Das Weib im Conflict mit den sozalen Verhältnissen

Zu allen Zeiten, bis in die heutige, war die Bezeichnung »emanzipierte Frau« kein Kompliment. Nicht nur die Herren der Schöpfung, sondern auch die meisten Frauen distanzieren sich von militantem Feminismus. Und doch ist es vor allem jenen Frauen zu danken, die sich aktiv an die Front des Kampfes um Gleichberechtigung stellten, daß eine Änderung jener Zustände herbeigeführt werden konnte, die uns heute geradezu unwahrscheinlich vorkommen. Um zu erkennen, was bis heute erreicht worden ist, muß man sich diese Zustände vergegenwärtigen und sich der allgemeinen Einstellungen erinnern, die vor noch gar nicht allzu langer Zeit gang und gäbe waren.
Mathilde Franziska Anneke berichtet zum Beispiel für die Augsburger Allgemeine Zeitungvom 18. Februar 1863 aus der Schweiz über ein Urteil, das ein Richter des Kantons Unterwalden gefällt hatte. Sie zählt die Strafen auf, die über eine Frau verhängt wurden, weil sie ihre Schwangerschaft verheimlicht hatte:

  1. Wenn das Glöcklein geläutet wird, durch den Scharfrichter eine Viertelstunde an den Pranger gestellt zu werden.
  2. Zehn Jahre ins Zuchthaus kommen.
  3. Während  des ersten Monats  wiederholt religiösen Unterricht aushalten.
  4. Nach Abfluß der ersten zwei Monate mit Rutenstreichen gezüchtigt werden.
  5. Ehrlos erklärt.
  6. Zu den Kosten verurteilt.
    Diese nackten Tatsachen bedürfen keines weiteren Kommentars.[1]

Und liest man im geistigen Erbe bedeutender Männer des letzten Jahrhunderts, wird man für manche ihrer Auffassungen heute nur mehr ein Lächeln finden. Unter den Geistesblüten des großen Treitschke findet man aus dem Jahre 1897 zum Beispiel folgende Feststellungen:

  • Der eigentliche Beruf des Weibes wird zu allen Zeiten das Haus und die Ehe sein. Sie sollen Kinder gebären und erziehen.[2]
    Es ist eine schändliche moralische Schwäche so vieler wackerer  Männer... davon zu reden, unsere Universitäten der Invasion der Weiber preiszugeben und dadurch ihren ganzen Charakter zu verfälschen. Hier liegt eine unbegreifliche Gedankenschwäche vor. Hermann Grimm hat leider auch mit ins Hörn gestoßen... Soll man nun zwei Klassen Studenten haben, eine mit und die andere ohne akademische Freiheit? Wir dürfen aber den Frauen keine akademische Freiheit geben. Soll wegen einer Zeitungsphrase die herrliche Institution unserer Universitäten korrumpiert und den Männern die schöne akademische Freiheit genommen werden? Sie sehen, wie wir hier in den baren Unsinn hineingeraten...[3]

Aber auch im Lande aller andern Freiheiten, in Amerika, ging es den Frauen nicht viel besser. Im Jahre 1845 schreibt Horace Bushnell in ähnlichem Sinne wie Treitschke, nur sanfter und frommer:

  • Der Charakter der Frau kann von Natur aus nur in der Annäherung an Gott vollendet werden.[4]

Und er rät seiner Tochter, keine Ansprüche, ja keine charakteristischen Eigentümlichkeiten zu besitzen, sondern aufzugehen in ihrer Anpassung an andere. Der Einfluß der Frau solle gefühlt, aber nicht gehört werden. Religion sei für die Frau weit wichtiger als für den unabhängigen Mann usw. usw.
Man kann ohne Einschränkung behaupten, daß diese wenigen Beispiele die allgemeine Ansicht jener Zeit spiegeln. Wie aber kam es, daß heute diese Denkweise, zumindest in der zivilisierten Welt, als überwunden gelten kann? Von selbst haben sich die Dinge nicht geändert, wie sich die sozialen Verhältnisse im allgemeinen nicht von selbst ändern. Den Frauen ist es oft gar nicht bewußt, wieviel Mühen es die Frauen vergangener Generationen gekostet hat, das jetzt Erreichte durchzusetzen. Eine der ersten in Deutschland, die sich für die Gleichberechtigung der Frauen auf sozialer, wirtschaftlicher und politischer Ebene in Wort und Schrift einsetzten, war Mathilde Franziska Anneke - Regina Rüben bezeichnete sie als »die erste große Verfechterin des Frauenrechts«.[5]
Ihre erste ausführliche Schrift zur Frauenfrage, Das Weib im Conflict mit den socialen Verhältnissen, entstand noch in Deutschland, »im Winter vor der Revolution«. Sie beschwert sich darin über das Vorgehen der Behörden gegen die freisinnige Schriftstellerin Louise Aston. Diese war beschuldigt worden, die frivolsten Herrengesellschaften besucht, einen Klub emanzipierter Frauen gegründet zu haben und außerdem nicht an Gott zu glauben. Mathilde Anneke schreibt dazu:

  • In der Geschichte der Philosophie bin ich nicht bewandert genug, um angeben zu können, welche Männer alle, namentlich in der neueren Philosophie von Franz Bacon bis auf Spinoza, von Spinoza bis auf Hegel, von Hegel bis auf Feuerbach seit Jahrhunderten frei und unbehindert die Resultate ihres Forschens, Denkens und Wissens nicht allein aussprechen, sondern öffentlich lehren durften. Freilich, von keinem Weibe habe ich's je gehört, daß sie, unter dem Einfluß der christlichen Botmäßigkeit stehend, frei bekannt hätte, daß sie den überweltlichen Gott überwunden habe...[6]

Unverblümt fordert Mathilde Anneke für Louise Aston und die Frauen im allgemeinen:

  • Es gilt in diesem Falle, die Stellung des Weibes innerhalb der Gesellschaft zu vertreten. Es gilt die äußeren Rechte des Weibes gegen die Gewalten dieser Erde offen zu verteidigen...[7]

Diesen flammenden Aufruf an alle Frauen ließ Mathilde Anneke auch in ihrer kurzlebigen Frauen-Zeitung in Köln, später ebenso in ihrer amerikanischen Deutsche(n) Frauen-Zeitung in Auszügen erscheinen. Ihre Zeitungen waren keine Kochtopf- und Modeblätter. Sie führte mit ihnen den Kampf für Freiheit und Gleichheit, für die Rechte der Frauen. Nur zwei Nummern der Kölner Frauen-Zeitung wurden von der Zensur zum Druck zugelassen; die dritte wurde schon in den Korrekturfahnen beschlagnahmt. Wohl wegen dieser kurzen Erscheinungszeit wird sie in der Geschichte der deutschen Frauenbewegung nicht genannt. Schulte bezeichnet »diese drei Nummern der Annekeschen Frauenzeitung mit ihrer Forderung nach Gleichberechtigung der Frau, insbesondere ihr Recht auf Arbeit jeder Art, einen der ersten Presseversuche in der neuzeitlichen Frauenbewegung«.[8] Dieser Versuch ging zeitlich der Herausgabe von Louise Ottos Frauenzeitung voraus, die bislang immer als erste deutsche Frauenzeitung betrachtet worden ist. Mathilde Annekes Zeitung erschien am 27. September 1848, Louise Ottos Zeitung im April des Jahres 1849. Annekes Zeitung war gleichzeitig ein Organ der anbrechenden Revolution und forderte Gleichberechtigung für alle. Sie kämpfte gegen Privilegien jeglicher Art und stand vor allem auf Seiten des Proletariats.
Der Ton ihrer Zeitung war wesentlich radikaler als der, den Louise Otto später in Dresden anschlug. Bei Louise Otto waren »Hingabe« und »Aufopferung« die wesentlichsten Tugenden im Aufgabenbereich der Frau. Sie erstrebte für diese Haltung lediglich einen größeren Wirkungsbereich, wünschte ihn von der Familie auf den Staat, auf die Allgemeinheit auszudehnen. Die pflegenden, hütenden, opfernden Kräfte der Frau sollten nicht allein auf die Familie beschränkt bleiben, sondern durch entsprechende, auf diese Kräfte ge zielte Ausbildung den Frauen ein Berufsleben ermöglichen, wodurch sie der Allgemeinheit »dienen« könnten.[9] Mathilde Anneke forderte weit mehr:

  • Warum auch sollte das Weib überhaupt die schweigsame Dulderin sein? Warum noch länger die demütige Magd, die ihrem Herrn die Füße wäscht?[10]

Nicht zum Dienen, sondern zum selbständigen Denken und Handeln rief Mathilde Anneke auf. Es ist Aufstand auf allen Fronten, der aus ihren Schriften spricht, Aufstand vor allem gegen die Lehren der Kirche, in denen sie die Hauptursache der Unterdrückung sieht:

  • Mit Weihrauchduft will man Eure Sinne umnebeln, mit glatten Worten Euch bethören, in Blüthenduft gehüllt Euch Mährchen für schlichte Wahrheit darreichen...Und diese Andacht - Ich sage Euch - ist nichts wie Heuchelei und Lüge im Glorienschein, daran Thränen der Entsagung, des Wehs und des Unglücks, ja Thränen der Noth, des Grams und des Harms wie Diamanten zittern und funkeln.[11]

Und in ihrer Neue(n) Kölnische(n) Zeitung ruft sie zum Aufstand gegen die politische Unterdrückung auf. Die Frauen und Mädchen sollen ihre Männer im Kampf gegen die herrschende Ordnung unterstützen, ja, sie dazu bewegen (Nr.111 vom 15. Mai 1849):

  • Die württembergischen Frauen und Jungfrauen richten ihr mahnendes Wort an die deutschen Krieger. Sie rufen den Soldaten zu, abzulassen von ihrem bisherigen Tun und sich nicht länger herzugeben zu feilen Henkern feiger Fürstentyrannen. - Sie rufen allen Jünglingen zu, die eine Waffe tragen können, für die Freiheit, für die Sache des Volkes zu kämpfen. Sie legen endlich ein feierliches Gelübde ab:
  • Höret das Gelübde deutscher Frauen, welches in heiliger Vaterlandsliebe wir gelobt:
    »Nie werden wir dem unsere Hand am Altare reichen, dessen Hand von dem Blute deutscher Mitbrüder befleckt wurde!«
    »Nie werden wir mit dem unsern häuslichen Herd teilen, der mit  Feuer und Schwert dieses unser Heiligtum zerstört hat!!!«
    »Nie werden wir dem einst in treuer Liebe nah'n, dessen feindliche Waffe Unglück und Verderben über die deutschen Gaue gebracht hatte!!!«
    Höret deutsche Jünglinge unsern Schwur, und des Himmels Vergeltung treffe uns, wenn wir dieses Gelübde nicht halten!

Nicht an das Hergebrachte - an das, was die neue Zeit forderte, sollten sich die Frauen halten:

  • ... Ihr Frauen daheim werdet mit ästhetischer Gravität sehr viel schön reden über das, was ein Weib tun darf, tun soll. Ich habe das auch einst getan, bevor ich noch gewußt habe, was ein Weib tun muß, wenn der Augenblick vor ihm steht und ihm gebietet.[12]

Dem Wort ließ sie die Tat folgen. Sie zog in die Revolution, sie folgte ihrem Mann in den Krieg. Aber sie war keine Amazone, die sich ihrer Weiblichkeit entledigte. Es war ihr nicht um Waffentat und Heldentum zu tun, sondern darum, den Kampf um ihre Ideale mit dem Mann zu teilen, den sie liebte. Als Blaustrumpf, als Mannweib wurde sie verspottet und verhöhnt. Karikaturen von ihr kamen in Umlauf, die sie hoch zu Roß mit einer Brille auf der Nase zeigten - obwohl sie keine Brillenträgerin war -, die sie in Hosen- und Männertracht darstellten, obwohl sie auch mitten im Schlachtengetümmel ihre Frauenkleidung trug. Sie selbst schrieb dazu:

  • Meine alte Freundin, die Kölnische Zeitung... läßt mich... in dem fabelhaftesten Costüm, das jemals eine Frau getragen haben kann, auftreten. Ein wuchtiger Schleppsäbel, ein Hirschfänger, Muskete und Männerkleidung sind die Requisiten, die sie aus ihrem Lügenschrein auch für mich in Bereitschaft gehalten... während ich doch... unbewaffnet und in meiner gewöhnlichen Frauentracht... den Feldzug an der Seite meines Mannes mitgemacht habe...[13]

Mit der mißglückten Revolution gingen alle Bestrebungen um eine neue soziale Ordnung unter. Auch die ersten Ansätze einer Frauenbewegung, die sich in den Jahren bis dahin entwickelt hatten, wurden unterdrückt und schließlich verboten. Erst im Jahre 1865 begannen sich diese Kräfte in Deutschland wieder zu regen. Inzwischen hatten sich aber auch in Amerika Frauen zusammengefunden, um für ihre Rechte zu kämpfen.
Mathilde Franziska Anneke schloß sich bei ihrer Ankunft in Amerika nicht gleich der Frauenbewegung an. Wahrscheinlich wußte sie damals auch noch nichts von dieser Organisation, die sich gerade in jenem Jahr zu bilden begann. Auch waren ihre Englischkenntnisse minimal und bereiteten Kontaktschwierigkeiten. Es war außerdem unter den Einwanderern üblich, sich an die eigenen Landsleute zu halten. So begann Frau Anneke unabhängig von der sich damals konstituierenden amerikanischen Frauenbewegung eine Zeitung herauszugeben, welche die deutschen Frauen Amerikas zum Kampf für die Gleichberechtigung bewegen sollte. Kaum hatte sie in Milwaukee Fuß gefaßt, ließ sie auch schon ihre Deutsche Frauen-Zeitung erscheinen. Darin schreibt sie:

  • Es sind so viele Tränen in meinen Schoß geflossen, geweint von trostlosen, leidenden Frauen, daß mein Herz heftig bewegt ist von dem Wunsche, sie aufzurichten und für sie in die Schranken zu treten... Wenn sie für sich und die ihrigen zu sorgen haben, dann konnte und sollte ihnen wohl die Gelegenheit geboten werden, sich wieder Lebensmut durch gut belohnte Arbeit und eine geachtete Stellung zu gewinnen. Und ganzen Klassen arbeitender Frauen würde der Besitz des Stimmrechts von großem Vorteil sein, da sie dadurch ihren Wünschen und Forderungen Nachdruck geben könnten.

Und dies muß als historische Tatsache registriert werden: Die Deutsche Frauen-Zeitung ist die erste feministische Zeitung, die von einer Frau in eigener Regie auf amerikanischem Boden publiziert worden ist. Paulina W. Davis irrt, wenn sie in ihrer Geschichte der amerikanischen Frauenbewegung UNA als erste Frauenrechtszeitung bezeichnet, die von einer Frau herausgegeben wurde.[14]
In dem von Mathilde Anneke ausführlich verfaßten Lebenslauf, gerichtet an einen Herrn Alexander Jonas, berichtet sie über ihr Unternehmen: Ich schrieb die erste Nummer meiner »Deutschen Frauen-Zeitung« hier im fernen Westen allein und unbekümmert um irgendwelchen Erfolg. Dieselbe erschien am ersten März 1882 (nicht 1858 wie in Schems Enzyclopädie steht). Ich hatte keine Mittel und war ohne jegliche Unterstützung durch Mitarbeiter, fand aber in der Bereitwilligkeit des braven Fratny, damaliger Herausgeber des »Volksfreundes«, den Druck des damals monatlich erscheinenden Journals, die erste Hülfe zur Realisierung meines Planes.[15]

Rudolf Koss widmet in seiner Geschichte der Stadt Milwaukee Mathildes Zeitung eine ausführliche Besprechung:

  • Im März 1852 machte das erste Heft einer neuen Monatsschrift, den Interessen der Frauen gewidmet, sein Erscheinen. Der Titel lautete Deutsche Frauen-Zeitung, herausgegeben von Mathilde Franziska Anneke, den Deutschen bekannt als wackere Patriotin und tüchtige Führerin des Worts wie der Feder für die Rechte der Arbeit... Die Tendenz der Zeitung war geistige und sittliche Erhebung der Frauen und die Vertretung ihrer Gleichberechtigung mit dem Manne in socialer und politischer Beziehung, ein Princip, für das die Herausgeberin seit Jahren mit Überzeugung in die Schranken getreten war, welches sie als das zum wahren Menschentum führende anerkannt hatte und das mit ebensoviel Geist als glänzender Beredsamkeit in den Spalten jener Zeitschrift von ihr verfolgt ward...
    Hierher übergesiedelt, ergriff der Wunsch nach einer literarischen Beschäftigung sie bald von neuem. Dankbar nahm deshalb die mittellose Flüchtlingin die ihr in uneigennütziger Weise zur Ausführung ihres Vorhabens dargebotene Hand der Herausgeber des Volksfreunds an, die bereitwillig für Satz, Druck, Papier und Expedition der ersten Nummern der Frauen-Zeitung sorgten. Später ward letztere in der Banner-Druckerei herausgegeben, woselbst auch Frauen sich beim Setzen derselben beschäftigten, nachdem Frau Annekes älteste Tochter, jetzige Frau Störger, ebenfalls bereits früher Proben in dieser Kunst abgelegt hatte.
    Das Unternehmen fand gerechte Anerkennung und die verdiente Unterstützung in den gebildeten und vorurteilsfreien Kreisen Milwaukees, wie anderer Städte der Union. Mochten Einzelne nicht mit allen Ansichten der Frau Anneke übereinstimmen, oder die Agitation für das ihr vor Auge stehende hehre und schöne Ziel verfrüht halten - obwohl das Streben nach dem edleren Zweck schwerlich je zu früh beginnen kann! - gewürdigt mußte dasselbe von jedem Denkenden werden, und die makellose Lauterkeit der Motive anzutasten blieb allein dem gemeinen Unverstand und der niedrigen Verleumdung vorbehalten. Insbesondere waren es die schmutzigen Lästerworte eines »Vetter Andreas« im frommen Seeboten, der mit rohen Angriffen und bübischen Verdächtigungen schon vor dem Erscheinen des Blattes die edlen Bestrebungen der Herausgeberin mit seinem widrigen Geifer zu besudeln versuchte.[16]

Die Deutsche Frauenzeitung ist in einem einzigen Exemplar erhalten, und zwar in der in New York erschienenen Ausgabe Nummer 7 vom 15. Oktober 1852.[17] Im Titelblatt weist sich die Zeitung als »Central-Organ der Vereine zur Verbesserung der Lage der Frauen« aus. In dieser Nummer macht Mathilde Anneke ihre Leser darauf aufmerksam, daß die Zeitung nunmehr in New York erscheine, erwähnt ihre Schwierigkeiten und spricht voll Zuversicht von ihren Zielen:

  • Mit der heutigen Nummer erscheint unsere Zeitung in New York. Wir haben mit dieser Übersiedlung große Schwierigkeiten, Mühen und Sorgen zu überwinden, aber wir fürchten sie nicht, da wir wissen, welchen Zielen wir entgegenarbeiten. Die Freunde unseres Strebens werden uns nicht allein lassen. Sie wissen, daß es die Erringung der edelsten Güter für die Menschheit gilt.

Von den Schwierigkeiten, die ihr von männlicher Seite entgegentraten, sagt sie:

  • Von sehr vielen Seiten werden uns Mitteilungen gemacht, wie insbesondere die Herren Ehemänner unser Blatt mit Bann zu belegen geruhen... es scheint beinahe, als wenn eine Verschwörung gegen dieses Blatt von Seiten der Männer eingetreten wäre... Wo ich auch anfrage, gibt man mir zur Antwort: »Meine Frau ist aufgeklärt genug, es ist nicht nötig, daß dieselbe noch mehr aufgeklärt werde.«

Sie beschreibt ihre Zeitung als

  • einziges Organ für die deutschen Frauen der Union, welches ihre Interessen ohne Rücksicht vertreten wird, und lieber verstummen will, als ein Haar breit von der einmal erkannten Wahrheit abzuweichen.

Wir können dieses eine uns erhaltene Exemplar der Anneke-Zeitung als Beispiel betrachten und daraus unsere Schlüsse ziehen, auf welche Weise das Blatt im allgemeinen zusammengestellt und redigiert worden ist. Im Aufbau dieser Zeitung besteht eine gewisse Ähnlichkeit mit modernen Blättern, die heute als militante Frauenzeitungen erscheinen. Die Anneke-Zeitung zeigt eine sorgfältige Balance verschiedener Beiträge. Wir finden als Feuilleton die Fortsetzung einer Erzählung von Johanna Swisshelm, die als Herausgeberin des Saturday Visitor bezeichnet wird, ferner den Bericht einer Reise von Elberfeld ins Neandertal, verfaßt von Mathilde Anneke, außerdem einen Bericht über eine Zeichenschule für Frauen, eine Kurzgeschichte usw. Die Titelseite nimmt ein Gedicht ein, das in deutscher und englischer Fassung abgedruckt ist. Dem mit »Julia« unterzeichneten englischen Gedicht »An Everyday Tale« ist die Erklärung vorausgeschickt:

  • Vorstehendes Gedicht haben wir die Freude, unserem englisch lesenden Publikum in einer gelungenen Übersetzung zu bieten. Wir verdanken dieselbe einer in der deutschen sowohl wie englischen Sprache gewandten Amerikanerin, die wir als erste Mitarbeiterin unserer deutschen Frauenzeitung begrüßen.

Wer diese »Julia« war, wird sich wohl nie mehr feststellen lassen, da kein Schriftverkehr mit Mitarbeitern der Zeitung erhalten ist. Auch die Verfasserin des ursprünglichen, deutschen Gedichtes nennt sich nur »Emma«.[18] Mathilde Anneke hatte bereits früher in ihrer Neuen Kölnischen Zeitung, die sie seinerzeit in Deutschland herausgebracht hatte, verschiedene Gedichte dieser Schriftstellerin veröffentlicht. Wie sehr ihr an diesem Emma-Gedicht gelegen war, läßt sich daraus schließen, daß sie es nach Amerika mitgenommen hatte, sich der Mühe unterzog, es hier übersetzen zu lassen, und es dann in ihrer amerikanischen Zeitung nochmals abdruckte.

EINE ALLTÄGLICHE GESCHICHTE

1
Als Vater und Mutter gestorben war,
Da war sie ein Kind von sechszehn Jahr;
Sie hatte erst sechszehn Lenze gesehn
Und das Leben lachte, und sie war schön.

Sie war so schön, sie war so mild,
Sie war so rein wie ein Heil'genbild,
Ein duftendes Knösplein auf grünender Au,
Ein Veilchen, erwachend im Morgenthau.

Wer warf in diese Brust so rein,
Den ersten Stachel der Reue hinein?
Wer zog den Engel zum Staube hin?
Er war so schön - und sie liebte ihn!

Sie liebte ihn, wie Blümchen im Thal
Den freundlich lächelnden Sonnenstrahl,
Nicht ahnend, daß im glühenden Kuß
Die schönste Blüthe verwelken muß.

2
Und wie von Sonnengold umsäumt
Das Röslein nur vom Lichte träumt,
Und wie es plötzlich dann erwacht,
Verwelkend steht und in finstrer Nacht:

So ist auch sie zuletzt erwacht.
Sie hat ihr Kind nicht umgebracht;
Sie zog es auf mit Angst und Noth, 
Und doch gebrach's zuletzt an Brod.
 
Arbeiten, ja, das wagt sie schon
Doch weis't man sie ab mit Spott und Hohn.
Und betteln?! - O, aus jedem Haus
Treibt man die Dirne stracks hinaus.

Noch ist sie schön, und mancher Mann
Sah sie mit bösen Blicken an.
Sie bot sich für ihr Kind zu Kauf,
Sie zog's von ihrer Schande auf.

Willst den gefall'nen Engel sehn?
Brauchst nur bei Nacht die Stadt durchgehn.
Noch ist sie schön, doch mit frecher Stirn:
Der Engel - ward eine Straßendirn'.
EMMA

Das Emma-Gedicht ist eine soziale Ballade, ein Tendenzgedicht. Es zeigt, wie die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse Frauen in die Prostitution treiben. Wäre das Gedicht nicht durch die Zeitungsausgabe datiert, würde man es einer jüngeren Periode zuschreiben. In Form und Inhalt ist es seiner Zeit voraus und fügt sich in die Reihe Holz, Wedekind, Brecht und Kästner. Im balladesken Sprung so mancher Zeilenfolge klingt Bänkelton und moderne Diktion:

»Wer zog den Engel zum Staube hin ?
Er war so jung und sie liebte ihn.«

oder:

»So ist auch sie zuletzt erwacht.
Sie hat ihr Kind nicht umgebracht.«

Auch Heine-Rhythmen schwingen mit, zum Beispiel: »Sie war so schön, sie war so mild«, erinnert an Heines »Die Welt ist dumm, die Welt ist blind«. Und die Folge von »schön... mild... rein«, scheint mit Heines »so hold, so schön, so rein« zu korrespondieren. Die Nähe zu Heine in Verbindung mit dem Bänkelton gibt dem Gedicht einen modernen Charakter. Freilich, es fehlen Spott, Satire, Parodie, die wir bei dieser Thematik später oft finden. Dann aber sind es immer Männer, die diesen Stoff aus eigener Unbetroffenheit angehen. Emma ist bisher wohl die einzige Frau, die dieses Problem in Gedichtform gestaltet hat. Und darin scheint auch der Unterschied in der Behandlung des Themas zu liegen. Die Skala der Töne, die in modernen Balladen dieser Art erklingen, reicht von morbidem Sarkasmus, frivolem Spott, Indifferenz bis zu Verständnis und Mitgefühl.[19]
Mit dem Satz »Sie hat ihr Kind nicht umgebracht«, setzt sie einen bewußten Kontrast zum Kindesmörderinnen-Motiv des 18. Jahrhunderts. Wie in der Schiller-Ballade »Die Kindesmörderin« ist das gefallene Mädchen zentrales Thema. Auch Schiller klagt an, klagt über die Freiheit des Mannes, der ungestraft sein Sinnenglück genießen darf, während das Mädchen zu Verzweiflung und Untat getrieben wird. Im Emma-Gedicht aber ist das Mädchen moralisch erhöht, weil es den Kampf gegen das Schicksal aufnimmt und nicht morden will. Durch Titel und letzte Strophe der Ballade wird das Einzelschicksal des individuellen »sie« zum Kollektiv. Als »alltäglich«, also wiederholbar und wiederholt wird die Geschichte bezeichnet. »Brauchst nur bei Nacht die Stadt durchgehn« weist auf die Gesamtheit der »gefallenen Engel«, denen man in den nächtlichen Straßen begegnet.
Dieses Emma-Gedicht ist Rebellion gegen die der Frau aufgezwungene Rolle in moralischer, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht. Wir werden der Verfasserin das Verdienst zusprechen müssen, als eine der ersten ihrer Zeit die Frauenfrage dichterisch in neue Perspektiven gerückt zu haben, in andere, als sie in der Dichtung der patriarchalischen Gesellschaft bis dahin üblich waren. Nicht die verbotene Liebe, nicht die Untreue des Mannes sind Ziel der Anklage, sondern die Gesellschaft, deren scheinheilige Moral den Begriff »gefallenes Mädchen« schafft, »Angst und Noth« bewirkt, redlichen Broterwerb verhindert und das Mädchen auf die Straße treibt. Neben den moralischen Protest tritt erstmals der Protest gegen ökonomische Zustände, denen die Frau ihres Frauseins wegen ausgesetzt ist. In diese Richtung weist auch eine Tagebuch-Eintragung Mathilde Annekes: Die Hälfte der Frauen ist zur Prostitution verdammt.
Solche Thematik in einer Frauenzeitung - einer deutschen Frauenzeitung - in Amerika, um die Mitte des 19. Jahrhunderts - muß ihrer Zeit, speziell den um deutsche Fraulichkeit und Sittsamkeit besorgten Ehemännern suspekt gewesen sein. Kinder, Kirche, Küche reimten sich auf solchen Inhalt nicht.[20]
Ein weiterer Beitrag in dieser Nummer der Deutschen Frauen-Zeitung ist auf Seite 53 der Artikel »Ernestine L. Rose«. Der Vortrag dieser Frau ist in vieler Hinsicht auch noch für die heutige Zeit aktuell. Ernestine Rose hatte Mathilde Anneke hilfreich zur Seite gestanden, als sie sich in völliger Unkenntnis des Englischen bei einer Konvention in New York 1853 zum ersten Mal einer amerikanischen Frauengemeinde stellte und eine Ansprache hielt, die Ernestine Rose sodann ins Englische übersetzte. Mathilde Anneke blieb Ernestine Rose in all den späteren Jahren aufrichtig zugetan und erwähnt in ihren Briefen jedes weitere Zusammentreffen mit besonderer Herzlichkeit.

ERNESTINE L. ROSE

  • Zu den hervorragendsten Kämpferinnen für die Rechte der Frauen gehört Ernestine L. Rose. Nicht allein daß sie zu den ersten gehört, welche ihre Stimme für die Erhebung des weiblichen Geschlechts erhoben haben; nicht allein daß sie an Energie, Ausdauer und Talent von wenigen ihrer Mitarbeiterinnen erreicht, von keiner übertroffen wird: sie ist uns ganz besonders wert und nimmt in unseren Augen einen besonders hohen Platz unter den streitenden amerikanischen Frauen ein durch den Radikalismus ihres Denkens und die Entschiedenheit ihres Auftretens in jeder Richtung. Während wir in diesem Lande der schroffsten Widersprüche in denselben Köpfen das freieste, unabhängigste Denken nach der einen und die größte Beschränktheit und Abhängigkeit nach der andern Richtung hin friedlich miteinander vereinigt finden; während die meisten amerikanischen Frauen in ihrer Verblendung sogar so weit gehen, ihre Bestrebungen für Verbesserung der Lage ihres Geschlechts, für die Erreichung der ihnen so lange vorenthaltenen Rechte auf die bittersten Feinde aller Freiheit und Unabhängigkeit, die bittersten Feinde allen Glückseligkeitsstrebens, auf Religion, Pfaffentum und Bibel zu stützen - gehört Ernestine Rose zu den sehr wenigen, welche diese Feinde nicht allein als solche erkannt haben, sondern sich auch nicht scheuen, sie bei jeder Gelegenheit öffentlich als solche zu bezeichnen, sich nicht scheuen, der allgemein verbreiteten religiösen Heuchelei in diesem »Lande der Freiheit« entschieden und offen entgegenzutreten. Dadurch ist uns Frau Rose besonders wert. Es freut uns, unsern Lesern mitteilen zu können, daß sie sich bisweilen durch Beiträge an unserm Blatt beteiligen wird. Für diesmal geben wir einige Auszüge aus einer Rede, die sie am 19. Oktober v. J. vor der »People's Sunday Meeting« in Boston gehalten hat. Frau Rose ist eine Polin von Geburt, lebt aber bereits sechzehn Jahre in den Vereinigten Staaten.

Wie shocking weitere Ausgaben der Deutschen Frauen-Zeitung waren, wissen wir nicht, denn keine andere Nummer konnte bisher aufgefunden werden. Lediglich der Nachdruck eines Artikels, den Mathilde Anneke als Bericht über die New Yorker Frauenrechtstagung vom September 1853 verfaßte und in ihrer Frauenzeitung veröffentlichte, blieb erhalten. Dieser Nachdruck erschien in der San Antonio Zeitung- »Ein social-demokratisches Blatt für die Deutschen in West Texas, herausgegeben unter Mitwirkung tüchtiger Kräfte von Adolf Douai, Sonnabend, den 16. Oktober 1853«.[21]
Als die Annekes in Newark Fuß gefaßt und mit Mathildes Ersparnissen die Newarker Zeitung begründet hatten, stellte Mathilde Franziska das Erscheinen der Deutsche(n) Frauen-Zeitung ein.
Über das Schicksal ihrer Zeitung schreibt sie selbst in ihrem Brief an Alexander Jonas: Fortan erschien meine Zeitung wöchentlich und zwar nach einigen Irrfahrten in New York und Jersey City von Newark aus. Ich hatte bis dahin anregende Stoffe in derselben veröffentlicht, Auszüge aus Hippel gebracht, Übersetzungen von Mary Wollstonecraft, Margaret Füller und anderen. Ich hatte meine eigenen Anschauungen in meinen Vorträgen niedergelegt und hatte »Das Weib im Conflict mit den socialen Verhältnissen« wiederum erscheinen lassen. Bei der Herausgabe der Zeitung hatten sich immer Schwierigkeiten aufgetürmt. Nach ihrem kurzen Bestehen von circa 2 1/2 Jahren zwangen mich Familiensorgen und Kränklichkeit, dieselbe aufzugeben, jedoch nicht ohne Hoffnung, das so mühsam aufgebaute Werk nach kurzem Stillstand wieder aufnehmen zu können. Allein eine Kette von Ungemach behinderte mich hinfort daran. Außer einigen Korrespondenten hatte ich mich keiner stehenden Mitarbeiter zu erfreuen, während die Zahl der Abonnenten eben hinreichend war, das Blatt zu stützen.[22] Und so stellen diese 2 1/2 Jahre die einzige Zeitspanne in der Geschichte der Frauenbewegung dar, in der eine militante deutsche Frauenzeitung in Amerika existierte, die von der Ostküste Amerikas bis nach Texas und Brasilien [23] hin Verbreitung fand.
Von früheren Ausgaben der Zeitung scheint schon zu Lebzeiten Mathilde Annekes nichts verblieben zu sein. Dies geht aus einem Brief Edmund Märklins vom 10. Januar 1863 hervor. Mathilde lebte um diese Zeit in der Schweiz und scheint Märklin gebeten zu haben, zurückgebliebene Manuskripte und Zeitungen nachzuschicken. Märklin antwortete:

  • Trotz aller Nachforschungen konnte ich keine Frauenzeitung auftreiben, und die Nummern in Ihrer alten Kiste im Greveschen Lokal sind mit derselben spurlos verschwunden . .. daß ferner auch im Falle des Vorhandenseins besagter Kiste die lesbaren Gegenstände als Bücher, Zeitschriften, Manuskripte jedem Menschen zu beliebigen Dispositionen gestanden, indem der Deckel fehlte, teils entwendet, teils weil das Möbel lange Zeit in 4 Fuß tiefem Wasser im Keller geschwommen, vollständig verfault und unbrauchbar geworden sei... (Siehe Seite 172 f.)

Die Übersiedlung von Milwaukee nach Newark, New Jersey, benutzte Mathilde Franziska Anneke, um - einer Wanderpredigerin gleich - die Staaten zu durchqueren und in allen größeren Städten Vorträge zu halten. Sie schreibt darüber:

  • Im Juni desselben Jahres (1852) trat ich meine Agitationsreise durch einen Teil der Vereinigten Staaten an, sprach in öffentlichen Versammlungen über die Erhebung des Weibes, verlangte die soziale Verbesserung ihrer Stellung, Recht auf Arbeit und vor allem das politische Stimmrecht.
    Ich versuchte eine Organisation unter den deutschen Frauen herzustellen, gründete Vereine, die miteinander in steter Verbindung stehen sollten, und bot meine Zeitung als deren Organ an. Ich sprach in folgenden Städten, vor meist zahlreichen Auditorien, gewöhnlich zwei, drei oder auch öftere Male. In Chicago unterstützten mich neben einigen begeisterten Frauen, lebhaft Hillgärtner und auch Georg Schneider (Ilüonois Staatszeitung). In Cleveland war es der Redakteur des Wächter, Herr Thieme; in Buffalo Redakteur de Hass, in New York fanden zwei Vorträge in Pythagoras Halle statt. Ich glaube mich nicht zu irren, Karl Heinzen und seine Gattin als Zuhörer in meinen Vorträgen bemerkt zu haben. Gewiß weiß ich, daß Heinzen in seinem Organ (glaube jedoch, daß das der Pionier noch nicht war) lobend meinen durchaus freireligiösen Standpunkt hervorhob, den ich im Vortrag verkündet hatte.
    Von Boston bekam ich per Telegraph vermittelst Domschke, der dort ein deutsches Blatt redigierte, Einladungen. Von den Familien der Doktoren Wesselhoefft und Geist aufgenommen, hielt ich Vorträge vor gefüllten Sälen. In Newark war es Alexander Loos, der mir zur Seite stand; in Philadelphia wurde ich von den Freunden und Genossen aus dem badisch-pfälzischen Kriege, Reichart und Eckhart, ferner von Wesendonck, Tiedemann und den Leitern der damaligen Arbeiterpartei lebhaft begrüßt, mit Serenaden beehrt und zu vier oder fünf Vorträgen ermuntert. Die Abonnentenzahl meiner Zeitung wuchs und meine Agitation fand lebhaften Anklang. In Baltimore unterstützt von Dr. Weiß und dessen tätiger Gattin und den Familienmitgliedern des würdigen Lehrers (ich habe seinen Namen vergessen) hielt ich mehrere Vorträge und namentlich einen stark besuchten vor den Arbeitern und ihren Frauen.
    Nach einer gefahrvollen Reise mehrerer Tage und Nächte durch die Alleghenies erreichte ich Cincinnati, woselbst eben Gottfried Kinkel das deutsche Element angeregt hatte. Hier in der Turnhalle empfing mich ein ungemein zahlreiches Auditorium, und ich errang lebhaften Beifall für meine immer entschieden ausgesprochenen Forderungen. Ich hielt hier mehrere Vorträge und wendete mich darauf nach Louisville, wo ich als Gast vieler mir bekannten und unbekannten Freunde meine Agitation weiterführte und von Frauen insbesondere Zeichen der Aufmunterung und Zustimmung erhielt, wie sie mir bisher nicht zuteil geworden war. Man hatte vernommen, daß es mein Wunsch sei, eine kleine Druckerei zu besitzen. Die zu einer Ehrenmünze bestimmten Goldstücke wurden nicht umgeprägt, mir vielmehr in Natura zu dem Zweck überreicht. Meine Tour erstreckte sich aufwärts über Dayton, Pittsburgh etc. etc.[24]

Die Anwesenheit Mathilde Annekes in Philadelphia wurde in verschiedenen Ausgaben der Freien Presse angekündigt und ihr Vortrag besprochen. Wir können annehmen, daß ihre Reden in anderen Städten gleichen oder ähnlichen Inhaltes waren. Eine Mitteilung vom 2. Oktober 1852 lautet:

  • Wir machen unsere Leser und Leserinnen auf den heute abend in der Arbeiterhalle, Nr. 46 Juliana Straße, von Frau Mathilde Franziska Anneke gehaltenen Vortrag über »Freie und sittliche Erhebung des weiblichen Geschlechts« aufmerksam und wünschen zahlreichen Besuch.

Am 23. Oktober 1852 erschien in derselben Zeitung ein Bericht, gezeichnet mit A. Str., aller Wahrscheinlichkeit nach von Amalie Struve:

  • Die Vorlesung der Frau Anneke. Vor einem aufmerksamen und für das Wort der Rednerin empfänglichen Zuhörerkreis hielt Frau Anneke am Donnerstag abend ihren ersten Vortrag über »Die freie und sittliche Erhebung des weiblichen Geschlechts«. Nachdem sie das öffentliche Auftreten einer Frau würdig gerechtfertigt, ließ sie eine scharfe Kritik über die bisherige gesellschaftliche Stellung des Weibes ergehen und wies den phrasenhaften Schimmer, mit welchem die Konvenienz das schwache Geschlecht umgibt, als Heuchelei und Torheit nach. »Auf denn, Ihr Schwestern!« sprach sie, »werft den hohlen Flitter des Putzes und der Eitelkeit ab und schafft, daß Euch der Mann um dessentwillen liebt, was Ihr seid. Protestiert im Namen der Gerechtigkeit gegen das Almosen der glatten Konvenienz, mit welchem Euch der Mann um Eure geistigen und gesellschaftlichen Rechte betrügen will. Verlangt endlich, daß man Euch nicht mutwillig von Eurer Pflicht abscheide, indem man Euch tausendmal an der Arbeit verhindert, für die Ihr nicht minder als der Mann geschaffen seid! Und hier ist es am Platze, der wahren Demokratie eine ernste Wahrheit ins Gedächtnis zu rufen.
    Männer des Fortschritts und der Revolution! Jahrhunderte lang habt Ihr Euren treuesten Verbündeten verkannt. Nur durch eine neue, unverbrauchte Kraft kann sich die Menschheit aus ihrem verderbten Zustand regenerieren. Diese Kraft, Ihr findet sie einzig im Bunde des befreiten Proletariats mit dem befreiten Weibe. Den Arbeiter habt Ihr endlich erkannt. Jubelnd habt ihr ihn auf den Kampfplätzen der Menschheit begrüßt - aber das Weib, das freie Weib, die Mutter der Gesellschaft, treibt Ihr noch mit Spott in das Fei ndeslager zurück, wenn es sich mit klarbewußter Begeisterung als Bundesgenossin darbietet. Wieder ein treues Herz, wieder ein hoher Geist tritt zu Euch her. Wollt Ihr abermals den Schmerzen des gefesselten Weibes Euch verstocken? Sollen Euch jene französischen Proletarier beschämen, die auf ihren traurigen Mansarden zu Hymnen der Versöhnung entflammten und das Weib zum Kampfe riefen, wenn es nicht von selber kam?
    Männer der Zukunft, reicht dieser Frau Eure Bruderhand, unterstützt ihre Mission, wirkt in Euren Versammlungen für die Rechte der Frauen, erkennt sie als Eure natürlichste und stärkste Bundesgenossin an! Und Ihr Frauen, tretet zusammen zu Vereinen, opponiert gegen Eure Knechtschaft, macht Eure Schwestern frei, indem Ihr sie aufklärt über ihre Pflichten und ihre Rechte. Verbreitet die Frauen-y.chung und schafft Euch ein Organ nach dem andern, das Eure Forderungen kühn und würdig vertritt.

Und in der Freien Presse vom 25. Oktober war zu lesen:

  • Montag abend acht Uhr wird Frau Mathilde Franziska Anneke in der Halle des Herrn Ginal im Marshall Institute eine zweite Vorlesung über »Verbesserung der Lage der Frau« halten.

Mit diesen Ansprachen wandte sich Mathilde Anneke fast ausschließlich an eine deutsche Zuhörerschaft. Im folgenden Jahr, bei der allgemeinen Frauenrechtsversammlung in New York, trat sie dann in den größeren Kreis der amerikanischen Frauenbewegung ein.
Mathilde Annekes Tätigkeit in der amerikanischen Frauenbewegung gehört jener Phase an, die man vielleicht am besten mit dem modernen Begriff des »conscious-raising« bezeichnen kann: ein Aufrütteln der Geister, damit sie sich der herrschenden Situation bewußt werden. Als geradezu ausschließliches Ziel, dem alle anderen Aspekte untergeordnet wurden, galt in Amerika die Gewährung des Stimmrechtes. Als Nebenprodukt dieses Kampfes ergab sich die Lockerung der zivilen, der Familien-, Ehe- und vor allem der Besitzrechte. Hier wirkte sich das Interesse der Väter aus, die dafür gesorgt haben wollten, daß ihre Töchter den Familienbesitz erhalten konnten und er nicht an die Familien der Schwiegersöhne verlorenging. Am Stimmrecht ihrer Töchter waren diese Männer jedoch weniger interessiert. In einem demokratischen Staat wie Amerika bedeutete aber dieses Stimmrecht wesentlich mehr als im absolutistisch regierten Deutschland. Im Vergleich ergab sich daher für die Bemühungen der Frauenbewegungen in den beiden Ländern jeweils eine andere Logik, die von den Verhältnissen in den beiden Ländern diktiert wurde.
Schon zur Zeit der Amerikanischen Revolution hatten sich amerikanische Frauen immer wieder gegen ihre unterdrückte Stellung in der Gesellschaft ausgesprochen. Aber damals waren es auch nur vereinzelte Stimmen, auf die nicht gehört wurde. Selbst die einflußreiche Frau von John Adams, des Mannes, der die Konstitution mitverfaßt hatte, konnte mit ihrem bekannten »Remember the ladies« keine den Frauen günstige Gesetzgebung erwirken. Abigail Adams protestierte gegen die Bildung einer neuen Regierung, in der Frauen nicht repräsentiert waren. Im März 1776 schrieb sie ihrem Mann, der eben in Washington an der Sitzung des Kongresses teilnahm:

  • Bei der neuen Gesetzgebung, die Ihr nun entwerfen werdet, wünsche ich, daß Ihr Euch der Frauen erinnert und Euch ihnen gegenüber generöser und positiver verhaltet, als Eure Vorfahren es taten. Seid Euch dessen bewußt, daß alle Männer Tyrannen wären, wenn sie könnten. Wenn den Frauen keine besondere Berücksichtigung gewährt wird, sind wir entschlossen, eine Rebellion zu stiften. Wir werden uns nicht verpflichtet fühlen, Gesetzen zu gehorchen, für die wir keine Stimme gaben oder keine Vertretung besitzen... Wenn wir Helden, Staatsmänner und Philosophen haben wollen, müssen wir auch gebildete Frauen haben.[25]

Aber erst im 19. Jahrhundert wagten es die Frauen, zu dieser Rebellion zu schreiten. Sie erkannten, daß die Frauen vor dem Gesetz ebenso rechtlos waren wie die Sklaven, und daß Frauenfrage und Sklavenfrage dieselben üblen Wurzeln hatten. Die Frauen wurden nun zu den eifrigsten Abolitionisten; Frauenfrage und Negerproblem wurden die aktuellsten Tagesfragen.
So erschienen um 1828 Sarah und Angelina Grimke, Töchter von reichen Plantagenbesitzern in South Carolina, befreiten ihre Sklaven und zogen nach dem Norden, um über das Übel der Sklaverei Reden zu halten. Sarah veröffentlichte ein Buch, in welchem sie die Argumente widerlegte, welche die Priester von den Kanzeln predigten, daß die Erniedrigung von Frauen und Sklaven mit dem ausdrücklichen Willen Gottes übereinstimme.[26] Es ist dasselbe Thema, das Mathilde Anneke in ihrer Schrift Das Weib im Conflict mit den socialen Verhältnissen zur Sprache bringt. Wie in Europa, so war auch in Amerika die Kirche alarmiert. Sie erkannte, daß mit der Freiheit und Erziehung, die sich die Frau durch die Gleichberechtigung erwerben würde, sie nicht nur der Macht der Geistlichkeit und religiösem Aberglauben entwachsen würde, sondern daß sie auch die Kanzeln erobern, die Bibel von ihrem Standpunkt aus interpretieren und Stimmengleichheit in den Konzilien fordern würde. Mit grimmigen Warnungen von der Kanzel, mit falscher Auslegung der Schriften wurden die Frauen eingeschüchtert und getäuscht. Ihre religiösen Gefühle wurden für eine nur noch vollkommenere Unterwerfung mißbraucht.[27] Mit wenigen Ausnahmen bildeten Priester und Prediger jeglicher Konfession eine geschlossene Phalanx gegen die Frauenbewegung. Dieselben Bibelsprüche wurden in diesem Zusammenhang zitiert, die seinerzeit die Leibeigenschaft und dann die Sklaverei als göttliche Einrichtungen erklärten.
Es ist heute noch immer recht lehrreich, einen Blick zurückzuwerfen und sich der Lage bewußt zu werden, in der sich die Frauen Amerikas in der Vergangenheit befanden. Speziell in der Beziehung zwischen Eheleuten gewährte das Gesetz dem Manne folgende Rechte:

  1. Besitz der Person seiner Frau. Ganz ähnlich wie in dem Gesetz gegen entlaufene Sklaven durfte niemand eine »entlaufene« Frau beherbergen. Der Mann konnte auf Schadenersatz klagen für den Verlust von Diensten jeglicher Art, den die Abwesenheit der Frau ihm verursacht hatte. Leute, die eine »entlaufene« Frau  beherbergten, konnten deswegen so verklagt werden.
  2. Vormundschaft und ausschließliches Recht des Vaters auf die gemeinsamen Kinder.
  3. Ausschließliches Recht auf den in die Ehe eingebrachten Besitz der Frau, über den er ohne Rücksicht auf die Wünsche der Frau verfügen konnte.
  4. Voller Anspruch auf jegliche von seiner Frau erarbeiteten Einkünfte, die er ohne Wissen und Einverständnis der Frau einziehen und ausgeben konnte.
  5. Voller Anspruch auf die seiner verstorbenen Frau zukommenden Erbansprüche. Starb der Mann vor der Frau, erbte die Frau nur die Hälfte des Besitzes, selbst wenn dieser von ihr ererbt oder verdient worden war. Es konnte geschehen, daß eine Frau aus dem Hause gewiesen wurde, in dem sie geboren und aufgezogen worden war und das ihr bis zu ihrer Heirat gehört hatte. Irgendein entfernter Verwandter des Mannes hatte mehr Anspruch darauf als die Frau, die diesen Besitz mit in die Ehe gebracht hatte.
  6. Als vollständiger Besitz des Mannes hatte die Frau keinen Einfluß auf die Wahl des Wohnortes, konnte nichts erben oder vererben. Dem Manne war es gestattet, seine Frau mit einem Stock zu verprügeln, vorausgesetzt, »daß dieser nicht dicker war als der Daumen des Richters«. Die verheiratete Frau existierte als Person vor dem Gesetz nicht: »Mann und Frau waren eine Person, und diese Person war der Mann.« Die Frau konnte in Rechtsfällen nur durch ihren Mann vertreten werden - genau wie Unmündige, Idioten, Verrückte und Kriminelle. Und selbstverständlich stand den Töchtern kein Anrecht auf eine Erziehung und Ausbildung zu, die über die häusliche Sphäre hinausweisen würde. Ebenso fehlte den Frauen jegliches politisches Recht.

Die Tatsache, daß viele Männer, ja vielleicht sogar die meisten Männer auf diesen ihren Rechten nicht bestanden, sondern ihren Frauen größtmögliche Freiheit gewährten, ist kein Argument gegen die Notwendigkeit einer Frauenbewegung. Im Gegenteil, es beweist nur, daß diese Gesetze überflüssig waren. Ihr Prinzip beruhte auf der Absicht, die Frauen in einer niedrigen und abhängigen Stellung zu halten. Daß diese Zustände nicht allein auf Amerika beschränkt waren, ist allgemein bekannt. Zum Beispiel heißt es in der Lebensgeschichte Louise Ottos: »Es gab allerlei ersparte Hausfrauengroschen aus Wirtschaftsgeld und Nadelgeld, oder wenn der Eheherr seiner Frau einmal die Zinsen ihres eigenen Vermögens großmütig >schenkte<.«[28] Zum Teil bestanden diese Verhältnisse in Deutschland und Österreich bis nach dem Zweiten Weltkrieg und wurden erst durch eine moderne Gesetzgebung in jüngster Zeit beseitigt. In vielen Staaten der Erde existieren sie noch heute.
In den USA, im Staate Louisiana zum Beispiel, ist das »head and master law« immer noch in Kraft, wonach der Ehemann unbeschränkt, d. h. ohne Zustimmung seiner Frau, über deren Besitz und Erwerb verfügen kann. Und der Staat Missouri lehnte es noch im März 1979 ab, wenigstens symbolisch das im Jahre 1920 erlassene 19. Amendment zur Verfassung, das Stimmrecht der Frau betreffend, zu unterzeichnen (NOW, März und April 1979). Die Auswirkungen dieser Gesetze auf politischer und gesellschaftlicher Ebene sind heute in Amerika und überall auf der Erde spürbar, wo Frauen ihres Geschlechtes wegen Einschränkungen verschiedenster Art ausgesetzt sind und den Männern als nicht ebenbürtig betrachtet werden.
Auch in England, jenem Staat, der nicht erst heute eine Frau als Staatsoberhaupt besitzt, lagen die Dinge im 19. Jahrhundert nicht anders. Als im Jahre 1840 in London die Welt-Anti-Sklaven-Konvention tagte, befanden sich zwei amerikanische Frauen als rechtmäßige Vertreter amerikanischer Abolitionisten-Vereinigungen in der Gruppe der Delegierten: Lucretia Mott und Elizabeth Cady Stanton. Sie hatten aber die mühsame und damals nicht ungefährliche lange Reise über den Ozean vergeblich unternommen. Als Frauen wurden sie nicht in der Versammlung geduldet. Sie beschlossen, sobald sie nach Amerika zurückgekehrt waren, eine Tagung abzuhalten und eine Gesellschaft zu gründen, die die Rechte der Frauen vertreten würde. Diesen Plan verwirklichten sie im Jahre 1848. In kleinen Gruppen, ohne Verbindung zueinander, hatten sich schon vorher hier und dort in Amerika Frauen in ihren Wohnzimmern zusammengefunden, Vorlagen an die Regierungen ihrer jeweiligen Staaten ausgearbeitet und eingereicht, um die Gesetze zu ändern, die für die Frauen so drückend und erniedrigend waren. Als einzelne blieben sie aber erfolglos.
Nun trat am 19. Juli 1848 in Seneca Falls im Staate New York eine Frauenrechtskonvention zusammen, um über die sozialen, religiösen und politischen Rechte der Frau zu sprechen. Eine Liste von Resolutionen, die das bestehende Unrecht, die Ungleichheit zwischen Mann und Frau, ja die Unterdrückung der Frau bezeugen und anklagen, wurde bei dieser Versammlung zusammengestellt und Forderungen ausgearbeitet, die das Übel beheben sollten. Eine Schrift wurde verfaßt, die berühmte Declaration of Sentiments, die den Wortlaut der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung verwendet, jenes Dokumentes, das zur Grundlage der jungen Republik geworden war und sich gegen die Unterdrückung von Seiten Englands, insbesondere des englischen Königs gewandt hatte.
Über ganze Paragraphen hinweg behielt diese Schrift den Wortlaut der Unabhängigkeitserklärung bei. An manchen Stellen wurde lediglich das Wort »Frau« neben das Wort »Mann« gesetzt. Im Original heißt es zum Beispiel »all men are created equal«, wobei im Englischen bekanntlich »man« sowohl »Mann« als auch »Mensch« bedeuten kann. Es ist nicht anzunehmen, daß die Verfasser des Dokumentes den Schöpfungsakt Gottes allein auf Männer beziehen wollten, sondern daß sie den Begriff »Mensch« im Sinne hatten. Dies wollten die Frauen durch ihre Korrektur zu »alle Männer und Frauen« betonen. Wo in der Unabhängigkeitserklärung der englische König oder seine Regierung als tyrannisch bezeichnet wird, setzt das neue Dokument »den Mann« an dessen Stelle. Nach allmählicher Überleitung auf das besondere Anliegen der Frauen werden die Anklagepunkte aufgezählt, die sich im Detail auf die spezifische Situation der Frau beziehen. Dieser Liste der vom Mann verübten Untaten und Ungerechtigkeiten folgt der feierliche Beschluß, dem Zustand ein Ende zu setzen, sowie die Ankündigung der nun beginnenden Aktion.
Mehr als hundert Männer und Frauen, die damals in Seneca Falls versammelt waren, unterschrieben das Dokument. Von der Presse wurde es mit Hohn und Gelächter aufgenommen und überall in den Staaten verbreitet. Dies war die beste Propaganda, die sich die Frauen wünschen konnten. Denn überall im Land erhielten die Frauen nun Kenntnis von dieser Tagung. Wo jene kleinen Frauengruppen bisher ohne Rückhalt, nur auf sich selbst gestellt gewirkt hatten, wurde nun Verbindung aufgenommen. Es entwickelte sich bald eine über die ganzen Vereinigten Staaten bis in die westlichsten Territorien reichende einheitliche Bewegung. Tagungen wurden in vielen anderen Staaten der Union gehalten, und schließlich wurde im Jahre 1850 in Worcester, Massachusetts, die Erste Nationale Frauenrechtskonvention einberufen, zu der die anderen Staaten ihre Delegierten sandten. Von diesem Tag an wurde die Bewegung eine nationale Erscheinung, die ihren Rang unter den großen Sozialkämpfen des Jahrhunderts einnahm.
Es gab auf einmal viele begabte Frauen, Führungspersönlichkeiten von überlegener geistiger Bildung, gewandte Rednerinnen und Verfasserinnen von überzeugenden Schriften, die sich nun in den Dienst der Frauenbewegung stellten. Die erste Ärztin Amerikas, die erste Juristin, die erste Pastorin waren unter ihnen. Im Jahre 1853 gesellte sich nun auch Mathilde Franziska Anneke ihnen zu und wurde eine der aktivsten Mitarbeiterinnen von Susan B. Anthony und Elizabeth Cady Stanton, den beiden großen Führungspersönlichkeiten in der amerikanischen Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts.
Über ihre Teilnahme an der allgemeinen Frauenrechtsversammlung 1853 in New York, der größten Tagung der frühen Kampfjahre, berichtet Mathilde Anneke selbst:

  • Zu dieser (Versammlung) wurde ich durch eine Delegation berufen. Man empfing mich von Seiten der amerikanischen Frauen mit größter Aufmerksamkeit und forderte mich zur Darlegung meiner Prinzipien auf. Lucretia Mott führte mich vor, und Ernestine Rose erbot sich, meine kleine Rede, die ich in deutscher Sprache hielt, ihrem Wortlaut nach, so viel als möglich sei, auf Englisch wiederzugeben. Meine Erscheinung rief einen Sturm von Unwillen und Beleidigungen von den Galerien hervor. Ich war entschlossen, auf das Recht der freien Rede nicht zu verzichten und meinen Platz mutig zu behaupten. Lucretia Mott, Susan Anthony und andere Frauen bestrebten sich, uns gebührend Recht zu verschaffen. Indes gelang es erst den Bemühungen Wendeil Phillipps, den Sturm zu beschwichtigen. Er erklärte, die Herren Beherrscher der Galerie möchten nicht glauben, daß ich mich fürchte vor den Geschossen ihrer Roheit, denn ich habe jüngst für die Freiheit Kanonenschlünden getrotzt. Diese Worte sowie die volltönende Kraft meiner Stimme geboten dem tobenden Lärm Einhalt. Ich sprach zu einer geringen deutschen Zuhörerschaft, aber mit der Macht der Überzeugung, daß dem ehernen Gange der Geschichte nichts sich entgegen stemmen könne und die Notwendigkeit sich erfüllen müsse. Ich sah den Zeitpunkt erscheinen, wo mindestens unserem öffentlichen Wirken keine rohe Macht mehr entgegengestellt werden würde. Ernestine L. Rose übersetzte, was ich sagte, und geführt von Horace Greeley trat ich ab, um mit der mutigen Schar meiner Mitkämpferinnen bald darauf den Tabernakel zu verlassen, immer noch in Gefahr, von der drohenden Menge auf der Straße insultiert zu werden.[30]

In dem mehrbändigen Werk über die Geschichte der amerikanischen Frauenbewegung wird diese Rede Mathilde Annekes ausführlich wiedergegeben. Im wesentlichen heißt es da:

  • Bevor ich hierher kam, kannte ich die Tyrannei und Unterdrückung der Könige. Ich erfuhr sie  an meiner Person, an meinen Freunden, an meinem Land. Als ich aber hierher kam, erwartete ich jene Freiheit zu finden, die uns zu Hause versagt ist. Unsere Schwestern in Deutschland haben schon lange diese Freiheit ersehnt. Dort aber wird dieser Wunsch in Frauen wie in Männern unterdrückt. Hier erwarten wir die Freiheit der Rede zu besitzen, denn wenn nicht hier, wo sonst? Hier endlich sollte es unsgestattetsein,unsereMeinung zu allen Fragen zum Ausdruck zu bringen; und doch, es scheint, nicht einmal hier gibt es die Freiheit, Menschenrechte zu fordern. Aber die einzige Hoffnung unseres Landes ist auf diesen Staat gerichtet, der als Vorbild der Freiheit gilt. Die Frauen meines Landes richten ihre Blicke nach diesen Ufern, wo sie Verständnis und Aufmunterung zu finden hoffen. Und sie fühlen sich auch einig mit unsererSache. Wir hoff en, sie wird wachsen und gedeihen. Viele Herzen jenseits des Ozeans in Deutschland finden sich in Gemeinschaft mit diesen hier.[31]

Mathilde Anneke wird in jenem Tagungsbericht als deutsche Vertreterin erwähnt32. Bei Abschluß der Tagung wurde eine Resolution verfaßt und erklärt: »Diese Bewegung richtet sich gegen die Nöte nicht nur Amerikas, sondern der ganzen Welt. Es soll daher ein Komitee ernannt werden, das eine Erklärung dieser Konvention an die Frauen der Welt verfaßt, unsere Ziele darlegt und die Frauen zur Mitarbeit an denselben einlädt.« Als Mitglieder dieses Komitees werden genannt: Lucretia Mott, Ernestine L. Rose, Lucy Stone, Dr. Elizabeth Blackwell, Pauline Wright Davis, Dr. Harriet K. Hunt und Mathilde Franziska Anneke.
Von diesem Zeitpunkt an beginnt die Zusammenarbeit zwischen Mathilde und den anderen Frauen der Bewegung. Ihre Tätigkeit fand eine kurze Unterbrechung, als sie sich während der Jahre 1860-1865 in der Schweiz aufhielt. Dies waren die Jahre des amerikanischen Bürgerkrieges, wo auch die aktiven Frauen in Amerika vor allem um die Befreiung der Neger bemüht waren, all ihre Kräfte auf dieses Ziel konzentrierten, so daß die Frauenfrage in den Hintergrund trat.
Nach dem Krieg wurden aber Gesetze eingebracht, wovon eines zum ersten Mal das Wort »männlich« in die Verfassung einführen sollte und damit den stimmberechtigten männlichen Bürger von dem nicht stimmberechtigten weiblichen Bürger deutlich abgrenzte; das andere sollte wohl den früheren Sklaven, nicht aber den Frauen das Stimmrecht sichern. Um noch vor der Ratifizierung dieser Gesetze eine Änderung zugunsten der Frau zu erreichen, schlug Susan B. Anthony vor, daß der Anti-Sklaven-Verein sich mit der Frauenrechtsbewegung in einer Gesellschaft, der nationalen Gleichberechtigungsbewegung zusammenfinden sollte, um für das allgemeine Wahlrecht zu kämpfen. Die Frauen beschlossen, ihre Bewegung  »American Equal Rights Association« zu nennen. Bald aber trat eine Krise in den Reihen dieser Organisation ein. Als im Jahre 1869 das 15. Amendment der Verfassung angefügt werden sollte, wollten die Männer zuerst dem Neger die Chance geben und die Sache nicht durch ein zweites Problem, die Frauenrechte, belasten. Die Frauen aber wollten, daß die Frauenfrage der allgemeinen Gleichberechtigungsfrage angeschlossen werde, denn sie fürchteten, daß die Angelegenheit an Interesse verlieren würde, wenn das   Hauptproblem, die Gleichberechtigung   der   Neger, gelöst war. Elizabeth Cady Stanton schrieb damals in einem Brief:

  • Für das privilegierte Geschlecht ist es schön und gut, selbstgefällig herabzublicken und uns zu sagen, »dies ist die Stunde der Neger... belastet nicht die Republikanische Partei mit neuen Problemen... wenn einmal der Neger gesichert ist, kommt die Frau daran<. Aber alle Entrechteten stellen dieselbe Forderung, und dieselbe Logik und Gerechtigkeit, die einer Klasse das Stimmrecht gewährt, kann es allen gewähren.[33]

Aber das 15. Amendment wurde im folgenden Jahr ohne Berücksichtigung des Frauenstimmrechts angenommen:

  • Die Vereinigten Staaten oder irgendein Staat der Union dürfen ihren Bürgern das Stimmrecht aufgrund nationaler Abstammung, Farbe oder wegen früherer Zugehörigkeit zum Sklavenstand nicht verweigern.

Es war in der Geschichte der Frauenbewegung ein tragischer Moment, als die Frauen, die so selbst- und rastlos für die Befreiung der Neger und für das Wahlrecht aller, ohne Rücksicht auf Abstammung, Hautfarbe oder Geschlecht gekämpft hatten, sich nun gegen das 15. Amendment stellen mußten. Sehr treffend wurde an die Aesopsche Fabel vom Fuchs und der Ziege erinnert: Von dem Rücken der Ziege war der Fuchs in die Freiheit gesprungen. Die Ziege aber konnte nicht allein aus dem tiefen Brunnen entkommen.[34]
Am 15. März 1869 legte der Abgeordnete des Staates Pennsylvania, Georg W. Julian, dem Kongreß eine Resolution für ein 16. Amendment vor, das den Frauen das Stimmrecht sichern sollte. Es oblag nun den Frauen, für dieses Amendment im Volke zu werben und den Kongreß zur raschen Ratifizierung zu bewegen. Das war der Hauptgrund für die Einberufung einer Frauentagung für den 12. und 13. Mai 1869. Sieben bekannte Redner wurden für diese Konvention angekündigt - unter ihnen auch Mathilde Anneke.
Ein Resultat dieser Tagung war, daß sich die Frauen von der »American Equal Rights Association« lösten und ihre eigene »National Woman Suffrage Association« begründeten. Mathilde Franziska Anneke wurde als Vizepräsidentin und Vertreterin des Staates Wisconsin in die Führung gewählt.
Die ersten beiden Artikel der neu entworfenen Konstitution dieser Gesellschaft lauteten:

  1. Diese Organisation soll den Namen »National Woman Suffrage Association« tragen.
  2. Ihr Ziel soll sein, das Stimmrecht für die Frauen der Nation auf gleicher Grundlage mit den Männern zu sichern.

Die führenden Aktivisten unter den Frauen entwickelten nun eine rastlose Tätigkeit, um das 16. Amendment durchzusetzen. Diese eifrigen Vorkämpferinnen sprachen nicht nur für sich selbst, sondern für alle Frauen, auch für die in hilfloser Abhängigkeit, für die Frauen der unterdrückten Rasse, die in der Sklaverei eine Tiefe des Elends und der Erniedrigung erfahren hatten, die kein Mann jemals begreifen wird. »Am schlimmsten war das Schicksal der Quadronen und der Okto-ronen, Mädchen, welche bis zu über drei Viertel >weißes Blut< besaßen,  aber  immer noch  als Neger galten. Sie wurden meistens als Mätressen an weiße Lüstlinge verkauft.«[35] Mathilde Anneke behandelte dieses Problem in verschiedenen Kurzgeschichten. Das zügellose Sinnenleben vieler weißer Männer in den Südstaaten wurde aber auch von den weißen Frauen als Erniedrigung empfunden. Die Schwester des Präsidenten Madison schreibt: »Wir Frauen des Südens tragen den Ehrentitel >Gattin<. In Wirklichkeit sind wir nichts als Haremsdamen.«36 Die Freilassung der Sklaven hatte an diesen Zuständen nicht viel geändert. Erst wenn alle Frauen in jeder Weise gleichberechtigt waren, konnten sie auf eine Linderung ihrer Leiden hoffen. In scharfen Worten zeichnete Elizabeth Cady Stanton die Ergebnisse, die die Männerherrschaft hervorgebracht hatte:

  • Männliches Stimmrecht und männliche Regierung allein bedeuten staatliche, religiöse und soziale Zerrüttung. Das männliche Element ist eine destruktive Kraft, die selbstsüchtig, hart, selbstverherrlichend, krieg- und gewaltliebend, auf Eroberung und Bereicherung bedacht, sowohl auf materiellem wie auch auf geistig-moralischem Gebiet Zwist, Unordnung, Krankheit und Tod brütet. Seht, was für ein Zeugnis von Blut und Grausamkeit die Seiten der Geschichte geben. Das männliche Element, das von Anfang an das weibliche überwältigt hatte, unterdrückte alle edleren Eigenschaften in der menschlichen Natur. Die heutige Gesellschaft ist ein Ebenbild des Mannes selbst, unberührt von weiblichen Gedanken. Die harte, eiserne Faust fühlen wir überall, in der Kirche wie auch im Staat und im eigenen Heim. Wir fordern das Stimmrecht für die Frauen, weil es den ersten Schritt darstellt, der zu Gesundheit, Stärke und Wohlfahrt der Nation führen wird.[37]

Es gab aber auch weibliche Gegenstimmen, die die sogenannte »schweigende Mehrheit« vertraten. Von dieser Seite wurde die Gefahr geschildert, die durch das Stimmrecht der Frau der christlichen Weltordnung drohe. Es hieß, wenn die Einheit der christlichen Familie, dieser Eckpfeiler des Staates, repräsentiert durch den Mann, nun in eine Vielheit auseinanderfallen würde, dann würde als Konsequenz auch die Struktur des gesamten Staatsgebäudes gefährdet. Diese Eckpfeiler-Theoretikerinnen waren nicht fähig, über religiöse Doktrinen, über ihr wohlsituiertes bürgerliches Dasein hinaus das Geschick anderer Klassen und anderer Lebensbedingungen zu begreifen. Im Jahre 1872 reichten sie eine Petition an den Senat ein, in der sie gegen die Ausdehnung des Stimmrechts auf Frauen protestierten.[38]
Und die Gegenpropaganda wirkte. Denn in Beantwortung der Vorlage gab das Senatskomitee »für Privilegien und Wahlen« am 14. Juni 1878 einen abschlägigen Bescheid zur Vorlage des 16. Amendments. Die Zulassung der Frauen zu den Wahlen würde mehrere Millionen weibliche Wähler schaffen, die völlig unerfahren in politischen Angelegenheiten seien, im allgemeinen von ihren Männern abhängig seien, unfähig seien, militärische Dienste auszuüben, und daher nicht die Kraft besäßen, die Gesetze durchzusetzen. Es gebe außerdem relativ wenige Frauen, die diese mühsame und verantwortliche Pflicht auszuüben bereit wären. Daher würde diese Maßnahme eine Mehrzahl von uninteressierten und unwilligen Frauen  belasten. So ein neuartiges Experiment sei eine große Veränderung und sollte nur langsam und mit Rücksicht auf den Wunsch der Mehrheit ausgeführt werden, wofür zur Zeit keine Anzeichen vorlägen. Der Grundgedanke dieses Bescheids läßt sich auch in Deutschland im Gegenbeispiel dokumentieren:

  • Obrigkeit ist männlich... von allen menschlichen Begabungen liegt keine dem Weibe so fern wie der Rechtssinn... Dazu das rein physische Moment, daß Regieren bedeutet: bewaffneten Männern gebieten, und daß bewaffnete Männer sich den Befehl eines Weibes nicht gefallen lassen.[39]

In letzter Konsequenz berufen sich solche Feststellungen auf das Faustrecht, das Mathilde Anneke in einem Vortrag des Jahres 1872 auf die Epochen vor Beginn der Zivilisation beschränkt. Über das Gewicht der Mehrheit in Sachen des Rechts schreibt sie in einer Tagebuch-Eintragung:

  • Wäre ich das einzige Weib, das hier vor Euch steht, fordernd mein Recht - mein unveräußerliches Recht - wäre ich das einzige - ich bin es nicht - denn Millionen stehen neben mir - aber wäre ich's - Ihr müßtet mir mein natürliches Recht zugestehen, es mir gewähren.

Die Entscheidung des Senats im Jahre 1878 gegen das 16. Amendment bedeutete einen empfindlichen Rückschlag für die Gewährung der Frauenrechte auf nationaler Ebene. Später wurde ein 16. Amendment mit anderem Inhalt vorgelegt; es trat 1913 in Kraft. Es führte die allgemeine Steuerpflicht ein, was zu dem Schluß verleitet, daß der amerikanische Bürger geneigter war, Steuern zu zahlen, als den Frauen das Stimmrecht zu gewähren.
Die Frauen konzentrierten sich von nun an auf die Gesetzgebung der einzelnen Staaten, wo sie schrittweise Erfolge erzielten. Zuallererst gewannen sie 1869 im Staate Wyoming das Stimmrecht. Und so hielt Mathilde Anneke bei Konventionen in Wisconsin Ansprachen, die dasselbe Gesetz für Wisconsin befürworteten.
Es war die besondere Aufgabe Mathilde Annekes, die Bestrebungen  der  Frauenbewegung unter   die Deutschen Amerikas zu tragen. Sie war die erste deutsche Frau in Amerika, die in öffentlichen Veranstaltungen auftrat und Vorträge in deutscher Sprache für die Gleichberechtigung der Frauen hielt.[40] Das war keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, daß demokratisches Denken, Handeln und Fühlen durchaus nicht in der Tradition der Deutschen lagen, vor allem nicht, wenn es sich auf ihre Frauen beziehen sollte. Die Deutschen machten sich sogar darüber lustig, daß die eingesessenen Amerikaner ihre Frauen mit größerer Höflichkeit behandelten, als sie dies selbst gewohnt waren. Es war der allgemeine Eindruck der Deutsch-Amerikaner über Generationen hinweg, daß die Anglo-Amerikaner ihre Frauen höher würdigen, daß die Töchter daher verwöhnt, anstatt gut vorbereitet werden für ihre zukünftigen Pflichten im Hause. Sie meinten, es sei daher nicht verwunderlich, daß sie oft solch lächerliche Frauenrechtsversammlungen besuchten.[41] Johannes Kerler schreibt 1850 aus Milwaukee nach Reutlingen: »Frauenzimmer werden hier auf Händen getragen, nicht etwa wegen Mangels, sondern nur aus wohlgemeinter Galanterie, die John Bull mit herüber brachte und sie dem Irish und dem Dutchman durch die, alle Übel behebende Zeit eingeimpft hatte.«[42] Die Deutschen hingegen hatten ihr Pascha-Wesen nach Amerika verpflanzt und behaupteten es dort.
Immer wieder liest man in den Briefen Mathilde Annekes von der negativen Einstellung, die speziell die Deutschen der Frauenemanzipation gegenüber hegten. (Ein besonders treffendes Beispiel ist der Brief vom 20. Februar 1869, siehe Seite 339 f.) Den Deutschen war die Frauenbewegung auch suspekt, weil sie speziell in den ersten Jahren mit den Temperenzlern und den Abolitionisten gemeinsame Sache machten. Zwar war den Republikanern unter ihnen der Abolitiomsmus genehm, die Demokraten aber lehnten ihn ab, wie der Brief August Franks an seinen Vater deutlich zeigt (siehe Seite 144).
Die Temperenz aber war allen Deutschen ein Greuel. Sie liebten nun einmal ihre Bierrunden, Bierfeste, Biergärten, die fröhlich-lauten Sonntage mit Blechmusik. All dies war ihnen durch die Temperenz verwehrt. Fritz Anneke hatte seinerzeit in Newark auch gegen diese Einschränkungen protestiert. Zu jener Zeit jedoch, da den Freiheiten des Mannes keine Grenzen gesetzt waren, vor allem seine physische Überlegenheit an der Frau im Rausche auszuleben, nimmt es nicht wunder, daß die Frauen durch die Temperenz eine Milderung ihrer Leiden erhofften. Jedoch wurde diese Bewegung als das größte Hindernis in den Bemühungen um das Frauenstimmrecht betrachtet, da es die Opposition einer sehr großen und einflußreichen Bevölkerungsgruppe, eben der Deutschen, bewirkte.
Mathilde Anneke hatte ihren Kampf gegen zwei Fronten zu führen. Einerseits wollte sie ihre Landsleute dafür gewinnen, für die Gleichberechtigung der Frau zu stimmen, andererseits mußte sie in den Reihen der Frauenbewegung gegen die Temperenzbestrebungen eintreten. In einer undatierten, auf englisch geschriebenen Skizze - vermutlich der Entwurf zu einer Rede - stellt sie das Problem sehr deutlich dar:

  • Unserer Meinung nach kann die Frauensache ihr Ziel viel früher zu erreichen hoffen, wenn die Agitation sich auf das eine, wesentliche Prinzip, das größte von allen, auf gleiche Menschenrechte beschränkt und davon absieht, standig irgendwelche Nebensächlichkeiten und Steckenpferde miteinzubeziehen, die keinen direkten Einfluß auf diese Hauptfrage haben.
    Viele bedauernswerte Fehler sind gemacht worden und werden noch von der Presse, von der Kanzel, vom Vortragspult, bei Versammlungen, auf der Straße von Frauenrechtlerinnen gemacht, die zu glauben scheinen, daß sie den Menschenrechten mit ihren kleinen Lieblings-Idiosynkrasien wie Prohibition, Sonntagsruhe und ähnlichem Gewicht verleihen müssen, und die ihre Stimme für Gerechtigkeit nicht erheben können, ohne sie mit religiösen Schlagworten zu würzen.
    Tatsache ist, daß es Hunderttausende von intelligenten Stimmberechtigten in den Vereinigten Staaten gibt, die im Prinzip die Frauenrechte anerkennen, die aber entweder eine passive Einstellung z.u unserer Bewegung einnehmen oder sie praktisch bekämpfen, einfach weil sie fürchten, daß Frauen obiger Beschreibung, wenn sie das Wahlrecht gewinnen, entweder eine despotische Polizei-Regierung einführen würden, die wahre persönliche Freiheiten untergraben würde, und andererseits religiöse Freiheiten auslöschen würden, die die Menschheit in der Vergangenheit durch ein Meer von Blut dem tyrannischen Griff der Pfaffen entrissen hatte.
    Was unseren eigenen Staat Wisconsin betrifft: Ein großer Teil der Bevölkerung besteht aus gebürtigen Deutschen oder hat deutsche Eltern und Vorfahren. Tausende unter ihnen gehören der heldenhaften revolutionären Generation von 1848 an, die für die Freiheit bluteten und alles für sie hingaben. Sie kennen den Wert der Freiheit besser als wir alle, weil sie das Joch politischer und kirchlicher Knechtschaft getragen haben, bis es untragbar wurde. Die meisten von ihnen sind intelligente, ehrliche, schaffende Bürger der besten Art, die es lieben, die Natur und ihre Gaben zu genießen, ohne daß sie es Circe gestatten, Tiere aus ihnen zu machen. Ihre politischen u nd idealistischen Neigungen bewegen sie, am Tage der Ruhe hinzugehen und das Schöne, das Unerforschbare oder ihren Gott im Tempel der Natur anzubeten, gegen den Kapellen und Kathedralen nichts sind als Ameisenhaufen.
    Abgesehen von den Dingen des Geschmacks beanspruchen diese Leute für ihre Auffassung das Urteil gesunden Menschenverstands, der Statistik, der Geschichte und der Naturwissenschaften in der Behauptung, daß wahre Mäßigkeit, sowie die anderen Stufen der natürlichen Sittlichkeit niemals durch Polizeivorschriften und Beschränkung persönlicher Freiheiten gefördert werden, sondern nur durch eine gesunde physisch und geistig sittliche Erziehung der Jugend, beginnend auf einer frühen Stufe, in strenger Übereinstimmung mit erforschbaren und erforschten Wahrheiten auf allen Gebieten.
    Wir beabsichtigen hier nicht zu erörtern, ob diese Leute recht oder unrecht haben; aber wir wissen und möchten es den Freunden der Frauenbewegung einprägen, daß unzählige intelligente Wähler, auf die wir uns hier beziehen, niemals für uns gewonnen werden können, solange wir ihnen berechtigten Grund geben, für ihre persönliche und geistige Freiheit zu fürchten; und daß sie unsere mächtigsten Feinde bleiben werden, alle unsere Bemühungen durchkreuzen werden und sogar mögliche Gewinne rückgängig machen werden, wenn unsere Freunde ihre selbstmörderischen Taktiken nicht ändern.
    Wir beschwören Euch  daher, Mitarbeiter auf dem Felde der Humanität, stemmen wir die Schultern gegen einen Hebel, vereinen wir unsere Stimmen zu einem Aufschrei, richten wir unsern Lichtstrahl auf ein großes Versprechen der Zukunft: Gleiche Rechte für alle!

Mathilde
an Fritz Anneke   
Milwaukee, am 20. Februar 1869

... Du hast vielleicht gesehen, daß Elizabeth C. Stanton und Susan Anthony hierher kommen und eine kleine Zweig-Convention zusammenberufen. Sie wollen mich auf der Plattform haben. Die hiesigen Philister, Männer wie Frauen, werden Zeter darob schreien; wird auch wahrscheinlich meinem ehrsamen Namen als »Erzieherin« einigen Abbruch tun. Aber ich kann mich darum doch nicht verkriechen, nicht wahr? Sie wollen der hiesigen Legislatur auch auf den Pelz rücken. Das aber wird eine Höllenarbeit sein. Alle diese Stock-Reaktionäre. Ich soll den Namen eines Mannes, eines deutschen Mannes (!!!!) schaffen, hier auf diesem Boden einen Mann mit denselben Ansichten und Prinzipien. Es ist zum Totlachen. Nein, sagte ich, ich weiß Euch keinen zu nennen, da mein eigener nicht mehr hier ist. Nun soll ich Weiber nennen. Hilf Himmel, ich schicke sie der Geisberg und Johanna auf den Nacken, aber ich muß abwarten, bis ihre edlen Männer ihr Nachmittagsschläfchen durchgeschnarcht haben, damit die nichts erfahren. Könnte ich mit Namen von jungen Mädchen aufwarten, da brächte ich schon eine kleine Schar, die ich selbst genährt habe, allein den Zorn der Alten fürchtend, werde ich mich hüten. Ich freue mich recht ehrlich, Stanton zu sehen. Wir haben sie ja schon vor 17 Jahren gemeinschaftlich in ihren Kämpfen verehrt. Ich sah ein Bild von diesem prächtigen ergrauten Kopf, der mir gefällt...

Über diese »Zweig-Konvention« berichtet Elizabeth C. Stanton:

  • Herr und Frau Peckham, Dr. Laura Ross und Madame Anneke waren die Seele dieser Konvention. Madame Anneke, eine deutsche Dame von majestätischer Erscheinung und außergewöhnlicher Bildung gab eine bewundernswerte Rede in ihrer eigenen Sprache . .. Während der Tagung wurde wieder einmal die Bibel von der Genesis bis zur Offenbarung in bezug auf unsre Frage besprochen. Ein Hochwürden namens Engel behauptete, die Natur habe beabsichtigt, daß das männliche Element überall über das weibliche dominiere. Da Hochwürden Engel ein kleiner, dünner, unscheinbarer Mann ist, der über wenig Blut, Muskeln oder eine besonders ausgeprägte cerebrale Entwicklung verfügt, würden wir ihm raten, diesen Aspekt des Arguments, die physische Überlegenheit des Mannes, worüber er in der Milwaukee Konvention gestolpert ist, in Zukunft zu vermeiden. Es war zu peinlich für ihn, daß die Vorsitzenden der Versammlung das genaue Gegenteil dieser Behauptung illustrierten. Die Zuhörerschaft bewies durch ihr unterdrücktes Lachen, daß sie den Gegensatz zwischen den großen, gut entwickelten Gehirnen und Muskeln der Damen am Podium und denen des Sprechers bemerkt hatten. Sowohl Madame Anneke wie Frau Livermoore oder Frau Dr. Ross hätten den kleinen Hochwürden aufheben und auf ihren Armen hinaustragen können...

Nur kurze Zeit nach der Wisconsin-Konferenz wurde in New York die Jubiläumstagung der »American Equal Rights Association« einberufen. Mathilde Franziska Anneke wurde als Delegierte des Staates Wisconsin nach New York entsandt. Sie berichtet dies in verschiedenen Schreiben an Fritz Anneke. In weiteren Briefen nimmt sie in Vorbereitung zur Tagung verschiedene Kontakte auf und beschreibt schließlich ihre Eindrücke von der Konvention.

Mathilde
an Fritz Anneke
undatiert

... Gestern habe ich einen langen Brief an Dich in den Kasten geworfen und heute bin ich schon wieder da. Die Frauenfrage ist es, die mich veranlaßt. Bitte lies die Revolution von Susan Anthony und erwähne bisweilen, was Dir darin wichtig erscheint; lies Nummer 63, aus welcher Du ersiehst, daß ich zu der Konvention im Mai in New York erwartet werde, und sogar mit einer Adresse. Ich habe schon gehofft, mich losmachen zu können, einerseits weil ich mit meiner Person mir so unwichtig erscheine, andernteils weil mein Institut hier während meiner zehntägigen Abwesenheit ohne Zweifel darunter leidet. Du siehst jedoch, ich werde nicht zurückbleiben können, Du würdest mir's auch vielleicht verdenken. Ich will die Ferien benützen, meine Adresse in ihren Grundzügen abzufassen. Willst Du mir nun aber nicht umgehend meine Argumente angeben, die ich vertreten soll? Schreibe sie mir gleich nieder. In Chicago soll ich vorher auch sein und einen Vortrag den Deutschen dort halten, die insbesondere durch Rasters Opponieren in der Staatszeitung so wütend gegen uns sind. Ich habe es dort, wie ich voraussetze, mit einem gewandten Verfechter seines Standpunktes zu tun und möchte nicht unvorbereitet kommen. Du siehst, lieber Fritz, meine Arbeit wird ernst und heiß. Willst darum, wie früher, mit mir stehen und mit mir fallen, so reiche mir die Hand und gib mir namentlich auch an, wie und was die deutschen Frauen in St. Louis oder Missouri getan und gewirkt haben.
Die Kosten zur Reise werden natürlich erstattet, aber es gibt ohnedies noch manches andere dabei zu bestreiten, insbesondere ein gutes Kleidungsstück, das dreißig Dollar kostet und ich nicht zu erschwingen weiß...

Mathilde
an Fritz Anneke   
4. Mai 1869

... Ende der Woche reise ich auf Kosten der Partei zur Convention! Zuvor gehe ich nach Peterboro zu Smiths und beider Rückkehr auf einen Tag nach Vassar zu Cilly. Auf der Convention werde ich eine sehr entschiedene Position einnehmen und gegen Religion, Bibel, Nativismus und Temperenz losgehen. Ich fühle meine Schwingen frei. Wahrscheinlich wird meine Erklärung einen Zwiespalt zwischen Mrs. Stanton und mir herbeiführen - von Trennung kann keine Rede sein, da wir nur in der Forderung Hand in Hand gingen, niemals aber in der Weise ihrer Begründung.
Ich gewinne großes Terrain hier im Westen und damit auch eine weit mehr gesicherte Basis für mein Institut. Eine getreue, gute Assistentin, Amerikanerin, entschieden gegen Kirchenkram und verschwisterten Unsinn, eine tüchtige Normallehrerin steht im Verein mit Fanny meinem Werke vor, während meiner zwölftägigen Abwesenheit...

Mrs. Miller, Tochter von Gerrit Smith,
an Mathilde   
New York, 25. März 1869

Meine liebe Madam Anneke,
Mrs. Stanton bat mich gestern, Ihnen zu schreiben und vorzuschlagen, daß Sie an einige Ihrer europäischen Freunde schreiben und sie nötigen, herüberzukommen und an unserer Konvention teilnehmen. Würden Sie das bitte tun?
Und kommen Sie wirklich nach New York? Dann werden Sie natürlich in Canastota unterbrechen - eine Station ungefähr in der Mitte zwischen Utica und Syracuse, und von hier neun Meilen weiter - um meinen Vater und meine Mutter zu besuchen. Lassen Sie sie eine gute Weile vorher wissen, an welchem Tage Sie kommen, damit. sie für Sie zur Bahn senden können.
Wenn wir uns treffen, werden wir von der lieben Mary Booth sprechen. Ihr Tod ist ein großer Verlust für uns.
Recht herzlich, Elizabeth S. Miller

Mathilde Anneke antwortete   
undadiert

Meine liebe Mrs. Miller,
Natürlich ist es wirklich meine Absicht, im Mai zur Konvention zu kommen. Es ist mein großer Wunsch, Sie, Ihre liebe Mutter und Ihren großartigen Vater wiederzusehen. Ich werde rechtzeitig meiner lieben Mrs. Smith schreiben und werde nach Peterboro gehen, selbst wenn es nur für einen Tag sein sollte. Ich danke Ihnen für die Wegbeschreibung. Ich habe die ganze Zeit daran gedacht.
Ich erfüllte Mrs. Stantons Wunsch und sandte bereits Einladungen an einige meiner Freunde: Gottfried Kinkel, den Dichter und Historiker, sowie an seinen Sohn Dr. Kinkel an der Universität Zürich. Er ist ein enthusiastischer Vertreter der Gleichberechtigung. Ich glaube, ich hätte auch die Freunde der Liga in Genf bewegen können, aber dazu ist es nun zu spät. Bitte sagen Sie Miß Anthony, daß sie eine Nummer der Revolution an die Adresse Dr. Kinkels senden möge. Meine Freunde würden dadurch einen Eindruck über die großen Bemühungen des amerikanischen Volkes bekommen.*

(*Das Konzept dieses Briefes ist unvollendet, ebenso jenes, das sie an Gottfried Kinkel Jr. geschrieben hat. Mathilde Anneke pflegte anscheinend nur den wichtigsten Teil ihrer Briefe zu konzipieren und den Rest in der Reinschrift zu vollenden. Wie aus ihrem Brief vom 8. Juni 1869 ersichtlich ist, hat Gottfried Kinkel ihre Bitte erfüllt und ein entsprechendes Schreiben an die Versammlung gesandt.)

Mathilde
an Gottfried Kinkel jr.
undatiert

Lieber Freund Kinkel!
Ob Ihnen mein im Herbst vergangenen Jahres durch Herrn Lexow abgesandtes Schreiben zugekommen, ich weiß es nicht, denn ich habe nicht ein Zeichen von Ihnen gehabt, seitdem ich Zürich verließ. Ich nehme in diesem Moment Gelegenheit, Sie nicht nur an Ihre alte Freundin, vielmehr auch an das Interesse zu erinnern, das Sie in unseren Diskussionen dem Streben der Frauen dieses Jahrhunderts nach politischer Gleichberechtigung zollten. Es kann Ihnen unmöglich das unermüdliche und erfolgreiche Wirken und Arbeiten der amerikanischen Frauen, die begreifen, daß die Arena nur hier eröffnet werden kann, unbekannt geblieben sein. Es ist mir der Auftrag vom Committee der American Equal Rights Association geworden, unsere Freunde über dem Weltmeer zu veranlassen, Teil an unserer Wirksamkeit zu nehmen und, wenn es gar möglich sein sollte, durch einen oder den andern Delegierten zu unserer im Mai abzuhaltenden Convention zu beschicken, oder ihr mindestens die Aufmerksamkeit zu schenken, die ihr von Rechts wegen aus weiter Ferne von den Freunden des geschichtlichen Entwicklungsganges der Menschheit gebührt. Stehen Sie mit der Liga in Genf in Verbindung? Was können Sie in corpore von dort her tun? Was Sie als einzelner vermögen, will ich Ihnen sagen. Sie können eine Adresse an die Convention in deutscher und zugleich in englischer Sprache erlassen, Ihre Anerkennung ausdrücken und Ihre aktive Teilnahme durch Wort und Schrift versichern. Ich werde Sorge dafür tragen, daß Ihnen unser Journal The Revolution so schnell wie möglich zugehen wird. Säumen Sie keinen Augenblick. Senden Sie an die Adresse von El. C. Stanton, unsere reichbegabte und hochbedeutende Frau und Kampferin, die Adresse zu, damit sie vor allem bis 12., 13. oder 14. in den rechten Händen ist und das Manuskript verlesen werden kann. Unsere Conventionen werden vor 12 bis 15000 Menschen abgehalten. Es ist eine Regung und ein Ernst in die Sache gekommen, wir sind unseres Sieges vor den Legislaturen gewisser Staaten, z. B. Missouri, Minnesota, Kansas usw., schon in zwei Jahren gewiß. Ich bin in zu großer Eile, als daß ich Ihnen viel mehr darüber schreiben könnte. Stehen Sie zu uns und können Sie uns
Ihren hochverehrten Vater gewinnen, nur mit einigen Worten beizu
stehen, - er ahnt vielleicht welch einen Einfluß diese auf unsere
Deutschen machen würde, die leider... 
   [unvollendet]

Die Ansprache, die Mathilde Anneke bei der Tagung hielt, war nicht so radikal, wie sie in ihrem Brief vom 4. Mai 1869 an Fritz Anneke angekündigt hatte. Sie begann mit einem Rückblick und einem Vergleich der Umstände bei der ersten Tagung, an der sie im Jahre 1853 mitgewirkt hatte und vom Mob ausgepfiffen und bedroht worden war und zeichnete dann die Situation, die im Jahre 1869 bestand:

  • Welch ein Umschwung seit jenen Tagen! Welch Riesenfortschritte in der öffentlichen Meinung... noch erfreulicher ist es zu sehen, wie die Geschichte der letzten Jahre beweist, daß unter der Macht der universalen Notwendigkeit Vernunft und Freiheit sich beständig entwickeln. Das ist der eiserne Schritt der Zeit, daß jedes Ereignis seiner Erfüllung zugeht. Mit Ihrer Erlaubnis darf ich noch einmal, beim Anbruch dieser neuen Epoche, die allen sichtbar ist, die da sehen wollen, und hörbar wird allen, die da hören wollen, meine Hoffnungen, mein Sehnen, mein Streben und Vertrauen aussprechen. Erlauben Sie mir, dies in der Sprache meiner Kindheit zu tun, die auch die Sprache der ernsten, freien Philosophie der deutschen Denker und Arbeiter ist. Nicht weil es mir obliegt, die Kinder meines alten Vaterlandes, die hier gegenwärtig sind, zu interessieren - als ob diese glorreichen Prinzipien nicht in ihre Herzen eingepflanzt wären, oder sie sie nicht in einer anderen Sprache aufnehmen könnten -sondern weil ich mich aus tiefster Seele dazu gedrängt fühle, laut und frei zu sprechen, wie ich es in der Sprache meines geliebten Adoptivkindes nicht zu tun vermag.
    Das Bewußtsein um das heilige Anrecht auf unsere unveräußerlichen Menschenrechte habe ich in den Kämpfen meines eigenen, seltsam wechselvollen Lebens erworben. Das Ringen um Unabhängigkeit, das  mich durch die Schrecken der blutigen Revolution getragen, hat mich an diese schimmernde Küste gebracht, wo Santa Libertas bereit ist für alle, die sie suchen - an diesen heiligen Strand, von dem der Dichter sagt, »Dich halte ich« - So wende ich mich nun an Euch, meine lieben Landsleute in der Sprache unseres Vaterlandes ; an Euch, die Ihr an deutsche Denkart gewöhnt seid; an Euch, die ihr aufgewachsen seid in dem Lichte, das von denkenden Stirnen fließt; an Euch, deren Herzen Menschenrechte und Menschenwürde hochschätzen; an Euch, die ihr die Wahrheit nicht fürchtet, wenn sie über solch tiefe, klare und allgemein wichtige Dinge wie Menschenrechte und Menschenpflichten spricht...
    Was in der Frau nicht länger unterdrückt werden kann, was frei sein will unter allen Umstanden, was für die Menschheit von eminenter Wichtigkeit ist und jene unerläßliche Vorbedingung für alle friedliche Entwicklung im Sinne stetigen Fortschrittes in der Menschengeschichte ist und in allen Köpfen freien Spielraum haben muß, ist der natürliche Durst nach wissenschaftlicher Erkenntnis, diesem Quell aller friedlich fortschreitenden Verbesserung in der Geschichte der Menschheit. Dieses Sehnen, diese Bemühung der Vernunft, Wissen um des Wissens willen zu suchen, um Ideen, Folgerungen und um alle höheren Dinge, ist - so weit uns die Erinnerung in der Geschichte zurückträgt - in keinem Menschengeschöpf so heftig unterdrückt worden als in dem Weibe. Denn es gibt keine vom Manne besonders für uns Frauen erfundene Doktrin, die wir gläubig nachzubeten haben und die unser Gesetz sein soll, noch darf die Autorität alter Traditionen unsere Richtschnur sein, nenne man diese Autorität auch Veda, Talmud, Koran oder Bibel. Aber unter dem Einfluß dieses aufgeklärten Jahrhunderts wurde dieses fast verlöschte Licht zu einer riesigen Flamme, die am hellsten unter dem Schutze des Sternenbanners leuchtet... Die Vernunft, die wir als unsere höchste und einzige Gesetzgeberin anerkennen, befiehlt uns, frei zu sein...[44]

Diese Rede wurde mit großem Beifall aufgenommen. Grace Greenwood schrieb darüber in der Frauenzeitung Revolution :

  • Und Madame Anneke, welch ein Appell war ihre Rede! Welch ein Ruf aus dem tiefsten Herzen der Weiblichkeit! Sie erinnerte mich, wie kein Mann es tat, an Kossuth. Da war derselbe majestätische, sympathische und durchdringende Klang der Stimme. Ich glaube, daß manche ihrer Zuhörer an jenem Tage gerührter waren, als sie zu sagen wagten, daß sie fühlten: hier sprach eine große, geheimnisvolle und tiefe Natur, die unter der Decke eines anmutig gebrochenen Englisch die Lava einer leidenschaftlichen und mächtigen Beredsamkeit brennen läßt.[45]

Mathilde
an Fritz Anneke   
1. Juni 1869

... Meine Reise hat mir recht wohl getan. Der Frühling war im Osten so schön, und als ich hierher kam, war alles noch Winter. Klima und Menschen sind nicht anziehend hier.
In der Convention lernte ich eine Dame aus St. Louis kennen. Sie ist noch jung und ziemlich ohne Genie. Bedeutender als diese amerikanische St. Louiserin ist die deutsche Frau Tillmann, Schwester von unserem Bekannten Hillgard. Sie war es, die den gediegenen Artikel gegen die tugendhafte »Bella« schrieb.
Ernestine Rose war sehr erfreut, mich in ihre Arme schließen zu können. Sie ist noch die alte, geistvolle und witzige Streiterin. Lucretia Mott geht sichtlich ins Grab. Eine vortreffliche, klare, jugendfrische Greisin ist Elizabeth Stanton. Sie ist offenbar die Seele der Bewegung. In New York war ich auf Kosten der Association im Ashland House einquartiert. Man hat mich mehr fetiert, als ich gewünscht, und mehr geehrt, als ich verdient habe. Das ist dem ehrlichen Herzen peinlich. Ich weiß nicht, ob Du den Verhandlungen - den ernsten wie auch dem Schwindel - gefolgt bist. Vielleicht hat es Dich nicht interessiert, trotzdem ich dort mittat...

Mathilde
an Elisabeth Miller Smith   
Vassar College, 1869

Meine teure Freundin!
Von den mächtigen Eindrücken unserer letzten Convention tief erfüllt, erfreue ich mich hier an den Ufern des majestätischen Hudson, meines amerikanischen Rheins, einer kleinen Rast, umgeben von einer Frühlingsnatur, die groß und schön den vollen Geist atmet, alles zu verheißen und alles zu erfüllen, was das Menschenherz verlangt und erstreitet. Ach, wenn wir's mit der Natur allein auszumachen hätten! Die Unnatur ja ist unsere Gegnerin nur.
Wie freue ich mich, an den schönsten bräutlichen Erdentagen hier zu sein und dem edlen Freunde der Menschheit und ihrer Bildung, dem Gründer dieser herrlichen Anstalt, Math. Vassar, ein Memento in meinem Herzen sprechen zu können, dankbar wie nie zuvor, ehe ich noch wußte, wie ich es jetzt weiß, daß sein edler Wunsch und Wille dahin zielte, dem Weibe nicht nur jene Rechte zu vindizieren, für welche wir noch Kämpfe mancher Art zu bestehen haben, vielmehr daß er nicht lange vor seinem Tode unumwunden aussprach, die Zeit sei gekommen, in der selbst seine 300 Töchter im College von dem Bewußtsein erfüllt würden, ihre geistige wie politische Berechtigung dereinst zu vollziehen...

Mathilde
an Fritz Anneke   
8. Juni 1869

... Heute schicke ich Dir den Agitator mit einem Stückchen Leben von Dir und mir. Ich habe Dir's nicht früher gesandt, weil ich dachte, Du seiest überflutet mit dem Vielen, was über uns und die Konvention gedruckt war. Ich habe Dir von dem Anfang meiner schönen Reise Bericht erstattet. Der wunderbare Zauber in der Atmosphäre der Familie Gerrit Smiths hat recht wohltuend, aber auch wehmütig auf mich gewirkt. Die Liebe und Güte der Leute gegen mich kann ich Dir kaum beschreiben; den Reiz der ganzen Umgebung ihres Homes noch weniger. Dienstag morgen fünf Uhr brachen meine junge Reise- und Konvention-Gefährtin Lily Peckham und ich auf. Gerrit Smith, jetzt 75 Jahre alt, aber frisch wie ein Jüngling und voll ritterlicher Höflichkeit, war schon bei Zeiten im Hause auf, um für unsere sichere und komfortable Abreise selbst Sorge zu tragen. Sein Wagen mußte uns gegen acht Uhr nach Canastota gebracht haben, von wo aus wir mit dem Zuge weiter gingen, um gegen zehn Uhr in New York anzulangen. Er telegraphierte nicht nur an seinen Schwiegersohn Mr. Miller in New York, uns am Bahnhof in geeigneter Weise zu empfangen, vielmehr auch an Cilly Kapp, im Vassar College, rechtzeitig in Poughkeepsie am Bahnhof zu sein, mich zu begrüßen. Nach solchen Vorbereitungen mußte alles gut eintreffen. Abends elf Uhr waren wir in der Karosse des Herrn Miller, der selbst auf uns wartete, in ein für uns in Bereitschaft gehaltenes Quartier, im Ashland Haus untergebracht. Es war elf Uhr. Kaum gewaschen und vom ärgsten Staub  gereinigt, mußte ich einer Deputation (Miß Anthony, Mrs. Handford und Miß Livermore) zur großen Rezeption im »Women Bureau« folgen. Dieses Bureau ist von einer reichen kinderlosen Dame, Mrs. Phelps, der Revolution und den Frauen, die sich in New York verdient machen, geschenkt. Es ist ein prächtiges Haus in der 23. Straße mit pompöser Einrichtung. Ich wurde von einer großen Menge freundlich empfangen. Horace Greeley (nun unser Gegner), Frederik Douglass, Ernestine Rose waren unter denen. Erst nach 12 Uhr gingen wir auseinander. Ashland House war gerade um die Ecke. Morgen früh um neun Uhr wieder im Bureau. Briefe aus Europa trafen ein. Kinkel, Julius Fagen, Moritz Heß schickten Adressen. Wir übersetzten schleunigst. Um zehn Uhr gingen wir in Begleitung von Mrs. Stanton, Miss Anthony zur Convention. Steinway Hall war bereits besetzt. Im Vestibül Begrüßung der alten Freunde. Alle waren herzlich, mich wiederzusehen. Die  Glocke schlug, und im langen Zug betraten wir ernst und feierlich unsere Plattform. Lucretia Mott, zu altersschwach, konnte nur den letzten Tag zugegen sein. In ihrer Abwesenheit übernahm Mrs. Stanton den Vorsitz. Die Persönlichkeit dieser reich begabten Frau ist so über alle Maßen gewinnend; ihr schönes, graues Lockenhaupt erinnert mich an Mutters, nur ist ihre jugendliche Kraft und Frische mit ihrer hohen Würde gepaart mehr einnehmend. Ihre Rede ist klar, ruhig und frei. Ihre Beredsamkeit warm. Ihre Argumentation scharf. Ihr Humor lieblich und sprudelnd. Die Ansprache war überall abgedruckt. Ich hoffe, sie Dir zu verschaffen.
Gleich bei der Wahl des Kommittees waren ich und E. Rose wirksam. Sie enthält unsere Forderungen, doch nicht gestützt auf Unsinn und ohne irgendwelche Beimischung von derartigem. Durch wahnsinnige Angriffe eines fanatischen Menschen, Foster, auf das Kommittee der Equal Rights Association (Vorwurf der Vergeudung von Kontributionen, vielleicht nicht ganz unbegründet) eine unbehagliche Kontroverse. Die parlamentarische Ordnung, nur für einen Moment unterbrochen, wurde sofort hergestellt durch die Ruhe und Überlegenheit von Mrs. Stanton. Später kamen die Differenzen zwischen den Vertretern des 15. Amendments und denen des 16. Amendments zur Diskussion. Douglass, natürlich das 15. vertretend, war stark in der Leidenschaft seiner Rede, aber weniger in der logischen Argumentation. Die Veränderung des Namens Equal Rights Association in Woman Suffrage Society war natürlich die Konsequenz davon und hatte viel für und gegen. Ich entschied mich für den rechten Namen unseres Wollens, stand auf der Seite des 16. Amendments mit meinen alten Freunden. Diese Politik wird nun von Tag zu Tag bestimmter. Im Dezember stehen wir vor den Toren des Kongresses, 36 Jungfrauen im Alter von 21 Jahren aus jeglichem Staat und mit unseren begabten Rednern, eine Million Petenten aufrollend, vor jenen Ungläubigen, die da sagen: »Die Frauen wollen nicht!« Das ist unsere nächste Arbeit, diese Million Unterschriften zu schaffen.

Mit diesen Debatten ging der erste Tag hin, der zweite war interessant durch die Delegation der Arbeiterinnen.
Steinway Hall faßte die Menge nicht mehr, daher Vertagung nach Cooper Institut. Abends hatte ich die erste Rede zu halten. Mrs. Stanton stellte mich vor, Mrs. Livermore gab eine kleine Skizze meiner Vergangenheit. Das war meiner Ansicht nach unzeitig, erntete jedoch Beifall. Ich sprach nach Noten zuerst Englisch, dann Deutsch, erntete großen Applaus. Deutsche mußten ziemlich viele anwesend sein. Mein kleiner Speech ist recht gut übersetzt, teilweise in der letzten Nummer der Revolution. Ich wollte, Du könntest sie Dir dort kaufen, ich habe selbst keinen Abdruck. In Deutsch habe ich keinen Schnippel mehr davon.

Der dritte Tag in Brooklyn war adressiert von der alten Lucretia Mott (82 Jahre). Mit welcher Stille lauschte man den klaren Worten, dieser Stimme aus dem Grabe. Fr. Douglass sprach noch einmal, und die Schlußpointe bildete der donnernde, brausende Sturm von Gedankenfülle Henry Ward Beechers. Der Mann ist ein seltenes Genie. Sein Gesicht gefällt mir nicht, aber vor solcher Allgewalt der Rede beugt man sich gern. Wilson von Massachussets sprach für das Stimmrecht, aber mit Belegen aus dem Neuen Testament. Im allgemeinen war ich erstaunt, die alte Bibelquestion gar nicht mehr aufgetischt zu finden. Das bißchen Beterei und verblümte Sprache konnte man sich noch gefallen lassen. Man kennt die Diplomatie der Amerikaner. Ich gewahrte einen freien Aufschwung im religiösen Denken der Frauen im allgemeinen. Mrs. Stanton, Miss Anthony sind so frei wie ich. Im Vassar College rührt es sich mit Macht. Die Theorien unserer deutschen Denker erschrecken den Deutschen, wenn er mit ihnen vor der Praxis steht. Aber der Amerikaner ist berufen, sie auszuführen...

Es war eine entscheidende Tagung von weittragender Konsequenz. Interessant ist, daß drei Frauen nichtamerikanischer Herkunft dabei eine besondere Rolle spielten. Die Chronik der Frauenbewegung berichtet: Ansprachen wurden gehalten von Madam Mathilde Anneke aus Milwaukee (auf deutsch) und von Madame de Hericourt aus Chicago (auf französisch). Beide waren Revolutionärinnen und hatten ihre Heimat verlassen, weil sie sich durch die freie Darstellung ihrer politischen Meinungen bei den Behörden unbeliebt gemacht hatten. Madame de Hericourt legte zum Abschluß ihrer Rede eine Reihe von Resolutionen vor, die für die Frauenorganisationen der Welt richtunggebend werden sollten:

  1. daß wir eine Frauenliga schaffen für alle Frauen, die in Amerika und in Europa ihre Rechte fordern;
  2. Ziel dieser Liga, die den Namen Universal Liga für Frauenrechte und universalen Frieden tragen soll, sei die Austilgung aller Vorurteile zwischen Nationen und Schaffung gemeinsamer Interessen durch die Frauen, um Uneinigkeit, Haß und Kriegsursachen durch die Herrschaft der Humanität zu tilgen und den Frauen aller Nationen Hilfe zu leisten, um ihre Rechte zu gewinnen;
  3. daß in jedem Lande Emanzipationsgesellschaften gegründet werden, daß eine Nationale Union formiert werde, die durch Journale, Flugblätter und Bücher in ständiger Verbindung mit anderen Ländern steht;
  4. daß jedes Jahr eine Generalversammlung der Delegierten aller Länder stattfinde, abwechselnd in den jeweiligen Hauptstädten; diese Hauptstädte könnten vorläufig Washington, Paris, London, Florenz und andere zentrale Städte Deutschlands sein;
  5. daß bei diesen Versammlungen eine Ausstellung der Kunst und Arbeit der Frauen veranstaltet werde;
  6. daß Frauen auf ihren Reisen überall Freundschaft und Hilfe in den Bemühungen, die sie verfolgen, finden. Frauen, die Schwestern und Töchter in den Reihen der Menschheit sind, müssen sich bei den Schwestern aller Nationen zu Hause fühlen. Unter uns gibt es keine Ausländer, denn wir sind nirgends Bürger.

Als dritte sprach die Polin Ernestine Rose:

  • Die Welt geht voran, wir brauchen nicht weiter zu blicken als auf diese Tagung, die Delegierte von Osten und Westen, von Norden und Süden, von England und Frankreich und von Deutschland hier versammelt hat. Sie alle befürworten die gerechte Forderung, das Stimmrecht für die Frau. Wir führen nicht Krieg gegen den einzelnen Mann, sondern gegen schlechte Prinzipien.
    Diese Gesellschaft hier nennt sich Equal Rights Association, eine Gesellschaft, die keinen Rechtsunterschied kennt hinsichtlich Geschlecht, Stand oder Rasse. Ich verstehe unter dem Begriff »allgemein« den Einschluß aller. Der Kongreß versteht unter allgemeinem Wahlrecht ausschließlich das Wahlrecht für den weißen Mann. Nun ändern sie ihre Taktik und sprechen von männlichem Wahlrecht. Ich schlage vor, wir nennen es Frauenstimmrecht, dann wissen wir, was wir meinen. Ich bin Ausländerin. Ich hatte große Schwierigkeit, die englische Sprache zu lernen, und werde sie mir wohl nie vollständig aneignen. Aber ich fürchte, daß in der Auffassung der Sprache der Kongreß noch größere Schwierigkeiten hat, als ich es jemals hatte. Ich bin für die Änderung des Namens. Ich will nicht als Mann oder Bruder definiert werden. Ich verlange dieselben Rechte für Frauen, die den Männern gewährt werden: Das Recht auf Leben, Freiheit und Glück. Und jedes Streben im Leben muß so frei und offen für mich sein, wie für irgendeinen Mann in diesem Lande. Aber dies wird weder mir noch irgendeiner von Ihnen jemals offen stehen, bis wir nicht die Macht des Stimmrechtes in unseren Händen haben... Ich schlage daher vor, daß der Name dieser Gesellschaft von Equal Rights Society zu Woman's Suff rage Association geändert werde.[46]

Zum Abschluß dieser Jubiläumswoche wurde sodann im »Women's Bureau« eine Versammlung einberufen, deren Resultat die Begründung der National Vornan Suffrage Association war. Delegierte von 19 Staaten, einschließlich der Territorien Kalifornien und Washington waren anwesend. Als Präsidentin wurde Elizabeth Cady Stanton gewählt. Vizepräsidentinnen, die jeweils ihre Staaten vertraten, wurden für jeden Staat aufgestellt. »Madam Anneke« wird für Wisconsin genannt. Als Hauptziel wurde in den neu entworfenen Vereinsstatuten die Erreichung des Stimmrechts für die Frau auf gleicher Ebene mit dem Mann gefordert.[47]

Mathilde
an Fritz Anneke
Juni 1869

... Es tut mir leid, daß Du Dich über meine Betätigung, so gering sie auch war, bei der N. Y. Konvention nicht mit ein paar Worten ausgesprochen hast. Du weißt, daß mir an Deinem Urteil alles liegt.
In meiner Stellung, die mir als Vizepräsidentin der National Woman Suffrage Associaton für Wisconsin vom Hauptsitz in New York zuerteilt ist, hat durch meine Beteiligung die Sache eine größere Tragweite bekommen, die sich auf den zu eröffnenden Feldzug im Herbst ausdehnt. Verirrungen, die sich selbst unsere eminentesten Leiter zu Schulden kommen lassen, vertrete ich nicht, sondern einfach das Positive, das abstrakte Recht. Es hat mich eine lange Überwindung gekostet, mich gegen das 15. Amendment zu erklären, solange nicht auch das 16. endossiert wird. Ich gehe darum für das 15. und 16., bin aber gegen das 15. ohne gleichzeitige Annahme des 16.
Hast Du mir bisweilen statistische Mitteilungen zu machen, die mir für meine Argumentation nützlich sein können, bitte vergiß mich nicht, und daß ich so wenig Gelegenheit habe, sie mir zu beschaffen...

Überall in den Staaten fanden nun Tagungen der Frauenorganisation statt: in Chicago, in St. Louis, in Springfield/Illinois, in Tolede/Ohio, in Galena, in Saratoga, in Newport usw. Bei einer Konvention in Cleveland wurde eine neue Frauenvereinigung gegründet, hauptsächlich aus jenen Leuten bestehend, die sich der Forderung beugten, »die Stunde der Neger« anzuerkennen und das 15. Amendment ohne Einschränkung anzuerkennen. Unter der Führung eines Mannes, Henry Ward Beecher, bildeten sie die neue Organisation, die American Woman Suffrage Organization. Man bemühte sich, auch Mathilde Anneke zu gewinnen. Sie aber lehnte ab und reagierte auch nicht auf den inständigen Brief Mary Livermores:

6. Sept. 1869
Es wird eine sehr traurige Angelegenheit für uns werden, wenn Sie nicht zu der Konvention kommen. Wir haben Sie sehr gründlich annonciert. Jede deutsche, wie jede amerikanische Zeitung in Chicago hat angekündigt, daß Sie kommen. Und ich habe einen deutschen Reporter verpflichtet, um Ihre Ansprache in Kurzschrift niederzuschreiben. Es ist jetzt zu spät, dies zu widerrufen... Ist es wirklich nicht möglich für Sie, zu kommen?
Die Deutschen hier sind völlig gegen uns. Sie haben wie niemand sonst die Macht, Eindruck auf sie zu machen. Ich hoffe sehr, daß Sie noch kommen werden. Ich kann die Anzeigen nicht mehr ändern, und alle erwarten Sie und werden enttäuscht sein, wenn Sie nicht kommen.

Susan B. Anthony und Elizabeth Cady Stanton waren über diese Neugründung nicht sehr erfreut, doch wollten sie es vermeiden, es zu einem offenen Bruch kommen zu lassen. Daher beteiligte sich Susan B. Anthony auch an dieser Tagung. Frau Stanton war besorgt, wie diese Teilung in den europäischen Ländern interpretiert werden würde. So schlugen sie vor, daß sich jener Verband der Frauenfrage auf der Ebene der einzelnen Staaten widmen solle, während sie selbst weiterhin mit der National Woman Suffrage Association die Frauenrechte gegenüber dem Kongreß und dem Senat auf nationaler Ebene vertreten würden48. Ein Mißton war jedoch spürbar; er geht aus den Briefen in der Anneke-Sammlung deutlich hervor.

Mathilde
an Fritz Anneke
2. Dezember 1869

... Was die Cleveland Convention anbetrifft, so habe ich den ganzen Schwindel gleich von vorne herein richtig zu würdigen gewußt und allen Aufforderungen, die an mich direkt gemacht wurden, zum Trotz den sogenannten Call nicht unterzeichnet. Ich erkenne diese After-National-Association durchaus nicht an, weil eine wohlorganisierte National Association im Mai d. J. in New York gegründet existiert, und zwar mit Elisabeth Cady Stanton als Präsidentin an der Spitze und mit Vizepräsidentinnen in jedem Staat. (Ich bin z. B. für Wisconsin appointed). Diese Association birgt zu radikale Elemente, als daß die nativistische Kirche und Temperenz League sich darunter bequemen könnte. So geschah es denn, daß der Riß entstand. Die Cleveland Association wird hier eine Zeitlang die herrschende sein. Darum die unklaren und Speichellecker sich zu ihr bekennen (a la Mathilde Feodowna Wendt). Die Livermore ist eine intrigante smarte Politikerin. Sie war die Seele dieser neuen Zunft aus Interesse für ihr Blatt, das das Organ der Association wurde und nun von Chicago nach Boston verlegt ist. Auf diese Weise ist mir auch Lilly Peckham abtrünnig geworden. Es hat alles Bestehende seine Berechtigung und hilft, die Weltgeschichte zur konsequenten Fortentwicklung zu bringen. Von all den Weibern ist keine so gescheit, so getreu und brav wie Susan Anthony. Ich korrespondiere mit ihr in liebenswürdiger Herzlichkeit...

Auch im folgenden Jahr begab sich Mathilde Franziska Anneke wieder auf Reisen, um bei weiteren großen Veranstaltungen Mithilfe zu leisten. Trotz ihrer geringen Englischkenntnisse wurde sie auch in all den späteren Jahren immer wieder aufgefordert, als Rednerin zu erscheinen und sich an führender Stelle zu zeigen. Zu Beginn des Jahres 1870 fand in
Washington die nationale Frauenversammlung statt, zu der sie als Staatsdelegierte gesandt wurde. Dies berichtet sie auch in ihren Briefen an Fritz Anneke.

Mathilde
an Fritz Anneke
13. Januar 1870, 4 Uhr Donnerstag

... In diesem Augenblick sagt mir Deine Depesche, daß vielleicht ein Ticket für mich zu haben (ist). Meine Abreise habe ich auf Sonntag abend mit dem Zuge von hier über Chicago, der Fort Wayne Bahn über Harrisburg, nach Baltimore und Washington mir ausgedacht. Ich muß spätestens Dienstag in Washington sein. Wäre ich mit meiner Toilette fertig, ich könnte Sonnabend nach Chicago kommen und über Sonntag bei Dir bleiben, und dann weiterziehen. Morgen nachmittag ist Meeting, in welchem meine Credentials ausgefertigt übergeben werden. Im Dienstag Meeting bin ich einstimmig erwählt worden...

Mathilde
an Fritz Anneke   
undatiert

... Ich werde Dich in den nächsten Tagen auf meiner Reise nach Washington sehen, nicht wahr? Die Association, die hiesige, die natürlich nicht sehr reich, sondern recht arm ist, hat hundert Dollar aufgebracht, um mich als Delegierte zur Konvention nach Washington zu senden. Das ist ein historischer Moment, und ich habe selbstredend akzeptiert. Vielleicht bietet sich Gelegenheit, dem deutschen Herrn Senator ins Gewissen zu reden. Lilly Peckham, die eine innig herzliche Unterredung mit mir hatte und die froh ist, daß ich wegen ihres Abschweifens nach Cleveland nicht für immer zürne, geht auch nach Washington, wenn auch nicht in offizieller Mission. Ich muß Dienstag dort sein. Konvention ist Mittwoch und Donnerstag. Was Du mir für Weisungen nach der Hauptstadt geben kannst, bitte tu es

Ihre Anwesenheit in Washington wird in der Chronik der Frauenbewegung bestätigt. Es wird berichtet, daß sie, die deutsche Frau aus Milwaukee, mit Bittschriften beladen kam, die von tausend Bewohnern Wisconsins unterzeichnet waren, und daß sie an ihre Landsleute in der Regierung, den Senator Carl Schurz und Herrn Finkeinburg, appellieren wollte, den Frauen in ihrem Kampf um die allgemeine Freiheit zur Seite zu stehen49. Bei der Konvention wurde sie in jenes Komitee gewählt, das beschrieben wird als »aus jenen wohlbekannten Führerinnen der Bewegung«[50] bestehend. Diese kleine Gruppe von Frauen wurde am Capitol von Senatoren und Kongreßabgeordneten empfangen, denen die Verwaltung des »District of Columbia« (der Bezirk Washington) oblag. Der Zweck dieser Sitzung war, die Herren zu bewegen, dem Kongreß eine Gesetzesvorlage einzureichen, mit welcher vorläufig die Frauen nur dieses Bezirkes Gleichberechtigung erhalten würden. Nach dem Gelingen dieses Versuches sollte dann die allgemeine Gleichberechtigung aller Frauen erfolgen. Es wäre dies ein ähnlicher Vorgang gewesen, durch den die Gleichberechtigung der Neger eingeführt wurde. Das Protokoll dieser Sitzung verzeichnet, daß sich auch Mathilde Anneke »in gebrochenem Englisch« an der Diskussion beteiligt habe. Und an anderer Stelle heißt es, Madame Anneke aber übertraf alle. Es war geradezu überwältigend, ihr von Gefühl getragenes Englisch zu hören, das doch wieder so exakt in der Wahl der Worte war. Man merkte wohl, daß ihr einst die Anforderungen des Schlachtfeldes gering erschienen im Vergleich zu diesem inneren Kampf der Seele um die Rechte der Frauen. Ihr Auftreten, ihre Gesten, ihre Redekunst waren einfach großartig.[51]
In bewegten Worten schildert die Geschichte der Frauenbewegung diese Sitzung, wo zum ersten Male Frauen als eine kollektive Gruppe am Capitol erschienen, von Senatoren und Kongreßleuten offiziell empfangen wurden und für alle ihre Schwestern sprachen. Die Frauen gewannen jedoch nicht den Eindruck, daß sie die Vertreter der Regierung bewegen konnten, sich für ihre Ideen einzusetzen.[52]
Viele weitere Tagungen fanden statt, zu denen Mathilde Anneke immer wieder geladen wurde. Ihre Gesundheit und ihr Berufsleben gestatteten es ihr aber nicht, an allen persönlich teilzunehmen. Sie verfolgte die Vorgänge aus der Ferne, registrierte alles Denkwürdige aufmerksam und sandte oft Briefe, die öffentlich verlesen wurden.

Mathilde
an eine Konvention   
Mai 1870

Liebe Freunde,
Bis zum letzten Moment hegte ich eine, wenn auch nur geringe Hoffnung, anläßlich unserer großen Nordwest-Konvention an Eurer Seite weilen zu können. Andere Pflichten und Umstände, die ich nicht umgehen konnte, hielten mich zurück, und ich kann nur im Geiste, aber mit ganzer Seele an diesem Tage mit Euch vereint sein.  Nehmt meine Grüße und laßt mich das unerschütterliche Vertrauen aussprechen, daß die Stärke unserer Vereinigung sehr bald unsere unveräußerlichen Rechte erobern wird. Ich darf Euch versichern, daß der beste Teil meiner deutschen Landsleute im Kampfe für die Freiheit auf unserer Seite stehen, wie sie immer mit den Tapferen Amerikas gestanden haben, und daß nur »die blinden Hessen«, die von den Tyrannen gekauft wurden, wie immer gegen uns kämpfen - aber umsonst!
Eure getreue Mathilde Anneke

Mathilde
an Fritz Anneke
1. Juli 1870

... Die letzte Nummer der Revolution ist sehr gut. Der praktische Vorteil, den die Chicago Konvention gefördert hat, ist unstreitig die Organisation der nordwestlichen Staaten. Dann waren ernststrebende und tüchtige Frauen zusammen, die sich mal wieder zu neuen Kämpfen anregten. Das ist schon etwas. In St. Louis allerdings gedeiht die Sache besser denn irgendwo. Aber auch kein Wunder, so viele Männer, die den armen Frauen die Kämpfe erleichtern. Dazu ein sehr gutes Organ der Deutschen für die Frage. Die Frauenrechtsartikel sind fast sämtlich gut redigiert...

Durch mehrere Jahre zog sich das Werben, Mühen und Kämpfen um die Vorlage des 16. Amendments. Mathilde Franziska Anneke war eifrig mit der Feder und auf der Rednerbühne daran beteiligt. Ich verlegte mich auf unermüdliche Arbeit, schrieb Artikel für das »Belletristische Journal«, die alte Freundin, die ich, ohne daß sie es selbst weiß, auf unser Gebiet herüberzuziehen hoffe..., schreibt sie an Fritz Anneke (2. Dez. 1869). Auch in den verschiedenen freiheitlichen Kreisen, den Turnvereinen, Freien Gemeinden, Bund der Radikalen, wo sie großes Ansehen genoß, warb sie unermüdlich für die Sache.
Vorträge, Briefe, Zeitungsartikel und die Leitung der Schule füllten die Tage vollkommen aus. Von Freizeit und Erholung liest man in den Briefen aus dieser Zeit kaum etwas. Es war Mathilde Anneke auch nicht möglich, den vielen Einladungen zu folgen, an den verschiedenen Konventionen außerhalb des Staates Wisconsin teilzunehmen und Reden zu halten.
Sie konzentrierte sich in den folgenden Jahren auf ihre unmittelbare Umgebung, für die sie ja als Vizepräsidentin ernannt war. In diesem Sinne berichtete sie auch an Susan B. Anthony über ihre Tätigkeit:

Mathilde
an Susan B.Anthony
Milwaukee, 30. Sept. 1872

Mein liebes Fräulein Anthony!
Es ist schon eine lange Weile her, daß ich Ihnen einen Bericht über mich oder meine Bemühungen um unsere gemeinsamen hohen Ziele gegeben habe. Aber ich sehe in meiner Ernennung als Vizepräsidentin unserer neu organisierten Nationalen Association, daß Sie keine Zweifel über mich und meinen Fleiß und meine Lebensart hegen. Sie haben recht. Und falls meine Arbeit unter meinen deutschen Landsleuten noch nicht zu Ihrem Ohr gedrungen ist, so möchte ich Ihnen ganz kurz über den Fortschritt berichten, den wir machen.
Die Tagung der Freidenker, die sich in den letzten drei Tagen in dieser Stadt versammelt hatte, brachte eine Resolution durch, welche lautet:
»Die in der amerikanischen Konstitution erklärten Rechte aller Personen...

[unvollendet, vermutlich als Flugblatt angefügt]   

Als Susan B. Anthony es im November des Jahres 1872 wagte, bei den allgemeinen Wahlen ihre Stimme abzugeben (sie wollte testen, inwieweit die Interpretation der bestehenden Gesetze im Interesse der Frauen auszudehnen war) und daraufhin verhaftet wurde, setzte sich Mathilde Anneke sofort öffentlich für sie ein und verwahrte sich gegen so manche reaktionäre Stimme, die aus der deutschen Presse zu hören war. Die Freidenker, ihre treuesten Gesinnungsgenossen, gaben ihr hierzu in ihren Sitzungen gerne Gelegenheit. Über die Sitzung des Clubs der Radikalen vom 13. Juli 1873 in Milwaukee wird im Milwaukee Freidenker berichtet

  • Frau Mathilde Anneke hielt einen Vortrag über die Verurteilung von Susan B. Anthony und erntete mit ihren tiefgefühlten, begeisterten Darlegungen allgemeinen Beifall. Den Wunsch der geehrten Rednerin, die Versammlung möge einen Indignationsbeschluß in dieser Sache fassen, formulierte Herr Biron, indem er mehr die Presse wie den Richter, welcher nicht anders urteilen konnte, folgendermaßen kritisierte:
    Der radikale Club drückt sein tiefstes Bedauern aus über die den deutschen Namen beschimpfende Art und Weise, mit der die meisten deutschen sogenannten freisinnigen Blätter dieses Landes unter Bekundung der erbärmlichsten Oberflächlichkeit, unter Verzichtleistung auf jedes wahrhaft freisinnige und selbständige Urteil und in nicht entschieden genug zu brandmarkender Befangenheit in hergebrachten, unvernünftigen Vorurteilen über die Verurteilung der Frau Susan B. Anthony berichteten; spricht dagegen allen, namentlich den in englischer Sprache erscheinenden Blättern, welche in vorurteilsfreier und von tiefsittlicher, wahrhaft freisinniger und verständiger Auffassung der Verhältnisse zeugender Weise gegen jene Verurteilung ihre Stimme erhoben, seinen tiefgefühlten Dank und seine wärmste Anerkennung aus.
    Es wurde beschlossen, diese Resolution in englischer Übersetzung Frau Susan B. Anthony zuzusenden, sie in deutschen und englischen Zeitungen zu veröffentlichen und sowohl dem Exekutiv-Kommittee in New York, wie dem deutschen Frauenstimmrechtsverein daselbst zukommen zu lassen. Fernerhin wurde beschlossen, auch den Vortrag von Frau Anneke im Freidenker zu veröffentlichen.

Mathilde Anneke hatte auch mit ihrer Anregung Erfolg, zu den Prozeßkosten Susan Anthonys »ansehnliche Beiträge« beisteuern zu helfen, wie sie in ihrem Brief an Alexander Jonas vermerkt.
Mathilde Annekes Mühen und Werben unter ihren Landsleuten hatte mit den Jahren doch einigen Erfolg. Sie berichtet darüber sehr optimistisch an die in Washington tagende Konvention:

An Fräulein Susan B. Anthony
Präsidentin der Nationalen Frauenstimmrechts Konvention
gehalten in Washington, am 15. Januar 1874

  • ... Da wir in einer großen Stadt wohnen, in welcher die Majorität der Einwohner Deutsche durch Geburt oder Abstammung sind, und da wir durch unsere Verbindungen in den Stand gesetzt sind, die Ansichten der deutsch-amerikanischen Bürger im allgemeinen genau beurteilen zu können, so erlauben wir uns, hierzu zu erklären, daß infolge der unermüdlichen und furchtlosen Agitation der deutschen Radikalen die umgewandelten Überzeugungen in betreff der Frauenfrage in keinem Teil der amerikanischen Bevölkerung größer ist als in dem oben erwähnten Elemente, obgleich die Opposition von dieser Seite vor mehreren Jahren den allerschlimmsten Charakter hatte...
    Milwaukee, Wisconsin, 10. Januar 1874
    Das Vorstands-Komitee
    Mathilde Franziska Anneke
    Sekretärin

Ob es Mathilde Anneke gelungen ist, auf die immerhin starken Gegenkräfte innerhalb der deutschen Gegenparteien und religiösen Gruppen einzuwirken und die Ideen der Frauenrechte auch dort zu verbreiten, muß in Frage gestellt werden. Denn es sind immer wieder nur die Freidenker, die Radikalen, die ihr ein Forum für ihre Reden und Unterstützung in ihren Plänen boten.
Zum Anlaß des hundertjährigen Bestehens der amerikanischen Republik erarbeitete Mathilde Anneke aus eigener Initiative mit dem Bund der Radikalen einen Plan, wonach zunächst im Herbst des Jahres 1875 der Kongreß ein Memorandum erhalten sollte, um ihn vor der Hundertjahrfeier noch einmal an die Rechtsansprüche der Frauen zu erinnern. Falls den Forderungen keine Folge geleistet würde, sollte ein offenes Protestschreiben in großer Zahl an die Bevölkerung ausgeteilt werden.

Susan B. Anthony
an Mathilde   
27. September 1875

... Landmonopolie und jede andere gewiß wichtige Frage, die die Männer in ihre Proteste und Forderungen einschließen sollen - aber für uns Frauen - elende Sklaven der herrschenden Kaste - würde die l'orderung dieser oder jener Reform mit der Forderung unserer politischen Freiheit in derselben Schrift oder Ansprache ein Herabsetzen unserer Ansprüche auf die Ebene der andern, als ein Übel unter vielen anderen Übeln erscheinen. Es ist meine tiefste Überzeugung, die ich immer wieder zum Ausdruck bringe, daß das eine große Unrecht der Nation wie die Negersklaverei ausgemerzt werden muß, bevor es dem Lande möglich sein wird, sich von irgendeiner oder allen seinen Sünden zu reinigen.
Ich will, daß die politische Unterdrückung der Frauen allein und abgegrenzt von allen anderen in den schreiendsten Farben dargestellt wird, damit jeder, der dieses Dokument liest, aufgerüttelt wird zu der Erkenntnis des Verbrechens, das die Nation gegen ihre Frauen verübt.
Könnten Sie genau so eine Ansprache geschrieben bekommen und mir davon eine Abschriftsenden? Wenn Ihr Verband und der unsere sich mit diesem gleichen Aufruf verbinden, so würden beide zusammen stärker sein als einer.
Ich werde noch zwei oder drei Wochen zu Hause bleiben, dann gehe ich nach Iowa auf Propagandatour in Vorbereitung zu den Wahlen im November 1876, wenn über das Frauen-Wahlrecht abgestimmt wird. Ich beabsichtige, im nächsten Jahr vor allem in jenem Staat zu arbeiten.

Ich bin froh, daß Mrs. Stantons oder meine scheinbare Vernachlässigung Sie nicht entmutigt - aber es ist nur scheinbar - denn mich interessiert alles, was Sie sagen - immer. Ich werde Ihnen für all ihr mir persönlich gewidmetes Gedenken dankbar sein, für Ihre Anerkennung meiner Bemühungen, das Prinzip der Frauenrechte zu verwirklichen.
Mit freundlichen Grüßen meiner lieben Freundin, verbleibe ich Ihre aufrichtige, Susan B. Anthony.
P. S. Glauben Sie nicht, daß die Frauenschaft am 4. Juli 1876 in Philadelphia eine Massenversammlung halten soll, um ihre Entrüstung und ihren Protest zu demonstrieren? Es werden viele, viele Frauen dort sein, und wenn wir gründlich annoncieren, wo die Damen Anneke, Stanton und all die führenden Frauen der Bewegung sprechen werden, sollten wir eine gute Zuhörerschar haben. Was ich allerdings befürchte, ist, daß unsere Rednerinnen nicht bereit sind, so leidenschaftlich um Freiheit zu schreien, wie es Patrick Henry und Sam Otis seinerzeit getan haben. Ach, die Frauen sind so teilnahmslos, so gleichgültig, es ist schwer, Geduld mit ihnen zu haben.

Wenn es möglich wäre, wenigstens unsere Frauenrechtlerinnen zu der Arbeit zu bewegen, ein gutes Rundschreiben auszusenden, einen riesigen hundertjährigen Aufschrei der Frauen der Vereinigten Staaten. Das würde mich freuen, und ich wäre gern bereit, mich der Arbeit anzuschließen, so wenig Vertrauen ich in den Erfolg setze, eine große Zahl von Frauen daran zu interessieren, Unterschriften zu sammeln. Ich kann geradezu die rechten Wortedes Protestes und des Vorwurfs vor meinen Augen sehen, die diese Nation braucht. Ich bin sehr dafür, daß wir alles tun, was nur möglich ist, um die Sache unter das Volk z.u bringen.
Ich würde mich auf diesen einen Punkt konzentrieren, eine Hälfte der Bevölkerung - die Frauen - unterschieden von der andern - den Männern - durch gleiche politische und soziale Rechte, durch Freiheit. Aber wer immer versuchen würde, dies zu schreiben, könnte es kaum vermeiden, auch die anderen 19 Mängel aufzubringen.

Scheinbar im Zusammenhang mit diesem Brief liegt ein gekritzeltes Konzept, undatiert und unadressiert, geschrieben von Mathilde Anneke vor:

  • Nat. Ass. hatte den Plan, am 4. Juli 1876 oder am Tage vorher in Philadelphia eine Protest Konvention zu halten. Die Ass. bewill-kommt die Idee des Klubs eines Protestes mit Unterschriften und glaubt derselbe um die Mittagsstunde des 4. Juli 1876 in die Indepen-dence Hall gebracht, würde die großartigste und weitest verbreitete Agitation schaffen und dieser Entrüstungsschrei würde über die ganze zivilisierte Welt tönen. Der Protest gegen eine Säkularfeier der sogenannten Republik, solange die Frau nicht als stimmberechtigter Bürger anerkannt ist.

Elizabeth Cady Stanton
an Mathilde   
Philadelphia, am 1 .Juli 1876

Liebe Freundin,
Wir beabsichtigen, am 4. Juli mit einer Unabhängigkeitserklärung der Frauen herauszukommen. Sie soll litographiert, gerahmt und unterschrieben werden von all denen, die die Frauenbewegung gegründet haben, sowie von den hervorragendsten Mitarbeitern in unserer Sache in jedem Staate. Wenn Sie Ihren Staat repräsentieren wollen, senden Sie uns bitte Ihren klar geschriebenen Namen, auf einem Stück dünnen Papiers, so schnell wie möglich, da wir in Eile sind, die Arbeit zu beenden.
Herzlichst, Elizabeth Cady Stanton.

Elizabeth Cady Stanton
an Mathilde   
Tenafly, am 6. Sept. 18/;

Liebe Madam Anneke
Ich habe eben Ihren Brief gelesen und ihn an die Präsidentin unserer Vereinigung zur Kenntnisnahme weitergesandt. Vielleicht sollten wir wirklich daran denken, eine Ansprache zu halten, ich habe mir dies aber noch nicht genau überlegt. Es ist mir stets als absurd erschienen, daß die Frauen irgendein Interesse an der Hundertjahrfeier zeigen sollten, genauso absurd wie es für die Neger war, einen 4. Juli zu feiern. Für die Zwecke der Agitation aber wäre Ihr Vorschlag eine gute Idee. Ich glaube, wir haben bei der letzten Konvention in Washington beschlossen, um dieselbe Zeit in Philadelphia ein großes Treffen zu veranstalten. Aber ich zweifle sehr, ob wir eine Halle bekommen können, da die Stadt zum Überfließen voll sein wird.
...Werde ich Sie jemals hier in meiner geliebten Weinlaube und unter meinem Feigenbaum begrüßen können? Ich freue mich immer, von Ihnen zu hören.
Herzlichst Deine (Thyne) Elizabeth Cady Stanton

Der »Festtag der Freiheit«, der »Brauttag der vollen Unabhängigkeit«, den Mathilde Anneke in ihrer Rede des Jahres 1872 angekündigt hatte, erschien lediglich aus der Perspektive jenes Jahres, lediglich in Mathilde Annekes optimistischer Sicht in so greifbarer Nähe. Der hundertjährige Geburtstag der Nation wurde, zumindest für die Frauen, kein Symbol der Freiheit und Gleichheit. Den Frauen wurde in diesen Jahren klar, daß ihr Sieg noch nicht unmittelbar vor der Tür stand.
Mathilde Annekes Tätigkeit für die Frauenbewegung beschränkte sich von nun an vollkommen auf ihre unmittelbare Umgebung in Milwaukee, auf den Kreis der verschiedenen deutschen Organisationen wie Turnerbund, Freidenker, Radikale Demokratie. Die letzte große Versammlung der National Woman's Suffrage Association, an der sie noch aktiv teilnehmen konnte, war die Tagung vom 5. und 6. Juni 1880. Über den Verlauf dieser Konvention berichtet eine Tageszeitung von Milwaukee:

GLEICHBERECHTIGUNG
Eine Convention der Frauenrechtlerinnen fand am 5. und 6. Juni in hiesiger Stadt, in der Musikakademie statt.. . Überall ist die Seele derselben Frl. Susan B. Anthony, diese rastlose und nie ermüdende Vorkämpferin für die sociale und politische Gleichstellung beider Geschlechter, welche nun schon seit mehr als einem Vierteljahrhundert ihre ganze Thätigkeit der Förderung der von ihr als gerecht und nothwendig erkannten Reformforderung gewidmet hat. Sie beweist in ihrer Propaganda eine Ausdauer und ein Geschick, um die sie mancher Repräsentant des stärkeren Geschlechts beneiden könnte und die man nicht anders als bewundern kann.

  • Die hiesige Versammlung, an welcher auch Vertreter des Vorstandes des Bundes der Radicalen, des radicalen Clubs und der Freien Gemeinden von Sauk City und Milwaukee theilnahmen, wurde durch Frau Mathilde Fr. Anneke in deutscher Sprache eröffnet. Eine passendere Persönlichkeit konnte nicht ausgewählt werden. An den revolutionären Bestrebungen der Jahre 1848 und 1849 in Deutschland lebhaften Antheil nehmend, kehrte sie, als die Reaction siegte, dem alten Vaterland den Rücken, und treu ihrer Vergangenheit nahm sie auch hier in den letzten drei Jahrzehnten an allen freiheitlichen und weitgehende Fortschritte bezweckenden Bestrebungen mit Begeisterung Antheil, so daß ihr Name über das ganze Land einen guten Klang hat und selbst von prinzipiellen Gegnern nur mit höchster Achtung genannt wird...
    Auf die von Frau Anneke gesprochenen warmen und begeisterten Begrüßungsworte folgte Frl. Susan B. Anthony, enthusiastisch empfangen, mit einer längeren Rede, voll zündender Argumente. Sie gab eine kurze Geschichte der Bewegung und zollte Frau Anneke, zwischen deren hiesiger Laufbahn und derjenigen von Carl Schurz sie eine Parallele zog, warmes Lob...[53]

Und in der Freien Presse vom 5. Juni 1880 konnte man lesen:...

  • Frl. Susan B. Anthony hielt hierauf eine begeisterte Anrede, in welcher sie betonte, daß die weiblichen Bürger der Vereinigten Staaten dasselbe Anrecht an der Bestimmung des Geschickes der Vereinigten Staaten hätten wie männliche Bürger. Die Rednerin wies darauf hin, daß Frau Anneke Hand in Hand mit Carl Schurz und der polnischen Flüchtlingin Ernestine L. Rose, die Leuchte der Freiheit  für amerikanische Bürger und Bürgerinnen angezündet hätten. Schurz sei ein großer Staatsmann geworden und Frau Anneke habe kein Stimmrecht im Rate der Nation; ja, Schurz sei gegen jene Gleichberechtigung...

Der Optimismus, der aus Mathilde Annekes Rede sprach, beruhte auf der Tatsache, daß gerade um diese Zeit ein Gesetz zur Vorlage in der Wisconsin Staats-Legislatur gekommen war, das den Frauen in diesem Staate das Stimmrecht gewähren würde, wie es in Wyoming bereits 1869 praktisch erzielt worden war. Mathilde Annekes Ausführungen strebten darauf hin, die Mitglieder dieser Legislatur zu bewegen, für die Vorlage zu stimmen, um damit dem Staate Wisconsin »die Ehrenkrone vor allen andern Staaten unserer weiten und glorreichen Republik« zu verleihen. Hoffnungsfroh und siegessicher blickte sie den nächsten Wahlen entgegen, die den Sieg der Frauen bringen sollten. »Der Weg war lang, der zu diesem Ziel geführt, an welchem der Sieg nach schwerer Arbeit winkt.« Sie hatte sich geirrt. Diese Gesetzesvorlage stand zum zweiten Mal in der Legislatur zur Debatte. Das erste Mal, im Jahre  1868/69 wurde sie mit einer kleinen Majorität abgelehnt. Auch damals tagte die Frauen-Konvention und Mathilde Anneke war voll Hoffnung auf einen Sieg. Aber auch nun, zwölf Jahre später, war ihre Hoffnung vergebens. Im folgenden Jahr  gelang  die Annahme  der Gesetzesvorlage im Oberhaus, im Unterhaus aber fiel sie durch.
Das Jahr 1880 dürfte das letzte in Mathilde Annekes aktiver Beteiligung an der amerikanischen Frauenbewegung gewesen sein. Daß sie weiterhin im Kontakt mit der Führerschaft verblieb, geht aus einzelnen uns erhaltenen Briefen hervor:

Brief der Frauen-Konvention
an Mathilde   
10. September 1880

... Die Mitglieder der Marathon Konvention der Woman Suffrage Association drücken ihr tiefstes Bedauern darüber aus, daß es Ihnen unmöglich ist, als Sprecherin an der Konvention teilzunehmen. Wir wissen, Ihr Name ist eine Macht unter den Deutschen. Da Sie persönlich nicht erscheinen können, wäre es Ihnen vielleicht möglich, eine Rede in Ihrer Sprache vorzubereiten und uns zuzusenden?
Unsere Gesellschaft würde sie drucken und verteilen, so daß der guten Sache gedient wäre.
Die Damen sprechen Ihnen zu dem Verlust Ihrer Hand ihr Mitgefühl aus, ihrer Hand, die so viel Gutes tun könnte für die Förderung der Frauenrechte. Da aber Entsagung und Seelenstärke Eigenschaften eines großen Geistes sind, wissen wir, daß Sie Ihr Los gefaßt tragen werden.
Wir hoffen, daß Sie bald wieder hergestellt sind, um uns in unserer Sache beizustehen.

Susan B. Anthony
an Mathilde   
Rochester, N.Y., am 25. Aug. 1882

Meine liebe Madam Anneke,
Ich habe Anordnung getroffen, daß Band II unserer Geschichte der Frauenbewegung an Sie gesandt werde. Es sollte demnächst in Ihrem Besitz sein.
Ich beklage es sehr, daß Ihr Bild in Band I und II nicht Platz gefunden hat. Nun muß entweder Ihres oder Dr. Wolcotts in das Kapitel »Wisconsin« des III. Bandes gehen, der aber nicht vor 1884 erscheinen wird.
Heute möchte ich Sie um einen besonderen Gefallen bitten, der darin besteht, mir einen Brief zu schreiben, der bei der nächsten National Konvention in Omaha, Nebraska, am 26. bis 28. September verlesen werden kann. Geben Sie mir Ihre besten Argumente, warum die Männer von Nebraska sich für das Frauenstimmrecht erklären sollen.
Wenn nur das Vorstands-Kommittee der Wisconsin Staatsorganisation Delegierte ernennen würde, die dieser Tagung beiwohnen würden. Könnten Sie das nicht veranlassen? Oder noch besser, könnten Sie nicht zu dieser Konvention kommen, da diese in der Nähe von Milwaukee stattfindet? Und auch die Frau Doktor? Sie beide sollten gehen, und ich hoffe sehr, Sie dort als Vertreter des Staates Wisconsin zu sehen. Ich bin sicher, Sie werden es tun, wenn es Ihnen möglich ist. Ich möchte so gerne, daß Sie zu den Deutschen dort in ihrer Muttersprache sprechen. Wenn ich nur Geld verfügbar hätte, um sagen zu können, ich bezahle Ihre Auslagen. Aber leider!
Das Testament, das mir für unsere Sache vermacht worden ist, wird jetzt vor Gericht angefochten. Und durch meine großen Geldauslagen für unsere Geschichte bin ich finanziell völlig außer Stande zu tun, was ich so gerne tun möchte. Mit inniger Zuneigung Ihnen und Ihren Töchtern,
Susan B. Anthony

Mathilde
an Susan B.Anthony
Januar 1884

Meine geschätzte und liebe Freundin
Susan B. Anthony,
Vize-Präsidentin der National Woman Suffrage Association
Auf Ihr Schreiben vom 18. Januar muß ich Ihnen mitteilen, daß ich mich damit abfinden muß, bei Ihnen nur mit einem Brief und im Geiste anwesend zu sein. Sie erfahren hiemit aus der Hand einer anderen, daß ich seit 1 1/2 Jahren unfähig war, irgend etwas zu tun. Ich bin dazu verurteilt, mein Lebenswerk des Lehrens und Schreibens aufzugeben und fast ununterbrochen große körperliche Schmerzen zu ertragen. Meine Kinder umsorgen mich liebevoll. Sie werden daher gut verstehen, wie wenig geeignet ich dazu bin, mehr beizutragen, als durch eine andere Person all meine von Herzen kommenden guten Wünsche zu dem Erfolg der bevorstehenden Tagung ausdrücken zu lassen.
Während all dieser Jahre habe ich mir gewünscht, noch einmal unter Ihnen in Lincoln Hall zu weilen, um meine, durch mein ganzes Leben gehegten Wünsche und Hoffnungen für unsere edle Sache zu wiederholen. Diese Wünsche und Hoffnungen leben heute noch viel stärker in mir. Aber diesen Wunsch muß ich nun beiseite legen, wie so viele andere Wünsche meines einst so aktiven Lebens. So muß ich mich damit zufrieden geben, meine Sympathien und meine guten Wünsche von diesem Schmerzenslager aus zu senden.
Ich habe mich darnach gesehnt, Ihnen Gott befohlen zu sagen, bevor Sie Ihre Reise antraten, um das gute Werk der Frauenbewegung über den Ozean zu meinen Genossinnen in der Alten Welt zu tragen, die
so sehr der Hilfe bedürfen und die zu denken und zu handeln lernen müssen, wie die Gleichberechtigung zu erlangen ist. Und ich wollte Sie mit Freuden bei Ihrer Rückkehr begrüßen, was ich jetzt nur schriftlich zum Ausdruck bringen kann.
Ich freue mich über die Gelegenheit, Sie nochmals meiner unveränderten und restlosen Hingabe an unsere große Sache zu versichern. Sie sollen wissen, daß ich in allen Ihren Bemühungen an Ihrer Seite stehe. Ich weiß, daß Sie sie gut und weise ausführen.
Ich leide an einer sehr schmerzlichen Gelenkentzündung, und es ist nun schon sieben Jahre her, daß meine gute Rechte durch einen traurigen Unfall ihre Beweglichkeit verlor. Ich bin völlig von Hilfe abhängig, um mich schriftlich zu verständigen. Aber so lange mein Gehirn arbeitet und mein Herz schlägt, werden meine besten Gedanken, mein innigster Herzschlag mit Ihnen und Ihren edlen Mitarbeiterinnen im Denken und Fühlen sein.
P. S. Beiliegend mein kleiner Obolus von $ 5 .-

(Diktiert von Mathilde Anneke)

Dies scheint der letzte Beitrag gewesen zu sein, den Mathilde Anneke in Sachen der Frauenbewegung leistete, bevor sich ihr Leben dem Ende zuneigte. Erst 35 Jahre nach ihrem Tod, am 18. August 1920 - zwei Jahre später als in Deutschland - trat mit dem 19. Zusatz zur amerikanischen Verfassung jenes Gesetz in Kraft, für das Mathilde Franziska Anneke ein Leben lang gekämpft hatte:

  • Das Stimmrecht der Staatsbürger der Vereinigten Staaten soll weder von den Vereinigten Staaten noch von einem Einzelstaat aufgrund des Geschlechtes verweigert oder geschmälert werden.