagebuch des Jahres 1865 mit der Niederschrift eines Gedichtes, das ihre zwiespältigen Empfindungen zum Ausdruck bringt:

Herz, mein Herz, sei nicht beklommen
Und ertrage Dein Geschick
Neuer Frühling giebt zurück,
Was der Winter dir genommen.
Und wie viel ist dir geblieben!
Und wie schön ist noch die Welt!
Und, mein Herz, was dir gefällt,
Alles, alles darfst du lieben!
HEINE

5. Mai Marys Todeskunde in Mathilde Krieges Brief vom 3. Mai. 6. Belletristisches Journal vom 21. April mit schwarzem Rande - Marys - Lincolns Tod.
11. Juni (in Paris): In der Kunstausstellung mit den Kindern, Cilly und Frau v. Hohenhausen.
2. Juli: mit den Kindern bei der Gräfin (Hatzfeldt) zum Kaffee.
Abgereist von Paris 18. Juli. Mittags in Havre, abends 7 Uhr mit dem kleinen Dampfer nach Southhampton. Morgens 6 Uhr in Southhampton.
Verlassen den Strand mit dem Boot des Norddeutschen Lloyd, »New York«, morgens 10 Uhr des 19. Juli.
25. Juli: Die Tage der Betrübnis auf dem Schiffe sind vorüber. Die Sonne beleuchtet das Meer zauberhaft. Windstille. Himmlische Bläue strahlt die Flut wider und die Sonnenstrahlen stecken tausend Lichtchen und Lämpchen in der Tiefe an. Ich weine meine erste Träne - ich weine sie Dir nach.

Fritz Anneke
an Mathilde   
St. Louis, am 27. Juli 1865

... Ich begrüße Dich und Percy und Hertha und Cäcilie auf amerikanischem Boden. Ich setze voraus, daß Ihr am 31. Juli oder 1. August in New York oder viel mehr in Hoboken, wo die Bremer und Hamburger jetzt landen (angekommen seid), ungefähr um dieselbe Zeit, um die der atlantische Telegraph uns die ersten direkten Botschaften von Europa bringen wird ...
Von Milwaukee habe ich kürzlich Nachricht. Emma schreibt, daß Deine Mutter, die sie zum ersten Mal sah und deren Leiden sie zu Tränen rührte, Dich sehnsüchtig erwartet. Mein Freund Karl ist seit 14 Tagen wieder auf Reisen und wird noch über eine Woche ausbleiben; daß er mit seiner Emmy gleich nach der Heirat zu seinen Eltern nach Salt City reiste, weißt Du.
Von mir weiß ich Dir nicht viel zu sagen. Ich bin noch beim Anzeiger, habe viel zu tun und stehe mit Herrn Dänzer nicht auf besonders gutem Fuße. Bleibe aber natürlich, weil ich keinen anderen Erwerb weiß. Zurückgelegt habe ich jetzt $ 150. Einen letzten Brief aus Europa werde ich von Dir wohl nicht mehr bekommen, der, den ich vor etwa 14 Tagen bekam, war vom 23. Juni.
Dänzer wird in etwa acht Tagen eine Reise von 10 bis 14 Tagen nach Milwaukee machen. Während der Zeit kann ich natürlich von hier nicht fortkommen. Nach seiner Rückkehr jedoch werde ich mich auf 8 bis 14 Tage freimachen können. Bis dahin, denke ich, werdet Ihr in Milwaukee sein, und ich werde dann keine Zeit versäumen, in Deine Arme zu eilen und unsere lieben Kinder ans Herz zu drücken.

Mathilde
an Fritz Anneke
Im Hause des alten Freundes Kurth
New York, den 2. August 8865

Mein lieber Fritz!
Soeben habe ich Deinen ersten Gruß auf amerikanischem Boden empfangen. Die Schiffsliste wird Dir so schnell, als der Telegraph gekonnt, die glückliche Landung am Montag berichtet haben. Kurth und Fanny standen am Ufer und winkten uns entgegen. Erst gegen abends zogen wir - nachdem die ersten Kämpfe mit Duane und Expreß für die zehn Ballen unseres beweglichen Eigentums durchgeschlagen waren - in die schmutzigen Straßen von New York ein, geführt vom Lehrer Kurth nach seinem gastlichen Hause hin. Der gute Mann tat und bot, was er vermochte. Er ist seit einigen Monaten Witwer, hat aber immer noch die alte Frau Pleßmann als Haushälterin. Er selbst ist Lehrer und hat sein gutes Auskommen. Er hatte uns seine Zimmer eingeräumt, und ich habe seine herzliche Gastlichkeit für die Tage unseres Hierseins gern angenommen.
Gestern eilte ich zuerst nach Newark, um bei der armen Fanny und ihren vier Kinderchen zu sein. Über ihr Los habe ich nur Tränen. Ich will schweigen, aber es ist mehr als entsetzlich. Die Kinder sind allerliebst. Hertha ist mit Tillychen sehr glücklich. Percy gießt sein ganzes Herz voll Liebe über seine Fanny aus. Paul ist in Kuba. Er hat sich dem Trunk ergeben und die hilflose Familie preisgegeben. Mir schwindelt es vor diesem Chaos von Unglück. Aber ich werde den Mut schon wieder zusammenraffen.
Von Johanna fand ich einen lieben Brief vor. Deiner traf eben bei Lexow ein. Bei der Criminalzeitung hoffe ich den Betrag in Empfang zu nehmen (100 Dollar), der ausreicht, um uns mit dem vielen Gepäck nach dem Westen zu befördern. Cäcilie ist heute von Kapps mit Beschlag belegt. Sie war gestern mit uns in Newark. Sie verläßt mich nicht, am wenigsten da, wo ich nahe verzweifle. Ich glaube, daß man sie deshalb auch nicht hier abhalten kann, mit mir nach dem Westen zu gehen. Unsere Existenz ist wiederum eine sehr in Frage gestellte. Deine in St. Louis war für mich nie Vertrauen erweckend. Lexow hat mich zu einer Besprechung auf Freitag sehr dringend laden lassen. Man ist ungemein zuvorkommend zu mir auf dem Office. Es wird sehr beklagt, daß ich von meinem Korrespondenzposten abgetreten bin. Ich glaube, es ist der Augenblick gekommen, den ich zu benutzen habe. Es fehlt dem Journal eine Kraft, die niemand besser als ich bieten könnte. Die Verbreitung des Blattes wächst. An Mitteln fehlt es ihm nicht. Wenn das Unglück nicht gleich wieder einem in so krasser Weise herzzerfleischend entgegenträte, man hätte jetzt vielleicht gut zu wählen ...
Ich denke von hier Montag oder Dienstag abzureisen. Ein Abstecher von Utica nach Peterboro zu Gerrit Smith wird wohl nicht ausführbar sein. Von Marys letzten Augenblicken manches Wehmütige. Von dem Lillychen keine Spur. Ich ginge gern zu dem Grabe meiner toten ewig geliebten Freundin. Die Nachrichten von Mutter sind sehr betrübend. Ich bin dennoch glücklich, sie noch am Leben zu finden.
Lebewohl, lieber Fritz, ich werde Dir vielleicht von hier noch einmal schreiben. Fanny läßt Dich herzlich grüßen. Sie habe Dir nach Lansing geschrieben, behauptet sie. Deine Briefe haben sie angetroffen, als sie der schweren Entbindung ihres letzten kleinen Mädchens unterworfen war. Ach Gott, ihr trauriges Schicksal. Was soll ich machen? - Kurth sendet Dir die treuesten Freundschaftsversicherungen. Lebe wohl und vergiß nur nicht
Deine Mathilde

Mathilde
an Fritz Anneke
Im Hause von Johanna Giesler-Weißkirch  
gleich nach derAnkunft in Milwaukee,
August 1865

Deinen zweiten lieben Brief empfing ich, da ich beschäftigt war mit unserer Abreise von New York. Die Schwierigkeiten der Landung und Wiederabreise überstiegen alle anderen der Seereise. Die Kosten waren immense und erschöpften alle meine Ersparnisse. Ich habe allein $ 39 für Umfrachten zu zahlen gehabt.
Hier mit aller Liebe von Weißkirch empfangen, fühlen wir wieder ein wenig wie Heimatluft. Wir kamen gestern morgen im Hafen von Milwaukee an. Dich fanden wir nicht. Ich vermute, daß Dänzer noch nicht zurückgekehrt ist und Du noch gefesselt bist. In Hartford war ich nicht. Mit blutendem Herzen ging ich vorüber, wo meine arme Mary ruht. Aber wo sie starb, wo sie die letzten Tage ihres Lebens noch kämpfte und litt, sah ich.
Eine Beteiligung an Cäciliens geplantem Institut ist für Dich, wie auch für mich unmöglich. Cäcilie ist durchaus nicht frei von religiösen Vorurteilen. Ich kann deshalb leben - aber nicht wirken mit ihr. Über die hiesigen Verhältnisse kann ich noch nichts sagen. Was die Zukunft bringen wird - ich weiß es nicht. Meine Kräfte will ich treulich einsetzen. Mit dem Belletristischen Journal habe ich ein neues Verhältnis abgeschlossen. Wenn ich gesund und fleißig bin, so habe ich etwas Erwerb daran. Für ein Stuttgarter Blatt, Die Lyra, schreib ich. Ich habe den Wunsch, meinen dreibändigen Roman hier zu vollenden.
Unsere Kinder werden allerliebst gefunden. Wir haben ein allerliebstes Familienfest, die Großmutter unter 12 Enkeln und Urenkeln.
Ich bin sehr müde, aber ich beeile mich, unsere glückliche Ankunft so schnell wie möglich mitzuteilen. Laß uns bald wissen, wann wir Dich erwarten können.

Fritz Anneke
an Mathilde   
St. Louis, am 1. Oktober 1865

Meine liebe Mathilde,
Meinen letzten Brief vom 24. September mit $ 25, denke ich, wirst Du erhalten haben. Vor 2 Tagen schrieb ich an Percy ...
Ich habe dieser Tage viel daran gedacht, daß ich doch's Hertale einmal bei mir haben möchte und auch Percy, solange es jetzt möglich ist, daß wir ganz beisammen sind. Dich? Du willst ja nicht mehr bei mir sein. Du hast wieder eine Freundin, die Marys Stelle eingenommen hat, die Dir näher steht als ich. Ich sage nichts dagegen, bist Du glücklich, so bin ich zufrieden. Es tut mir leid, daß ich Hertale nicht mitgenommen habe, als ich von Milwaukee fortging. So wäre sie hier noch in eine schöne Zeit gekommen und hätte die herrlichsten Pfirsiche in Hülle und Fülle genießen können. Ich habe davon nie so viel gegessen als in diesem Herbst.
Zu Weihnachten, denke ich, komme ich wieder zu Euch, damit wir das Bescherungsfest zum ersten Mal seit 5 Jahren wieder zusammen feiern können. Bei Hertale ist Geburtstag und bei meinem kann ich leider nicht in Eurer Mitte sein.
Mit Dänzer stehe ich jetzt sehr gut. Seit dem großen Konflikt, der sich um seine Zensur und um die Neger und Rebellenfrage drehte, ist nichts wieder zwischen uns vorgefallen. Eine Differenz besteht in diesen Fragen immer noch zwischen uns. Aber er ist nicht mehr schroff wie früher und viel nachgiebiger. In der Rekonstruktionspolitik und der Staatspolitik von Missouri bin ich ganz mit ihm einverstanden. Präsident Johnson hat den einzigen vernünftigen Weg gegen den Süden eingeschlagen. Er zeigt ihnen, daß sie gezwungen werden können, wenn's Not tut, bringt sie aber durch Milde, durch freundliches Entgegenkommen, durch Vergeben und Vergessen am schnellsten zur Zusammenarbeit.

Mathilde
an Fritz Anneke
Milwaukee, 7. Oktober 1865

Deine kühnen Voraussetzungen haben mich traurig gemacht. Ich sehe, wie wenig Du mich kennst. Wie solltest Du auch! Von meinem inneren Leben weißt Du nichts. Ich glaube auch nicht, daß Du Dich jemals dafür interessiert hast. Unser Gedankenaustausch - wenn jemals unser Briefwechsel ein solcher genannt werden kann - ist so karg geworden in den letzten Jahren, daß nicht selten meine heißen Tränen auf die kalten Zeilen niedergefallen sind. Du hast Deinen Freund, Deine Freundin - ich habe die meine verloren. Wie Mary habe ich kaum jemanden lieb gehabt, werde niemals wieder jemand lieb haben. - Aber wofür das sagen.
Ich habe genau Maß gehalten nach dem, was Du mir geboten hast. Deine kargen Zeilen habe ich mit getreuen Erzählungen von der Entwicklung unserer Kinder, ihrer Erziehung, unseren äußeren Verhältnissen begegnet. Ich bin zu stolz geworden, meine Liebe aufzudrängen, ich bin zu anspruchslos, Liebe zu fordern, wo ich selbst keine mehr geben kann. Ich bin übers Weltmeer wieder herübergekommen, um meine Mutter und meine arme Fanny wiederzusehen, um in Deiner Nähe mit unsern Kindern sein zu können. Sind die Verhältnisse augenblicklich nicht so zu bezwingen, daß dies erfüllt werden kann, so ist's nicht meine Schuld. Du wirst mir zugestehen müssen, daß ich mit allen Kräften mich eingelegt habe, um zu einem anständigen Lebensverhältnis zu gelangen. Entbehrungen aller Art trug ich zu lange, um die Hände in den Schoß zu legen und am Steuer meines Lebens müßig zu stehen. Die gründliche Ausbildung unserer Kleinen ist der Lohn aller Mühe. Ich denke über die allernächste Zukunft nicht einmal nach, sondern ergehe fieberhaft in eifrigen Arbeiten. Ich dachte, Du würdest mich loben in meiner Handlungsweise. Ich wünschte, Dir vor allem zu gefallen mit dem, was ich tue.

Sonntag abend:
Wir haben heute einen langen Spaziergang zu einem Bauernhäuschen im Wald am See gemacht. Ach, es war so schön da. Wir tranken Kaffee, und die Kinder, deren wir viele bei uns hatten, jubelten und jauchzten vor Glückseligkeit.

Die zwanzig Jahre, die Mathilde Franziska Anneke in Milwaukee lebte, widmete sie völlig ihrem Beruf sowie ihren kulturellen und sozialpolitischen Bestrebungen. Obwohl sie später zwischendurch immer wieder zur Feder griff, war es in den ersten Jahren ihrer Rückkehr nach Milwaukee vor allem die Schule, der sie sich mit aller Energie zuwandte und in der sie die Grundlage für ihre weitere Zukunft erblickte. Sie konnte sich nun der Unterstützung ihrer Kinder erfreuen, obwohl Percy in seiner wiederholten Auflehnung gegen die Hausordnung eines Mädchenpensionates noch einige Probleme bereitete. Er hatte seine theoretische Ausbildung abgeschlossen und war ins Berufsleben eingetreten. Hertha half tüchtig in Schule und Haus mit.
Für die Begründung einer deutschen Schule in Milwaukee boten sich gute Voraussetzungen. Die öffentlichen Schulen waren den freidenkenden Deutschen der Stadt nicht genehm. Während sie sie in der Theorie bejahten, lehnten sie sie aus praktischen Gründen ab, weil sie keinen Deutschunterricht boten, zu wenig »Gegenstände« lehrten und auf geistlosem, mechanischem Auswendiglernen beruhten. Die Deutschen wollten für ihre Kinder nichts weniger, als sie selbst zu Hause gelernt hatten. [9]
Mathilde Franziska Anneke und Cäcilie Kapp konnten daher mit guten Aussichten auf Erfolg an ihr Werk gehen. Zunächst wurde die Schule unter dem Namen »Mädchenerziehungsanstalt von Cäcilie Kapp« gegründet. Cäcilie war Direktrice und für die akademischen Belange zuständig. Mathilde sorgte für Küche und Haus und lehrte die Abc-Schützen. Laut Hertha Anneke soll Mathilde in der Haushaltführung sehr praktisch und sparsam gewesen sein. Die Mahlzeiten waren immer gut und reichlich, denn sie wandte unglaubliche Sorgfalt und Wirtschaftlichkeit in deren Bereitung an. Mit Pferd und Wagen fuhr sie zu dem mehrere Meilen entfernten Schlachthaus, um Fleisch in größeren Mengen zu kaufen. Das wurde dann gesalzen, gewürzt und gepökelt. Sauerkraut und anderes Gemüse wurden in dem kühlen Keller eingewintert. Junibutter, welche Mathilde für die beste hielt, wurde in großen, hölzernen Fässern gekauft, mit Salz bedeckt und bis zum folgenden Frühjahr gehalten. Für gewöhnlich hatte sie nur ein Dienstmädchen, obwohl die Schule immer sechs bis neun interne Zöglinge hatte10. Von den zwei Frauen hatte eigentlich nur Cäcilie eine akademische und pädagogische...  Ausbildung....  Cäcilie,...  deren...  Eltern...  in...  der Schweiz eine Schule mit Pensionat geführt hatten, wird auch zu Hause diesbezüglich viel gelernt haben. Mathilde war jedoch stets bestrebt, ihre Kenntnisse zu erweitern. So wird sie sich auch in der Zusammenarbeit mit Cäcilie vieles angeeignet haben. Obwohl sie eine tüchtige Hausfrau war, wollte sie nicht nur an den Haushalt gebunden bleiben und weiter die untergeordnete Rolle spielen, die ihr in diesem ersten Jahre zugewiesen war. Auch andere Probleme ergaben sich, wie wir aus ihren Briefen an Fritz Anneke erfahren. So kam es bald zu Unstimmigkeiten mit Cäcilie Kapp. Es war für beide Seiten eine günstige Lösung, als Cilly eine Professur am Vassar College angeboten wurde. Sie blieb 1866 aber noch in Milwaukee, pflegte Mathilde in ihrer neuerlichen Erkrankung, führte alle Vorbereitungen für das kommende Schuljahr aus und verließ zu Beginn des Jahres 18 67 Milwaukee. Sie blieb Mathilde bis zum Ende ihrer Tage treu ergeben. Oft verbrachte sie ihre Ferien in Milwaukee, um Mathilde in der Schulhaltung zu unterstützen, und nicht selten sprang sie auch in Zeiten finanzieller Not ein. Ihre Briefe an Mathilde zeugen von der innigen Zärtlichkeit, die sie für die Freundin empfand. Aber auch in dieser Freundschaft trübte Mathildes Eifersucht für einige Zeit das Verhältnis. Als Cäcilie im Alter von 50 Jahren einen Herrn Precht heiratete, war Mathilde verstimmt und beantwortete keinen der Briefe, die Cäcilie an sie schrieb. Mathilde war der Meinung - so erzählt Hertha Anneke -, daß man weder sehr jung noch sehr alt heiraten solle. Und so hüllte sie sich für längere Zeit in Schweigen. Cäcilie aber gab nicht auf und hielt den Briefverkehr aufrecht. Bei Fritz Annekes tödlichem Unfall im Jahre 1872 nahm Mathilde ihren Trost und ihre Unterstützung dankbar an.
Die Grundlage, die Cäcilie Kapp für die Schule in Milwaukee gelegt hatte, und das Beispiel, das sie damit für Mathilde gesetzt hatte, waren für die Zukunft der Schule von Bedeutung. Das akademische Niveau, Auswahl und Anzahl der Fächer beruhten auf dem deutschen System, das die Deutschen in Milwaukee für ihre Kinder wünschten und das auch anspruchsvolle Amerikaner schätzten. Auf dieser Basis arbeitete Mathilde fort, nachdem es nun, nach Cillys Abgang, »ihre« Schule geworden war, die sie 18 Jahre lang als Milwaukee Töchter-Institut oder Milwaukee German-English Academy leitete. Sie scheint ein pädagogisches Naturtalent gewesen zu sein, das unbelastet von der Theorie neue Ideen entwickelte und erfolgreich praktizierte. So schreibt eine ehemalige Schülerin 50 Jahre, nachdem »Madam Anneke« das Szepter bereits niedergelegt hatte, daß die Methoden Mathilde Annekes noch um diese Zeit in vieler Beziehung als modern bezeichnet werden könnten. Mathilde Anneke war aber auch stets bereit, Anregungen anzunehmen und Neues hinzuzulernen. So lernte sie einige Fröbelsche Methoden von ihrer alten Freundin Mathilde Kriege, die in Boston einen Fröbelschen Kindergarten leitete. Die Anneke-Schule gewann sehr bald großes Ansehen. An einem Herbsttag sollen zwölf oder 13 Schülerinnen, Absolventen der viel größeren und bekannteren Engelmann-Akademie, zu ihr gekommen sein, um sich in der Anneke-Schule den letzten Schliff geben zu lassen. Insgesamt gesehen blieb aber die Zahl der Schüler klein. Der zahlenmäßig höchste Stand belief sich auf 65. Der Unterricht wurde auf deutsch gegeben. Lehrer, die an der Anstalt unterrichteten, bezogen nur ein sehr kleines Gehalt, weil das Prestige, an dieser Schule zu lehren, für die niedrigen Einkünfte entschädigte. Einer Tagebuch-Eintragung zufolge erteilte der bekannte Maler Vianden Zeichenunterricht, während die Sängerin Madam Jacobi Gesangsunterricht gab. Für die Fächer Englisch, Französisch, Latein, Zeichnen, Musik etc. waren drei oder vier Lehrer angestellt. Mathilde Anneke selbst unterrichtete Deutsch, Literatur, Geographie, Geologie, Mythologie, Ästhetik, Schreiben, Lesen, war Schulvorsteherin und sorgte für den Haushalt. Eltern und Schüler sparten nicht mit anerkennenden Worten:

Mathilde Franziska Anneke
Milwaukee, Wis.
MILWAUKEE TÖCHTER-INSTITUT
(German French English Academy)

Die unterzeichnete Vorsteherin des Milwaukee Töchter Instituts hat es sich zur Aufgabe gemacht, durch liebevolle Erziehung und gründlichen Unterricht den ihr anvertrauten Töchtern eine möglichst harmonische Ausbildung zu Theil werden zu lassen.

  • Mit einer Tagesschule, die sowohl von amerikanischen wie deutschen Töchtern besucht wird, ist für auswärtige Zöglinge ein Pensionat vorhanden, das den Charakter eines Familienlebens trägt, darin neben einigem Streben nach praktischer Bildung strenge Sittlichkeit, deutsche Einfachheit und Gemüthlichkeit vorwalten. Es wird für das körperliche Wohlsein der Pflegetöchter ebenso wie für ihre geistige Entwicklung die größte Sorgfalt getragen und Nichts unberücksichtigt gelassen, das häusliche Leben heimisch sowie das Studium interessant und angenehm zu machen.
    Der Unterricht, welcher von der Vorsteherin geleitet wird und der die vorzüglichsten Lehrkräfte zur Seite stehen, umfaßt die deutsche und englische Sprache, deren Grammatik, Aufsatz-Übungen, Literatur und Conversation. Die französische Sprache wird ebenfalls gelehrt. Auf Welt- und Kulturgeschichte, sowie auf geographische, naturwissenschaftliche und arithmetische Fächer wird besonderer Fleiß verwendet und große Aufmerksamkeit dem Zeichnen, der Musik und Rhetorik, sowie auch den weiblichen Handarbeiten gewidmet.
    Der Pensionsbetrag ist für eine Pflegetochter auf $ 350.-festgestellt, vorauszuzahlen in folgenden Raten: $ 166.66 beim Eintritt, 166.66 am 15. Dezember und 166.66 am 15. März.
    Die Zahlungsbedingungen für die Tagesschüler sind: in der ersten Klasse $ 75.- jährlich, in der I Klasse $ 60-, in der III. Klasse $ 45.-.
    Musikunterricht muß extra honoriert werden.
    Jede Pensionärin hat ihr eigenes Bettzeug (Decken, Kissen, Bettwäsche), Handtücher und Servietten, sowie das übliche Besteck, Serviettenband und Trinkbecher mitzubringen.
    Wäsche wird außerhalb dem Institut für ein Billiges besorgt.
    Das Schuljahr beginnt mit dem 15. September und schließt Ende Juni. Neue Zöglinge werden jederzeit aufgenommen.
    Mathilde Franziska Anneke,
    Milwaukee, Wis.«

Trotz ihres Erfolgs als Lehrerin, trotz der äußersten Sparsamkeit im Hauswesen, konnte sich Mathilde Franziska Anneke vorerst nicht von ihren Geldnöten befreien. Fritz Anneke scheint gelegentlich, sicher jedoch nicht regelmäßig zum Unterhalt beigetragen zu haben. Er hatte niemals eine sichere Stelle und wechselte wiederholte Male seinen Arbeitsplatz. Man wird nicht fehl gehen anzunehmen, daß seine Situation durch seinen eigenartigen Charakter bedingt war. Oft versuchte er, auch Mathilde von ihren fest gesetzten Zielen abzubringen. Aber Mathilde war klug genug zu erkennen, daß Erfolg nur durch Beständigkeit errungen werden kann. Und letzten Endes hat sich dies bei ihr auch bewährt. Nur dauerte es seine Zeit, bis ihr Werk endlich Zinsen trug. Auf vielerlei Weise versuchte sie, zusätzlich etwas Geld zu verdienen. Sie gab Privatstunden, hielt Vorträge, schrieb auch wieder ab und zu und wurde schließlich sogar Versicherungsagent. Die getreue Cilly unterzeichnete die erste Police. Auch im Malen versuchte sie sich. Sie soll auf flache Steine farbige Bilder gemalt haben, die ihr Mann in St. Louis in Souvenirgeschäften verkaufte. Aus ihren Briefen an Fritz Anneke im Jahre 1868 erfahren wir, daß sich damals schon eine Gruppe von Eltern zu einem Verein »Levana« zusammengeschlossen hatte, um die Schule auf eine finanziell gesunde Grundlage zu stellen. Einige Jahre später entstand ein neuer Schulverein, denn anstelle der »Levana« wird nun der Verein »Hera« genannt. Und es scheint, daß dieser mit größerem Erfolg auftrat. Verschiedene Zeitungsnotizen berichten über die Gründung des Vereins und über allerlei Programme, die zugunsten des Vereins in den öffentlichen Sälen und Theatern Milwaukees stattfanden.

Mathilde
an Fritz Anneke   
Milwankee, Sept. 1965

Mein lieber Fritz!
Unsere beiden letzten Briefe haben sich gekreuzt. Der deinige brachte mir wieder eine kräftige Beisteuer von 25 Dollar, wofür wir Dir alle recht herzlich danken. Heute benutze ich die ersten freien Minuten, um Dir einmal wieder Nachricht von uns zu geben. Als ich Dir zuletzt schrieb, erfreute ich mich auch der Hilfe eines guten, eben eingewanderten Mädchens. Am zweiten Tag bekam sie eine Art Ruhr und verließ mich wieder. Da war ich wieder acht Tage unter den schwierigsten Umständen allein. Erst am achten trat mein weit vom Lande her verschriebenes Mädchen ein. Sie gefällt mir recht gut. Jetzt könnte ich auch das erste wieder bekommen. Wie schwierig aber und sorgenvoll die ersten Tage waren, urn so mehr als wir stündlich unsere ersten Pensionärinnen erwarteten, das kannst Du Dir denken. Es war ja eine Lebensfrage für unser Unternehmen, die mit Schweißtropfen gelöst sein wollte. Montag abends traf meine Gehilfin ein und Mittwoch morgens unsere erste Pflegetochter, ein liebes, erwachsenes Mädchen. Der Preis der Pension vierteljährig wurde vom Vater gleich erlegt. Er schien eine recht gute Meinung von uns und dem Institut zuhaben, in der er gewiß nicht getäuscht werden soll. Eine zweite Pensionärin würde auch schon hi er sein, wenn deren Mutter nicht krank geworden wäre. Sie soll bald eintreffen. Außerdem sind wir mit noch drei anderen in Unterhandlung. Die Klassenschule wird bis Oktober mit mehreren Rekruten aufgefüllt sein.

Das größte, was heute erledigt wurde, ist der Ankauf eines neuen, schönen Klaviers. Herr Helmstedt hat mir das Vertrauen geschenkt, nachdem ich eine Anzahlung von 50 Dollar machte, mir das Instrument für 350 Dollar in monatlicher Abtragung von jeweils 50 Dollar zu belassen. Heute nachmittags nimmt unsere Ida die ersten Stunden darauf. Es hat einen schönen Ton und ist eine Zierde im Hause. Auf unsere Möbel zahlte ich schon 50 Dollar ab. Der Betrag der Miete für den Monat Oktober liegt fertig und außerdem noch eine Barschaft. Wir werden gut durchkommen, ich zweifle nicht - wenn wir kein Malheur haben. Der Schulunterricht nimmt seinen festen Fortgang.
Unsere Kinder sind furchtbar fleißig. Von Familienleben und gemeinschaftlichem Ausgang hat bei dem Übermaß von Anstrengungen keine Rede sein können. Ich empfand die Hitze beim Kochofen entsetzlich. Es war sehr heiß hier.

Mathilde
an Fritz Anneke
Oktober 1865

Mein lieber Fritz!
... Ich habe die Arbeit meiner Tage so systematisch eingerichtet, aber ich komme mit der Zeit niemals aus. Nach und nach wird's noch besser ineinanderpassen. Im ganzen aber bin ich mit dem Überfluß an Arbeit recht zufrieden; sie sagt mir in der Abwechslung zu und ist für meine Gesundheit auch besser als die sitzende Lebensweise. Du hilfst uns kräftig über die Anfangsgründe in unserem Lehrinstitut hinweg.
Unsere Mittagsgesellschaft besteht jetzt aus zehn und elf. Mittags-boarder aus den Klassen sind einige hinzugekommen. Die Zahl der Schülerinnen beträgt neunzehn. Pensionärinnen sind noch keine eingerückt. Mit der Schule müssen wir Ehre einlegen. Du wirst Dich recht freuen über die gute Organisation und deren konsequente und pünktliche Ausführung. Cäcilie ist eine vortreffliche Direktorin, Miß Milmore eine sehr nette, gründlich gebildete Lehrerin, eine glückliche Acquisition für uns und die Kinder. Sie ergänzt uns sehr.
Ein Ofensetzungstag - eine Arbeit, die eine gänzliche Umgestaltung im Hause notwendig machte und eine arge Putzerei hinterher - das ernstliche Unwohlsein unserer guten Mutter und Gott weiß was sonst für Geschäfte alle haben diesen Brief noch verzögert. Es ist mir gar nicht darum zu tun, Dir nur guten Tag zu sagen, nein, ich will Dir immer alles von uns erzählen, und so habe ich unter dem Drang der Geschäfte und Pflichten immer an Dich gedacht und nicht an Dich geschrieben. Wir haben jetzt fünf stattliche Öfen im Hause stehn. Das Institut gewinnt immer mehr und mehr an Ansehen. Ich will hoffen am inneren so wohl als am äußeren. Emil hat einen guten Kauf an drei Öfen zweiter Hand gemacht. Einen haben Weißkirchs geliehen. Der Küchenofen ist neu gekauft. Es sieht recht freundlich und fein bei uns aus. Es wird Dir recht gefallen. Heute, Sonntag, habe ich den größten Teil des Tages bei unserm armen Mütterchen zugebracht. Seit acht Tagen hat man wieder die beiden Ärzte herangezogen. Der eine gab gänzlich verloren, der andere noch nicht. Auf mein Befragen teilte mir der Arzt die Natur des Leidens mit: ein Polyp, der nicht nur die weiteste Ausdehnung angenommen, sondern auch von der bösesten Natur sei, ein Markpolyp. Ich kombiniere, daß derselbe nicht nur das Blut des Menschen, sondern auch das...
  Mark...  den...  Gebeinen...  nach...  und...  nach...  entzieht....  Sie...  leidet sehr, die liebe, gute, alte Mutter. Die andern waren alle zu Lindemanns hinaus, um bei dem herrlichen Tage frische Luft zu schöpfen, ich war ganz allein mit ihr. Sie lag in Betten auf dem Sofa. Ich erzählte ihr aus der Heimat und von der guten alten Zeit, die wir am besten kannten. Wenn ich irgendwie in meinem häuslichen Bereich nicht von Nöten bin, so geh ich zu Mama, um noch in ihren letzten Lebenstagen, die wenigen Stunden, die mir gesegnet sind, mit ihr zu verbringen...
Louis glaubt Percy schon am ersten November placieren zu können. Das wäre sehr gut. Er ist ganz entzückt von der hübschen Handschrift des Jungen und überhaupt von seinem netten, gründlichen Wissen. Der Eifer von Hertha und Tilly im Lernen geht über die Bäume. Religiöse Fragen kommen nicht in Betracht. Der gründliche Unterricht in der Physik von einem Amerikaner, eines durchaus feinsinnigen Mannes, wird und kann seine Wirkung nicht verfehlen. Ich freue mich sehr über die glückliche Besetzung dieses Faches.
Großmutter läßt Dich herzlich grüßen. Sie schien mir am Abend heute viel heiterer. Percy will so gerne auf die Jagd gehen. Ich vertröste ihn auf Dein Kommen. Emil tut's desgleichen. Ihr werdet dann zusammen jagen, sagt er.
Soll ich Dir etwa von meinem reichen Schweizer Material einige Zusendungen machen? Eine Lese könnte Eurem Blatt vielleicht angenehm sein ...

Fritz Anneke
an Mathilde   
St. Louis, am 26. November 1865

... Meine Beschäftigung wird mir nachgerade immer mehr zuwider, was teils darin seinen Grund hat, daß ich gar nicht absehe, wie wir jemals wieder beisammen sein sollten, teils darin, daß sie anstrengend und unbefriedigend ist. Um sechs Uhr bin ich in der Regel auf, oft früher, selten später. Gegen sieben trete ich meine Reise nach dem Redaktionslokal an, die über eine halbe Stunde dauert, und arbeite ununterbrochen bis fünf, bisweilen auch bis halb sechs oder sechs. Dann wieder eine halbe Stunde Reise, und wenn ich Nachtdienst habe, muß ich zudem um halb acht wieder auf dem Redaktionslokal sein, Korrekturen lesen und dann auf dem Redaktionstelegrafen notieren. Vor ein Uhr bin ich selten damit fertig. Oft wird es halb 2 oder 2, dann habe ich, da man um diese Zeit keinen Straßenbahnwagen mehr fahren kann, eine Stunde zu marschieren, so daß ich fast nie vor, oft erst um drei mich zur Ruhe legen kann. Das ist drei Mal jede Woche. An den übrigen drei Tagen bin ich müde genug, um in der Regel sehr früh zu Bett zu gehen. Ich sehne mich nämlich jetzt nach dem Sonntag, als dem einzigen Rasttag, mehr als je ...

Mathilde
an Fritz Anneke   
Dezember 1865

Mein lieber Fritz!
Wir haben die liebe, brave Großmutter in die Erde gelegt. Am Mittwoch morgen kam Carl Geisberg eilenden Schrittes, um mir mitzuteilen, wie er Mutter bei seinem Morgenbesuch gefunden habe. Ich lief zu ihr hin, Deinen lieben Brief in der Hand. Als ich in ihr Zimmer trat, bemerkte ich seit dem Tage vorher keine Änderung an ihr. Sie lächelte mir freundlich entgegen, klagte wie immer in den letzten Wochen über die schlimme Nacht, über die Schmerzen, die sie habe. Ach, wir hörten es täglich und stündlich und konnten nicht helfen. Johanna hatte ihr in der Früh ein Morphiumpulver verabreicht, danach war sie ziemlich ruhig. Ich erzählte ihr zuerst, daß ich Briefe von Dir bekommen und einen für sie, ob ich ihn ihr vorlesen solle. »Geweiß, gleich«, sagte sie. Bei der Stelle, Du hofftest, sie zu Weihnachten im Familienkreise präsidieren zu sehen: »Ach nimmermehr«, sagte sie. Den längeren Brief, den Du an mich geschrieben hattest, wollte ich bei Seite legen, ihr bemerkend, daß er sie ermüden würde. »O nein, den will ich auch gerne hören. Ich verstehe alles, mußt nur ein wenig langsam lesen.« Ich tat es, und über jeden Satz sprach sie mit mir eingehend. Sie wurde indes schwächer. »Ich will schlafen«, sagte sie. Mittlerweile kam Johanna. »Lies die Zeitung und erzähle mir, was Du Interessantes aus der Heimat findest.« »Der schöne Herbst«, antwortete ich, »die Lese am Rhein, Godesberg.
Nicht wahr, Godesberg kanntest Du ja auch.« »Ach ja, es ist so schön. Wir hatten eine Landpartie von Bonn aus dahin mit meinem ältesten Bruder Ferdinand.« Nun suchte ich ihr diese Erinnerungen vor die sterbende Seele zu führen. Ich kannte sie alle aus ihren Erzählungen. Ich sprach von ihrem schönen Bruder und mischte andere Jugenderinnerungen dazwischen. Sie entschlief - aber das Geräusch vom Hof weckte sie, und beunruhigt rief sie nach Johanna, der getreuen Pflegerin. Wir mußten sie aufheben aus dem Bette. Da sank sie zu einer schweren Ohnmacht um, und mit allen Kräften hatten Johanna und ich sie wieder ins Bett zu bringen. Wir schickten eilend nach Maria. Die Arme kam. Ihr Schmerz überwältigte uns alle. Doch faßte sie sich und trat ans Bett. Mutter richtete die Augen auf uns, die wir gefaßt wie möglich vor ihr standen. Noch einmal streckte sie die Arme aus. Johanna half ihr sich aufrichten, ich unterstützte sie im Rücken. Sie hatte den letzten, einen leichten Todeskampf. Sie leise in die Kissen zurücklegen und meine beiden lieben Schwestern beruhigen, war meine letzte Liebespflicht. Nach etwa zehn Minuten hatte sie ausgehaucht. Ein leises Röcheln, ein letztes Atmen und der Tod trat freundlich auf ihre von vielem Schmerz nur wenig entstellten Züge. Wir setzten uns noch eine Weile an ihr Sterbebett, wie wir es sonst getan hatten, vorher. Dann klagten und weinten wir laut um unsre geliebte, schöne, gute Mutter. Es war halb elf Uhr, ich war vor neun Uhr zu ihr gekommen. Ich hatte den Trost, noch von Dir, lieber Fritz, die letzte Unterhaltung mit ihr zu führen.
Gestern brachten wir sie auf ein schönes Plätzchen, so schön wie zwei treue Freunde von ihr es auswählen konnten. Ein reiches Gefolge wie selten eins begleitete sie. Alle ihre Freundinnen legten sinnigerweise die schönsten Kränze und Blumen auf den zierlichen Sarg. So senkten wir den Frühling von Blumen mit ihr hinab. Als wir uns umwendeten zur Heimkehr, war der Winter gekommen. So nahe die schärfsten Grenzen Tod und Leben - Frühling und Winter. In dem mit ihr scheidenden Sonnenstrahl, der ins Grab fiel, war's noch warm. Ich wenigstens fühlte keine Kälte. Johanna und Maria hatten meinen Wunsch, meine dringende Bitte erfüllt und waren daheim, im Scheffer Haus, geblieben. Die Kinder hatte ich die Tage über. Die ersten war ich krank. Jetzt bin ich vollkommen gesund und denke viel an meine standhafte liebe, verklärte Mutter. Percy war der erste in der Reihe, der sie zur Gruft tragen half. In ihrer Überzeugungs-treue hatte sie keinen Moment gewankt. Sie lächelte friedlich und duldsam zu all den Bemerkungen, die sie erschüttern sollten. Wir haben viel verloren, lieber Fritz. Sie liebte uns alle sehr. Sie hat in ihren letzten Stunden Deiner liebend gedacht. Das wird Dich und mich trösten.
Unsern Kindern geht es gut. Mit Percy ist man sehr zufrieden, so daß sein Salär gleich anstatt mit zwölf mit 15 Dollar monatlich beginnt. Louis liebt den Knaben sehr. Du wirst Dich freuen, wenn Du zu uns kommst. Aber Du bleibst länger als drei Tage! Wir freuen uns alle auf Dein Kommen. Leb wohl und halte uns lieb, Deine Tilla

Fritz Anneke
an Mathilde   
5. März 1866

Vor einiger Zeit schon wurde mir bestimmt angedeutet, daß in der Redaktion der etwa vier Monate alten Volkszeitung eine Veränderung eintreten soll und daß man mich als Chefredakteur wünsche. Ich habe jetzt dem Lokalen jenes Blattes, der früher beim Anzeiger war, und dem Generalagenten, einem mir gut bekannten Ex-Kapitän gesagt, daß ich zur Verfügung stehe, wenn mein politisches Programm angenommen wird. Habe aber bis zur Stunde nichts Bestimmtes gehört, was mir dadurch erklärt wird, daß der Eigentümer der Zeitung schon seit drei Monaten krank ist. Ich werde sehen, daß ich heute zu einem bestimmten Entscheid komme, damit ich mich nach einer andern Beschäftigung umsehen kann, wenn es mit jener nichts sein sollte.
7. März 1866
Seit gestern abend bin ich wieder beim Anzeiger eingetreten. Ich habe mich entschlossen, es noch einmal zu versuchen. Vielleicht daß es jetzt besser geht, nachdem Herr Dänzer eine so scharfe Lehre bekommen und sich so entschieden mir gegenüber hat demütigen müssen. Als ich auf die wiederholten Anträge, die mir durch seinen Abgesandten gemacht worden waren, nicht einging, schickte er mir endlich Bernays auf den Leib, und nachdem mir der zwei Tage zugesetzt hatte, entschloß ich mich endlich auf Anraten aller, mit denen ich über die Geschichte sprach, den Bitten nachzugeben und wieder einzutreten. Die Proposition ist, daß ich einen Tag wie den andern um ein Uhr Mittag anfangen und um zwölf Uhr nachts meine Arbeit schließen soll. Ich will es einstweilen damit versuchen. Es ist immerhin mühselig genug, und jeder Abend, mit Ausnahme sonntags wird mir geraubt. Das Angenehme bei dem Arrangement würde sein, daß ich regelmäßig eine Anzahl Morgenstunden für mich hätte, die mir besonders dann zustatten kommen würden, wenn ich den »Spirit of the German Press« noch bekommen sollte, die ich aber sonst auch verwenden kann, um Vorarbeiten für die Geschichte des Krieges zu machen ...
Ich hatte dieser Tage eine längere Unterredung mit dem General Salomon über die näheren Umstände, die den Tod von Julius begleiteten. Der Hergang war wesentlich anders, als ich bisher gehört und seinerzeit in der Presse gelesen hatte. Julius ritt an der Spitze seiner Mannschaft auf einem engen Wege auf einige Häuser los, in denen Guerillas vermutet werden mußten. Plötzlich kam aus diesen Häsern eine Salve, welche sein Pferd niederstreckte. Ob er selbst dabei verwundet wurde, ist nicht ermittelt. Er richtete sich aber gleich wieder auf und schrie seinen Leuten zu, sie sollten vorrücken, die Häuser seien leicht zu nehmen. Die Leute stoben jedoch wie Spreu auseinander. Nur einer, der durch den Arm geschossen worden war, blieb in der Nähe. Dann erfolgte eine zweite Salve, welche Julius zu Boden streckte, ohne ihn aber zu töten. Die Guerillas brachten ihn in ein Haus. Er lebte noch vier Stunden und ließ durch einen seiner Feinde einen Brief an seine Frau schreiben, den er selbst unterzeichnete. Diesen Brief sowie Ring und Uhr von Julius erhielt Salomon einige Tage später, als er ein Detachement unter Parliamentärflagge an Ort und Stelle schickte, und sandte ihn an seinen Bruder, den Gouverneur, zur Weiterbeförderung. Ich habe nie davon gehört, daß dieser Brief existierte oder daß er angekommen sei...

Mathilde
an Fritz Anneke
Todestag Fritzchens, Milwaukee, 5. März 1866

Mein lieber Fritz!
Es ist schon bald 11 Uhr, aber ich sitze so warm und allein im Zimmer am Ofen, daß ich den Augenblick benutzen möchte, Dir gute Nacht zu sagen. Gestern abends waren ich und Cilly in der Vorlesung von Anna Dickinson, der jetzt sehr bekannten Rednerin. Hast Du sie schon gehört? Ein hübsches junges Mädchen von 23 oder 24 Jahren. Ihr Auge nimmt einen seltsam schönen Ausdruck an, wenn sie spricht. Ihr Auge ist ungemein schön, ihre Stirn gedankenvoll, ihre Rede fließend mit schlagenden Pointen. Beim Vortrag hat sie die gepriesene Ruhe der Alten und bei Schilderungen eine wahrhaft künstlerische Größe und Anmut. Die Situation der Gegenwart in unserem geliebten Vaterland schildert sie mit Farben und Belegen, daß einem die Haare sträuben. Die Verachtung spielt um ihren lieben Mundwinkel und das Mitgefühl in ihren Augen sprühend und glühend. Mit einem Wort, ich hörte und sah niemals eine von meinem armen Geschlecht solch einen Triumph feiern. Ich wollte, Du hättest sie mit mir hören können. Ich verstand auch ihre Sprache, die sie aus der kräftigsten Brust durch die Halle des neuen Musiksaals, der mit Tausenden gefüllt, ertönen ließ. Kommt sie nach St. Louis, versäume nicht, sie zu hören. Ebenso Ida. Ihr werdet Euch beide sehr über sie freuen. Nach dem Schluß der Vorlesung wurde ich ihr vorgestellt. Auf morgen Nachmittag bin ich zu ihr geladen. Zur selben Zeit hat Bella Fiebing, die Milwaukee Dichterin und Übersetzerin, mich zum Kaffee geladen. Ich werde wohl bei der sich wieder auftuenden Kälte nirgend hinkommen. Auf heute Abend waren Cilly und ich zur Aula der deutsch-englischen Akademie geladen. Ein Deput vom Frauenverein war an mich gesandt mit der Einladung, beim Kränzchen, das letztere gibt N. B. zum Besten der Schule, einige Worte zur Introduktion zu sprechen; außerdem Verse zu schmieden für ein Fräulein, die diese sprechen sollte. Das letzte habe ich erfüllt, das erstere aber abgeschlagen. Cilly und mich hätten sie zu Ehrenmitgliedern des Frauenvereins ernannt, wurde uns von der Deputation mitgeteilt. Was diese Farce soll, weiß ich nicht.
Von Brentano, Illinois Staatszeitung, habe ich ein freundliches Entgegenkommen für meine Betätigung an der Zeitung. Ich habe das Manuskript meines kleinen Romans Uhland in Texas ihm zur Verfügung gestellt. Honorar mag er bestimmen, ich habe so gar keine Norm dafür.

Montag Morgen.
Gestern waren wir ein wenig bei Weißkirchs. Meine Einladungen ließ ich unbenutzt, da ich sehr wohl fühlte, daß ich nicht viel unternehmen konnte. Bei großer Vorsicht gehen die krampfhaften Anfälle glücklich bald vorüber. Meine Kur setze ich unausgesetzt fort, weil ich fest glaube, daß ich ihr die Wendung zur Besserung zu danken habe. Sobald die Kälte sich wieder zeigt, bin ich den Anfällen ausgesetzt, die jedoch, wie gesagt, nicht mehr ihre wütende Gewalt haben. Der Mann (ein Wunderdoktor) verspricht, mich ganz zu kurieren. Dann bin ich glücklich. In unserm täglichen Beruf kann ich wieder etwas leisten. Die Hauswirtschaft versehe ich, meine Schreibstunden gebe ich und für die gute Aufnahme unseres Instituts trage ich das meinige bei. Mein letztes Streben, lieber Fritz, war, für das Gemeinwohl meine geringen Fähigkeiten einzusetzen, um für die alten Tage ein wenig Unabhängigkeit zu erwerben. Außerdem auch unseren vielen und ungelösten Verbindlichkeiten nachzukommen. Gelingt es, so ist das Resultat für uns und unsere Kinder ein erfreuliches. Scheitert es, so ist es nicht meine Schuld. Auf Percy habe ich etwas mehr Aufmerksamkeit und Strenge zu verwenden. Während meines Krankseins war er ganz verlottert in seinem äußeren und inneren Wesen. Er hat mir manchen stillen Kummer gemacht. Am Sonnabend bin ich mit ihm in einen Kleiderladen gegangen und habe ihn von unten bis oben neu equipiert, bis auf wollene Hemden, Kragen und Handschuhe herauf. In seine neuesten Stiefel hat er große Löcher gebrannt. Ich hoffe, es wird jetzt besser mit ihm werden. Von seinem Gehalt darf er mir jetzt nichts mehr nehmen, ohne meine ausdrückliche Erlaubnis. Für Lappalien ist es fast rein aufgegangen. Herthachen ist recht lieb und sehr tätig. Tilly ist ihr eine liebe Gesellin. Fanny wird diesen Sommer hierher kommen. Für Kurth habe ich eine Anstellung in Grand Rapids als Lehrer bekommen. Ich bin recht froh für den alten Helfer in der Not. Wie könnte man die Leidenszeit, die eben wieder jährig ist, vergessen ...
Von Chicago sind viele Anfragen eingetroffen wegen Pension. Ich habe nach langem Besinnen doch meine Zustimmung gegeben, sie anzunehmen.
Morgen ist der Todestag unseres geliebten Fritzchen. Wir werden dem Tage alle ein stilles aber trauriges Andenken weihen.

Fritz Anneke
an Mathilde   
St. Louis, 12. März 1866

Meine liebe Mathilde,
Dein Brief mit dem Poststempel vom 6. teilte mit, daß Du Deine Kur konsequent fortsetzt und wenigstens so weit Erfolg davon spürst, als die Krampfanfälle keinen heftigen Charakter mehr annehmen. Ich wünsche von Herzen, daß es so bleibt und daß es Deinem Wunderdoktor gelingt, sein Versprechen einer vollständigen Kur zu erfüllen.
Über Fräulein Dickinson habe ich in den Zeitungen gelesen. Sie mag eine recht interessante Erscheinung und eine sehr begabte Rednerin sein. Aber was sie der Welt in ihrer Vorlesung - die gleich denen von Schurz und anderen reisenden Rednern und Rednerinnen eine Stereotype ist - verkündet, stimmt durchaus nicht mit meinen Ansichten überein. Ich halte das Verfahren Johnsons im allgemeinen für vollkommen richtig, für den einzigen geeigneten Weg, um Ruhe und Frieden sobald als möglich wiederherzustellen. Um Ackerbau, Industrie und Handel wieder zur Blüte zu bringen. Die Vorschläge und Maßregeln, die sich »radikal« nennen, führen zu keinen Resultaten. Es ist den meisten derselben auch gar nicht darum zu tun, sondern sie streben, wie fast alle Politiker, nur dahin, sich auf möglichst lange Zeit hinaus die Herrschaft und was damit zusammenhängt zu sichern. Ich bin überzeugt, daß Johnson triumphieren und dereinst in der Geschichte einen Platz neben Jackson einnehmen wird ...

Fritz Anneke
an Mathilde   
Lansing, 16. Juli 1866

Was aus Europa, besonders aus Deutschland werden wird, läßt sich gar nicht voraussehen. An die Republik glaube ich nicht. In Deutschland selbst sind gar keine Anzeichen dafür. Gustav Struve, dieser wahnsinnige Häring, drückt aus bloßem Preußenhaß den infernalsten aller deutschen Tyrannen, den Hessen-Kurfürsten, an sein Bruderherz. Blind und Konsorten sind großmäulige Faselhände, die über den Preußenhaß nicht hinaus können. Und doch ist in Preußen das einzige Heil für Deutschland zu suchen, mag man noch so schlecht von Wilhelm, Bismarck, etc. denken. Bismarck ist der einzige in Europa, der es mit Louis aufnehmen und der ihm sogar Nüsse zu knacken geben kann ...

Mathilde
an Fritz Anneke   
Milwaukee, 25. ]uli 1866

Lieber Fritz!
Deine mir im letzten Briefe ausgesprochenen Ansichten über den Kampf in Deutschland, hat in unseren Familienkreisen, wo ich die betreffende Stelle mehrere Male vorgelesen habe, großen Beifall geerntet. Louis ist ein rabiater Preußenschwärmer, ebenso Karl Geisberg. Emil neigt sich der »unbestimmteren Weltidee« zu. Karl Geisberg wollte Dich für Deine »gesunden Ansichten« umarmen. Louis meint, er könne darnach einsehen, daß er ein nicht gar so dummer Kerl sei, da er gerade so gedacht habe wie Du. Ich kann, wie andere Leute, über meinen Preußenhaß nicht hinwegkommen und bemühe mich, so indifferent wie möglich zu sein. Was wir jetzt von Bismarck wissen, hat mir Lassalle haarklein vorausgesagt. Wenn er mit dem königlichen Kamaschenhelden und dem Junkertum nicht zu viel zu tun haben wird, und wenn die benachbarten Großmächte ihm sein Spiel nicht verderben, mag er noch etwas zustande bringen.... Aber ich glaube nicht daran. Wie Du an die Republik nicht glaubst. Die kindisch gewordenen Größen, an deren Spitze der lächerlich dumme Temme und gar das alte Weinbäuerchen Gritzner stehen, machen in der Tat eine Farce aus der Bewegung, wenn man die vereinzelten Regungen eine Bewegung nennen kann.
Für die 20 Dollar in Deinem letzten Briefe danke ich Dir. Sie kamen mir recht gelegen. Sie waren erborgt, sagst Du. Wenn es Dir unangenehm war, dann hättest Du es lieber nicht tun sollen. In diesem Falle kannst Du Dir denken, daß es mir noch unangenehmer ist, sie zu gebrauchen. Es wird einem ohnehin schon alles so bitter und schwer gemacht, als ob man Gnadengehalt bezöge. Und doch leiste auch ich der Gesellschaft meine Arbeit, wahrlich nicht die mindeste.
Wir haben sechs Wochen Ferien. Bis jetzt habe ich noch genugzu tun mit meinem ziemlich schwächlichen Mädchen, die Hausordnung ein wenig herzustellen. Zwei Pensionärinnen, zwei Lehrerinnen im Hause, dazu unser eigenes Hauspersonal machen die Führung der Wirtschaft so ziemlich kompliziert. Miß Milmore ist in die Ferien gereist. Miß Schmidt, die Musiklehrerin (ohne Gehalt von uns - sie erteilt Unterricht und zahlt einen billigen Pensionspreis selbst) und Miß Kapp sind hier. Ich erhielt wiederholt eine dringende und liebevolle Einladung von Gerrit Smith nach Peterboro, leider aber kann ich ihr nicht folgen. Das Haus erfordert, sowie die kleine Familie, mein Hiersein ...
Mir genügt meine Teilhaberschaft an dem Institut gar nicht. Ich arbeite viel, wir können auch recht gut durchkommen, da die meisten Schulden bezahlt sind, aber ich finde keine Befriedigung in der Art und Weise meiner Beschäftigung. Ich hätte viel besser getan, mich als elender Journalist durchzuschlagen. Darum ist aber nicht gesagt, daß ich als Lehrerin meiner kleinen ABC-Schüler nicht das meinige leiste und gern leiste.
Von unserm Hause haben wir den Blick auf den Fluß, und wenn ich nicht irre, gerade auf jene Stelle, auf welcher Du Deine Schwimmanstalt errichtet hattest. Es sind jetzt blühende Institute dort in Betrieb. Herr Rose läßt sein kleines emsiges Dampferchen die Badegäste herbeischleppen. Hätten wir etwas mehr Vertrauen in die Zukunft gesetzt, bald hätten wir jetzt ein bescheidenes home in dieser wirklich reizenden Stadt. Milwaukee gefällt mir bei mäßigen Ansprüchen immer besser.
Die Kinder grüßen Dich, lieber Fritz. Bleibe wohl und grüße mir Ida und alle die andern.
Mathilde

Mathilde
an Fritz Anneke   
20. August 1866

Mein lieber Fritz!
... Frl. Kapp schließt sich von all unseren Festen aus, es sei denn, daß sie einen durchaus fashionablen Charakter haben. Ich wünsche sehr bald separiert zu sein und meinen eigenen Wirkungskreis im Lehrfach zu haben. Sie verdächtigt meine ästhetischen Gesinnungen und versucht, mich vor den Leuten als gefährlich hinzustellen. Einige sehr befangene Mütter mögen ihr Glauben schenken. Sie kennt ihr Terrain und weiß, wo sie durchkommt. Ich habe ein sehr arbeitsvolles Jahr gehabt und den Karren gut durchgebracht. Unser Inventar ist ziemlich bedeutend, und wenn ich Dir neulich eine Aufstellung machte und unsere Schuld als etwa 400 Dollar (davon 300 an Emil) hinstellte, so ist das eine Schuld, die sich größten Teils durch das Schulgeld der Kinder von Weißkirch abträgt. Wir bekommen morgen die dritte Pensionärin. Diese bestreiten nahe die Haushaltungskosten. Da ist denn Miete usw., Lehrgehälter aus dem Erlös der Klassenschulen zu ziehen. Wie sich diese gestalten werden im neuen Lehrkursus, werden wir sehen. Über 35 zahlende werden wohl nicht eintreten. Dies ist so die Durchschnittszahl. Eine Intrige, die ganze Schule mir aus den Händen zu spielen, ist gescheitert. Diese war von der Hilfslehrerin, einer als Nonne erzogenen Person eingeleitet, unterstützt von unserer energischen Klavierspielerin und adaptiert von Frl. Kapp, der gut renommierten Directrice. Das hiesige female College wird neu organisiert. Eine Direktorin aus dem Osten ist angelangt und hat Cäcilie den Vorschlag gemacht, mit den deutschen Schülerinnen unseres Instituts hinüber zu kommen und eine gewisse Partnership mit ihr zu machen. Cilly hat sich wirklich locken lassen und die Absicht, so sans fagon ins neue Lager einzurücken. Ich erklärte ihr aber, ich werde das Institut fortsetzen ohne sie. Da ist es der nach Geld ringenden Dame doch zu bedenklich geworden. Erstens mit mir die Konkurrenz einzugehen, und zweitens auf ihr Risiko die deutsche Klasse im female College zu übernehmen. Man hatte ihr nämlich mit echtem Yankee Trick nichts weiter offeriert als einen Lehrsaal in dem wirklich stattlichen Gebäude für ihre Schülerinnen, dann ein Zimmer zur Wohnung, aber ohne Kost. Zuletzt war ihr das Schulgeld ihrer deutschen Schülerinnen als Lohn angetragen. Sie hätte den Sprachunterricht der Amerikanerinnen dagegen zu erteilen ...

Mathilde
an Fritz Anneke
Herbst 1866

... Das sehr ungleiche Verhältnis des Konsums zwischen mir und meiner Partnerin hat zu einzelnen unangenehmen Erörterungen Veranlassung gegeben. Es ist wahr, ich lebe mit meinen drei Kindern, von denen Tilly und Hertha den Unterricht nebenbei erhalten, während Cilly nur eine Person ist. Ich habe indes alles, was Du uns gesandt hast, in das gemeinschaftliche Unternehmen hineingelegt, mich aufs Äußerste beschränkt in privaten Anschaffungen und selbst Percy von seinem Einkommmen so viel wie möglich existieren lassen. Freilich reicht das längst nicht hin für sein Mittagmahl (2 Schilling), seine Kleidungsstücke, seine Schuhe besonders, und sein Taschengeld, und nun endlich für sein Zimmer usw. Bei Freunden sollte das nie zur Sprache kommen. Einer sollte es dem andern überlassen, stillschweigend auszugleichen. Aber das ist nicht die Weise des Fräulein Cäcilie, und ihre Unzartheiten haben mich oft tief verletzt. Die Kinder bedürfen viel Schulbücher, Kleidungsstücke, alles kostet einen enormen Preis, und wie sparsam ich auch gewaltet und geschaltet habe, ist leicht zu ermessen. Die Schulgeschichten an den Nagel zu hängen, fällt mir nicht ein. Ich habe mit großen Mühen ein Probejahr darin ausgehalten, ich sehe für meine alten Tage, wenn ich mich fort und fort weiterbilde für das Fach, einige Aussicht auf Selbständigkeit. Du weißt, wie dies mein Streben ist. Ich mag nicht gerne so armselig ewig leben. Dir wird es, wie die Erfahrung hinreichend gelehrt hat, nicht leicht, selbst das Notwendigste zu erringen, ich sollte daher das eben Geschaffene so schnell wieder preisgeben? O nein, das würde ein sehr großes Unrecht sein. Das bereits erworbene Inventar ist nach einem Jahr unser Überschuß. Will Cäcilie sich trennen, so führe ich auf eigene Faust mein Institut fort, und wer weiß, vielleicht nicht schlechter. Wir können ja dann Teilung halten. Nach ihrem mißglückten Versuch ins female College wird ihr die Lust vergangen sein. Mir besteht sie aber auch nicht zu lange, mit ihr weiter zu arbeiten. Ich warte nur den besten Zeitpunkt für die Separation ab....  Ich freue...  mich indessen des Guten, daß unseren Kindern in dem jedenfalls guter Unterricht zuteil wird.
Fannys Knabenpension floriert. Sie bekommt heute den sechsten Zögling. Leider faßt ihr Haus keine große Zahl. Es ist eine Freude, die geschickte, tätige Hausmutter in jenem Kreise zu sehen. Ich habe ihr treulich beigestanden. Nun ist sie hoffentlich obendrauf. Sie haben mit Kurth unter Firma Kurth & Co die Sache zusammen. Kurth ist ein wackerer fleißiger Mann, der an seiner Weiterbildung rüstig arbeitet. Ich beteilige mich täglich zwei Stunden am Unterricht. Außerdem macht meine Haushaltung mir viel zu tun. Ich habe last keinen Moment übrig. Du machst uns Hoffnung, Dich bald
wieder zu sehen; glaub nur, groß und klein ist glücklich in dem Gedanken. Eine schöne Stellung als Lehrer für Latein und Neuere Sprachen wäre am hiesigen Markhamschen Institut. Wenn Dir eine solche angenehm und Du geneigt wärest, man würde sie Dir gerne bieten. Ich bin viel gestört.
Ein Spaziergang bei der schönen Luft tut mir große Not. Mein Brief wird daher nicht so ausfallen, wie er sollte. Wenn ich nicht wüßte, daß Du mich schnöde abwiesest, ich hätte Dir längst gesagt, komm fort von St. Louis, dem Weideplatz der Cholera. Ich kann übrigens Deine Logik nicht begreifen, wenn Du mir rätst, meine, wenn auch nicht angenehme, doch immerhin einträgliche Stelle aufzugeben, da es Dir nur möglich war, mich durch Anleihen zu unterstützen, die Dir schwer fielen. Du glaubst nicht, wie sehr mein Stolz dadurch gebrochen ist und wie ich hoffe, nach meinem bald vollendeten 50. Jahre der Unterstützungen in keiner Weise mehr zu bedürfen.

Cäcilie Kapp
an Fritz Anneke
Vassar College, Poughkeepsie, N.Y.,28.2. 1867

Lieber Fritz!
Als ich Deinen Brief erhielt, war ich gerade im Begriff, Dir zu schreiben, weil ich dachte, meine plötzliche Abreise aus Milwaukee würde Dich überrascht haben. Es machte sich alles sehr schnell in wenigen Tagen. Ein mit dem College in Verbindung stehender Professor, der mich gern hier haben wollte, setzte mein Gehalt zu 1000 Dollars an und alles frei, während es mit der Station nur so viel betrug. Dies wurde mir erst geschrieben, nachdem ich in Milwaukee alles abgebrochen, Mathilde mit tüchtiger Lehrhilfe versehen mußte und meine Koffer gepackt waren. Hätte ich es zwei Tage früher gewußt, wäre ich nicht gegangen. Allerdings entging ich dem gräßlichen Winter in Wisconsin, kam hier in sehr angenehme Verhältnisse, schöne, wohltuende Umgebung, fand ein gelindes Maß nicht anstrengender und ganz interessanter Arbeit und fühlte mich wohl und behaglich. Allein die Schattenseiten blieben nicht aus.
Mathilde wurde gefährlich krank, wovor ich fest glaube, sie hätte hüten können. Ich war Tag und Nacht in Angstund Sorgen und auch jetzt noch sehr ihretwegen beunruhigt. Ich wußte sie elend, ohne die notwendigsten Dinge zu ihrer Pflege, in der schrecklichen Kälte, nach allen Richtungen hin entbehrend und konnte nicht bei ihr sein, sie zu pflegen. Die English-German Academy in Milwaukee hat mir wiederholt die schönsten Anerbietungen gemacht und kürzlich noch eine sehr beredte Deputation geschickt, die mich als Lady-principal mit 900-1000 Dollar abholen sollte. Hätte Mathilde es gewünscht, so wäre ich augenblicklich gegangen - aber es ist in allen Beziehungen besser, daß ich bis zum Ende des Schuljahres (Ende Juni) hier bleibe.
Erstens ist's mir für meinen späteren Aufenthalt in Amerika sehr interessant und wichtig, diese so herrliche und bedeutende Universität gründlich kennen zu lernen, und dann würde mein Wirken an der Akademie, ein Wirken gegen mein eigenes Fleisch und Blut, gegen Mathildens Schule sein, die ihr, wenn sie gesund ist oder wird, doch immer eine Existenz verspricht. Ich habe mein Auge auf Chicago gerichtet, das in pekuniärer Hinsicht viel bietet und doch näher bei Mathilde ist. Wie sich das alles arrangieren wird, wissen die Götter und wird sich im Sommer entscheiden.
Hast Du nicht einmal an Mathilde geschrieben, während ihrer Krankheit? Ich denke immer, wir Gesunden müssen immer recht geduldig und lieb gegen die sein, die körperliches Leiden gereizt und oft hart macht. Ich war nicht immer geduldig, es wurde mir oft zu arg, und ich habe mir keine Vorwürfe zu machen, aber wenn der Tod mit schwarzen Fingern so nah vorbeirauscht, da meint man doch, man hätte noch mehr tragen und helfen und lindern können. All die lieben schönen und reizenden Seiten glänzen dann doppelt und drängen die weniger schönen in den Hintergrund, daß man sie verzeiht. Glaub mir, ich habe auch meine Erfahrungen, lieber Fritz, aber ich denke, Du stellst Dich auf meinen Standpunkt - er ist wohltuender und befriedigender. Auf Percy hat sein Onkel Louis den meisten Einfluß - ich habe das Meinige getan, letzteren auf ihn zu lenken, in der bekannten Angelegenheit.
In der letzten Nummer der Leipziger Gartenlaube, Ende 1866, ist ein Artikel über das Vassar College mit Abbildung und Beschreibung - vielleicht hast Du es gesehen und ich bin dadurch jeder weiteren Schilderung enthoben. Du wirst doch mein Schreiben nicht auch ein diplomatisches nennen, sondern es freundlich aufnehmen und bald antworten, nicht wahr?!
Es ist ein herrlicher Tag heute, überhaupt hatten wir schon schöne Frühlingsanfänge. Ich habe mein hübsches Zimmer in erster Etage mit Aussicht auf anmutige Hügelketten, bewaldete kleine Täler und einen schönen, klaren Himmel, an dem ich jeden Morgen ungehemmten Blickes die Sonne aufgehen sehe. Lieber entbehrte ich diesen poetischen Ausblick ursprünglich, denn Du begreifst, daß ich in Milwaukee um acht oder halb neun aufstand und mir daher hier die sechs Uhr Glocke zum Aufstehen wie die zum Jüngsten Gericht vorkommt und mich mit Gänsehaut überzieht.
Ich habe täglich sechs Klassen, jede vierzig Minuten lang, bin also vier Stunden im Dienst. Alle übrige Zeit gehört mir, Sonnabend und Sonntag vollständig. Ich wollte, Du kämest mal her und könntest Dir die ganze Anstalt ansehen, Du würdest Deine Freude haben.
Nun leb wohl für heute und laß bald von Dir hören. Deine
Cäcilie Kapp

Mathilde
an Fritz Anneke   
24. Juli 1867

Lieber Fritz!
Die Hitze ist seit drei Tagen ganz unerträglich. Die Dürre droht mit Hungersnot für Menschen und Vieh. Gerade zur rechten Zeit habe ich die Ferien begonnen. Am Sonnabend von 8-12 waren die letzten Stunden. Die Mütter hatten sich ausgebeten, den Schluß würdig zu feiern. Sie hatten ein allerliebstes Picknick am See veranstaltet, Omnibusse und Karossen um zehn Uhr vor unserer Tür in Bereitschaft gehalten, die Schüler und Lehrer zum Festplatz zu bringen. Die Väter kamen nachmittags. Verschiedene Spiele, Kränzebinden, Deklamationen, Gesang, kallesthenische Übungen usw. usw. Und was die Hauptsache, das herrlichste Wetter, erfrischende Brise, Bläue des Sees und glückliche Zufriedenheit aller machten uns aus dem Sonnabend einen wahren Festtag. Jetzt erfreue ich mich der Ruhe und Freiheit, deren ich bedurfte. Zwar habe ich noch die zwei kleinen Pensionärinnen, aber auch sie werden eine Woche lang bei den Eltern zubringen und mir Gelegenheit lassen, eine kleine Ausspannung zu genießen. Ich ginge gerne einmal zum Mississippi. Die Reise kostet nur zu viel.
Die Teilnahme, die dem Unternehmen gezeigt wird, läßt auf eine baldige lohnende Erweiterung des Instituts schließen. Die Eltern meiner Schüler haben mir alle ohne Ausnahme ihre größte Zufriedenheit an den Tag gelegt. Auch Cilly denkt, ich hätte das Möglichste geleistet. Alles kommt nun auf die Raumverhältnisse an. Könnte ich ein größeres Haus haben, wäre ich froh. Von Chicago trifft die dritte Pensionärin Ende August ein. Von den andern habe ich noch keine bestimmte Angabe über den Eintritt. Meine lease auf dies Haus läuft mit nächstem ersten Mai ab. Mir ist ein Offert von der Eigentümerin des Bielefeldschen Gartens, eines großen Besitztums gemacht und wahrscheinlich werde ich, wenn es zu meinem Zweck hübsch ausgebaut wird, mieten. Da würde es mir an großen Räumlichkeiten eben so wenig wie an Schlafgemächern und freien Plätzen fehlen.
Einstweilen macht mir die liebe kleine Familie meiner armen Fanny viele Sorgen. Der gewissenlose Vater überläßt sie dem Zufall. Das höchste, was er einmal im Monat für sie erübrigt, sind 20 - 25 Dollar. Fanny näht sehr fleißig. Sie hat sich selbst eine kleine Maschine erworben, mit Hilfe dieser erhält sie teilweise ihre kleine Familie. Die alte Frau, die ihr so treu von Newark anhängt, die alte Waschfrau, trägt mit ihr Freud und Leid. Johanna ist mit ihrer Familie zu Lüddemanns gezogen. Maria erwartet im September die Vermehrung ihrer kleinen Schar. Louis scheint es sehr gut zu gehen, denn der Komfort ihres häuslichen Lebens wächst täglich. Percy soll nun bald Buchführer werden und seinen Vordermann, der zwei Jahre früher im Geschäft war, überspringen, weil dieser ihm nicht gleich an Kenntnissen ist und auch nicht Schritt hält mit der geschäftlichen Ausbildung.
Für Deine Notizen, die Du mir in Betreff einiger Lehrmittel gegeben hast, danke ich Dir herzlich. Ich werde, ehe die Klassen wieder beginnen, Gebrauch davon machen... Ich besitze nur unsern alten Stock Gervinius im Auszuge, die mir gar nichts wert ist.
Zeichenvorlagen muß ich neue anschaffen, ebenso Schreibvorlagen. Ich habe meine Schüler alle in der Kalligraphie unterrichtet und sie haben auffallende Fortschritte gemacht. In der ersten Klasse wird Frakturschrift geschrieben, wahrhaft schön. Die Schnörkelei und die verschiedenen Kunstgriffe dabei möchte ich gerne kennen lernen. Es läßt sich dabei nämlich so viel durch Grün und Gold oder farbigen Rand verschönern.

Fritz Anneke
an Mathilde   
8. September 1867

... Zündt arbeitet wieder bei der Westlichen Post, aber nur provisorisch bis das Blatt andere Hilfe gefunden hat. Sie haben ihm offeriert, daß er ganz wieder eintreten solle, jedoch nicht anders als unter den früheren Bedingungen, d. h. jede Nacht bis drei Uhr büffeln und am Tage auch noch büffeln, und zwar gegen einen Hungerlohn von höchstens $ 1300. Der Generalmajor Schurz, welcher zusammen mit den Eigentümern vielleicht $ 40 000 aus dem Blatte herausschlägt, hat auseinandergesetzt, daß die Bedingungen gut genug seien und anderen bewilligt werden können. Natürlich. Es gibt ja der literarischen Proletarier noch genug in der Welt, die sich den Vorschriften der Typenbesitzer fügen müssen, um sich den blassen Hunger vom Leibe zu halten.
Heute ist großer Jubel in St. Louis. Sheridan ist hier und die radikalen Drahtzieher sind dabei, ihn als zukünftigen Präsidentschaftskandidaten herauszuputzen. General Schurz natürlich an der Spitze. Die radikalen Massen werden gehorsam ihren Leithammeln folgen und sich einbilden, sie hätten durch ihre Fackelträgerei ihr Geldbeisteuern usw. ein patriotisches Werk verrichtet, während sie nur den Ministern, Gesandten usw. als Relief gedient hatten ...
14. November 1867
Louis Scheffer wird Dir erzählt haben, daß es mir wohl geht. Wie ich von ihm höre, hattest Du nämlich vornehmen Besuch in der Person des General Schurz und des Gouverneurs Salomon. Schurz hat es ja in Wisconsin ebenso wie seinerzeit in Ohio fertiggebracht, die sogenannte »radikale« Mehrheit um ein bedeutendes zu reduzieren, sofern überhaupt seine Stimme ins Gewicht gefallen ist. Das Volk hat in den letzten Wahlen den »radikalen« Herrschern ein memento mori zugerufen, und es ist wahrlich Zeit, daß diese korrupteste aller Parteien, die je da waren, gestürzt würde. Doch darüber gelegentlich in einem anderen Brief. Mit Schurz verkehre ich nicht, wie überhaupt nicht mit Professionspolitikern, die allein darauf ausgehen, möglichst viel aus der Situation und aus der herrschenden Stimmung herauszuschlagen. Die Sache hat auch noch ihre anderen Gründe. Ich habe ihn nur zweimal auf der Straße gesehen und nur einmal einige Worte mit ihm gewechselt.

Mathilde
an Fritz Anneke
Dezember 67

Percy hat mir ein silbernes Schild mit meinem Namen auf die Haustür machen lassen. Das hatte ich mir längst gewünscht und war nötig.
Zur Schule ist ein Zuwachs gekommen, einige sind, wie dies im natürlichen Lauf geschieht, abgegangen, aber die Zahl ist immerhin vermehrt.
Von den Pensionärinnen und deren Eltern sind mir sehr hübsche Geschenke zu Teil geworden, die ihre Anerkennung meiner Mühen kund tun. Die Eltern sprachen mir ihre Zufriedenheit sehr warm aus. Im allgemeinen haben meine Schüler alle schöne Fortschritte gemacht.
Von meiner schönen Reise will ich Dir noch einiges erzählen: Ich hatte zum Teil Freipaß durch Schöff ler und die Illinois Staatszeitung. Nächstens reise ich aber lieber auf eigenes, da man sich da die Route wählen kann. Ich hatte zu viel mit dem Umpacken von einer Bahn zur andern zu tun und entbehrte durchaus den Komfort, den man sich zu einer sogenannten Erholungsreise gewähren soll. Ich hatte also die Tour über Fort Wayne, Pittsbourg, Philadelphia, New York, Poughkeepsie. Die Fahrt über den Sesquahanna machte mir große Freude. Durch die wilden Gebirgspartien kam ich leider nur nachts. Beim Eintritt in unser New Jersey Ländchen mußte ich sehr viel weinen. Betrat ich doch die Erde, die uns so nahe verwandt. Durch Newark ging es hurtig. Ich sah niemanden. Mittags war ich in dem schrecklichen New York und erst abends spät in Poughkeepsie, wo Cilly am Bahnhof mich schon seit dem Morgen mit furchtbarer Angst und Verzweiflung erwartet hatte. Sie glaubte mich schon getötet auf dem Erie-Zuge. Ihre Freude war deshalb um so größer und mein Entzücken über das prachtvolle Vassar College, wohin sie mich drei Meilen weit in einem eleganten zweispännigen Schlitten führte, stieg von Stunde zu Stunde. Ein solches Werk aufzubauen und an dem inneren Bau mitzuhelfen, muß eine Genugtuung sein. Acht Tage lang war ich dort. Von morgens bis abends hatte ich genug zu tun, die Organisation des ganzen kennen zu lernen. Der brave alte Vassar wankt im schönsten Silberhaar, aber mit glücklichst lächelndem Antlitz dem Grabe zu. Ich ward ihm nicht nur vorgestellt, er gab auch ein fete, auf dem ich mich mit dem alten Mann sehr gut unterhalten habe. Gerne hätte ich ihm die Kur gemacht, wenn ich ihm dabei hätte begreiflich machen können, er solle mir für den Westen ein ähnliches Werk, wenn auch nur mit dem zwanzigsten Teil so groß aufrichten. Das Nötigste, um meinem Institut eine recht große und erfolgreiche Ausdehnung zu geben, ist ein Gebäude. In zwei Jahren denke ich's mir mit Hilfe von Aktionären selbst zu bauen. Ich suche jetzt schon nach einem guten Platz.
Die Reitakademie (30 Pferde haben sie mit einem badischen Offizier als Reitmeister an der Spitze), das Observatorium, das Musik Department mit hundert der schönsten Steinway Pianos - Du kannst Dir denken, daß mir das alles einen imponierenden Eindruck gemacht hat. Die Zahl der Studenten ist vierhundert, lauter schöne, glücklich strahlende Mädchen über 15 Jahre alt. Die Umgebung der großen Gebäude, die grünen, endlosen Rasenplätze, die Schluchten, die Wäldchen, die blank beeisten Seen mit den schönen, gewandten Schlittschuhläuferinnen, alles das genug, um zu hoffen, einmal einen so guten alten reichen Mann zu treffen, der sich für mich in dem Westen mal finden werde, um mir zur Gründung eines solchen Werkes die Mittel zu bieten. Cillys Stellung im College ist eine sehr hochgeachtete, dennoch wünschte sie, lieber bei mir zu sein. Cilly hat sich sehr zu ihrem Vorteil verwandelt. Vielleicht daß sie später einmal wieder mit mir zusammen arbeitet. Ich würde sie aber nie als Teilhaberin in mein Werk aufnehmen, sondern nur als Mitarbeiterin, gegen ein gewisses anständiges Salär.
In New York habe ich Mathilde Kriege und Alma gesehen. Letztere mußte mich in aller Eile mit den Prinzipien und Praktiken des Fröbelschen Kindergartens bekannt machen, von dem ich einige Zweige in meinen unteren Klassen einführen möchte. Dann besuchte ich Fanny Janauschek, die von mir, wenn ich so sagen darf, fast angebetete dramatische Künstlerin. Sie empfing mich sehr lieb. Sie kommt hierher. Ob nach St. Louis, das weiß ich nicht. Man hatte ihr dort kein gutes Lokal geboten. Ich bitte Dich, daß Du jede ihrer Vorstellungen besuchst, und besonders Medea. Iphigenie, sagte mir Lexow, sei zwar ihr größtes Werk.
Da kommt Percy. Er hat lange gearbeitet. Die Kinder werden Dir in den nächsten Tagen schreiben. Bleibe oder werde ganz gesund und halte lieb, Deine Mathilde.

Mathilde
an Fritz Anneke
Februar 1868

... Ich habe jetzt ein größeres Haus in Aussicht, wofür ich 800 Dollar zahlen soll. Es ist viel, aber ich kann auch 18 Pensionärinnen darin aufnehmen. Lange habe ich gezögert, auf eine Vergrößerung hinzuarbeiten. Allein es wird doch notwendig sein. Ich habe nur gleich zu agitieren, damit ich von allen Seiten her die Anstalt besetzt habe. Cilly Kapp werde ich nicht veranlassen, ihre Stellung in Vassar aufzugeben und mir als Directrice zu helfen. Ich glaube, wir arbeiten besser jeder für sich.
Hilfe muß ich indessen mir verschaffen, wenn ich das Doppelhaus habe. Die Zahl der Tagesschülerinnen hat sich in den zwei Jahren nicht ständig vermehrt. Sind auch einmal sechs mehr, so reduziert sich die Zahl bald wieder auf die geringe Zahl von 20. Im ganzen mit meinen sieben Pensionärinnen ist die Zahl meiner Schülerinnen 38 bis 40. Auf Milwaukee ist immer zu rechnen bei vollen Anstrengungen und aller Pflichttreue, die ihnen gezeigt wird. Nur auf Auswärtige. Sobald ich mich für die Vergrößerung entschlossen habe, werde ich etwa 50 Dollar daransetzen, Programms in feiner Form drucken zu lassen und auch gelegentlich die Presse in Bewegung setzen.
Dein Urteil, lieber Fritz, über Janauschek interessiert mich und wird mich zu einer schärferen Kritik veranlassen. Ich sah sie nur einmal als Medea, in welcher Rolle sie mich so sehr faßte, trotz ihres Organs, trotz ihres mir nicht gerade theatralischen, aber etwas linkischen Mantelspiels. Später soll sie, diesen Mangel einsehend, bei den Münchner Künstlern auf das Studium der Antike viel Fleiß verwandt haben. Dadurch erkläre ich mir vielleicht Dein Urteil in diesem Punkt.
Ich komme etwas aus meinem tagtäglichen Einerlei heraus, indem wir ihr hier einen festlichen Empfang vorbereiten. Ich bin zum Kommitteemitglied erwählt; Blumenschmuck und Serenaden wird wohl dasjenige sein, womit wir kommen. Du weißt, ich hatte die Künstlerin in New York besucht und wurde sehr warm und herzlich von ihr aufgenommen. Edwin Booth habe ich hier auch in seinen Hauptrollen als Hamlet und Richard III. gesehen. Er ist ein selten begabter Schauspieler. Mein Verkehr mit der Außenwelt ist sonst auf Null reduziert. Ich habe wenig Zeit. Meine Pflegetöchter, meine Unterrichtsstunden, meine Geschäfte fürs Haus...

Mathilde
an Fritz Anneke
Frühling 1968

Lieber Fritz!
Ich habe vorhin die Zusage für ein gut gelegenes Haus erhalten. Du kennst Jefferson Street, die westwärts mit Jason parallel liegende Straße. Du weißt auch den Courtplatz. Also an der Jefferson Straße gerade dem Courtplatz gegenüber, ein Haus mit elf nicht gar großen Zimmern, einem geräumigen Basement und einem prächtigen Garten mit herrlicher Laube, daran ein großer Pferdestall stößt. Für dieses Haus mit Garten und Pferdestall gebe ich 800 Dollar. Eine hohe Rente, die aber durch den Stall ermäßigt wird, da derselbe 100 Dollar Miete einbringt. Die Lage und die Einrichtung des Hauses (Stein) ist alles. Da nun das Haus, das äußere Gebäude steht, wird das Innere auch seine Ausrichtung leicht finden.
Aber nun der Umzug! Die Veränderungen, Anschaffungen und alles, mir gruselt's.

April 1868
Mein neues Haus ist elegant und reizend gelegen. Elf Zimmer und außerdem ein Basement, zwei Zimmer und zwei Küchen. Es ist aus Stein erbaut, hat drei Eingänge und drei Balkone. Es liegt gerade dem Pförtchen gegenüber, wenn Du vom Courthaus hinab in die Stadt gehen willst. Alle Leute finden die Lage vortrefflich und zweifeln nicht, daß es für das Institut von großem Werte. Ich werde nun ein kleines blaues Blechschild mit Goldbuchstaben machen lassen:

German, French, English
Institute
for young ladies.

August 1868
Deutsche sollen viele eintreten, so sagt man. Die Anmeldungen für Tagesschüler sind bereits sechs. Lauter kleine Amerikanerinnen. Die Propaganda ist lebhaft, und es sollte mich in der Tat wundern, wenn sie in solcher Weise betrieben nicht Wesentliches fördern sollte. Ich habe Dir kürzlich von der Bildung des Vereins, der den Schutz und die Unterstützung meines Institutes sich zur Aufgabe gesetzt hat, Mitteilung gemacht. Derselbe ist nun definitiv organisiert, hat den Namen »Levana« (auf eine zarte Hindeutung in der kleinen Anrede beim Kinderfeste) angenommen, mich zum Ehrenmitglied ernannt, und 50 Mitglieder zählend, sich auf die Anwerbung von Geldmitteln zunächst verlegt. Wird der Saal gebaut, so würde ich die Ausstattung desselben mit Utensilien und Lehrmitteln (Bücher, Bücherschrank, Karten, Klavier) beanspruchen. So weit geht mein Wagen sehr gut fürbaß.
Später:
Levana feiert Sonnabend ihr Stiftungsfest, auf dem sie den ersten Grundstein zu einem Gebäude für mein Institut zu erringen hofft.

Mathilde
an Fritz Anneke
17. Juni 1868

... Ich stecke noch mitten in der Übergangszeit zur »zweiten Jugend« und habe viel darunter zu leiden. Auch spüre ich, was ich in meinen jungen Jahren zu viel auszuhalten gehabt habe, das an meiner ursprünglichen Kraft doch gezehrt hat. Die Sorgen und oft übermäßigen Arbeiten der Gegenwart sind auch nicht eben geeignet, meine Lebenskräfte zu schonen. Die Ausdehnung meines Unternehmens, ohne die allergrößte materielle Hilfe, im Gegenteil noch unter der Bürde allerlei Auflagen von außen - ist ein sehr gewagtes Ding, und wie auch die Aussichten für den Anfang des nächsten Schuljahres (1. September) brillant sein könnten und sicher sind, so ist doch das Durchkommen bis dahin ein mir völlig ungelöstes Rätsel. Das ewige Rechnen, das bange Summieren, das Soll und Haben, die Frage ob dieses oder jenes zu wagen, macht mich jetzt förmlich krank. Das hier bevorstehende Sängerfest würde mir vielleicht manche neue Schülerin zuführen, aber ich wage es nicht, nur Programme oder Anzeigen drucken zu lassen, wage es nicht notwendige Anordnungen in dem Arrangement des Hauses usw. zu treffen, dem Ganzen so denjenigen Anstrich zu geben, der lockend und verheißend wirken könnte. Ich würde Dich bitten, mich mit etwa hundert Dollar zu unterstützen, wenn ich nicht dächte, Du hättest vielleicht selbst noch Ausgaben, die keinen Aufschub erleiden. Im Herbst bin ich sicher, sogar Überschuß zu haben. Aber allein was hilft's!

» - ein schönes Leben schauen
Und ewig, ewig bleibt es dein
Man wird dir goldne Schlösser bauen
Nur - mußt du erst gestorben sein.«

Ich würde der Summe erst in vier Wochen bedürfen; wenn ich darauf rechnen könnte, so gebrauchte ich jetzt getrost den Vorrat. Schreib mir umgehend darüber. Laß mich aber gleich die Gewißheit haben, daß Du dadurch nicht geniert bist und daß Du Dir keine Entbehrungen auflegen mußt...
Du gedenkst meiner kleinen Poesien, lieber Fritz, die ich von Dir niemals beachtet und gänzlich vergessen glaubte. Du hältst sie wirklich des Druckes würdig? Das habe ich längst aufgegeben, obgleich ohnlängst eine kleine Ermutigung eintraf, mit der Kunde direkt von Leipzig, daß mein vor Jahren erschienener Oithono in seiner ersten Auflage vergriffen sei. Ich bestellte mir 6 Exemplare, konnte aber nur noch drei erhalten. Wäre ich drüben, würde ich den Buchdrucker anhalten zur z. Auflage (natürlich umgearbeitet) und meine lyrischen Kleinigkeiten zu einem Bande zu vereinigen. Diesen dramatischen Versuch hatte Gutzkows Telegraph in Hamburg und Fr. Sallet selbst als vielversprechendes, vielseitiges Talent gelobt. Allein in meinem jetzigen Berufe ist mir einstweilen alle Courage zu literarischen Unternehmungen vergangen. Wo fände ich die Zeit für die nötige Redaktion, wo für das Verlegersuchen, wo die Muße für die Ergänzung. Ich fühle wohl, daß ich jetzt mehr denn je im Leben zu poetischen Ergüssen berufen, aber der Tag neigt doch zu rasch dem Ende zu. Auch habe ich auf jede Hebung meines Namens verzichtet. Costenoble (der Verleger des Geisterhauses) hat mir verschiedene Leipziger Scribenten aufgedrungen, die für diese oder jene Ausgabe mein Curriculum Vitae schreiben sollten. Ich habe kein Stückchen Material dazu hergegeben. Nicht jetzt, wie auch früher nicht, als man mich von Berlin darum anging. Daß so etwas nötig ist, um mit einem Band lyrischer Dichtungen durchzudringen, weißt Du, so gut wie ich. Dein Wunsch indes, sowie der jetzt oft von den Kindern ausgesprochene, wird vielleicht entscheiden, wenn auch später erst...
Adieu lieber Fritz, ich freue mich sehr über Dein Wohlsein. Schreibe mir bald wieder, und halte lieb, Deine Mathilde.

Mathilde
an Fritz Anneke   
14. 8.1868

... Die hiesigen Freunde meines Instituts - ihre Zahl vermehrt sich langsam - haben sich in den Kopf gesetzt, mir ein Ehrengeschenk an Geld zu machen, das ich für die Interessen des Instituts verwenden soll. Ich habe mich geäußert, daß ich ein solches allerdings gerne akzeptieren werde, N.B. nicht für meine persönlichen Interessen, aber daß ich dafür alle Lehrmittel, deren ich habhaft werden könne, anschaffen wolle. Gegen Weihnacht soll sich die Geschichte realisieren. Ich komme auch noch zu einem zweckmäßigen Gebäude, wenn ich nur ruhig fortgehe auf meinem Weg.
Du glaubst nicht, lieber Fritz, welches beruhigende Gefühl endlich einmal über mich gekommen, so sorgenlos meiner bescheidenen aber wohlgeordneten Zukunft entgegen zu gehen. Nicht um die täglichen Bedürfnisse seiner kleinen Familie so bänglich den Morgen abzuwarten. Unser Haus ist jetzt bald sehr nett in Ordnung. Küche und Keller habe ich in voriger Woche gut versorgt. Mein Mädchen unterstützt mich sehr; wenn ich nur erst meine Lehrkräfte kombiniert habe, so kann ich getrost in den Winter gehen. Du wirst recht große Freude über alle unsere Fortschritte haben, wenn Du uns zur nächsten Weihnacht besuchst.

Mathilde
an Fritz Anneke   
Herbst 1868

... Die Propaganda der Levana ist zwar fanatisch. Aber Rom ist ja nicht an einem Tage erbaut. Ich muß Geduld noch ein wenig haben. Die Frauen werden schon bauen, oder kaufen.
Levana war eine altheidnische Schutzgottheit der Erziehung. Levana heißt die Erziehungslehre Jean Pauls. Es ist sehr sinnreich, den Verein nach einer Schutzgottheit zu nennen. Sonnabend in acht Tagen ist das Stiftungsfest des Vereins zum Besten für dessen Zwecke. Zweck, statutenmäßig, ist Unterstützung meines Töchter-Instituts.
Eine gute englische Lehrerin habe ich endlich engagiert. Einen Lehrer hatte ich nach den größten Schwierigkeiten entdeckt, ihn von Ganville hierher berufen und angestellt. Dienstag war der Klassenanfang. Montag abend spät die Nachricht, der Lehrer liege an der Lungenentzündung krank. Wiederum ohne Hilfe, aber zum Glück griff Cilly noch einmal mit ein. Ich hatte unterdessen Zeit nach andern Lehrern zu spähen. Es ist mir gelungen, einen für Rechnen und deutsche Grammatik und Lesen der Kleinen zu bekommen. 300 Dollar jährlich für drei Stunden täglich. Ich arbeite seit vier Tagen schon ganz geregelt. Pensionäre sind nur zwei, vorläufig.
Ich schrieb Bevorstehendes in letzter Nacht um zwölf Uhr. Die Vorbereitungen zu Geschichte, Literatur, Geographie, Mythologie (alles meine Fächer und daneben noch Rhetorik) usw. kosten entsetzliche Zeit und Kräfte. Dazu hundertmal am Tage klingeln und Einlaß an der Türe. Mütter mit Kindern, Fragen etc. etc. etc.

Ich wollte, Du hättest etwas von meinem bewegten rastlosen Betriebe. Es täte Dir gut. Cilly geht am Donnerstag wieder nach Vassar. Sie ist dort recht an ihrem Platze.

Mathilde
an Fritz Anneke
1868

... Die Levana geht in ihrem Streben dem festen Ziele zu, mir ein Haus zu bauen, eventuell zu kaufen. Ihr erstes Eröffnungsfest, eine kleine gemütliche Soiree, brachte 120 Dollar Reinertrag. Wäre das Lokal viermal so groß gewesen, es hätte das Fest viermal so viel gebracht. So war aber der Anfang ein ganz gelungener und sicher der kleine Erfolg. Der Vorstand hat mir gestern in Optima Forma die Mitteilung gemacht, daß hundert Dollar mir zugewiesen worden seien für die Anschaffung von Lehrmitteln, wie z. B. eines Globus (25 Dollar), Karten und Anschauungsbücher aus den verschiedenen Bereichen, wie Du mir z. B. aus dem Esslingschen Verlag die reizende Probe zugesandt hattest...
Fanny lebt mühsam und fleißig ihre Tage ab. Sie hat zwei Commis von Emil in Board, die ihr die Haushaltungsunkosten etwas erleichtern, und dann gibt sie den Handarbeitsunterricht hier für das Billige von zehn Dollar monatlich. Sie muß bald mehr haben. Ihre Kinderchen sind prächtig erzogen. Gestern sagte Fanny, wenn Harriett-chen, ihr Kleinstes, schreiben könnte, sie würde die Schmach von der Familie abwaschen und dem Großpapa regelmäßig schreiben. Sie spricht oft vom Großpapa und tut, als ob sie schriebe.
Was den Umgang mit den Menschen hier zu Lande betrifft, so widert mich derselbe etwa so sehr an wie Dich, lieber Fritz. Ich habe mir jeglichen Umgang mit alten Leuten abgetan und lebe nur noch meiner Kinderwelt, die mir einzig noch sympathisch ist. Der Verein geht auch wider Willen etwas mehr ins Gesellschaftliche. Bleibe aber sehr passiv darin. Verstanden werde ich doch nicht. So bleibe ich am liebsten in meiner inneren abgeschlossenen Welt. Mich ergötzt das Studium der Antike sehr. Ich benütze es für meine geschichtlichen Lehrstunden. Die Literaturgeschichte ist ebenfalls eine Leidenschaft von mir und meiner Schülerinnen der ersten Klasse.

Mathilde
an Fritz Anneke   
Dienstag, 1. Dezember 1868

Mein lieber Fritz,
ich habe soeben meine Klassen und für heute auch die letzte Privatstunde geschlossen, und nun nehme ich mir die Zeit, Dir auf Deine beiden lieben letzten Briefe zu antworten. Die Klagen darin, namentlich im letzten über Deinen Gesundheitszustand haben mir nicht geringes Leid verursacht. Du bist auf Deine Gesundheit immer zu stürmisch losgegangen, jetzt tragen wir die Folgen davon. Übrigens kann ein Herzleiden solcher Art sein, daß man recht alt dabei wird; und ich will nur hoffen, daß das Deinige in diese Klasse fällt, wenn es auch immerhin schwer genug zu tragen sein mag. Hart, sehr hart ist es, bei solchem Leiden stark arbeiten zu müssen. Das Los ist uns beiden beschieden und wahrscheinlich für uns beide fast zu hart. Ich habe mich in der vorletzten Woche vor Überanstrengung meiner Sprachorgane sehr schlecht gefühlt; wenn die alten Tage herannahen, kann man nicht leisten, was die Jugend vermag, und doch bedarf man im Alter so viel mehr. Wäre das Glück nur früher bei unserm nicht wegzuleugnenden Fleiße ein wenig hold gewesen, so würden wir vielleicht von wenigem Ersparten und gemächlich Erarbeitetem den kommenden Tagen entgegensehen und miteinander leben können. Das Verhängnis hat es nicht gewollt, solch bescheidenes Ideal zu realisieren. Nun muß man mit weiser Vorsicht und den letzten Resten der Kraft suchen, was noch zu retten ist, aus dem Bankrott des Lebens. Täuschungen hat man endlich überlebt, wenn der Abend sich zu neigen beginnt, man fängt auch an, milder die Vorgänge des vergangenen Lebens zu beurteilen, man ist in der eigenen Durcharbeitung rücksichtsvoller gegen seine Lieben und die Menschen überhaupt geworden. Da läßt es sich am selbstgeschaffenen Herd friedlich und glücklich leben, wenn man so glücklich wäre, einen zu haben, gesichert und wohlgeordnet. Ich arbeite dahin, so viel in meinen Kräften steht, ob es endlich hier gelingen wird, ich weiß es immer noch nicht. Die Arbeit ist zu aufreibend, die Unkosten sind zu groß und die Einnahmen immer noch zu gering, um sorgenfrei sich der Arbeit hinzugeben. Was ich früher nie gedacht, habe ich auch seit einem halben Jahr fertiggebracht, den Manko durch Privatunterricht neben dem des Klassenunterrichts aufzubringen. Levana freilich hat den besten Willen, mir die Sorgen und Mühen zu erleichtern, allein der Wille der armen Frauen vermag nicht so schnell alles. Und darum habe ich nun festzustehen und Geduld zu zeigen. Wie ich höre, wollen sie das Minus dieses Vierteljahres mir mit einem Barbetrag von $ 100 vergüten. Dann gehen sie auf die Erwerbung eines Grundeigentumes los, um mir innerhalb eines Jahres womöglich ein Lokal frank und frei ohne Mietzins bieten zu können. Die Presse tut etwas, mich zu puffen. Ich hatte bis jetzt eine geheime Scheu davor, aber es geht doch nicht ohne Reklame, wenigstens das Pensionat nicht. Märklin, Mitarbeiter an der Manitowo-Zeitung, hat eine gute Notiz für mich geschrieben. Nun bin ich wieder so tief in das geschäftliche Wesen meines Unternehmens gekommen, daß ich für unser gemütliches Plauderstündchen fast die Zeit verloren habe. Die Weihnachten werden uns melancholisch werden, wenn Du nicht kommst. Du würdest Dich mal so recht heimisch in unserm schönen Hause gefühlt haben; dazu in den Ferien, die mich zum teilweise freien Menschen wieder machen. Mein Geburtsfest ist noch endlos lange, aber das Deinige folgt nicht gar spät auf Weihnachten, und vielleicht ist es Dir möglich, dann zu uns zu kommen?
Deine »alte Liebe« bin ich also doch noch? Ja meine alte, treue Liebe zu Dir hatte das auch verdient. Doch da sie so oft Deinen neuen weichen mußte, da wurde notgedrungen eine innige treue Freundschaft aus der Liebe, wenn's überhaupt angeht, die verschiedenen Stadien der liebenden Verhältnisse und die Kategorien von Freundschaft und Liebe einzuteilen. Meine Sorgfalt, meine Hochschätzung vieler Deiner vortrefflichen Eigenschaften, meine durch tausend Banden schmerzlich und glücklich genährte innige Zuneigung ist dieselbe alte; nur in gewissen Richtungen ist es anders geworden. Das schadet aber meiner eigentlichen Liebe zu Dir gar nicht, die ist Dir unverwandt geblieben, trotz aller traurig trostlosen Erlebnisse. Wir haben uns nie im Leben ausgesprochen über die Natur unseres Verhältnisses, unserer Liebe. Ich hatte oft den ganzen Kopf und das Herz voll - aber ich schwieg und will auch heute schweigen und Dir nur sagen, daß Du mein lieber guter Fritz bist, dessen Wohl und Wehe mir am Herzen liegt, wie mein eigenes und das meiner Kinder und Deiner Kinder. Gedenke der glücklichen Stunden, wenn ich sie Dir schenken und bereiten konnte, oft und gern. Es waren ihrer gewiß nur wenige. Mit heißen Tränen gedenke ich des Guten und Schönen, was ich durch Dich und dereinst in Dir besaß.
Sei nicht so mißmutig über die geistige Bedürftigkeit der Neuen Welt. Sieh mit Gleichmut ihrer bessern Entfaltung hoffnungsreich entgegen. Du bist ja nicht verantwortlich, das ist ein Trost, und bist ja auch nicht Prügeljunge. Schreib mir, womöglich alle zwei Tage, wenn auch nur auf einer Zeile, wie es Dir geht. Ich glaube, wenn Du bei uns wärest und wir könnten Dich einige Tage hegen und pflegen, es ginge bald gut. Hertha wird Dir auch bald schreiben. Werde gesund und sag mir, ob der Arzt Dein Herz untersucht hat und was seine Ansicht ist. Hat er Dir Bella Donna verschrieben?
Deine alte Dich liebende Tilla.

Fritz Anneke
an Mathilde   
27. Dezember 1868

... Der ehemalige Kamerad, Carl Schurz, wird wahrscheinlich in den Senat...  der Vereinigten Staaten hineinschlüpfen,...  aber wie?...  Mit Schimpf und Schande bedeckt in den Augen jedes redlichen Menschen, auf dem Wege der gemeinsten Drahtzieherei mit Hilfe von Lug und Trug, von Bestechung, Fälschung und was sonst noch alles für Schwindel dazu gehört. Um solchen Preis möchte ich selbst nicht Präsident der Vereinigten Staaten werden. Das habe ich in vielen Kreisen offen ausgesprochen. Einer der gemeinsten Schufte und Schwindler, Staatssekretär Rodman, der schon seit Jahren von allen anständigen Mitgliedern der eigenen Partei, der sogenannten radikalen, verachtet wird, ist das Hauptwerkzeug des Herrn Schurz. Der Anzeiger hatte aufrichtig die Kandidatur von Seh urz unterstützt, hat ihn aber bei Zeiten gemahnt, der hervorragenden Stellung, die er einnehme, sich würdig zu zeigen, sich über den Standpunkt des gemeinen Parteischwindlers und Drahtziehers zu erheben und als Mann von Grundsätzen, als ein wahrer Staatsmann aufzutreten. Vergebens. Der Knabe Carl will vor allem andern das Ziel seines Ehrgeizes erreichen, und daher ist ihm kein Mittel zu schlecht. Dafür hat er sich aber bereits die Verachtung aller redlichen Leute erworben. Ich schicke Dir den heutigen Anzeiger und empfehle Dir einige Artikel auf der Seite vier und das Gedicht auf Seite acht. Außerdem lege ich einen Ausschnitt aus dem Republican bei. Wie die Neue Welt gegen Herrn Schurz los geht, wirst Du gesehen haben.

Mathilde
an Fritz Anneke
17. Januar 1869

Deinen lieben Brief vom 15., auf den ich so lange schon mit Schmerzen gewartet, habe ich heute endlich bekommen. Du bist - wie Percy seinerzeit zu unserem unvergeßlichen Fritz sagte - mein einziger Freund, und ich wünsche oft mit Dir zu verkehren, oft von Dir zu hören.

Mathilde
an Fritz Anneke   
21. Januar 1869

...Was ist es denn eigentlich, was Schurz alles in Deinen Augen verbrochen hat? Wir werden hier nichts gewahr. Die Rodman-Geschichte habe ich nicht ganz begriffen. Es handelt sich dabei um die Fälschung oder Unterschlagung der Ballots, allein doch gerade nicht zu Gunsten Schurz'? Wenn gegen ein solches Verbrechen Schurz als Journalist und Politiker nicht entschieden auftrat, so war das eine Unterlassungssünde, die ich ihm durchaus verzeihe in einem Moment, wo er vor der Wahl stand und es sich darum handelte, alle Stimmen, die schlechten wie die guten, sich zu sichern. Schurz, fern davon, Aristiden zu sein. Es ist der immer siegende Themistokles, der freilich seinem Lande noch zu beweisen hat, was er Großes und Gutes für dasselbe zu vollenden vermag. Daß er niemals entschieden mit seiner Ansicht, die er jedenfalls hat, hervortritt, das ist eben seine Diplomatie, wodurch es möglich wird und er sich Fundament schafft. Nun auf festem Fundament stehend, muß er beweisen, was er zu leisten, was zu wirken vermag. Ich sehe mir die Sache freilich nur von meinem kleinen Zimmer aus an, aber ich glaube so viel einzusehen, daß man in dieser Welt, um es noch zu etwas zu bringen, man zu dem Prinzip des Schweigens sich in vielen Fällen bekennen muß.
Ich habe eine lange Pause während meines Briefschreibens machen müssen, um die rasenden Schmerzen vorübergehen zu lassen, die meistenteils in Paroxismen kommen und gehen ...
Die Blattern grassieren hier furchtbar. Ganze Familien werden davon befallen, auch sterben daran. Nur die Wasserkur gebrauchen, scheinen glücklich durchzukommen.
Ich lege mich frühe zu Bette, um nur so viel Kraft zu gewinnen, morgen einigermaßen lehren zu können.
Gute Nacht, lieber Fritz! Lege das Lebensjährchen getrost zu den andern und laß uns hoffen, daß wir mit einander recht alt werden und noch manches heitere und glückliche dazulegen. Es wird uns das Leben jetzt beiden ein wenig sauer, aber es mag doch wohl mal eine Periode geben, wo es uns leichter werden kann im gemeinsamen Streben. Möchten wir nur vorläufig mit Gesundheit gesegnet sein, das ist das beste, was wir uns wünschen können. Lebe wohl,
Deine alte Tilla.

Fritz Anneke
an Mathilde   
24.1.69

Herr Schurz ließ sich gestern abend eine Serenade nebst Fackelzug bringen, und in seinem Organ, an dessen Spitze er noch immer als Chefredakteur steht, läßt er sich heute so selbstverherrlichen und selbstvergöttern, wie ich noch nie in diesem Genre etwas gesehen habe. Würde Herr Schurz sich im Senat bemühen, wahrhaft Gutes und nur Gutes zu leisten, ich könnte ihm die infamen Mittel, mit denen er hineingeschlüpft ist, vergeben; aber ich kann einem solchen politischen Schwindler nichts Gutes mehr zutrauen. Er ist zu tief verstrickt in die Maschen des Schwindels, als daß er sich - selbst wenn auch guter Wille da wäre - daraus losmachen könnte.
28. Januar 1869
Meine Tilla!
Es ist halb vier Uhr morgens. Ich komme eben von der Arbeit. Eine wunderschöne Sommermondnacht, die ich wieder allein, allein genießen muß. Aber nein, ich genieße sie doch nicht so ganz allein. Die Erinnerung an Dich steht vor mir, fast so lebhaft, als wenn Du bei mir wärest, die Erinnerung, wie Du mich an meinem Geburts- und unserem Verlobungstag in Köln, wie Du mich in Frankenstein in der Pfalz »in Dein Ärmchen« nahmst. Das sind nur ein paar der hervortretendsten Erinnerungen. Denkst Du auch noch daran?

11. 2. 69
Die Redaktion der Neuen Welt ist noch ebenso miserabel wie je zuvor. Ich erhielt heute im Vertrauen den Aufschluß, daß in dem fünfköpfigen Direktorium zwei Mitglieder ganz entschieden für mich, die andern gegen mich sind und zwar aus persönlichen Gründen, wegen meines Charakters. Mit zweien der Herren bin ich früher einmal hart aneinandergeraten. Da wird »Charakter« wohl Starrsinn, Unbeugsamkeit bedeuten und ein gewisses unangenehmes Gefühl, das sie mir gegenüber empfinden. Ich sagte dem Herrn, der mir die Mitteilung machte, mein »Charakter« könne sich vor der ganzen Welt sehen lassen und wenn ich wüßte, daß die Herren damit vielleicht etwas Böses im Auge hätten, so würde ich ihnen entgegentreten; mit der total verpfuschten Redaktion möchte ich jetzt übrigens gar nichts mehr zu tun haben, um so weniger, als ich zweimal übergangen worden bin.

Mathilde
an Fritz Anneke   
22. März 1869

In dem letzten Winter ist mir diese traurige Stadt immer öder erschienen. Kein Frühling, keine Natur, nur der See mit seiner wilden Brandung, nur die hübschen freundlichen Häuser, gleich kleinen Villen, in welchen die vom Glück bevorzugten Leute recht brillant wohnen können. Von Menschen nichts, noch von einiger liebe zur Kunst, Bildung, fortschreitender Intelligenz. Nichts von Anregung, weder für Geist noch für Gemüt. Meine Verwandten, dem allgemeinen Verhängnis erliegend, fruchtlos kämpfend mit täglichen Sorgen, werden für mich mehr und mehr unumgänglich. Für Percy keine Aussicht für Weiterkommen oder Fortentwicklung seiner herrlichen natürlichen Anlagen. Das alles ist wohl hinreichend, einem Leben und Aufenthalt von der trübsten Seite erscheinen zu lassen. So wäre ich ihm auch schon entflohen, wenn ich Jugendmut noch genug in mir verspürt hätte, noch einmal mich auf neues Ringen und Wagen einlassen zu können, das das bescheidenste Los für die nächstfolgende und spätere Zukunft verhieße. Ich habe hier viel errungen. Ist's gleich auch lange nicht befriedigend und kompensierend für die großen Anstrengungen, so ist es doch ein Fundament, das sich neu nicht so bald wieder aufbauen läßt. Es gehen überall wie hier Jahre dazu, das Vertrauen als Lehrerin, die Liebe der Kinder sich zu erringen, die Einrichtungen zu treffen. Hat man dazu nicht ein wenig Kapital, so ist man dem Zufall preisgegeben, der gar zu schlimm oft mit uns gespielt hat. Immer noch habe ich zwar hier Gegner und Neider zu bekämpfen. Im Augenblick tritt der im vorigen Jahr Milwaukee lebewohl sagende Peter Engelmann wieder auf, unterstützt von seinen Anhängern, die ihm die Gebäude der sogenannten englisch-deutschen Akademie frei überlassen, und verspricht der mit der Realschule verbundenen Höheren Töchterschule seine besondere Aufmerksamkeit zu widmen - Jedoch auch ich habe in der Levana eine Phalanx hinter mir, die treu zu mir steht und ihre kooperative Wirksamkeit in einer Subsidie von hundert Dollar bar und in Geschenken für die Schule bewiesen hat. Diesen Betrag von hundert Dollar hoffen sie im Jahr drei oder viermal wiederholen zu können und außerdem an einem Fonds schaffen zu helfen, der mir einmal zu einem Gebäude verhilft. Du siehst hieraus und außerdem aus der stetigen Teilnahme der Schülerzahl (50), daß das Werk einen kräftigen Halt in sich erlangt hat und daß nur Unfälle besonderer Art es mir wieder zerstören könnten. Wie hart ich daran gearbeitet habe, das ahnst Du nicht. So könnte ich nicht wieder von vorne anfangen. Und nichts wird geschaffen, ohne sein Lebensblut, sein Bestes, daran zu setzen.

Mathilde
an Fritz Anneke
März 1869

Mein lieber Fritz!
Wie traurig Dein Brief ist. Mir fehlt es auch oft an Lebensmut. Aber der Wunsch für die Meinigen noch ein wenig zu leben und zu arbeiten, hält mich immer aufrecht. Gerade als ich zur Convention in die zweite Sitzung gehen wollte, empfing ich Deine Zeilen. Das Weinen war mir so nahe, ich wäre gerne zu Hause geblieben. Denn mitten in dieser streitenden und kämpfenden Menge fühlte ich mich einsam. Sonst strebten wir gemeinsam so einig in dieser Frage Seite an Seite, nicht wahr? Die Zeitungen, wenn Du noch dafür Interesse hast, werden Dir von dem Ereignis erzählt haben. Unsere Sache hat unstreitig einen Riesenschritt gemacht. Die Agitation der Frauen Livermore, Anthony, aber besonders Elizabeth Stantons steht so großartig da in ihren Wirkungen -
Hier hat mich die Müdigkeit und die Trauer um Dich, die mich fast keinen anderen Gedanken fassen läßt, übermannt, lieber Fritz. Alles, was ich Dir schreibe, geht so ohne Nachhall an Dir vorüber.
Du antwortest mir wohl nur in Gedanken, in den ungeschriebenen Bogen und Bänden? Davon merke ich nur nichts, nichts wie Deine Schwermut wird mir offenbar. Hertha weiß nichts von Deinem betrübten Brief. Ich darf es ihr nicht sagen. Das Kind hat von Dir und mir ein doppeltes Erbteil. Es ist der Hang der völligen Absperrung, der Isolierung im Leben, dem innern wie dem äußern. Ich hätte längst, vor dreißig Jahren schon, dem Leben gerne Adieu gesagt, wenn nicht die Macht, für andere leben und arbeiten zu müssen, mich an den Haaren aus meiner sträflichen Melancholie herausgerissen hätte.
Frisch ins Lcl>en hinaus, solange wir noch leben, war die Parole, und mit ihr ging es in den Kampf des Lebens. An mir hast Du Dir nie ein Beispiel genommen. Du hast mich nie und in keinen Teilen hoch genug dafür erachtet. Ich habe es anders getan.
Du siehst, daß man mich gerne mit dummen politischen Tricks in die Bresche stellen möchte. Herold wie Bannerpacken mich an. Ich habe keinen Moment Zeit, mich zu wehren. Ich habe oft für Dich mich in die Schranken geworfen - ich will sehen, ob Du dieses Mal die Gelegenheit vorüber gehen lassest, für mich einzutreten, wenn's Not tut. Mein täglicher Beruf ist fast zu schwer, als daß ich noch an irgend etwas anders hätte denken dürfen. Nun, der Mensch kann viel, wenn er will.
Mein freier Speech, aufgefordert von Susan Anthony und Elizabeth Stanton, den ich aus dem Ärmel schüttelte mit der Beredsamkeit meines Herzens, gelang gut und wurde gut aufgenommen. Ich soll absolut nach Chicago kommen und dort das Feld für die Deutschen, das durch Rasters Einseitigkeit gänzlich im Argen liegt, vorbereiten. Wenn ich dorthin gehe, so nehme ich Hertha mit und sehe Dich in St. Louis. Aber auch nach New York bin ich delegiert - und wie ich das alles mit dem Schulwesen verbinden soll, weiß ich bis jetzt noch nicht.
Heute Abend und morgen von 8-10 halte ich einen freien Vortrag über Nibelungen - Uranfänge deutscher Dichtkunst. Vorbereitet bin ich nicht auf einen Gedanken. Es muß kommen, wenn ich da stehe. Die Levana hat mir hundert Dollar eingehändigt, wie ich Dir sagte. Es tat wirklich not.
Schreib mir, wenn Du mich lieb hast, gleich wieder. Verzeih mir meine Eile, Du weißt ja wie's geht, wenn man nicht weiß, wie anzufangen. Alle Schulbänke und Stühle in meinem Zimmer - es sieht kraus aus.
Halte lieb und sei nicht traurig, mir zu Liebe.
Deine Dich innig liebende Mathilde.

Mathilde
an Fritz Anneke
Mai 1869

...Wenn man nichts im Leben hat als Plage und Arbeit und bittere Sorgen hinterher, so ist das Leben nicht mehr viel wert. Du entnimmst aus meinem Briefe, daß ich mich schwer von Milwaukee trennen kann und meine Aussichten besser... Ich weiß nicht, ob ich wirklich so unklar schrieb. Ich wünsche nur, irgendwo zu sein, wo ich arbeiten kann und meine Arbeit belohnt wird, auf daß ich leben kann, wie es einem gebildeten Menschen zukommt. Hier bin ich voll Sorgen. Nun soll ich gar noch gesagt haben, daß ich die Miete für ein I laus wollte garantiert haben. Ich habe nichts gewollt als 25 bis 30 Schüler oder wenigstens die Miete gesichert haben.
Meine Schule hier ist voll, aber kein Mensch zahlt mir. In diesem ganzen Monat muß ich von den $ 20, die Du mir gabst, existieren. Krst für Privatstunden nahm ich $ 8 und für die Klassenschülerin $ 12,50 ein. Davon soll nun Miete usw. bezahlt werden. Der Kopf schwirrt mir, wenn ich nachmittags aus der Schule komme und mein blühend Glück überblicke.
Ach, ich weiß Dir nichts Heiteres zu schreiben, lieber Fritz, die ganze Luft ist voll von Klagen der Wehmut und des Menschenleids. Ich freue mich, wenn Du nächsten Sonntag, 6. Mai, zu uns kommst. Herthas Los wird nicht lichtvoller sein als das aller Frauen und namentlich ihrer Mutter...

Mathilde
an Fritz Anneke
12. Juni 1869

...Ich werde fortwährend eingeladen, Konventionen abhalten zu helfen (natürlich gegen Honorar). Solange ich Lehrerin sein muß, kann ich schwerlich an direkte Propaganda denken. Mein Lehrstand leidet auch furchtbar unter dem Druck der sogenannten schlechten Zeit. Verluste und Abzüge sind an der Tagesordnung. Heinzen besuchte mich gestern. Er spricht heute Abend in der Turnhalle. Daß er mich gepriesen hat, wegen meiner Beteiligung an der Frauensache, weißt Du. Sein Pionier bleibt sich treu.
Die Westliche Post liefert »geistreiche Artikel«, das muß ich gestehen. Armseliger Schurz, wozu läßt du dich mißbrauchen. Sein Name an der Spitze solchen Schundes. »Riesengardinen-Predigt«. Dieser Aufsatz ist voller geflissentlicher Lüge und Entstellung. Das sind die Waffen unserer gesinnungstollen, geistreichen Deutschen. Ich schäme mich bald, eine Deutsche zu sein.
In der Familie ist viel Mißmut. Emil kommt nicht vorwärts, wie er wünscht. Leidet auch viel an Leber und Magen. Ein Wechsel des Wohnortes für die ganze Sippschaft wird bisweilen in Erwägung gezogen. Was sagst Du? Wanderst Du mit nach Kalifornien aus? Das Klima hier ist so niederdrückend, daß Du keine Idee davon hast. Kommst Du uns nicht bald einmal besuchen?

Mathilde
an Fritz Anneke   
28. Juni 1869

Lieber Fritz!
Drei Briefe habe ich in der letzten Woche von Dir erhalten und Du nicht einen von uns. Ich schrieb Dir allerdings, aber nachdem ich geschrieben, war mir wieder leid geworden, warum ich schrieb. Und so blieb der Brief liegen. Es ging mir nämlich der Gedanke durch den Kopf, nachdem ich Rodenbergs Poesie durchflogen, eine Sammlung meiner kleinen lyrischen Sachen herauszugeben und sie zum Gegenstand eines kleinen Einkommens zu machen. Eine bessere Einsicht sagt mir, lieber noch etwas mehr zu entbehren, als in dieser Zeit des Kampfes und Streits mit all dem Gefühlsdusel zu kommen. Hätte ich geharnischte Lieder zu weisen, a la bonheur! So bleibt's also, beim Alten...
In dieser Woche schließe ich die Schule. Die letzten vier bis sechs Wochen habe ich mit samt meinen Lehrern für nichts gearbeitet. Letztere habe ich natürlich salarieren müssen. Von meinen Rechnungen aus dieser Zeit, die selbstredend die Ferien einschließen, hat nur der redliche Carl Anneke und Rogers für zwei Kinder Zahlung geleistet. Wenn die Hitze mir nur gestattet, vor Anfang August meinen oratorischen Feldzugsplan zu verfolgen, sonst komme ich mit all meinen Verpflichtungen bis dahin in große Schwierigkeiten ...
Was man von uns wohl sagen wird, wenn wir dahingegangen sind? Schwerer als wir hat keiner - ich sage es frei - gekämpft und gelitten - treuer auch keiner. Aber von uns wird es niemand sagen. Die noch leben, wissen es nicht oder wollen es nicht wissen.

Was ich dankbar anerkennen muß, ist das Streben weniger Frauen in der Levana. Es ist so ohne allen Egoismus für die wenigen mit so viel Arbeit und Opfern verbunden, und so in seiner Weise auch erfolgreich, daß es mich rührt, wenn ich es überdenke. Seit Weihnachten diese schönen Geschenke - ein kostbares Kleid, das prächtige Gedeck, etwas Holz und Kohlen, und endlich diese 80 Dollar.
Welche Hilfsmittel zum Lesen bot diese Ausstellung in Wien! Unser Staat, der so viel Geld fortwirft und sich bestehlen läßt, sollte nach einem solchen europäischen Lehrertag einmal die geeigneten Persönlichkeiten (mich selbst) senden, um mit den Mitteln zugleich einige Lehrkräfte herüber zu schaffen, die etwas Sinn und Verstand in diese wahnwitzige Lehrerei der Volksschulen brächten.
Es ist wieder ein warmer Sonntagmorgen. Grüße mir Ida und die ihrigen. Unser Herthachen ist wohl. Percy schwärmt zu viel, aber ich kann nichts daran ändern.
Leb wohl lieber Fritz, Deine Mathilde.

Fritz Anneke
an Mathilde   
St. Louis, 13. August 1869

Liebe Tilla,
Ich setze meinen Brief von letzter Nacht fort. Einen Punkt auf den ich Dir eigentlich gleich hätte antworten sollen, berühre ich zuerst - den Konversationslexikonschwindel. Es ist eine starke Zumutung an Dich, eine Lebensskizze von Dir in 20 bis 25 Zeilen zusammenbringen zu sollen. Ob und wie Du es fertig gebracht hast, vermag ich mir nicht zu erklären. Was mich betrifft, so mag ich mit dem Schwindel nichts zu tun haben. Wem so alles fehlgeschlagen ist wie mir, der mag, wenn er ein Mensch von einiger Bescheidenheit ist und nichts vom frechen Renommisten an sich trägt, nicht mehr vor die Öffentlichkeit treten. Das einfache vielfache Schlagen angeben - das tut's nicht, um alles zu erklären, dazu gehört viel Raum und das interessiert auch in einem Sammelwerk das große Publikum nicht. Folglich schweige ich.
Deine Mitteilung von der Neuen Welt habe ich einige Tage, nachdem sie erschienen war, gelesen. Ich wurde erst darauf aufmerksam gemacht, sonst hätte ich nichts davon gewußt. Den Westen bekomme ich nicht zu Gesicht, und daher weiß ich von Deinen Einsendungen in jenes Blatt nichts. Ich denke, es muß als Tauschblatt hierher kommen. Aber Dänzer monopolisiert alle Blätter derartig für sich, daß ein anderer nichts davon zu sehen bekommt. Er packt sich die rechte und linke Seite seines Schreibtisches und außerdem 4 bis 5 Stühle damit voll, und kann es nicht ausstehen, wenn irgend jemand etwas von diesem, seinem Sammelsurium anrührt. Ihn um etwas bitten, mag ich nicht.
Auf die hiesige Fair-Woche, die sicherlich hunderttausende von Menschen versammeln wird, sind zahllose Konventionen angesagt, so auch eure Weiberrechtskonvention. Sie spekulieren alle' auf die Menschenmasse, die aus Neugier, wie zu einem Zirkus, so auch zu einer solchen Konvention strömen wird. Damit ist aber nichts erzielt. Solche Leute wollen sich nur amüsieren, wollen nur ihren Fun haben, oder Ulk treiben. Sie haben nicht den Ernst, nicht den guten Willen, nicht die Andacht, um der Sache selbst zu folgen, um sich aufrichtig daran zu beteiligen oder um sich zu belehren. Und so bin ich überzeugt, daß Eure hiesige Weiberrechtskonvention keine wirklichen Resultate haben wird, wohl aber lächerliche, die der Sache nur schaden können ...

Mathilde
an Fritz Anneke
13. August 1869

Mein lieber Fritz!
Gestern habe ich Deine beiden Briefe vom 12. und 13. empfangen, die ich schon in den beiden letzten Wochen von Tag zu Tag schmerzlich ersehnt hatte. Daß in Deiner Stimmung oder Körperlichkeit wieder etwas vorginge, hatte ich wohl gefürchtet. Daß aber eine Unzufriedenheit in Deiner Stellung sich schon so bald kundgeben würde, habe ich nicht geahnt. Du wirst gut tun, möglichst neue Bahnen Dir auszulegen, damit Du der jetzigen Valet sagen kannst, inst wenn es Dir passend erscheint. Es ist doch ein trauriges Los, nirgends festen Fuß fassen zu können. Immer und immer die Grundlagen unter einem schwinden zu sehen, die man oft mit seinem I lerzblut zusammengekittet hat, um endlich mal ein Haus darauf bauen zu können. Wir, Du sowohl wie ich, bleiben ewig Fremdlinge in diesem Lande. Fremdlinge in des Wortes schlimmster Bedeutung. Nun zu Deinem Brief.
Was die Notizen unserer beider Lebenskarrieren anbetrifft, so bin ich nicht ganz mit Dir einverstanden. Von dem Fabrikanten des Lexikons erwarte ich keinen guten Takt. Das Ding selbst wird für Amerika bestimmt erscheinen. Dein wie mein Name verdienen wenigstens darin - und zwar nebeneinander - genannt zu werden. Ist es auch nur der Name und wo wir geboren sind, das ist genug in diesem Plunder. Diese von der Bühne hinwegstreichen, geht nicht. Es ist nicht Sache der Eitelkeit von mir, vielmehr der inneren Konsequenz unserer Pfade, die wir gewandelt sind. Ja, in Deutschland hat man mich drei-, viermal um eine Lebensskizze für Staatslexikons und historische gebeten. Es ist mir damals nicht eingefallen, darauf einzugehen. Ich hätte auch selbst diese Aufforderung unbeachtet gelassen, wenn Cilly nicht darauf bestanden und mich überzeugt hätte, daß man sich nicht gewaltsam und überall in den Hintergrund drängen soll, zumal nicht, wenn man sich selbst sagen kann, daß man zu den Besten gezählt werden darf. Ich ersuche Dich deshalb, und schon darum, daß Du mich nicht allein auf der Weltbühne dieses Lexikons erscheinen lassest, lieber Fritz, in einigen körnigen Sätzen zu sagen, was Du über unser beider Verhängnis und speziell über Dein Tun und Lassen zu sagen hast. Bleibst Du auf Deinem Vorsatz bestehen, so werde ich auch meinen Namen zurückziehen. Sag mir das darum zeitig.
Die Frauenrechtlerinnen haben es allerdings für zweckmäßig befunden, eine ihrer Haupt-Conventionen zur Zeit der Fair in St. Louis abzuhalten, einmal um der Masse Gelegenheit zu geben, sich von dem tiefen Ernst und der Wahrheit dessen, was sie vertreten, zu überzeugen, das andre Mal durch solche Massenbeteiligung auch sicher zu sein, daß die schweren Unkosten nicht nur gedeckt, sondern, daß sie auch Fonds erlangen, ohne welche so schwer ist, Revolution zu machen, und gänzlich unmöglich ist, Krieg zu führen. Ich hoffe, Du wirst Dich von der »Andacht« und dem Willen und dem Ernst überzeugen, den die treuen Arbeiterinnen für die Sache haben und hervorbringen. Die Vertreterinnen werden ihre hohe Würde, die sie in den zwei letzten Conventionen, denen ich beigewohnt, wiederum beweisen und sich nicht lächerlich machen. Im September beginnt die große - ich kann leider nicht teilnehmen ...
Trotz der Zunahme der Schülerinnen im letzten Jahr habe ich alles zugesetzt, dessen ich habhaft werden konnte. Das war von Dir, von der Levana und von Cilly. Ich will noch einmal den Versuch machen und dann auf Auswege sinnen.
Den Kindern und Cilly geht es gut. Laß mich nicht so lange wieder auf Nachricht von Dir warten. Ich ängstige mich mehr, als Du vielleicht denkst. Bleib gesund,
Deine Tilla.

Mathilde
an Fritz Anneke
2. Dezember 1869

Lieber Fritz!
Ich will keinen Augenblick länger zögern und Dir schreiben. Der Grund, warum ich schwieg, war zuerst tiefe Niedergeschlagenheit, über die ich kein Wort mehr verlieren wollte. Ich verlegte mich auf unermüdliche Arbeit, schrieb Artikel für das Belletristische Journal, die alte Freundin, die ich, ohne daß sie es selbst weiß, auf unser Gebiet herüberzuziehen hoffe, und arbeitete fleißig für Steiger in New York, der mich für seine Literarischen Monatsberichte engagiert hat. Ich denke dadurch einigermaßen die finanziellen Kalamitäten zu überwinden und mich selbst wieder zu erfrischen. Daß ich dazu meine einzigen Freistunden neben den Schulstunden benutzen muß, kannst Du Dir denken.

Mathilde
an Fritz Anneke
undatiert

...Sag mir doch, wer ist dieser Zukunftsmann, Redakteur des Turnerorgans »Zukunft«, der sich mit Deiner Bekanntschaft brüstet, Göbel heißen und beim Anzeiger Lokalritter gewesen sein soll, der mittlerweile mich so heftig angebellt hat, mir mein katholisches Kirchengebetbuch vorgeworfen usw. usw., daß Mathilde Wendt für mich in die Schranken getreten ist. Pionier hat ihren Artikel, der recht brav war, abgedruckt. Die Geschichte spielte schon vor 14 Tagen, ich vergaß, Dich danach zu fragen.
Zur Jahreskonvention in New York habe ich eben meine definitive Einladung bekommen. Ich kann nicht hingehen, halte es auch für nutzlos, obgleich die Assoziation mich gerne wieder delegieren wollte. Ich will lieber nach St. Paul und Minneapolis gehen, woselbst ich zu Vorträgen erwartet werde, die mir mindestens auch kleine Kompensationen in Aussicht stellen. Carl Scheffer schrieb mir gestern deshalb.
Wir würden alle in der kleinen Familie sehr enttäuscht sein, wenn Du Dein Versprechen nicht hieltest und uns am dritten allein ließest.
Adieu, lieber Fritz, ich will schließen, damit der Brief doch wenigstens morgen früh (Samstag) in Deine Hände kommt. Bleibe gesund und heiter,
Deine Mathilde.

Mathilde
an Fritz Anneke in Chicago   
25. Januar 1870

Mein lieber Fritz,
Ich bin heute den ganzen Tag nicht zu mir selber gekommen und erst jetzt, 11 Uhr nachts, nachdem ich eben aus einem öffentlichen Meeting komme, das ich in englischer Sprache - denke nur - präsidiert habe, kann ich Dir ein paar Zeilen schreiben. Ich kann natürlich erst Sonntag Abend von hier abreisen; die Woche war zu anstrengend für mich, da ich alle Stunden von Burgstall zu übernehmen hatte, weil er sehr krank war, als daß ich mit meinen privaten Vorbereitungen hätte fertig werden können.
Meine Absicht ist, lieber Fritz, nach meiner Rückkehr von Washington einen Tag bei Dir in Chicago zu bleiben und am Abend des Tages einen Vortrag zu halten, d. h. wenn Du die Vorbereitungen dazu machen willst als da sind, eine Halle zu engagieren und Anzeigen in hinreichender Weise zu machen. Es soll dieser Vortrag die Introduktion meiner oratorischen Epoche wiederum sein. Ich muß nicht allein, wie es mich drängt, für meine Sache durch Wort und Tat wirken, sondern auch meine Kräfte und die Gelegenheit benutzen, zum Erwerb. Du weißt, die Schule wirft für unser Familienleben nichts mehr ab. Schriftstellern und Sprechen wird dem Minus etwas abhelfen. Glückt mein Debüt in Chicago unter Deinen Auspizien und meinem Renommee, wenn ich von Washington komme, so fahre ich nach Minnesota weiter fort. Ich werde in St. Paul, Minneapolis, La Crosse erwartet, und glaube dort zu reüssieren.

Also Sonntagabend reise ich ab, und Montag morgen früh - wenn es Dir nicht zu früh ist, wirst Du mich am Bahnhof erwarten, nicht wahr?
Das Freiticket würde mich sehr erfreuen und ein gutes Teil Geld mir ersparen. Nebenausgaben in der Kleiderfrage habe ich doch genug. Ich gehe indes einfach und nach altem Schnitt wie immer. Die Glätte des Parquetbodens wird mich nicht schlüpfen lassen. Die schlüpfrigen Pfade waren mir von jeher ein Greuel; meinen festen Tritt, lieber Fritz, das weißt Du, werde ich nicht verlieren.

Mathilde
an Fritz Anneke   
22. Februar 1870

In diesem Klima zu leben ist mehr, als ich jetzt vertragen kann - trotz Stimmrecht, das uns jetzt in naher Aussicht steht. Wisconsin erste Staat, der die Bill im Senat so glänzend passieren läßt. Was das Haus tun wird, steht zu erwarten. Unsere natürlichen Gegner drücken auf deren Handlung, was möglich ist.

Mathilde
an Fritz Anneke   
7. März 1870

In Minnesota werden also die Frauen im Herbst stimmen. Zunächst haben sie selbst über ihr Sein oder Nichtsein zm entscheiden. Ich fürchte nicht, daß wenn sie zur Urne treten, auch mit einem entscheidenden Ja eintreten. Was hier noch werden wird, ich weiß es nicht. Man bekommt ja keinen vernünftigen Menschen hier zu Gesicht, bei dem man sich nur etwas Belehrung über die Situation verschaffen könnte.
Wie geht es in Deinem Amte? Wie gefällt es Dir in Chicago? Hertha ist zum Ameisenberg gegangen. Dort ist solch schöne Schlittenbahn, sagt sie. Percy ist Ballkönig, wie es scheint. Auf dem Südseitenball, den er mit Carl Annekes Familie besucht hat, auf dem Germania Maskenball, überall war er froh und fröhlich. Ich gehe bei dem schlechten Wetter noch nicht aus und bin auf die Einsamkeit angewiesen. Adieu, lieber Fritz. Ich hoffe von Dir Gutes zu hören.
Deine alte Tilla.

Mathilde
an Fritz Anneke
28. April 1870

Unser liebes Herthali begießt ihren Salat. Sie würde eine glückliche Farmerin sein. O daß uns doch ein kleines Besitztum zuteil würde. Ein Häuschen mit Pferd und Kuh und nichts wie Erdbeer- oder andere Beeren-Pflanzungen.
10. Mai 1870
Ich beschäftige mich außer den Schulstunden jetzt fortwährend mit meinem »lecture-plan«. Das unerbittliche Muß drängt mich auf diesen dornenvollen Pfad. Ich fühle die Schauer der alten Tage sehr nahen. Die erste Einladung, die etwas Hoffnung erweckt, ist mir heute von La Salle, Ill, geworden. Auf die Anfrage, wie hoch meine lectures wären, will ich die runde Summe von $ 100 für jede Vorlesung und freie Unterhaltung an Ort und Stelle fordern.

Fritz Anneke
an Mathilde   
Chicago, 31. Mai 1870

Daß Du die hiesige Weiberrechtskonvention nicht mitgemacht hast, brauchst Du nicht zu bedauern. Es muß eine sehr lahme, matte und erfolglose Affaire gewesen sein. Da scheint in St. Louis ein ganz anderer Zug dahinter zu stehen. Die Aufforderung, die Du gesehen haben wirst, war von 215 Männern und Frauen unterzeichnet, darunter die hervorragendsten amerikanischen Richterund Advokaten und manche der namhaftesten Deutschen und Deutsch-Ungarn. Sogar Frau Dänzer, die Gattin von Carl Dänzer war dabei, während er in seiner Zeitung die Sache bekämpft.

Mathilde
an Fritz Anneke
8. Juni 1870

Es ist früh morgens. Hertha ist schon seit 5 Uhr im Fluß baden und jetzt zum Markt gefahren, um sich nach dem Stand der frischen Gemüse, die wir auch bis jetzt noch nicht kennengelernt haben, zu erkundigen, damit wir an unsern Festtagen, wenn Du bei uns bist, darin gründlich schwelgen können. Heute werden wir ein Vorspiel davon haben, die erste rechte Portion Erbser». Percy macht den Kaffee. Ein Mädchen haben wir nicht. Hertha lernt Haushaltung fürs erste.
Morgen abend sollen die Kinder mit dem Pferdchen am Bahnhof Dich erwarten, um Dein Gepäck heraufzubringen. Ich habe gestern auch im Fluß gebadet und fühlte mich sehr wohl danach. Cilly ist abgereist.
Deine Tilla.

Tagebuch-Eintragung

  • Levana - der Name kommt von levare, aufheben, bewahren. Man gab in altheidnischer Zeit der Göttin, welcher man die Tugend der Barmherzigkeit und Mütterlichkeit zuerkannte, den Namen Levana. Die Göttin wurde stets mit zwei Kindern auf den Armen abgebildet.

Mathilde
an Fritz Anneke
Juli 1870

... Paul hat noch nicht einmal an seine Familie geschrieben. Es ist herzzerreißend, wie die arme Fanny sich durchschlagen muß, um mit den Kindern durchzukommen.
Cilly besteht darauf, meine Gedichte in einer anständigen Sammlung, verziert mit meinem Konterfei herauszugeben. Sie würde am Ende nicht die schlechteste sein, wenn sie gut redigiert, korrigiert und verziert würde. Cilly denkt gleich 200 Exemplare auf ihre Rechnung nehmen zu können. Meine alten Freunde würden sich schon alle meine poetischen Grillen aneignen wollen. Ebenso berechtigt wie Rodenbergs Lyrik ist die meine, zu Dir gesagt. Willst Du in unserem Interesse wegen des Verlages einmal etwas unternehmen? Wenn mir die Garantie für eine prächtige Ausgabe würde und als Honorar vielleicht 500 Exemplare verabfolgt, so wäre ich zufrieden. Ich würde das Exemplar mit zwei Dollar verkaufen, nicht darunter.
Willich ist zu gelegener Zeit nach Deutschland gegangen. Was wird er tun? Willst Du Herrn Volke zwei meiner kleinen Liedlein, die ihm vielleicht zur Übersetzung geeignet erscheinen, als Kompliment für seine Artigkeit gegen Dich überreichen?

Mathilde
an Fritz Anneke
undatiert

Lieber Fritz!
Über Deine Ansichten zum Sieg der Orleanisten habe ich mich gewundert. Die meinigen sind mindestens auf die Republikaner Frankreichs...  gerichtet....  Napoleon wird geschlagen, Deutschland siegt. Seine Einigkeit auf republikanischer Grundlage. Frankreich kommt nach all seinen Irrungen endlich auch dahin für längere Zeit. Provoziert wurde der Krieg ebenso von Bismarck und Comp, wie von Napoleon. Die armen verblendeten Völker haben dafür Ader zu lassen. Herr Wilhelm denkt anders als das friedliebende Volk. Das wollte und mußte ja die Fortsetzung von 66. Ob sie nun heute oder morgen für diesen oder jenen Freund vom Zaun gerissen wird, bleibt sich gleich. Wenn die Völker endlich nur einmal ihren und nur ihren Vorteil daraus ziehen wollten, anstatt sich für die elenden Throne und die Erweiterung ihrer Bereiche ausbläuen zu lassen. Wenn die Barbaren nur fern bleiben, die Russen, dann werden die andern es schon fertig bringen, das hoffe ich.
Ich sehe, daß Deine Gesellschaft sich in eine lokale Begeisterung hineingearbeitet hat. Eine Begeisterung, die sie sich Geld sogar kosten lassen. Es bleibt hier sehr beim Alten.
Deine Mathilde.

Fritz Anneke
an Mathilde   
Chicago, 21. Juli 1870

Die Versammlung am letzten Sonntag war die schönste, die ich seit 48 Jahren gesehen; eine Begeisterung, wie sie fast noch nie da war. Ich sollte auch eine Rede halten, kam aber erst als dritter oder vierter an die Reihe und lehnte ab. Ich bin auch beim Ausschuß und habe daher sehr viel zu tun.
Deinen ideellen Standpunkt kann ich nicht teilen. Wir müssen den realen Boden festhalten. An die Republik ist einstweilen nicht zu denken. Diesem Schuft Louis gegenüber nimmt der alte Wilhelm eine sehr noble und brave Stellung ein, und ich kann ihm alles vergeben. Er ist jetzt der Vertreter des einigen Deutschland und als hurst ein würdiger Vertreter. Die Franzosen mit ihrem Louis müssen gehauen werden, wie sie noch nie gehauen worden sind, so daß sie nie wieder Eroberungsgelüste bekommen können, und Deutschland wird und muß einig werden. Ich war früher dafür: durch Freiheit zur Einheit! Die Geschichte will es anders; sie sagt zu deutlich: durch Einheit zur Freiheit!

Mathilde
an Fritz Anneke
29. Juli 1870

Ich denke, die Deutschen und Franzosen kommen heute oder morgen zur Schlacht, mit der hoffentlich der Tanz zu Ende sein wird. Es ist ja doch nur ein Aderlaß der Völker, mal wieder zu Gunsten der Tyrannen.

Fritz Anneke
an Mathilde   
2. August 1870

Deine Ansichten über den deutsch-französischen Krieg teile ich nicht. Louis tritt freilich als frecher Despot auf, da er in seinem Interesse Hunderttausende abschlachten läßt. Aber Deutschland mußte den Fehdehandschuh aufnehmen; es handelt sich um die Erhaltung der Integrität des deutschen Landes und der Selbständigkeit des deutschen Volkes. Mag da nun ein Wilhelm an der Spitze stehen, oder wie der Kerl sonst heißt, das macht keinen Unterschied; wenn er nur die Sache Deutschlands würdig vertritt. Und das tut der alte Herr.

Mathilde
an Fritz Anneke
Danksagungstag 1870

Butz hat recht, lieber Fritz,
wenn er meint, in unserem engeren Vaterlande, in unserer Grafschaft seien nicht viele Poeten gewesen, die sich der Landessprache ergaben. Ich erinnere mich keines einzigen. Wohl leben die alten Spiel- und Wiegenlieder noch im Munde der Kinder, aber ich wüßte keines, das umgestaltet worden wäre im Geiste der Zeit; während unser Nachbarland, das Münsterland, wahre Genies für das plattdeutsche Idiom aufweisen kann. In Greven: Terfloth, Münster: Lüdorf und Zumbrock. Und nun erst der Verfasser des »Wat kikt us de Stärnkes...« und »Nau schienet die Bieke so hell und so kloar«.[11] Wilhelm Junkmann mit der ganzen tiefinnigen Sinnigkeit der träumerischen Westfalen.
Wer der Verfasser vom »Aollen Pruß« ist, das im Dortmunder Dialekt existiert, mögen die Götter wissen. Kaspar Butz wird am besten selbst wissen, wer »sgrieven hat es se in Hagen pladdüts kuert von de aolle Fritz u da Sauerlänners.«

»De aolle Fritz leid groute Noud
de halve Mannsgopp dae lagg doud.«

Nächstes Mal mehr davon für Freund Butz.

Mathilde
an Fritz Anneke
undatiert, 1870

Siehst Du bald ein, lieber Fritz, daß ich über Deinen Freund, den »Heldenkönig«, von vornherein ein richtiges Urteil gehabt und der borussischen Niedertracht bis auf den Grund geschaut habe?! Wie froh bin ich, daß Du zu keiner offenen Demonstration in Deinem blinden Vertrauen veranlaßt warst. Ich würde mich totärgern, wenn sie auch Dir die Verblendung vorzuwerfen hätten. Ich für mein Teil habe Entschuldigung in meinem Herzen für Dich.
Der Überläufer Napoleon wird nun, von Bazaine und der deutschen Armee, wenn sie nicht revoltiert, unterstützt sehen, wie für seinen Sohn der Thron gerettet. »Doch die Katz, die Katz ist gerettet«', wenn Heinrich auch darob ins Wasser gefallen und ertrunken ist.
Man spricht davon, daß Schurz nach Berlin berufen wird und zwar von Bismarck. Wahrscheinlich genug, da ließe sich seine Opposition in Washington erklären.

Cäcilie Kapp aus Vassar
an Mathilde Anneke   
15. Februar 1871

Morgens sechs Uhr tönt die erste Schreckensglocke. Um 3/4 vor 7 Uhr hinunter zum Frühstück. Um Viertel nach sieben von da in die Kapelle, um halb acht Uhr zurück in mein Zimmer, das unterdessen gelüftet und Bett gemacht ist. Noch ein Blick in die Bücher. Um acht Uhr in den zweiten Korridor, vier Stunden hintereinander: Seniorenklasse, 17 Schülerinnen, Literaturgeschichte, z. Zt. Faust. Nach 40 Minuten eine kleine Pause, dann Nr. 2, Anfangsklasse, 28 Schülerinnen, dann Nr. 3 Französisch, 42 Schülerinnen, Nr. 4 wieder eine Anfangsklasse, 29 Schülerinnen. Dann ausruhen, Studium, um ein Uhr Mittagessen bis fast zwei Uhr. Dann ein Schläfchen oder ein Spaziergang oder Lesen, Studium. Um 4 V4 Nr. 5, Klasse C mit 34 Schülerinnen, um 5 Uhr Nr. 6, Klasse B mit 26 Schülerinnen. Macht zusammen sechs Klassen und 176 Schülerinnen. Um sechs Uhr Tee, halb sieben Kapelle, dann 20 Minuten silent time - dann separates Drillen von spät Eingetretenen - Reporte machen und auf den folgenden Tag präparieren. Dann Bibliothek und Zeitung lesen, hier und da Besuche machen oder annehmen, eine Vorlesung, musikalischer Abend beim Präsidenten. Um zehn Uhr dann ins Bett. Samstag und Sonntag frei, Frühstück erst um acht Uhr.
Ach, wenn doch der Tildusch bei uns wäre. Einziger Tildusch, ich freue mich schrecklich über die Oper und ihren Fortgang...... 
Lily sagt, der Oithono sei reizend auf englisch. Mr. Townsend hat in Gesellschaften Proben davon vorgelesen. Ich habe ihm eben Deine Adresse schicken müssen.

Cäcilie Kapp
an Mathilde Anneke   
25.4. 1871

Ich freue mich, daß die Equipage Deinen Kindern, namentlich sie Hertha solche Seligkeit bereitet. Natürlich ein Wagen und Pferd zur Disposition - es ist ja königlich - es vertritt jetzt wohl die Stelle von Weißkirchs berühmtem Pony? Hast Du es denn gekauft? oder gefunden - oder geerbt?

Mathilde
an Fritz Anneke
25. Juli 1871

... Wenn ich jetzt nicht Lichtblicke genug aufzuweisen habe, dann weiß ich's nicht. Ich habe eben einer Schülerin ein Testimony ausgestellt. Sie ist viereinhalb Jahre in meiner Schule herangebildet und ist nun, ohne ein weiteres College besucht zu haben, tüchtig befunden worden, die Stelle einer Lehrerin an der High School einzunehmen mit 600 Dollar. Das junge Mädchen ist 17 Jahre alt.
Herthali ist noch in ihrem College, und ich muß schließen. Cilly kauft Leinenbinsen für Deine Hemden. Bleibe gesund lieber Fritz und komm bald wieder zu uns. Deine Mathilde.

Mathilde
an Fritz Anneke
Sommer 1871

Lieber Fritz!
Die Adler haben sich auf die Mündungen unserer Kanonen gesetzt, schießen wir sie herunter! Armer Girardin, arme Großprahler Frankreichs. Der Jubel Deutschlands wird heute kein Ende nehmen. Es wird auch jetzt im Siegeszuge bleiben und den Weg nach Paris nehmen. Dort werden dann hoffentlich die Friedensbedingungen den stolzen Franken diktiert werden, die den Frieden der Welt bedingen. Reduktion des Kriegsheeres, wenn nicht gänzliche Abschaffung - wäre das nicht das erste und mögliche?
Wir dachten heute Morgen bei den glorreichen Nachrichten des Vaterlandes an Dich. Cilly wollte Dir sogleich schreiben, weil sie glaubt, bei Dir die wärmsten Sympathien zu finden. Ich danke Ida sehr, daß sie uns den Ausgang der dunklen Feme mitteilte, die aber immer noch im Dunkeln auf Dich lauert.
Was mit mir und den Vorträgen werden soll, ich habe keine Ahnung. Heute hat mir außer den 80 Dollar Cilly wieder 50 Dollar für die Abtragung der Miete vorgestreckt.
Ob ich trotz des Kriegsenthusiasmus nun mit meinem letzten Befreiungskampf, der den Frieden will für alle Zeiten, populär werden kann - ich zweifle fast. Der Titel meiner Vorlesung soll sein: Unser Krieg.

Fritz Anneke
an Mathilde   
Chicago, am 20. März 1871

Liebe Mathilde,
Deinen Brief vom Samstag mit dem Gedicht von Herwegh bekam ich heute morgen. Mittlerweile wird Dir mein Brief von gestern zugegangen sein. Das Gedicht ist recht schön, wenn es auch nicht den Eindruck auf mich gemacht hat wie auf Dich, weil ich den Standpunkt nicht teile. Deutschland wird groß im Frieden werden, wie es im Kriege war. Es ist ihm die Gelegenheit gegeben, durch sein Reichsparlament, das aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgeht, sein eigenes Geschick zu bestimmen. Von seiner Bildung, Gesittung und Kraft wird dieses Geschick abhängen.

Mathilde
an Fritz Anneke
6. Oktober 1871

Lieber Fritz,
Dr. Koß erzählte mir am Sonntag morgen, daß ein hübsch ausgestattetes Blatt aus Chicago seine Erscheinung tags zuvor bei ihm gemacht habe. Ich sagte ihm, daß es Dein Blatt sei. Es war dies am Sonntag morgen vor Eröffnung meines Vortrags, den ich über »Freiheit und Harmonie« zur Zufriedenheit meiner Zuhörer in einer recht abgeschlossenen Weise gehalten habe. Die gute Ida war auch da in Begleitung Schmittills und Alfreds, der mir einen Blumenstrauß überreichte.

Mathilde
an Fritz Anneke   
9. Oktober 1871

Werden diese Zeilen Dich erreichen und wie? Welch ein furchtbares Unglück führt uns alle mehr oder minder heim! Wirst Du verschont bleiben? Ich zittre vor Angst und Schrecken um Dich - um alle, die von dieser Feuersbrunst betroffen wurden. Wenn Du kannst, gib ein Lebenszeichen. Mir ist, als müßte ich selbst zu Dir eilen, lieber guter Fritz.

Fritz Anneke
an Mathilde
Chicago, 10. Oktober 1871 - nach dem Brand von Chicago

Liebe Mathilde,
Omnia mea mecum porto, wie der Lateiner sagt. Das heißt, ich habe nichts mehr als was ich am Leibe trage, auch nicht einmal Wäsche zum Wechseln. Das Versichern meines Bundes hat nichts genützt, weil die Versicherungsgesellschaften jedenfalls bankrott sind. Am Samstag war ich so vorsichtig oder vielmehr so töricht, mein letztes Geld auf einer Bank zu deponieren. Alle Banken, alle Versicherungsgesellschaften, die Börse, das Court House, alle großen Hotels, der ganze Geschäftsteil der Stadt bis zur 11. Straße sind ein einziger großer Trümmerhaufen. Von der Nordseite steht fast gar nichts mehr. Ich half Freunden und anderen Familien ihre Sachen retten. Von meinem Plunder ist wahrscheinlich auch etwas gerettet, aber ich weiß es nicht zu finden. Die Banken, wenigstens die kleineren, werden wahrscheinlich bankrott sein, so daß alles was ich deponiert hatte, verloren sein wird. Mit der deutschen Gesellschaft ist es auch vorbei. Nicht bloß ist alles verbrannt, sondern es werden auch keine Mittel mehr einkommen. Was machen? Ich weiß es nicht. Beiersdorf hat alles verloren, seine Möbelfabrik, sein Geschäftslokal und seine Wohnung, alles in ganz verschiedenen Teilen der Stadt. Auf der Nordseite evakuieren wenigstens 5000 Menschen. Überall wo ein freier Platz ist, liegen tausende und zehntausende. Wenn die Behörden und die reichen Geschäftsleute nicht sofort Baracken bauen und für Lebensmittel sorgen, müssen noch tausende umkommen. An einen Wiederaufbau der Stadt ist nur zu denken, wenn der Osten und Europa mit mindestens $ 10 bis $ 20 Millionen oder auch noch mit mehr helfen. England soll bereits einige Millionen angeboten haben. Ich wohne inzwischen am Milwaukeer Bahnhof.

Cäcilie Kapp
an Mathilde Anneke
10.10.71

Einziger Tildusch!
Wie furchtbar gräßlich ist das Unglück in Chicago und wie vergänglich und flüchtig alles Tun der Menschen und alles irdische Gut! Gott im Himmel, es ist schauderhaft! Ich möchte an Fritz schreiben, aber warte, bis Du mir sagst, daß er noch am alten Fleck ist. Und Herrn Schneiders Bank auch - und zu denken, daß jeden Augenblick jedem von uns ein Gleiches begegnen kann.
Nun wird Milwaukees Eifersucht wohl ruhen - hoffentlich hat's kein Milwaukeer angezündet! Man kann kaum etwas anderes denken, rund um mich her Mädchen, die ihr home und alles dort verloren haben und nun angstvoll auf Briefe warten. Hoffentlich bist Du von den Kopfschmerzen befreit, Liebste.

Cäcilie Kapp
an Mathilde
29.Oktober 71

Cäcilie zitiert Mathilde, die ihr vorwirft, Cilly lägen die Westermanns Monatshefte mehr am Herzen »als unser ganzes Unglück, das mich Tag und Nacht an der Maschine nähen ließ«. -
Dich Tag und Nacht an der Maschine nähen ließ, die Armen und Kranken pflegen mit Aufopferung Deiner Gesundheit und Deines Lebens. Wie gerne hätte ich von dem gehört, was um Dich vorging, von den Unglücklichen, die alle in Deinem Hause gepflegt und gekleidet wurden.
Es hat mich lange nichts so gefreut wie die Verlobung Deiner Nichte Reitzenstein. Hat sich Dein Verdacht auf Hülswitt als begründet erwiesen?

Mathilde
an Fritz Anneke
Samstagabend

Lieber Fritz!
Deine Zeilen gestern an Hertha und heute an mich, stimmen mich so bedenklich über Dein längeres Verweilen in Chicago, daß ich kaum den nächsten Montag erwarten kann, der Dir diese Zeilen bringen und Dir wiederholt sagen soll, daß Du siehst, was aus dem Trümmermeer zu retten, und dann zu uns kommst. Komm so schnell als möglich! Wir wollen schon sehen, was zu tun ist, einstweilen erhole Dich bei uns. Ich richte Dir das Zimmer oben mit Ofen und Teppich hübsch zum Schreiben ein. Es soll Dir recht behaglich werden. Percy meint, Du würdest hier leicht eine Stellung finden. Pack also auf und laß uns zusammen unser stilles, friedliches Home haben. Ich arbeite jetzt mit großer Lust, ich fühle mich kräftig und sehe, daß ich nützen kann. Ich will mit Freuden wieder Deinen Geheimsekretär spielen, wenn Du so hübsch wie früher diktierst. Ich habe heute so viel zu besorgen gehabt, daß ich den schönen Samstag mit dem lichten Sonnenschein habe gar nicht können für meine Steinmalerei verwenden ...
Du wirst mir auch manche häusliche Sorge abnehmen können, und es bleibt unserm geistigen und Gemütsleben ein schöner Spielraum. Percy sitzt neben mir und lernt englische Literatur. Komme und warte nicht, bis Du krank geworden bist. Selbsterhaltung, das nur ist im Augenblick die Losung. Bist Du persönlich vom Unheil schwer betroffen, so sind wir dafür vom Glück nun etwas mehr begünstigt.
Die Mutter von Rebecca hat mir bereits ihre zweite Tochter angekündigt, die im nächsten September mit Rebecca, die zwei Jahre bleibt, eintritt. Will ich mein Institut für Pensionäre erweitern, so steht uns darin eine hinreichende Erwerbsquelle offen. Aber dabei muß ich kräftig unterstützt werden, sonst ruht zu viel auf meinen Schultern.
Es ist wahr, lieber Fritz, wir haben zu viel gemein in unserm Gemüt, ich habe das immer gewußt. Wenn wir verständig sind, so können wir uns dennoch ergänzend ausfüllen und glücklich sein. Bleibe gesund und verlaß Chicago. Komm zu uns.
Deine alte treue Tilla

Fritz Anneke
an Mathilde   
1. November 1871

Auf Deinen lieben Vorschlag, nach Milwaukee zu kommen, um in Eurer Mitte zu weilen, kann ich nicht eingehen. Ich will die deutsche Gesellschaft nicht im Stiche lassen, wenn auch unter ihren Direktoren und Mitgliedern noch so große Lumpen sind. Verdienen könnte ich jetzt als Notar ein schönes Stück Geld. Aber es geht nicht für meine Stellung und widerspricht den Statuten und ich verzichte deshalb darauf. Am Sonntag ist Versammlung des Verwaltungsrats, und ich denke, man wird mir das gegenwärtig in meinen Händen befindliche Geld der Gesellschaft, $ 60,00, bewilligen. Keine einzige deutsche Gesellschaft hat bis zur Stunde meine wiederholten Anfragen, ob sie uns helfen wollen, beantwortet.
Ich habe große Lust, für die Augsburgerin wieder zu schreiben. Stoff die Hülle und Fülle. Gestern erst hätte ich ein halb Dutzend Artikel verübt, wenn ich einen Stenographen gehabt hätte. Sobald ich ein Zimmer habe, werde ich beginnen ...

Mathilde
an Fritz Anneke   
15 .Nov.1871

Ich war mit Percy und Fanny in Janauscheks Medea, dieser unvergleichlichen Vorstellung, so groß in englisch wie in deutsch. Eine herrliche Übersetzung der Grillparzerschen Dichtung.
Montag Morgen.
Gestern Abend hatten die Kinder und ich eine außergewöhnliche Freude. In unseren gemütlichen Kreis trat Fanny Janauschek. Percy und Hertha und Luise, wir waren ganz sonntäglich allein. Die Kinder waren entzückt von ihr und bereiteten selbst in unserm Speisezimmer den Kaffeetisch. Dann luden wir sie ein, und sie blieb bei uns bis neun Uhr. Ihr Geschäftsführer begleitete sie. An Kaulbachs Bildern erfreute sie sich mit mir. Obwohl sie es kannte, so verweilte sie lange dabei. Ich bleibe dabei, daß sie ein Genius der Kunst ist. Ich hoffe, die Nene Welt wird in der Kritik dieser Größe einmal Tat und Verstand zeigen. Wie gerne möchte ich über sie selbst schreiben. Aber Du hast recht. Grundsätzlich bei Seite müßte sie gelegt werden, die Feder.
Deine liebe Tilla

Mathilde
an Fritz Anneke
12. Februar1872

Das erste Heft mit dem barocken Roman Anton in Amerika der deutsch-amerikanischen Wochenhefte ist erschienen. Steiger schickte es mir. Eine dumme Wahl, die er zu Anfang getroffen hat; es sieht überhaupt aus, als ob es an Material fehle. Unsere Beiträge würden als belletristische eine Zierde sein gegenüber dem Heckerschen Quark in den Reden. Beiläufig habe ich von dem großen Gesellschaftsretter noch nichts gehört. Grillparzers Tod ist von Brachvogel recht würdig behandelt. Ich habe auch solche Achtung vor dem Dichter der Medea - viel höhere wie vor Schiller, der kein einziges Weib gekannt und geschildert hat. Wie groß, wie wahr dagegen Medea. Ich trug seit der Nachricht von seinem Tode stets die Worte mit mir herum:

doch steht's nicht bei Dir, die Neigung zu rufen
der Neigung zu folgen - das steht bei Dir
da beginnt des Wollens sonniges Reich.

In der Dichtung Grillparzers (in Medea) liegt der Weiber ganzer heutiger Kampf - ach nein, schon Kampf von Anbeginn.
Hertha hat heute und morgen Examen zu bestehen, um in die höhere Klasse der Handelsschule zu gelangen. Sie ist die erste weibliche Studentin, darin setzt sie ihre Kraft. Ich fürchte, sie arbeitet zu viel, sie leidet sehr an Kopfschmerzen und sieht nicht wohl aus. Ich bin wohlauf, nur kalt ist's noch immer.
Sonnabend gehen die Kinder ins Germania Kränzchen mit Percy. Die Steinmalerei im Großen, ziehe ich in nähere Erwägung. Sonst alles beim Alten.
Deine Mathilde

Cäcilie Kapp
an Mathilde Anneke
9.6.72

... Liebchen, ich will mein Testament gerichtlich machen, ehe ich gehe. - Alles, was ich diesseits des Ozeans besitze, gehört Dir - die 2000 Dollar Lebensversicherung, hundert Dollar in der Bank. Beide Kopien hat Frau Hinkel. Alle Bücher, Kleidungsstücke, Decken usw. usw. Nur die schwer zu versendenden Dinge, wie zwei ziemlich wertlose Sofas, die zwei Bronzebüsten für Frau Hinkel - ich werde Dir die Anschrift zusenden - das Meer ist kein Spaß, obschon allerdings die amerikanischen Eisenbahnen es noch bei weitem weniger sind...
Cilly dankt für Geschenk, anscheinend selbst gemaltes Bild von Mathilde:
Ich habe nie in meinem Leben so etwas Reizendes gesehen. Und wo Du das Talent plötzlich her hast und mit Öl sogar malst, das verdreht mir fast den Verstand.

Im Sommer 1872 nahm Fritz Anneke Urlaub von der Deutschen Gesellschaft in Chicago und fuhr nach Deutschland, um seine alternde Stiefmutter zu sehen. Im Jahre vorher war sein Vater gestorben. Nach 24 Jahren betrat Fritz Anneke zum ersten Mal wieder deutschen Boden. Über seine Eindrücke und Erlebnisse berichtet er in mehreren Briefen an Mathilde.

Dortmund, 30. Juli 1872
...Gestern stiefelten wir wieder nach der Kronenburg, einer Gastwirtschaft nebst Brauerei auf dem halben Wege nach Horde. Es ist der schönstgelegene Punkt bei Dortmund, mit einer hübschen Aussicht auf Getreidefelder, Hütten usw., auf Horde und die dahinter aufsteigende Hügelkette mit ihren Dörfern, Feldern, Wiesen und Waldungen. Wir vergnügten uns bei einem Glase Bier und lebhafter Unterhaltung bis nach Sonnenuntergang und kamen erst um neun Uhr heim ...
Auf Vergnügungen verstehen sich die Dortmunder. Jeden Tag ist an einigen Orten etwas los. Kühne hat unter dem Garten einen sehr geräumigen Saal und einen großen Gasthof und ist ein reicher Mann. Reiche und Wohlhabende gibt's überhaupt hier in Menge. Die alten Dortmunder Spießer sind durch das enorme Steigen des Grundeigentums alle wohlhabend oder reich geworden. Jetzt sollen wieder drei Bahnhöfe angelegt werden, wodurch vielen Grundeigentümern wieder eine goldene Ernte in den Schoß fällt.

Wo immer ich hinkomme, ist die Unterhaltung lebhaft, wozu natürlich ich die Hauptveranlassung gebe und die Hauptrolle spiele. Ich habe einen unerschöpflichen Schatz von Mitteilungen für diese harmlos Still-Lebenden, die von unserem Lande auch heute noch so viel wissen wie die Katze vom Sonntag. Denke Dir nur, gestern stieß ich auf einen Dortmunder Beötier, der in seiner Harmlosigkeit noch nichts von der Existenz der Stadt Chicago wußte. Haarsträubend. Ich mache die Leute immer auf die riesigen Kontraste zwischen hier und dort aufmerksam und errege ihr endloses Erstaunen, wenn ich ihnen die einfachsten Dinge, wenn ich ihnen beispielsweise nur erzähle, daß ich in der Regel um sieben Uhr morgens bereits drei oder vier deutsche oder englische Zeitungen gelesen habe, während der gute Dortmunder Philister höchstens um acht Uhr beim Kaffee nach seiner Lokalzeitung oder nach dem, was gestern in der Türkei geschehen, sich umschaut.
Dortmund, 14. August 1872
Endlich, endlich laß ich mal wieder von mir hören. Meine Reise nach Bonn und Köln hielt mich ab, Dir früher zu schreiben. Der Stoff ist mir so massenhaft angewachsen, daß ich nicht weiß wo anfangen und wo aufhören. Ich war also vier Tage in Bonn und habe von dort die schönsten Grüße zu bestellen. Ich wollte noch länger da bleiben, aber der Gedanke an Großmama mahnte an Rückkehr.
Das große Turnfest, das während meiner Anwesenheit in Bonn stattfinden sollte, wurde vollständig zu Wasser. Die meisten Turner kehrten enttäuscht und mißvergnügt heim. Ich habe von dem schönen Bonn doch wenigstens die unbeschreiblich prachtvollen Alleen und den alten Zoll mit Arndt-Denkmal und Aussicht auf Siebengebirge, Godesberg usw. gesehen. In Köln logierte ich bei unserm Freund Adam, dessen i8jähriger Sohn, ein netter Junge, mir als Cicerone gute Dienste leistete. Auch einige Freunde von der »Colonia« existieren noch. Als ewiges Andenken an mich bewahren sie ein Heiligtum in den Akten der Colonia, einen Brief, den ich 48 im Namen der Colonia an das preußische Ministerium schrieb und der sich durch seine Geradheit und Derbheit auszeichnete. Ich hatte den unbedeutenden Wisch längst vergessen. Meine damaligen Kollegen meinen, solcher Brief sei noch nie von der Colonia geschrieben worden und würde auch nie wieder geschrieben werden. Doktor Hocker, der auch Schreiber beim österreichischen Konsul in Köln geworden ist und der sich, wie mir andere sagten, durch Kriecherei, durch Titel- und Ordensjägerei auszeichnet, war zu Simrock nach Bonn gereist, als ich nachmittags bei dessen Hause ankam. Frau Elisa und ihre erwachsene Tochter Paula waren da. Beide waren die Liebenswürdigkeit selbst. Ich mußte dort bleiben und Kaffee mit ihnen trinken.
Am Abend war großes Rendezvous meiner Freunde in einer Restauration mit Bierstube. Dort waren 200 bis 300 Menschen versammelt, darunter eine Anzahl auf der Heimreise von Bonn begriffene Turner aus Berlin, Dresden usw. Der Präsident des Vereins hieß mich in seiner Ansprache herzlich und feierlich willkommen, als ehemaligen Kölner und 48 Revoluzzer. Der Geist von 48, sagte er, lebe noch in ihnen, obschon meist einer neueren Generation angehörend, fort. Dann allgemeines Hurrah, Anstoßen, Zutrinken und massenhaftes Vorstellen bei mir. Ich mußte natürlich die Bewillkommnung durch eine kleine Rede erwidern, in der ich auch an Dich erinnerte und bei deren Schluß ich meinen kölnischen Freunden und Gesinnungsgenossen recht bald, wenn auch nicht die gleichen politischen Zustände, wie wir sie in den Vereinigten Staaten haben - das dürfte am Ende polizeiwidrig sein - doch wenigstens möglichst ähnliche wünschte. Das gab aber mal erst einen Applaus. Viele wollten gerne mit mir gehen nach den Vereinigten Staaten. Es war halb zwei Uhr morgens, als ich mit meinem Cicerone nach Hause ging.

Ich sollte mit aller Gewalt noch einige Tage in Köln festgehalten werden, aber es ging nicht. Der Gedanke an Mama mahnte immer stärker, und so schob ich denn am Nachmittag nach Dortmund ab, ohne das Museum, den Löwengarten und den himmlischen Floragarten gesehen zu haben. Ich mußte aber versprechen, noch einmal nach Köln zu kommen, und wahrscheinlich werde ich die Reise mit der Mama zusammen machen.
Ich kam am späten Abend nach Dortmund zurück und fand die Mama recht wohl. Gestern machte ich mit ihr den ersten Ausflug per Eisenbahn zu einem ehemaligen Dienstmädchen von der Mama, die jetzt schon längst Gasthofbesitzerin und Großmutter ist. Ich habe jetzt schon drei ehemalige Dienstmädchen der Mama kennengelernt, die, obschon Mütter und Großmütter, noch immer per Du von ihr angeredet werden und sie noch immer wie eine Mutter verehren. Merkwürdig, in der heutigen Zeit!
Von Deinem Neffen Albin erhielt ich einen Brief; in betreff seiner Schwester schreibt er: »Solltest Du nach Münster kommen, so wirst Du vielleicht dort bei Hülswitt meine Schwester sehen, die sich mit dem ältesten Sohn verlobt hat. Eine Verbindung, die sich mit meinem Stande nicht verträgt, da den Töchtern von Hülswitt der gute Ruf nicht mehr zur Seite steht, seitdem sie mit den französischen Kriegsgefangenen dort verkehrten.« Ich habe ihm geantwortet, daß ich es von dem Urteil meines Freundes in Münster abhängig machen werde, ob ich die Hülswitt und seine Schwester Louise besuche.

Dortmund, 30. August
Immer und immer wieder drängen mich Freunde und Verwandte, ganz hier zu bleiben. Ja, wenn man mir einen guten Erwerb nachweisen könnte, der von dem politischen Kram ganz und gar unabhängig ist! Aber hier liegt der Hase im Pfeffer! Das wollen die Leute hier gar nicht begreifen, daß ihre Zustände noch garstig unfrei sind, daß sie noch keine freie Rede, keine freie Presse haben, daß sie noch immer von der Wiege bis zum Grabe unter polizeilicher Aufsicht stehen, noch immer wie ein Kind am Gängelbande geführt werden. Erst wenn ich sie mit der Nase darauf stoße, geht ihnen ein schwaches Talglicht auf. Die Mama begreift es noch am besten. Auf unserer Reise namentlich, habe ich sie auf so Vieles aufmerksam gemacht, an dem sie bisher harmlos und ohne anzustoßen vorüber gegangen ist.

Hoboken, 15. Oktober 1872*
(* Letzter Brief von Fritz Anneke)

Heute Nachmittag lief die »Silesia« hier ein. Die Auspackerei der Baggage und die Schnüffelei der Zöllner nahmen so viel Zeit in Anspruch, daß ich erst jetzt dazu komme, Dir einige Zeilen zu schicken. Übermorgen denke ich meine Reise nach Chicago fortzusetzen und Sonntag Abend hoffe ich bei Euch zu sein. Wenn möglich, werde ich meinen Urlaub nochmals um eine Woche verlängern lassen. Mehr mündlich. Tausend Grüße von
Deinem Fritz.

Zeitungsnotiz vom 10. Dezember 1872 (keine weiteren Angaben)

  • Im Anfang des Jahres 1869 kam Oberst Fritz Anneke nach Chicago. Nachdem er hier kurz an der Illinois Volkszeitung beschäftigt gewesen war, wurde ihm die Agentur der hiesigen »deutschen Gesellschaft« übergeben, welche er bis vergangenen Sonntag, mit einer kurzen Unterbrechung, welche durch eine Erholungsreise nach Deutschland verursacht wurde, unausgesetzt und treu zum Heile der armen deutschen Einwanderer, welche freundlos und ohne Mittel in unsere Stadt kamen, und zur Zufriedenheit des Direktoriums der Gesellschaft verwaltete.
    Am vergangenen Sonntag Abend war Fritz Anneke bis gegen 11 Uhr in der Gesellschaft einiger Freunde, darunter eines Schwagers, gewesen. Um die erwähnte Zeit trat er den Heimweg nach seiner Wohnung, No. 439 Divisionstr., an. Er sollte diese Wohnung nicht erreichen, An der Superior Straße, in unmittelbarer Nähe der Market Straße, endet der Seitenweg plötzlich vor einer Vertiefung, welche etwa 12 Fuß tief, jäh abfällt und früher als Keller benutzt wurde. Die Straßenlaternen warfen während der Nacht einen höchst unsicheren Schein auf die betreffende Stelle, welche durch keine Barriere bezeichnet ist, und der Obrist, der wahrscheinlich auf gewohnte, rasche Weise dahinschritt, konnte den Abgrund nicht gewahren, fiel in denselben und zog sich schwere Verletzungen am Kopf zu, die jedenfalls seinen Tod innerhalb weniger Minuten herbeiführten.
    Polizisten fanden die Leiche und schafften dieselbe in die Polizeistation an der Nordseite, wo der Tote identifiziert und dann nach dem Totenhause gebracht wurde. Dort wird er bis nach stattgehabter Leichenschau - der Coroner will solche heute Vormittag 9 1/2 Uhr in Morgue abhalten - liegen bleiben.
    Gestern Nachmittag langte die Familie des Verstorbenen-welche sofort telegraphisch von dem furchtbaren Unglücksfall benachrichtigt war - aus Milwaukee hier an und besuchte das Totenhaus, um noch einen Blick auf die sterbliche Hülle des teuren Verwandten werfen zu können. Das Gesicht des Toten ist nicht entstellt; an der linken Seite des Kopfes bei der Schläfe aber befindet sich eine kleine tiefe Wunde; hier hat Fritz Anneke wahrscheinlich durch einen Stein, auf den er gefallen, die tödliche Verletzung empfangen.
    Die Angehörigen beabsichtigen, die Leiche morgen Nachmittag 5 Uhr mit sich nach Milwaukee zu nehmen, wo sie bestattet werden soll. Freunde des Entschlafenen wollen derselben das Geleit bis zum Bahnhofe geben.

Caspar Butz
an Mathilde   
Joliet, 10. Dezember 1872

Liebe Freundin!
Ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen, wie sehr mich die soeben erhaltene Nachricht von dem plötzlichen Tode Annekes erschüttert hat. Ich betrachte gewiß den Tod als kein Unglück und das Leben nicht als ein so außerordentlich hohes Gut, allein dieser Todesfall hat mich doch tief ergriffen. Wir waren alte Freunde, Leidensgefährten aus längst vergangener Zeit, Überreste aus einer Zeit, die nicht mehr ist und deren Saat, wenn auch nur unvollkommen, erst jetzt zu reifen beginnt. Eine so derb westfälische Natur, wie Anneke, mußte für mich, den Landsmann, immer manches Anziehende haben, zumal da er das hatte, was mir nicht gegeben ist, den rauhen, fast übermäßigen Stolz, der den Söhnen der roten Erde so oft eigen ist, und den auch ich gewiß, wenn auch mehr in milderer, ich möchte sagen elegischerer Form besitze. Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, ihn bei meinem nächsten Besuche in Chicago wiederzusehen. Er hatte mir vor seiner Abreise versprochen, meine Mutter zu besuchen; dies scheint ihm nicht möglich geworden zu sein; in einem gerade gestern von meiner Schwester eingetroffenen Briefe wird wenigstens nichts von einem Besuch Annekes erwähnt. Jedenfalls würde er mir viel über die alte Heimat (sie bleibt am Ende für uns doch immer die geistige Heimat) zu erzählen gehabt haben.

Das ist jetzt alles vorbei und er wird mir nichts mehr erzählen. Was soll ich Ihnen sagen? Die alten, seitdem Menschen unglücklich sind, hergebrachten banalen Trostgründe wiederholen? - Nein, ich weiß, daß Sie solcher Trostgründe nicht bedürfen. Anneke hinterläßt einen unbefleckten Namen. Und wenn einmal die Geschichte unserer verunglückten Freiheitsbestrebungen von 1848/49 ehrlich und unparteiisch geschrieben wird, so wird auch er seine ehrenvolle Stelle in jener so überaus reinen, wenn auch überaus unglücklichen Erhebung angewiesen erhalten.
Mit der Versicherung des innigsten Beileides Ihr alter Freund
Caspar Butz

Cäcilie Kapp
an Mathilde   
Jänner 1873

Mathilde, Fritz' jäher Tod hat mich sehr ergriffen. ... Ach, Mathilde, wie demütig, wie bescheiden, wie weich wird man, wenn man recht tief hinabsieht in sein eigen Herz und sieht, wie viel besser und ehrlicher und wahrer andere waren, die tausendfach verkannt wurden und sich keine Lebensstellung schaffen konnten, weil eben Combinationen und Anklagen in ihnen waren, die es nicht dazu kommen ließen - wie z. B. Fritz. Sind andere zu loben, weil sie es zu etwas brachten? Sie konnten nicht anders, ihre Natur trieb sie dazu, es zu etwas zu bringen - wir sind Barbaren in unserer Beurteilung. Ach, Tildusch, ich bin beständig im Geiste bei Dir gewesen die ganze Woche - Gott im Himmel, ihn so wiederzusehen!...
Hoffentlich wird die Stadt Chicago gründlich verantwortlich gemacht - wenn nur jetzt, jetzt, wo das Eisen heiß ist und alle Sympathien warm, jetzt etwas erreicht wird!!! Schneider und alle sollten jetzt auf die Beine gebracht werden und es nur auf die rechte Weise anfangen. Es sollte nicht wieder, weil es »nur ein Deutscher« war, einschlafen. Deine Mutter hätte damals bei dem Fall auch Entschädigung haben müssen.

Seit Fritz Annekes Ableben werden die Quellen, die über Mathildes weiteres Schicksal Kunde geben, spärlicher. Vor allem liegen nur sehr wenige, von Mathilde selbst geschriebene Zeugnisse vor und betreffen mehr ihr öffentliches als ihr privates Leben. Aus Cäcilie Kapps Briefen können wir indirekt einige Schlüsse ziehen, ebenso aus verschiedenen Zeitungsartikeln aus jenen Tagen, die teils in der Sammlung deponiert, teils in der Städtischen Bibliothek greifbar sind. Am aufschlußreichsten ist der Bericht, der von Hertha Anneke-Sanne in der Heinzenbiographie [12] geboten wird. Dennoch bleiben Lücken offen oder Berichte unvollständig. So liest man zum Beispiel im Milwaukee Sentinel vom 3. Oktober 1879 folgende Nachricht:

  • Ein reicher Mann und exzentrischer Sozialdemokrat aus Deutschland, Ferdinand Lingenau, der kürzlich verstorben ist, bedachte 41 Zeitungen in seinem Testament, darunter The Socialist und der Freidenker aus dieser Stadt. Außerdem vermachte er eine gewisse Summe an Mathilde Franziska Anneke, Peter Engelmann und Emil Brück aus dieser Stadt. The Socialist hat seine Publikation eingestellt, und Peter Engelmann weilt nicht mehr unter den Lebenden.

Aus dem Briefverkehr, den Mathilde Anneke mit Sybille Heß führte, geht hervor, daß Sybille Heß mit Ferdinand Lingenau wiederholt über Mathilde Anneke gesprochen hatte. Hertha Anneke-Sanne erwähnt die Erbschaft aber mit keinem Wort. Somit bleibt diese Frage ungeklärt.
Nach einem Leben voller Kämpfe und Nöte gestaltete sich der Lebensabend Mathilde Annekes friedlicher und sorgloser. Aber noch hatte sie zwei schwere Schicksalsschläge zu erleben: Ihre Tochter aus erster Ehe, Fanny Störger, starb im Herbst 1877 mit 40 Jahren an Brustkrebs; im Jahr vorher verlor Mathilde Anneke durch ein Mißgeschick den Gebrauch ihrer rechten Hand. Zur Zeit der Hundertjahrfeier der Republik hatte sie ihre Tochter Hertha zu dem großen Frauenrechtstreffen nach Philadelphia gesandt. Während dieser Zeit verletzte sich Mathilde an einer zerbrochenen Blumenvase die Hand. Eine Blutvergiftung entwickelte sich derart, daß mehrere Operationen durchgeführt werden mußten, um das Ausbreiten der Vergiftung zu verhindern. Zehn verschiedene Ärzte wurden von der Familie zu Rate gezogen, alle rieten zur Amputation der Hand. Aber Mathilde verweigerte ihre Zustimmung: Ohne meine Hand, die immer mein Werkzeug war, kann ich nicht leben, sagte sie. Carl Anneke, ihr Schwager, vermittelte die Bekanntschaft eines Wunderdoktors aus Sheyboygan, der sie von der Blutvergiftung heilte. Die Hand aber blieb steif, angeblich als Folge der verschiedenen Operationen. Mathilde Anneke litt psychisch unter dieser Behinderung, die sie abhängig von der Hilfe anderer Leute machte. Sowohl ihre schriftlichen Arbeiten wie auch viele schulische Aufgaben mußte Hertha Anneke nun für sie erledigen. Viele teilnahmsvolle Briefe und Worte der Anerkennung wurden Mathilde um diese Zeit zuteil.

Susan B. Anthony
an Mathilde   
Tenafly, New Jersey, am 23. August 1876

Meine liebe Frau Anneke,
ich hoffe, Sie sind nun völlig wiederhergestellt von Ihrem schrecklichen Leiden und haben den Gebrauch Ihrer Hand oder Ihres Fingers nicht verloren. Meine Schwester ging vor drei Jahren - wegen eines Splitters in ihrem kleinen Finger - durch monatelange übermäßige Leiden und hat nun einen steifen Finger, der sie am Nähen usw. hindert.
Diktieren Sie jemandem, wenn möglich, die nackten Daten Ihres Lebens und Ihres Werkes - Datum und Ort der Geburt, Eltern, die Zeit Ihrer Teilnahme an der Revolution und die Rolle, die Sie dabei spielten - wann und warum Sie nach Amerika kamen, wo und was Ihre Leistungen waren, seit Sie hierher kamen. Fassen Sie alles in hundert Worten zusammen und senden Sie es mir sofort, da ich den Bericht über Ihre großen Verdienste der Universal Cyclopedia senden möchte und der Mann die Skizzen des Lebens aller meiner Frauen verlangt. So bitte, senden Sie sie gleich.
Mrs. Stanton sendet Ihnen und Frl. Kapp liebe Grüße - und auch Ihrer entzückenden Tochter - und hofft, recht bald von Ihnen zu hören, daß es Ihnen wieder ganz gut geht.
Herzlichst, Ihre Susan B. Anthony

Elizabeth Cady Stanton
an Mathilde   
Tenafly, 1. Oktober 1876

Liebe Frau Anneke,
es macht mich ganz traurig, von Frl. Kapp zu hören, daß Sie an Ihrer armen Hand so viel leiden müssen. Kann denn gar nichts getan werden, um Ihnen Erleichterung zu schaffen? Ich wünsche aufrichtig, ich wohnte in Ihrer Nähe, um zu Ihnen kommen zu können und Sie jeden Tag zu sehen. Wenn ich schon nichts für Ihren armen Körper tun kann, so möchte ich Sie wenigstens mit meinen Berichten unterhalten und Ihnen alles erzählen, was unsere gute Susan und ich tun, denken und planen. Stellen Sie sich vor, wie wir von Morgen bis Abend unter alten Papieren, Briefen, Berichten begraben sind, die von den großen Taten erzählen, die Frauen aller Nationen für ihre Erhebung geleistet haben. Wann und von wo wird das deutsche Kapitel kommen? Ich möchte, daß Ihre goldhaarige, blauäugige Tochter sich an Ihre Seite setze - wenn Sie schmerzfreie Momente haben - und uns für unsere Geschichte eine geziemende Darstellung ihrer...  berühmten...  Mutter...  schreibe....  Wenn...  sie...  nicht...  mehr tun kann, so möchte ich wenigstens genaue Daten und Tatsachen Ihres Lebens. Ein Herr in New York veröffentlicht eine Enzyclopädie und hat uns beauftragt, über die Frauen der Stimmrechtsbewegung zu schreiben. Wir können für jede Frau hundert Worte verwenden. Sie sehen, wir brauchen die Fakten und Daten für ihn, verbunden mit Fleisch und Blut, sowie ein Bild für unsere Geschichte. (Susan sagt mir gerade, sie erhielt die Daten, aber nicht alle, die sie wollte.)

Wenn Sie einmal nicht mehr leben sollten, überlassen Sie mir die Sorge für Ihre Tochter. Ich will ihr Ihretwegen einen warmen Platz in meinem Herzen sichern und eine ruhige Ecke in meinem Haus. Ich werde ihr zu jeglichem Lebenswerk verhelfen, das sie plant. Fühlen Sie sich daher nicht bedrückt durch die Sorge um das liebe Kind. Ich weiß, wie seelischer Kummer Krankheiten verschlimmert.
Ich möchte genau wissen, wie es Ihnen geht, was die Ärzte sagen und was Sie denken. Oh, wie diese gebrechlichen Körper, wenn sie nicht funktionieren, unsere Gedanken und Gefühle lähmen, wie sie aber beitragen, unsere Flügel zu spannen, wenn jeder Muskel, jeder Nerv, jede Ader in Harmonie zusammenstimmen. Susan und ich senden Ihnen und Ihren Lieben unsere herzlichsten Wünsche. Gute Nacht, immer Ihre
Elizabeth Cady Stanton

In diesen letzten Jahren ihres Lebens erfuhr Mathilde Anneke endlich die Genugtuung, ein eigenes Haus mit Grund und Boden zu besitzen, was sie sich ihr Leben lang gewünscht hatte. Im Jahre 1879 sandte ihr Friedrich Hammacher $ 500; dafür erstand sie ein Hektar Land an der »Whitefish Bay« im Norden der Stadt, später wurde ein weiterer Hektar dazu gekauft. Es war jene Gegend, wo auch die Lüddemann-Farm lag, zu der die Familie so gern ihre Wochenendausflüge gemacht hatte. Auf diesem Stückchen Land baute Fritz Silier, ein Dichter und Freund Mathildes, für den Preis von $250...  ein...  einfaches Sommerhäuschen....  Sie nannte ihren Besitz »Waldfrieden«. Während der Sommermonate erfreute sie sich dort an der Aussicht auf den See, dem Blick in den Wald, der Stille ihres Plätzchens. Für den Winter erwarb die Familie im Jahre 1882 ein Haus in der Stadt, in der Cambridge Avenue Nr. 871. Die Straße läuft in einreihiger Häuserfront entlang dem Menommee Fluß, der auch heute noch weidenbewachsen dahinfließt und ein friedlicher Nachbar ist.

Cäcilie Kapp
an Mathilde   
New York, 13.9.1879

Geliebte Mathilde,
Ich habe auf einen von Dir diktierten Brief vom 2. September und auf zwei liebe Postkarten von Hertha zu antworten und dafür zu danken. Deine letzte Krankheit hat mich mit Angst und Betrübnis erfüllt. Ich hoffe, Du hast damit für recht viele kommende Jahre Deinen Tribut bezahlt und kannst Dich nun wieder etwas des Lebens erfreuen. Manche Ideale sind zerstört Dir und verkommen, aber andere sind erfüllt und verwirklicht. Eine Tochter, die Du über alles liebst, in der Du niederlegen kannst alle Träume Deiner Jugend u nd der Du vermachst das Beste Deines geistigen Lebens, in der Du Deine zweite Jugend feierst - einen braven lieben Sohn und - und einen Waldfrieden! Mathilde, was Du immer wünschtest, nun ist es Dein - ein Stück Grund und Boden an Deinem geliebten See, umspült von den murmelnden, poesiereichen Wellen. Und einen Stall für zwei Pferde und in der Stadt für den Winter ein blühendes Pensionat. Nach vielem Kampf, nach großen Körperleiden hast Du es erreicht, es ist wahr, aber es ist doch erreicht! Und wie wenige können sich eines gleichen rühmen. Daß es Deinen Geschwistern und deren Kindern so gut geht, konnte ich mir denken. Es liegt so vortrefflicher Samen von so guten Eltern, wie könnte es anders sein... Luise Kapp, die Dich sehr grüßt, erzählte mir gestern von ihrer reizenden Exkursion im Mai nach Blankenstein, und wie bezaubernd es dort gewesen sei, wie sie an Dich gedacht und mit Franziska Hammacher von Dir geredet. Sie schwärmt noch ganz in der alten Weise und dazugekommen sei ein alter Herr - ich habe doch den Namen vergessen, obschon ich ihn mir wiederholen ließ - und dieser habe wie ein Jüngling von Dir geschwärmt, und alle Anwesenden hätten gelauscht und gestaunt...

Auch mit ihrer Schule hatte Mathilde Anneke Erfolg. Nicht nur aus Milwaukee oder Wisconsin meldeten sich nun die Zöglinge, sondern auch aus entlegeneren Gebieten der Vereinigten Staaten kamen die Schülerinnen, um in »Madam M. F. Anneke's German French and English Academy«, bzw. im »Milwaukee Töchter-Institut« die erlesene Erziehung zu genießen, die vielerorts gepriesen wurde.
Das Milwaukeer Tageblatt Banner und Volksfreund veröffentlichte am 20. April 1870 folgende Erklärung:
 

  • EINE GUTE ERZIEHUNG UND EINE TÜCHTIGE AUSBILDUNG
    ... Wir, die Unterzeichneten, schickten unsere Töchter in das Institut der Mathilde Franziska Anneke und können allen unseren Mitbürgern die Versicherung geben, daß dasselbe eines der besten Institute des Nordwestens ist und wir vollkommen mit der Ausbildung unserer Töchter zufrieden sind. Besagte Dame hat es sich zu ihrem Lebensprinzip gemacht, sich dieser wichtigen Branche ganz zu widmen, und hat zu diesem Behufe die berühmtesten Anstalten Zürichs kennen gelernt und praktischen Vorteil daraus gezogen. Die Kinder werden ohne Unterschied liebevoll behandelt, jedoch mit einer gewissen Strenge gepaart, welche sie indessen nicht fühlen, da sie mit Milde und Wohlwollen vereint ist.
    Mit einem tüchtigen Lehrpersonal zur Seite ist es Frau Anneke jetzt schon gelungen, ihr Institut sowohl bei Amerikanern wie bei Deutschen in hohes Ansehen gebracht zu haben.
    Die Methode des Unterrichtes ist so eingerichtet, daß ein jedes Kind Gefallen und Freude am Lernen hat. Sollten vielleicht einzelne Eltern abgeneigt sein, ihre Töchter der Prinzipien wegen, welche Frau Anneke auf der Frauen-Convention zu New York verfochten hat, in ihr Institut zu schicken, so geben wir ihnen hiermit die Versicherung, daß diese Prinzipien durchaus nicht auf das Lehrfach übertragen werden, sondern nur ihre Privat-Ansichten sind, und niemand es verlangen kann, daß sie diese Ansichten, welche bei ihr zu einer heiligen Überzeugung geworden sind, verleugnen soll. Im Gegenteil finden wir darin eine Offenheit und Charakterstärke und fühlen uns verpflichtet, dankbar anzuerkennen, daß sie unsere Töchter etwas Tüchtiges gelehrt hat.
    Christian Wahl   
    Marie Härtel
    Wm. Melms   
    S. Köffler
    Jacob Moravetz
    Marie Zöberlaut
    John Schickel
    Emma Caspary
    Ferd. Kalckhoff
    Frau Ch. Götz
    und viele andere

Banner und Volksfreund,   
7. Januar 1875

DER FRAUENVEREIN »HERA«

  • Das edle Streben, der von Frau Mathilde Franziska Anneke gegründeten und seit Jahren mit außergewöhnlicher Energie unter oft sehr schwierigen Verhältnissen aufrecht erhaltenen Töchter Erziehungsanstalt eine gesicherte Zukunft zu bereiten und der um das Erziehungswesen so hoch verdienten Frau einen Teil der Last von den Schultern zu nehmen, führte achtzig deutsche Frauen Milwaukees zusammen, die sich unter dem Namen »Hera« als Verein organisierten. Der Name ist dem Griechischen entnommen und bedeutet alles Schöne, Gute, Edle.

25. Januar 1875

  • »HERA« IN DER HALLE DER »GERMANIA«
    Die Elite der deutschen Gesellschaft beteiligte sich am Samstag vergangener Woche an der vom Frauenverein »Hera« in den Räumen der »Germania« gegebenen ersten Abendunterhaltung. Der Erfolg übertraf alle Erwartungen sowohl in geselliger wie finanzieller Hinsicht. Das Töchterinstitut, dessen Patronesse der "Verein »Hera« ist, wurde durch die hochverehrte Vorsteherin, Frau Mathilde Franziska Anneke repräsentiert, in deren Begleitung sich ihre Pflegetöchter und die Lehrerinnen des Instituts befanden...
    An den musikalisch deklamatorischen Teil der Unterhaltung reihte sich ein Tanzkränzchen an, das mit zauberischer Macht die junge Welt bis zu später Nachtstunde fesselte...

1878

  • TÖCHTERINSTITUT DER FRAU MATHILDE FRANZISKA ANNEKE
    Wir hatten gestern Vormittag Gelegenheit, einem kleinen Examen im Töchterinstitut der Frau Anneke an der Neunten Straße beizuwohnen und freuen uns, davon das Beste berichten zu können. In der ersten Klasse prüfte zuerst Herr Dr. Güttner in Botanik. Er verband in sehr geschickter Weise Chemie und Botanik und ließ die jungen Damen, von denen sich trotz des Schneesturmes 17 eingefunden haben, die verschiedenen Prozesse, denen Holz und Holzfasern auf chemischem Wege unterworfen werden, entwickeln. Die Damen zeigten sich sehr bewandert auf diesem Gebiete und beantworteten mit großer Sicherheit und Klarheit die an sie gestellten Fragen. Von besonderem Interesse aber waren die Vorträge deutscher Dichtungen, welche von mehreren der Schülerinnen, besonders auch von solchen, die noch nicht lange die deutsche Sprache studiert hatten, gehalten wurden. Den Unterricht in diesem Fache und der deutschen Literatur ertheilte Frau Anneke selbst, und die ganze Art des Vortrages bewies, daß demselben ein gründliches Verständnis der vorgetragenen Gedichte zu Grunde lag und daß auf Reinheit und Klarheit der Aussprache und auf genaue Accentuation und Betonung viel Gewicht gelegt worden war......
    Auch die Prüfung der jüngeren Kinder im Lesen und Schreiben ergab recht erfolgreiche Resultate. Ein kleines Mädchen z. B. von etwa 6 Vi Jahren erwies sich als des Lesens vollständig kundig. Die vorgelegten Aufsätze zeichneten sich durch schöne Schrift und ziemliche Reinheit in Bezug auf Orthographie aus.

Und im Milwaukee Herold stand zu lesen:

  • MILWAUKEE TÖCHTER-INSTITUT
    Mit gerechtem Stolz kann die Vorsteherin und Gründerin, Frau M. F. Anneke, auf ihre nun seit 14 Jahren bestehende Anstalt zurückblicken. Sie hat sich ein ehrendes und bleibendes Denkmal in den Herzen der von ihr erzogenen Schülerinnen gesetzt.
    Tüchtige Menschen sind aus ihrer Anstalt hervorgegangen, als Hausfrauen sowohl wie Lehrerinnen füllen sie ihren Platz aus; haben wir ja in hiesiger Stadt einige der anerkannt besten deutschen Lehrerinnen an den öffentlichen Schulen, die aus dem Annekeschen Institut hervorgegangen sind ...
    Hier wird unsern Töchtern kein totes Wissen eingetrichtert, sondern die Denkkraft wird angeregt und ausgebildet, damit sich der Charakter selbständig entwickeln kann. Auf das Gemüth wird außerordentlich gewirkt, und strengste Pflichterfüllung in allen Lebenslagen zum Gesetz gemacht. Einfachheit der Sitten, strenges Rechthchkeitsgefühl und Lust und Liebe zum Guten und Schönen wird hier gepflegt. Form- und Schönheitssinn wird durch einen vorzüglichen Zeichenunterricht ausgebildet, auf Schönschreiben die größte Sorgfalt verwandt, die sauberen und correkten Hefte der Schülerinnen zeugen von strengster Ordnung. Die deutschen Aufsätze sind in Form und Stil vorzüglich. Der Literaturunterricht, bekanntlich Spezialfach im Institut, wird in fesselndem lebendigen Vortrag erteilt. Es ist ganz erstaunlich, wie selbst Kinder von 12 Jahren in den Geist unserer großen Dichter eingedrungen sind. Alle anderen Fächer sind mit den besten Lehrkräften besetzt. Im Ganzen sind außer der Vorsteherin noch 6 Lehrer angestellt. Viele Kräfte für eine verhältnismäßig kleine Schülerzahl. Es kann deshalb jeder einzelnen Schülerin mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, ein Vorteil, den große Schulen mit vielen Schülern nicht bieten können ...

Brief einer Schülerin
an Mathilde   
Milwaukee, den 15. Juni 1881

Innigstgeliebte Lehrerin!
Jetzt am Schlusse des Schuljahres empfinde ich, wie sehr ich Ihnen für alle das Gute, Schöne und Lehrreiche, welches Sie mich im verflossenen Jahre in einer so freundlichen Weise lehrten, zum Dank verpflichtet bin.
Wenn ich bedenke, wie mangelhaft meine ganzen Leistungen waren, als ich vor einem Jahr zu Ihnen kam, und -wie sehr ich mich unter Ihrer liebevollen Leitung in allen Fächern gebessert habe, so scheinen mir meine Dankesäußerungen so gering und kalt. Doch ich hoffe und weiß, daß Sie solche so aufnehmen, wie ich sie in meinem Herzen gegen Sie hege.
Ich werde stets nur mit Liebe und Verehrung an Sie, teure Lehrerin, zurückdenken, und werden mir die Erinnerungen an die Stunden, die ich mit meinen Mitschülerinnen hier in dem freundlichen Schulzimmer, in welchem wir uns alle bestrebten, Ihre Befriedigungen zu erlangen, eine wirkliche Erholung sein. Auch außerhalb der Schule werde ich versuchen, so zu handeln, daß ich Ihrer vollständigen Befriedigung gewiß bin.
Mein innigster Wunsch ist, daß Sie oftmals liebevoll zurückdenken an Ihre Sie aufrichtig verehrende Schülerin
Louise Hoeger

Die ehemalige Schülerin Hermine Baumgarten schrieb 1905

  • Wenn man von dem bewegten, bedeutenden Leben der Frau Anneke in seiner ganzen Tragweite hört, das männliche Kraft, Energie, Entbehrung, Schlachtenmut verlangte, dann könnte man fast glauben, daß die zarteren weiblichen Eigenschaften sich nicht in derselben Frau paaren ließen. Wer die hochherzige Frau nicht in ihrem Wirkungskreis als Erzieherin, als Lehrerin des jungen, empfänglichen Mädchenherzens und Geistes gekannt, der hat sie in ihren schönsten Zügen nicht gesehen. Wir alle, denen das Glück zuteil wurde, sie unsere Lehrerin nennen zu dürfen, haben eine so große Verehrung für sie, daß wir sie als den größten Faktor in unserem Leben anerkennen. Nicht allein was sie lehrte war es, sondern wie sie lehrte. Sie verstand es, dem trockensten Gegenstande ein lebendiges Interesse abzugewinnen. Sie konnte unseren Enthusiasmus mit unwiderstehlicher Gewalt entzünden. Ihre Literatur- und Geschichtsstunden, ihre dramatischen Vorträge, ihre deutschen Stunden waren unendlich genußreich. Wir gingen zu ihnen wie zu einem Fest. Wie sie ein Bild nach dem andern entrollte, den Geist des Dichters, sein Fühlen und Denken in uns hineinzauberte, wie wir den begeisterten poetischen Ergüssen ihres reichen Gemütes lauschten, das wissen nur wir, die wir ihre Schülerinnen waren. Und die Kenntnisse, die wir uns erwarben, waren doch noch das Geringste, was wir aus ihren Stunden mitnahmen. Unser ganzes Ich war durchdrungen von dem Schönen, dem Edlen, dem Reinen, dem Guten. Wir waren bessere Menschen, indem wir in ihrer Nähe geweilt hatten. Sie prägte uns den Stempel ihrer schönen Seele auf. Wer ihrem Streben folgte, bedurfte keiner anderen Religion. Ihr nachzueifern mußte man nach den Sternen zielen. Wie können wir ihr genug danken für Fühl- und Denkweise, die sie uns eingeimpft. Es geht eine hübsche Sage um in dieser unserer deutschen Stadt, in der sie zwanzig Jahre gewirkt und gelebt hat. Eitel klänge es für uns, wenn es nicht der wahre Nachruf für die teure Verstorbene wäre. Es heißt nämlich, daß eine Anneke-Schülerin unverkennbar vor allen anderen sich zeigt, indem sie trotz Schicksal, trotz Armut, trotz prosaischem Kampf in der harten Welt stets die höchsten Ideale, ein geistiges Streben, einen ethischen inneren Halt durch das Leben behält. Die Pflicht über alles! Diese Lehren sind zu Fleisch und Blut geworden. Wir Schülerinnen der Frau Anneke versuchen, bei unsern Kindern anzustreben, was wir von unserer Priesterin empfangen.[13]

Natürlich hatte Mathilde Anneke die Schule vor allem mit der Absicht gegründet, durch diese einen Lebensunterhalt zu finden. Sie hätte jedoch Geist und Ziel ihres Lehr- und Erziehungsprogrammes niemals finanziellen Vorteilen untergeordnet. Als »freisinnig« und »fortschrittlich« waren sie und ihre Anstalt bekannt. Als eine der ersten in der Mädchenerziehung legte sie auf Mathematik und Naturwissenschaften großen Wert. Die Beschreibung einer Chemieprüfung durch eine Milwaukeer Zeitung gibt Zeugnis für die gründliche Ausbildung auf diesem Gebiet. Vor allem aber war es ihr darum zu tun, diese neue Generation junger Frauen auf einen weiteren Wirkungsbereich mit höheren Lebensaufgaben als »Kinder, Kirche, Küche« vorzubereiten. Und sie zögerte auch nicht, den jungen Mädchen ein Selbstbewußtsein einzupflanzen, das Anspruch auf freie und gleiche Entwicklung mit dem Manne fordert. Denn es war Mathilde Anneke klar, daß die Gleichberechtigung der Frauen in allen Sparten des Daseins nur über eine gleichwertige Ausbildung zu erzielen war. Für diese vermittelte sie mit ihrer Schule die Grundbedingungen. Mit ihrem Töchter-Institut brachte sie zur praktischen Anwendung, wofür sie mit der Feder und auf den Tribünen kämpfte: Was in der Frau nicht länger unterdrückt werden kann, was frei sein will unter allen Umständen ... ist der natürliche Durst nach wissenschaftlicher Erkenntnis ... Wissen um des Wissens willen zu suchen ... um Ideen, Folgerungen und alle höheren Dinge ... Dies hatte Mathilde Anneke in ihrer Rede auf der Tagung des Jahres 1869 gefordert. Auf beiden Gebieten, im kleinen Bereich ihrer Schule und auf der größeren Ebene des politischen Lebens wirkte sie bis in ihr hohes Alter im Sinne ihrer Überzeugungen.