Rückblick

Ich glaube, ich habe auf dieser Erde schon viele Leben ausgelebt, schreibt Mathilde Anneke im August des Jahres 1859 an ihren Mann - zu einer Zeit, da sie das Hauptstück ihres Lebensweges noch vor sich liegen hatte. Wie sehr dieser Ausspruch auf die Gesamtheit ihres Lebens zutrifft, beweist das hier vorgelegte Briefmaterial. Wie gestaltete sich dieses Leben, und wie wurde Mathilde Franziska Anneke von ihren Zeitgenossen gesehen und beurteilt?
Aufgewachsen unter dem Einfluß liberal denkender, aufgeschlossener Menschen, gründete sich ihr Leben auf eine paradiesische Kindheit, die ihr den Mut und das Selbstvertrauen gab, die ihre Zukunft bestimmten. Herkunftsmäßig und in jungen Jahren gehörte Mathilde Franziska Anneke, geb. Giesler, gesch. Tabouillot, der westfälischen Hautevolee in Münster, der Gesellschaftsschicht der Annette von Droste-Hülshoff an. Aus dieser Zeit wird über sie berichtet, daß sie

  • in den Kreisen der hohen Aristokratie sowohl als in der Gelehrten- und Künstlerwelt der westfälischen Hauptstadt verkehrt und in ihrem Salon Alles um sich versammelt, was dort an Intelligenz zu finden war.[1]

Nach ihrer Scheidung aber führte sie das Leben einer hungernden Poetin, ein Dasein, wie es vielen Dichtern vor und nach ihrer Zeit beschieden war, nur mit dem Unterschied, daß Mathilde als alleinstehende Frau noch ein kleines Kind zu erhalten und zu versorgen hatte. Damals verfaßte sie ganz epigonal, ganz Biedermeier, ihre Reiseschilderungen, ihr Drama, ihre traurigen Gedichte.
Mit dem neuen Namen Anneke begann sie das Leben einer revolutionären Journalistin, einer sozialistischen Redakteurin und schließlich einer kriegstüchtigen Freischärlerin. Sie lebte nun in Köln und wurde Mittelpunkt eines Kreises, der jedoch ganz anderer Art war als ihr Salon in Münster. Auch hier wurde Literatur gepflegt und besprochen, aber es war eine auf Aktion gerichtete Dichtung. Ihre Verfasser gingen im wahrsten Sinn des Wortes Hand in Hand mit den politischen Aktivisten. Hoffmann von Fallersleben, Herwegh, Freiligrath, Kinkel, Simrock, Grün waren die Dichter, die hier verkehrten. In diesem Kreis trafen sich aber auch Moses Heß, Ferdinand Lassalle, Gottschalk, Willich, Bakunin und anfangs auch Karl Marx. Hier kamen Dichter und Politiker zusammen, nicht um charmant geistreiche Konversation zu pflegen, sondern um eine Änderung der Gesellschaft herbeizuführen. Statt amüsant-vornehm Dame zu spielen, waren die Frauen hier von einem Ernst, einem missionarischen Geist beseelt, der sie ebenso zu Taten anspornte wie die Männer. Der »Salon« Anneke war eine der Keimzellen der Revolution des Jahres 1848/49. Von hier wurden aber auch die Ideen zur Gleichberechtigung der Frau proklamiert.
Das Fehlschlagen der Revolution führte Mathilde Anneke in eine neue Lebensetappe und auf einen neuen Erdteil. Obwohl sie weiterhin politisch tätig blieb, Ansprachen für die Rechte der Frau hielt, ihre Frauenzeitung herausgab sowie Fritz Anneke in seinen Bemühungen um die Republikanische Partei unterstützte, war sie in den zehn Jahren von 1849-1859 vor allem Frau und Mutter. Sieben Kinder hat sie geboren, doch nur zwei überlebten sie. Die schreckliche Pockenepidemie in Newark führte auch das Ende des innigen Familienlebens herbei. Mathilde erkannte damals, daß sie an einem Wendepunkt stand. In ihrem Brief vom 19. März 1858 schreibt sie an ihre Mutter: Da stünde ich denn an meiner Lebenswende bar aller Hoffnungen, die ich so reich getragen. Die schönsten, die ich durch tausendfache Stürme hindurch geschützt, genährt mit meinem besten Herzblut, und die in der andern Hälfte des Lebens zu meinem innigsten Glück sich entfalten und gestalten sollten ... Es war keine Absicht, daß die Gatten fortan kaum jemals mehr längere Zeit an ein und demselben Ort miteinander verbrachten. Die Dinge entwickelten sich hauptsächlich durch den Druck äußerer Ereignisse, aber auch nicht ganz ohne persönliches Zutun. Fritz Annekes Reise in die Schweiz, um Garibaldis Freiheitskampf in Italien als Reporter zu verfolgen, schien Mathilde nicht gutgeheißen zu haben. Später wäre das Zusammenführen der Familie durch seine Rückkehr aus der Schweiz einfacher gewesen als durch Mathildes und der Kinder Überfahrt nach Europa. Und als die Familie in der Schweiz endlich wieder beisammen war, brach der amerikanische Bürgerkrieg aus, Fritz Anneke folgte seiner Verpflichtung und kehrte nach den Staaten zurück. Es war dieser Krieg, der aus den »Amerikamüden« wieder gewissenhafte und begeisterte Unionsangehörige machte.
Der fünfjährige Aufenthalt Mathildes in der Schweiz bedeutete ein weiteres Kapitel in ihrem ereignisreichen Leben. Damals schrieb sie ihre wichtigsten literarischen Arbeiten und wurde Reporterin für eine große Zahl der bedeutendsten Zeitungen, wie die Augsburger Allgemeine, Das Ausland, Der Bund, Elberfelder Zeitung, Belletristisches Journal, Illinois Staatszeitung, Milwaukee Herold, Didaskalia und ungezählte andere. Während dieser Kriegsjahre betrachtete sie sich stolz als Frau des amerikanischen Obersten Fritz Anneke, der für die Erhaltung der Republik und der Menschenrechte in den Kampf gezogen war. Sie fühlte sich als Repräsentantin der Union, deren Ziele sie in propagandistischen Zeitungsartikeln vertrat. Fritz Anneke aber enttäuschte ihre Hoffnungen. Er wurde nicht General, wie sie erwartet hatte, sondern mußte seine militärische Laufbahn unrühmlich beenden. Damit war ein Schatten nicht nur auf seine »Ehre«, sondern auch auf Mathildes Begriff davon gefallen. Sie schien von dem Ereignis mehr betroffen zu sein als Fritz selbst. Es waren harte Jahre für sie. Während sie bemüht war, das Dekor einer amerikanischen Offiziersgattin zu wahren, steckte sie nach allen Seiten hin in Schulden. Für ihr Innenleben waren die Schweizer Jahre bedeutungsvoll durch ihre Verbindung mit Mary Booth und später mit Cäcilie Kapp. Ihr ungewöhnliches Privatleben entwickelte sich aus der Art ihrer zweiten Ehe, aus der Freundschaft mit ihr ergebenen Frauen, war aber so ganz bestimmt von ihrer uneingeschränkten Hingabe für ihre Kinder. Neben der Sorge um ihre kranke Mutter war es vor allem der Kinder wegen, daß sich Mathilde im Jahre 1865 entschloß, nach Amerika zurückzukehren. Für sich selbst hätte sie es damals vorgezogen, in Europa zu bleiben. Später aber, als sie in Milwaukee wieder Fuß gefaßt hatte, fühlte sie sich ganz als Amerikanerin. Sehnsucht nach der alten Heimat, Anerkennung der Vorzüge, welche die neue Heimat bot, verursachten jenen Zwiespalt in ihr, dem alle Einwanderer unterworfen sind.
Der für Mathilde Anneke bedeutendste Teil ihres Lebens spielte sich nach ihrer Rückkehr aus der Schweiz in Milwaukee ab. Die soziopolitischen Ziele, für die sie sich in der Schweiz als Schriftstellerin und Journalistin eingesetzt hatte, versuchte sie nach ihrer Rückkehr in die Staaten durch praktisches Wirken herbeizuführen, ähnlich wie ihre journalistische Tätigkeit in Deutschland von ihrer tatkräftigen Teilnahme am Revolutionskrieg abgelöst wurde. Zwar gab sie die Schriftstellerei nicht völlig auf, aber sie wurde sekundär neben ihren Aufgaben als Lehrerin und aktive Kämpferin für Frauenrechte.
Als Vorsteherin einer Mädchenschule verfolgte sie ganz bestimmte und ihrer Weltanschauung entsprechende Ziele. So waren sich ihre Schülerinnen noch als grauhaarige Frauen ihres Einflusses bewußt. Diese Frauen

  • »betrachteten alle Fragen der Menschenrechte nach ihrer eigenen Überzeugung und mit der hartnäckigen Forderung nach allgemeiner Gerechtigkeit - entsprechend den Ideen, die Madame Anneke in ihrem Wirkungsbereich ausgestrahlt hatte.«[2]

Unter dem Titel »Women's Work«, interviewte May Wright Sewall die bedeutendsten Frauen Milwaukees, eine davon war Mathilde Anneke, die als Exponentin freiheitlicher Ideen bezeichnet wird. Sie hatte vor kurzem ihr 65. Lebensjahr vollendet, aber ihr faltenloses Gesicht glühte vor Begeisterung, und ihre jungen blauen Augen strahlten von einem Licht, das heller ist und weicher als das der Jugend, da sie die politischen und sozialen Reformen der jüngsten Tage bespricht... Über die anscheinende Gleichgültigkeit vieler Frauen auf diesem Gebiet sagt sie: »Man muß sein Leben in der Alten Welt begonnen haben, um zu begreifen, wie gut es ist, frei zu sein; zu verstehen, wie notwendig Freiheit ist für ein wirklich ruhiges Leben.«[3] In Ihrem Kampf um die Rechte der Frau stand Mathilde Anneke in den ersten Reihen jener Aktivistinnen, die für das Stimmrecht der Frau auf lokaler und nationaler Ebene rangen. Susan B. Anthony soll von ihr gesagt haben: Ich bin durch den Einfluß einer deutschen Frau, Madame Mathilde Franziska Anneke, eine Suffragette geworden.[4]
Kein leichtes, aber zweifellos ein reiches Leben war Mathilde Anneke beschieden. Cäcilie Kapp faßte in einem Geburtstagsbrief zusammen, wie sie dieses Leben beurteilte:

  • ... Dein Leben war reich und schön - von Tausenden und Tausenden bist du gesegnet worden durch Liebe, die Du gabst und durch Liebe, die Du nahmst - Aus dem Becher reiner, heißer Leidenschaft hast Du getrunken mit langen Zügen - alle Leiden und Freuden eines Frauenlebens - alle Begeisterung, allen seligen Taumel und Jubel eines Freiheitshelden - die gewöhnliche Neigung von Sterblichen und höchst ungewöhnliche - Alles, Alles hast Du genossen ...[5]

In jungen Jahren wurde Mathilde Franziska als Frau von außerordentlicher Schönheit bezeichnet, deren strahlend blaue Augen in einem effektvollen Kontrast zu ihrem schwarzen Haar standen. Schlank und hochgewachsen-sie war 1,80 m groß - lebte sie in der Erinnerung ihrer Zeitgenossen weiter: ... nicht genug wissen die begeisterten Republikaner der damaligen Zeit von dem Anblick zu erzählen, als Mathilde Anneke hoch zu Roß an der Seite ihres Gatten in Karlsruhe und Rastatt einzog. Die schlanke, hochgewachsene Frau im schwarzen Samtgewande, mit den dicken schwarzen Zöpfen, den blauen sinnenden Augen, den weichen, regelmäßigen Zügen erregte überall Auf seh enh. Auch die Geburt von sieben Kindern vermochte ihrer schlanken Gestalt nichts anzuhaben. Erst als sie 43Jährig von einem Leberleiden befallen wurde, scheinen die Medikamente jenen Wechsel verursacht zu haben, der sie zu der Matrone machte, wie sie uns aus den Schweizer Bildern entgegentritt. Daher warnte sie ihren Mann, bevor sie zu ihm in die Schweiz fuhr und schrieb in ihrem amerikanischen Deutsch: Du wirst Dich vor meiner Korpulenz wohl erschrecken. Ich gewinne täglich, trotz mäßigster Lebensweise.
Über ihre Erscheinung und über ihr Wesen berichten ihre Zeitgenossen:

  • »Im persönlichen Verkehr machte die ehrwürdige Matrone mit ihren scharfgeschnittenen Gesichtszügen und der massiven Stirn einen imposanten Eindruck .. .«[7]
  • »Sie war eine mächtige Erscheinung von schönem, stattlichen Wuchs, mit angenehmen, geistreichen Zügen und hatte eine Stimme voll Wohllaut und Kraft, was alles die Wirkung ihrer Vorträge sehr erhöhte. Ihr zu lauschen war jederzeit ein Genuß, mochte es in größerer Versammlung oder im vertrauten Kreise sein. Gedanken und Ausdrucksweise erhoben sich immer über das Gewöhnliche, und es erschien ganz ungesucht und passend, wenn sie aus dem vollen Schatze ihres Gedächtnisses die Perlen der Dichtung hervornahm, um das Gespräch zu schmücken.«[8]

Mathilde Anneke starb am 25. November 1884 in ihrem Haus Nr. 871 Cambridge Avenue, Milwaukee. Nach einer einfachen Totenfeier folgte eine große Menschenmenge dem Leichenzug zum Friedhof »Forest Home«, wo mehrere Grabreden zur Ehrung der Toten gehalten wurden. Eine ebenfalls ungewöhnlich hohe Zahl von Nachrufen erschien in der deutschen und englischen Presse des Westens, wie auch in mehreren Zeitungen der Ostküste. Man würdigte vor allem ihre Persönlichkeit, ihre journalistischen, pädagogischen und schriftstellerischen Leistungen, distanzierte sich aber von ihren Bestrebungen um die Gleichberechtigung der Frau. Unter dem Titel »Eine Zierde der deutsch-amerikanischen Presse« brachte die Illinois Staatszeitung folgenden Nachruf:

  • Eine der bedeutendsten deutschen und deutsch-amerikanischen Frauen ist in ihr geschieden. Und die deutsch-amerikanische Presse hat ein Recht, auf sie stolz zu sein, denn sie war eine Zierde derselben. Ihre radikalen Ansichten über Frauenrechte werden mit Recht nur von wenigen Deutsch-Amerikanern geteilt. Aber selbst der entschiedenste Gegner solcher Bestrebungen muß anerkennen, daß die Beweggründe der Frau Anneke durchaus rein und edel waren ... Ihre Begeisterung für Frauenrechte war ein Anstoß oder ein Teil ihrer Begeisterung für das gleiche Menschenrecht aller, der niedrigsten und der höchsten, und dasselbe edle Humanitätsgefühl hatte schon in Deutschland aus ihr, der feingebildeten Frau, eine unerschrockene Vorkämpferin des männlichen Proletariats gemacht...[9]

Anderswo heißt es, sie war trotz ihrer stark-geistigen Disposition ihren Zöglingen gegenüber eine sorgsame Mutter und gegen Gäste ihres Hauses die Liebenswürdigkeit selbst.[10] Oder:

  • Sie war eine der gebildetsten, begabtesten und edelsten Frauen, obgleich die Welt, wir wollen hoffen, ihre unpraktischen Grundsätze bezüglich der Gleichstellung der Frauen, niemals anerkennen wird.[11]

Aber selbst in der Ablehnung wurde ihr Anerkennung zuteil: Trotz ihrer unerschütterlichen Überzeugung war Madame Anneke taktvoll in ihren Bemühungen. Sie war eine zu gute Strategin, um durch diktatorisches Auftreten oder Aggressivität Freunde für die Sache zu verlieren. Sie konnte mit dickköpfigen Männern liebenswürdig debattieren und die Gegner ganz allmählich zu ihrer Ansicht bekehren. Uneingeschränkte Anerkennung zollte nur der Freidenker ihrem

  • Leben, welches eng mit der Geschichte Milwaukees und des Deutsch-Amerikanertums verflochten ist. Sie war eine edle und dabei stark geistige Frau, in früheren Jahren und so weit es ihre Kräfte erlaubten, noch bis zu ihrer Todesstunde eine begeisterte und energische Vorkämpferin für alle fortschrittlichen Bestrebungen. Sie hielt vor allem mit jener festen Zuversicht, wie sie nur tief wurzelnde innere Überzeugung verleihen kann, an dem Gedanken fest, daß einst die Zeit kommen müsse, wo die Frau dem Manne auch im öffentlichen Leben gleichberechtigt zur Seite stehen werde, um mit ihm in gemeinsamer Arbeit für alle jene idealen Ziele einzutreten, wie sie einst nur in der Republik, in welcher die Menschenrechte im weitesten Sinn des Wortes zur Anerkennung gelangt sind, zur Wahrheit werden können. In Wort und Schrift kämpfte sie für ihre Anschauungen und erwarb sich so, nachdem sie schon in der Alten Welt durch die Tat Zeugnis für ihre Freiheitsliebe abgelegt hatte, durch das ganze Land Ansehen und Achtung ...[13]

Zu einer Zeit, da der Aufgabenkreis für die große Mehrheit der Frauen auf Kinder, Kirche und Küche begrenzt war, zählte Mathilde Anneke zu den wenigen, die den Schritt in die Öffentlichkeit gewagt hatten und jene Begrenzung in Frage stellten. Schon mit ihren ersten dichterischen Versuchen hatte sie diese Grenze überschritten und ihren Geschlechtsgenossinnen einen Weg gezeigt, der aus Küchen- und Schlafzimmerdiensten auch andere Bereiche des menschlichen Daseins für die Frau aufschloß, ihr Selbständigkeit und Unabhängigkeit vom Manne gewährte. Ihre eigentliche Begabung entdeckte Mathilde Anneke aber, als sie ihre journalistischen und rednerischen Talente in den Dienst sozialer und politischer Ideale stellte. Uneigennützig, oft ihre Position gefährdend, trat sie für einen Humanitätsbegriff ein, der den Menschen ihres Jahrhunderts als verfrüht erschien. Daher war es ihr nicht vergönnt, die Erfüllung ihrer demokratisch-sozialen Forderungen in Deutschland zu erleben und in Amerika die Früchte ihres Kampfes um die Gleichberechtigung der Frau zu ernten. Das war erst den Nachfahren möglich, die in der breiten Spur folgen konnten, die Mathilde Anneke und ihre Mitstreiterinnen im Neuland geschlagen hatten.
Obwohl alles, was von Zeitgenossen über sie gesagt wurde, auf eine Persönlichkeit deutet, die aufgrund ihrer Überzeugungskraft, ihres diplomatischen Geschicks, der Gewandtheit im Ausdruck und in der Darbietung der Rede für einen Politiker wie geschaffen erscheint, blieb ihr als Frau diese Laufbahn versagt. Als Mann hätte ihr in Amerika sicher eine Karriere ähnlich der von Carl Schurz offen gestanden. Sie hat zwar keinen Anspruch darauf erhoben, aber der oft als kleinlicher Neid anmutende Gegensatz zu Carl Schurz könnte als eine unbewußte Reaktion auf diese Situation gedeutet werden. Den Aufgabenkreis, der ihr zugefallen war, füllte sie jedoch ganz. Dabei erschienen ihr Küche, Haus und Kindererziehung ebenso wichtig wie der Beruf als Lehrerin oder ihr Dienst für die Allgemeinheit auf den Rednertribünen der Frauenrechtsvereinigung. Sie stellte sich dem Alltag des Lebens genau so wie jede andere Frau - und meisterte ihn. Daher sollte sie nicht zu jenen Ausnahmen gerechnet werden, die aufgrund eines günstigeren Geschicks über die Masse der Frauen hinausragen und Bedeutendes leisteten. Mathilde Anneke ist die Frau aus dem Volk, die ihren Schwestern einen Weg gewiesen hat, den jede einzelne auf ihre Weise zu gehen imstande ist.