Die Fröhliche Kunst

Ihre politische und soziale Einstellung und ihre Auffassung über Frauenrechte finden auch in Mathilde Annekes literarischer Tätigkeit ihren Niederschlag. Ihre frühen Werke zeigen allerdings noch keine Spur dieser politischen Überzeugung. Was sie vor ihrer Flucht nach Amerika schrieb, ist in einzelnen Artikeln bewertet worden,[1] während für den Großteil ihrer Arbeiten, die nach 1849 entstanden, nahezu jede Würdigung oder Kritik fehlt.[2] Dieser Versuch soll nun unternommen werden. Für den hier gesetzten Rahmen wird einzelnes als Beispiel für Ähnliches in ihrem Werk dargestellt und besprochen. Die Auswahl erstreckt sich auf ihre literarischen Vorträge, ihre Gedichte, ihre Novellen und Feuilletons, ihre journalistische Berichterstattung, ihre Romane und ihr Drama.
Als Mathilde von Tabouillot hatte sie unter dem Druck finanzieller Nöte nach der Feder gegriffen und war im Jahre 1839 mit ihrem ersten Werk, dem kleinen Büchlein Des Christen freudiger Aufblick zum himmlischen Vater,[3] herausgekommen. Dem folgte bald ein zweites Gebetbuch, Der Meister ist da und rufet Dich.[4] In diesen Gebeten fleht sie nach Halt und Stütze in einer für sie außerordentlich schweren Zeit. Über diese Beschäftigung schrieb sie: Wenig gelernt, allein mit gutem Willen zur Tätigkeit, und einem unbedeutenden Talente, das erst noch geweckt werden sollte, vertrauend, haschte ich nach diesem einzigen Mittel, das mir eine schwache Lebenshoffnung darbot...[5] Ab und zu gelang es ihr, in irgendeiner Zeitung oder Zeitschrift eines ihrer Gedichte unterzubringen. Für das Taschenbuch deutscher Sagen schrieb sie die Erzählung »Die Melkerin von Blankenstein«.[6] Alle diese Produkte ihrer Feder waren epigonal, harmlos biedermeierlich. Kein Wunder, daß Annette von Droste-Hülshoff sie als »wässerige miserable Gedichte«[7] bezeichnete und sagte: »Ihre Prosa ist noch schlechter.«[8] Trotzdem steuerte die Droste drei Gedichte zu Mathilde Annekes Westfälischem Jahrbuch des Jahres 1846, Producte der Rothen Erde,[9] bei »Das Bild«, »Das erste Gedicht« und »Durchwachte Nacht«. Dieses Jahrbuch war der dritte Almanach, den Mathilde redigierte. Im Jahre 1840 war ihr Heimathgruß,[10] dann ein Damenalmanach erschienen. Sie hatte für diese Jahrbücher neben der Droste mehrere andere Dichter, vor allem Schücking und Freiligrath als Mitarbeiter gewinnen können. Schücking, der am Damenalmanach wesentlich beteiligt war, scheint die Verbindung zu Freiligrath hergestellt zu haben und auch Freiligraths Genehmigung für den Nachdruck seiner Gedichte im Heimathgruß erwirkt zu haben. Denn Freiligrath schreibt am 16. September 1839 aus Unkel an Schücking:

  • ... Das muß aber ein Capitalsfrauenzimmer sein, das mein Fieber deklamiert und eine solche Hand schreibt! Ich glaub, Du willst mich mystifizieren, alter Rosenzüchter aus Jericho - das hat nimmermehr ein Mädchen geschrieben! Sollt es aber doch wahr sein, so bitt ich schönstens um Verzeihung, werfe mich mit Grandezza zu Füßen und applizire der »lilienweißen« Hand den fieberhaftesten Kuß, der je auf eine Hand gedrückt worden ist...[11]

Während der Heimathgruß noch die Widmung »An die Königliche Hoheit die Kronprinzessin von Preußen« trägt, setzte Mathilde Anneke den Producten der Rothen Erde als Motto Zeilen aus Freiligraths Gedicht Glaubensbekenntnis voran, in dem er offen als politischer Dichter auftritt. Im Heimathgruß erschien der Nachdruck einiger Freiligrath-Gedichte wie »Mohrenfürst«, »Fieber«, »Rolandseck«. Für die Producte der Rothen Erde sandte Freiligrath eine Übersetzung aus dem Englischen - einen Text von Felicia Hemans - nebst Übersetzungen seiner Frau von W. Scott, Thomas Moore und Felicia Hemans. Wie aus dem Schriftverkehr mit Freiligrath hervorgeht,[12] plante Mathilde Franziska die Herausgabe noch weiterer Werke, doch scheint sie diese Pläne nicht verwirklicht zu haben.
In allen drei Almanachen war Mathilde Anneke mit einer stattlichen Anzahl eigener Produkte vertreten - mehreren Gedichten, Sonetten und Balladen, einer Erzählung, einer Reisebeschreibung, Übersetzungen sowie mit einer biographischen Abhandlung über den Maler Wilhelm Kaulbach. Zu einer profilierten Autorin, und zwar vor allem im journalistischen Genre, wurde Mathilde Anneke jedoch erst, nachdem sie jenen Strich über die erste Seite ihres Gebetbuches gezogen und darüber geschrieben hatte: Von den Göttern, die der Mensch in seiner Not erschuf. Die Biedermeier-Dichterin hatte damit den Schritt ins andere Lager getan.
Will man Mathilde Anneke einer literarischen Schule zuordnen, wird man sie daher als Mathilde Tabouillot dem Biedermeier, als Mathilde Anneke dem Vormärz zuweisen müssen, jener vielumstrittenen Epoche, die teils mit 1815,[13] teils mit 1839,[14] teils mit 1840 [15] in der Literaturgeschichtsschreibung beginnt und mit 1848 endet. Faßt man den Begriff »Vormärz« eng, wie es sich für den Kreis eignet, dem Mathilde Anneke später nahe stand, so treffen für diesen literarischen Zeitabschnitt folgende Feststellungen zu: »Politischer Aktivismus, sozialistische Zielsetzung, auch ein gewisser Radikalismus«.[16] Die Schriftsteller »fühlten sich als die wahren >Bekenner<, als die vom Geist der Geschichte gerechtfertigten Tendenzpoeten und Revolutionäre...«,[17] »Worin sie brillierten, ist nicht das Poetische, sondern die Stoßkraft ihrer politischen Tendenz. Sie verzichten daher häufig auf jeden stilistischen Glanz, ja lassen die Kunst manchmal überhaupt beiseite, um sich ganz der Tendenz, dem Aufruf hinzugeben.«[18] Heine zeichnete ein wenig schmeichelhaftes Bild dieser politischen Kunstwerke, die er »Marketenderinnen der Freiheit« oder »Wäscherinnen der christlich-germanischen Nationalität« [19] nannte. Dieses Spottbild weist auch auf den wesentlichen politischen Gegensatz hin, der innerhalb der Vormärzdichtung zutage trat. Den einen ging es um Freiheit und Gleichheit, um Menschenrechte, den andern um die nationale Einheit. Zwar ist es richtig, wenn festgestellt wird, daß der Einheitsgedanke allen divergierenden Meinungen zugrunde lag,[20] dennoch ist hervorzuheben, daß es dem linken Flügel vorwiegend um soziale, dem rechten Flügel um nationale Fragen ging. In jüngster Zeit wurde darauf hingewiesen, daß bei den Vormärzdebatten, die das dualistische Konzept der Epoche betonten, »letztlich politische Tendenzen - fortschrittlich revolutionäre bzw. konservative - zur Grundlage der Periodisierung dienen«.[21] Man sieht im Vormärz einen vielschichtigen Vorgang, in dem sich die junge Dichtergeneration mit den Traditionen der Klassik auseinandersetzt, und zwar einerseits aggressiv revolutionär - wie bei den politischen Dichtern - und andererseits defensiv bewahrend - wie bei den Dichtern des Biedermeier.[22]
Abgesehen davon, daß auch bei dieser Betrachtung der Dualismus nicht neutralisiert wird, läßt sich die Bedeutung des politischen Aspekts in der Epochenfrage nicht wegdisputieren. Denn es sind vor allem politisch-soziale Fragen, welche die revolutionären Dichter zur Absage an die feudalistische Dichtung von Klassik und Romantik drängten. Und schließlich war es der Sieg der preußischen Kanonen, der mit dem Jahre 1849 der politischen Dichtung jener Zeit ein Ende setzte. Damit begann um 1850 in Deutschland eine Epoche, in der, abgewandt vom politischen Tagesgeschehen, der bürgerliche Alltag zum Mikrokosmos der Poetik erhöht wurde.
Die Tradition des Vormärz lebte aber in der deutsch-amerikanischen Dichtung der Achtundvierziger weiter, lange nachdem sie in den deutschen Landen verstummt war.[23] Die deutschen Dichter zogen für Freiheit und Gleichheit auch in Amerika in den Krieg und dichteten für dieselben Ideale ihre Lieder und Verse, oder schrieben, wie Mathilde Anneke, ihre tendenziöse Prosa. Und eigentlich kam Mathilde Anneke als Schriftstellerin erst in diesem Umkreis und in dieser Zeit zu voller Entfaltung. Die neue Heimat Amerika mit ihren neuen Problemen gab ihrem alten Kampfgeist und ihren Idealen neue Impulse.
Die »dürftige ästhetische Qualität«,[24] die man der deutsch-amerikanischen Dichtung zum Vorwurf macht, wird auch bei den Vormärz-Poeten getadelt. In der Mitte des Kampfes stehend, fehlte es ihnen an Muße zur Reflexion. Sie dichteten aus dem Impuls, aus Zorn oder Begeisterung. Nur wenige Kritiker dieser Literatur besitzen die Geduld und Unvoreingenommenheit, die Probleme von einer objektiven Warte zu beurteilen und zu erkennen, »daß es außerordentlich schwierig ist ... eine auch nur annähernd gute Dichtung zu schreiben, die sich vollkommen zu einer kollektiven Haltung bekennt. Dies verlangt ein bedeutendes Maß an Disziplin, um die ausschließlich künstlerischen Mittel der Rhetorik der Bildersprache, der Konzentration auf ein emotionales Erleben - in unserem Fall meist Zorn - zu beherrschen. Es bedarf vor allem der Fähigkeit, in der überkommenen Form und Thematik zu verbleiben, während die Stoßkraft des Ausdrucks sich auf neues Gelände begibt.«[25]
Mathilde Anneke ist noch einer weiteren Gruppe der Vormärzdichtung zuzurechnen, der zahlenmäßig nun rasch aufblühenden »Frauendichtung«, die als solche unterschiedslos nach Talent oder Richtung, nur dem Geschlecht nach zusammengefaßt wurde. Diese Vielzahl dichtender Frauen stellte ein bis dahin unbekanntes Phänomen dar: »Die Tatsache, daß die bisher rezeptiv-empfangende, häufig epigonal dem Mann nachschaffende Frau begann, selbständig aufzutreten und eigene Wege zu gehen, war das revolutionäre Neue und zugleich der Einbruch in die bisher so verstandene männliche Domäne.«[26] Anstatt sie aufgrund ihrer Leistung individuell zu betrachten, faßte man sie als »Frauendichtung« im Kollektiv zusammen und ersparte sich damit das Sondieren und Werten. Erst heute geht man daran, Einzelgestalten und Einzelwerke herauszulösen, individuell zu deuten und außer den ästhetischen Aspekten auch andere Faktoren der Wertung heranzuziehen. Renate Möhrmann ging mit ihrer Arbeit Die andere Frau [27] in dieser Hinsicht beispielgebend voran. Eine ausgezeichnete Gesamtübersicht über die Rezeption der Schriftstellerin des 19. Jahrhunderts in der Literaturkritik bietet Gisela Brinker-Gabler.[28]
Die »fröhliche Kunst«, d. h. die Literatur ..., war immer mein Anker, wenn alles andere schwand. So schreibt Mathilde Anneke an ihren Mann zu einer Zeit, da sie ansonsten eine ziemlich ankerlose Existenz führen mußte. Dieser Anker war für sie einerseits die Lektüre der schöpferischen Leistungen ihrer Zeit, andererseits aber auch ihre eigene schriftstellerische Tätigkeit. Ihre Briefe und Schriften weisen sie als gründliche Kennerin der deutschen Literatur aus. Mathilde Anneke besaß aber auch die Begabung, diese Kenntnisse mit Enthusiasmus an andere weiterzugeben und Interesse und Liebe dafür zu wecken, wie ein Schülerbrief bestätigt:

  • »Zu ihren Literatur- und Geschichtsstunden gingen wir wie zu einem Fest.«

Aus Zeitungsnotizen erfahren wir, daß Mathilde Anneke in ihrem Haus frei zugängliche Literaturabende abhielt, um in Milwaukee die deutsche Literatur zu pflegen:

  • Wer während der Wintermonate des vergangenen Jahres ihren Leseabenden beiwohnte, wird sich mit Vergnügen der anregenden Stunden erinnern, die ihm die ausdrucksvolle Wiedergabe der Werke deutscher Klassiker gewährte; und ebenso unvergesslich wird ihren Zuhörerinnen der Cyclus von Vorlesungen über deutsche Literatur bleiben.[29]

Schon bald nach ihrer Ankunft in Milwaukee war Mathilde Anneke mit verschiedenen Vorträgen vor die Öffentlichkeit getreten, in denen sie Politik, Literatur und Frauenrechte zum Thema wählte und sich zu einer Richtung bekannte, die der Literatur eine politische Aufgabe zuweist. Ihr erstes erfolgreiches Auftreten in Milwaukee erfolgte am 16. April 1850, und wenig später wurde sie zu einem weiteren Vortrag aufgefordert. Die von ihr für diese Reden vorbereiteten Konzepte sind in der Anneke-Sammlung erhalten. Eine Notiz im Wisconsin Banner kündigt an, daß die Ansprache am Sonnabend, dem 27. April, um halb acht Uhr abends in der Militärhalle stattfinden werde. Dem wurde beigefügt:

  • Zugleich fühlen wir uns verpflichtet, darauf aufmerksam zu machen, daß der Vortrag der Madame Anneke in den ganzen Vereinigten Staaten wohl schwerlich übertroffen und dem Inhalte wie der Sprache nach ein vortrefflicher genannt zu werden verdient.

Der Grundgedanke, der Mathilde Franziska Anneke in diesen Reden [30] leitete, war der von einer Dichtung, die in unmittelbarem Kontakt mit der Wirklichkeit der Zeit, mit dem Tagesgeschehen steht und darüber hinaus Geschehnisse nicht nur besingt, sondern darauf zielt, sie herbeizuführen. Kurz gesagt ist es die Gesinnung und die Literaturtheorie des deutschen Vormärz, zu denen sich Mathilde Anneke in ihren Literaturvorträgen bekennt. Wie die Dichter, die sie besonders hervorhebt, zum Beispiel Heine und Freiligrath, ergriff sie stets Partei, schrieb und sprach sie für das Volk, ließ sie sich in der Wahl ihrer Themen vom Zeitgeschehen inspirieren. Wie unmittelbar sie reagierte, zeigt ihr bekanntestes Gedicht »Marseille«, mit dem Motto: »Wer will, der kann!«[31] Der Republik der Arbeiter gewidmet, wurde das Gedicht in diesem von Wilhelm Weitling gegründeten und redigierten Blatt am 29. November 1851 abgedruckt.[32] In ihrem Brief vom 21. Dez. 1864 schreibt Mathilde bezüglich dieses Gedichtes an Fritz Anneke:

  • Wenn Du Gelegenheit hast, meine Dithyrambe »Vor Marseille«, die der Anwesenheit Kossuths in Amerika in dem Sonntagsblatt der Staatszeitung in New York, ferner in der Illinois Staatszeitung nachgedruckt wurde, zu requirieren, so tätest Du mir einen Gefallen. Ich habe wirklich keinen Vers davon, weder im Gedächtnis noch in Abschrift.

Ein Nachdruck mit einer Würdigung von Mathilde und Fritz Annekes Leben erfolgte 1936 in den Ungarischen Jahrbüchern.[33] Geringfügige Abweichungen im Text zwischen den vorliegenden drei Fassungen (eine dritte im Anneke-Archiv, Madison, als Typoskript) scheinen Abschreibefehler zu sein. Den Vorfall, der Mathilde Anneke unmittelbar zum Schreiben der Verse anregte, erläutert sie im Vorspann zu dem Gedicht:

  •  ... Als Kossuth von seinem Exil in der Türkei aus die Vereinigten Staaten besuchen wollte, sandten diese dem Freiheitskämpfer die Fregatte »Mississippi«, um ihn über das Weltmeer zu holen. Das Schiff sollte im Hafen von Marseille anlegen. Napoleon jedoch, jeder Volksdemonstration feindlich, ließ den Befehl ergehen, die Vereinigten Staaten Fregatte im Hafen von Marseille nicht landen zu lassen, um so mehr nicht, da die Bewohner der Stadt, d. h. der dritte und vierte Stand, ihm eine Empfangsovation zugedacht hatten. Ein Arbeiter ließ es sich nicht nehmen, den Kämpfer für Freiheit und Menschenrechte an dem Gestade Frankreichs zu begrüßen. Er schwamm eine Meile und weiter durchs Meer hindurch bis an Bord des Schiffes und rief die Worte, die zu dem nachstehenden Gedicht Veranlassung gaben, dem edlen Helden entgegen: »Wer will, der kann!«[34]

Die »Mississippi« war am 7. September 1851 von der Türkei aus in See gegangen. Mathilde Annekes Gedicht trägt das Datum vom 10. November 1851. Wenn wir die Zeitspanne in Rechnung ziehen, die das Schiff für seine Reise von der Türkei nach Frankreich brauchte, sowie die der Seepost, die die Nachricht von Frankreich nach Amerika trug, so muß das Gedicht innerhalb von wenigen Tagen entstanden sein. Nach Otto Zarek, dem Biographen Kossuths, soll das Motto, »wer will, der kann«, hinfort zum Leitspruch Kossuths geworden sein[35]. Aber auch Mathilde Anneke hatte sich diesen Satz angeeignet, denn wir finden ihn wiederholt in ihren Briefen und Schriften zitiert.

Fernher von Asien über's Meer
Rauscht stolz und hehr,
― Nicht achtend Klippe mehr, noch Felsenriff
Ein Schiff,
Umweht in ernster Majestät
Von seines Sternenbanners Pracht,
In Ostens tiefer, schwarzumwölkter Nacht.
Der Sterne reines Glühn erleuchtet sie;
Und wie noch nie
Strahlt durch das nächt'ge Dunkel
Licht Meergefunkel,
Und in der Segel Tauen
Flattern die Vögel mit Liebesgrüßen.
Und Meerfrauen
Auftauchen,
Und sanfter fließen
Die Wellen, wie wenn Melodien
Umziehn des Schiffes Kiel.
...
Ein Riese, dessen Wimpel sanfter wehn ...

Schon rein visuell erscheint das Gedicht in drei große Abschnitte geteilt. Den ersten Teil nimmt das Bild des majestätischen Schiffes ein, das »umweht von des Sternenbanners Pracht« die Vereinigten Staaten versinnbildlicht. In weiterer Symbolik werden die Sterne dieses Banners zur Lichtquelle, die in ihrer Reinheit die »schwarzumwölkte Nacht« des Ostens durchstrahlt. Als »Riese, dessen Wimpel sanfter wehen«, durchfurcht das Schiff das Weltmeer. Sanftere Wellen umfließen seinen Kiel, Schutz und Sicherheit bietet es dem Helden, dem Ungarsohn. Gegenstand des zweiten Teiles ist Frankreich, für das Freiheit »vorüber, ein leerer Traum« geworden ist. Im dritten Teil steigt »das Bild der Hoffnung« aus den »dunklen Tiefen« des Meeres empor. Die Klänge, die aus den Fluten ertönen, sind Heldenworte, die himmelan führen. In den Schlußzeilen wird zum Sturm, wird zur Attacke geblasen:

Zum Sturm! Zum Kampf!
Durch Pulverdampf,
Durch Finsterniß,
Zum Sieg! O gewiß!
Für Den, Der will, giebt's kein Hinderniß.

Es ist keine große Leistung, das pflegen derartige Gedichte nie zu sein«, sagt Fittbogen über das Gedicht. Für seine Art aber können wir es als gut gelungen bezeichnen. Besonders im ersten Teil erfolgt die Bild- und Sinngestaltung in überzeugender Weise. Das Überwiegen der männlichen Reime, wechselnde Zeilenlänge und metrisch ungebundene Verse schaffen einen Rhythmus, der die Aussagen der Strophen sinnvoll unterstützt und das Majestätische eindrucksvoll hervorhebt. Die Alliteration der weichen W-Laute andererseits sowie der Wechsel zu weiblichen Reimen in der zweiten Strophe des ersten Teiles bewirken einen leichteren Rhythmus, der die milde Herrschaft einer demokratischen Regierung andeutet. Und wie der Staat auf seinem Volk ruht, so ruht das Schiff auf der endlosen See, deren Wellen »sanfter fließen«, aber auch »in stolzen Wogen das Schiff umrauschen«.
In einem anderen Gedicht, »Prolog nach dem Frieden des letzten Krieges«, das sie anläßlich der Eröffnung des Milwaukee-Stadttheaters dichtete, ehrt sie ihre deutschen Landsleute, die im amerikanischen Bürgerkrieg für die Freiheit und Gleichheit aller gekämpft hatten. Und sie fordert sie auf, in dem so schwer errungenen Frieden die Musen über ihre Taten singen zu lassen und eine Blüte der Künste herbeizuführen:

Wie Ihr die Freiheit führt' auf der Standarte
So hebet unter Eurer Freiheit Schutz
Empor, der alten Tyrannei zum Trutz,
Das Schöne, Ewige auf Eure Warte.

Sie besingt Milwaukee, die weiße Stadt, der sie voll Hoffnung eine große Zukunft als Athen des Westens voraussagt:

Wird eine neue Aera auferstehn,
Helleuchtend rein in unseres Nordlichts Flammen.
Und unsre Stadt in ihrem weißen Glanz,
Umsäumt noch von des Urwalds grünem Kranz,
Wird als ein Stern am Himmel scheinen.
Der Künste Tempel sei des Friedens Herd,
O, weiße Stadt, bleib Deiner Ehren wert,
Laß mit der Palme sich den Lorbeer einen!

Mathilde Anneke hatte mit ihren Versen manchen Erfolg, wie aus verschiedenen, im Archiv erhaltenen Briefen hervorgeht. So schreibt zum Beispiel Willibald Winckler, Redakteur der Belletristischen Blätter in Baltimore, Md., am 9. März 1867 an Mathilde:

  • ... sage ich Ihnen meinen verbindlichsten Dank für die eingesandten Gedichte, von denen das »Ständchen« und die »Alpenklänge« wirklich ganz reizend sind. Sie sind zu bescheiden, wenn Sie uns dieselben als »Lückenbüßer« anbieten, da die Verse selbst dem besten »Belletristischen Blatt« zur Zierde gereichen würden ...

Nur in ihren Gedichten bringt Mathilde Anneke Persönliches zum Ausdruck, das nicht in das Schema von »so allgemein als möglich« fällt, wie Heine ironisierend reimte. Das von Winckler gepriesene Gedicht hatte Mathilde 1867 verfaßt. Es lautet:

ALPENKLÄNGE
Nimm an die Schwingen mich, mein Aar!
Trag mich zum Horst hinan, zur Höh',
Auf daß - wo ich einst glücklich war, -
Zum stillen Thal ich niederseh!

Wie auch der Sturm mich wild umdräut
Dort oben, o mein dunkler Aar,
Du weißt, ich bin dem Sturm geweiht -
Drum nimm mich an Dein Schwingenpaar.

Die Harfe an das Herz geschmiegt
Sie hat zum Sturm mir aufgespielt -
Sie hat im Sturm mich eingewiegt,
Wie auch der Sturm im Herzen wühlt.

Drum nimm mich an Dein Schwingenpaar,
Mich und die goldne Harfe mein
Dort oben, o mein dunkler Aar
Will einsam ich - im Sterben sein.

Über ein anderes Gedicht lesen wir in einem Brief des amerikanischen Konsuls in Zürich, I. R. Fairlamb, der selbst ein schaffensreicher Komponist und Musiker war (zwei Briefe vom März 1865). Er spricht von den »wunderschönen Zeilen« des Gedichtes »Entblättert«, das ihn zu einer Komposition inspiriert habe, welche er als sein bestes Werk erachte. »Und nun, wie geht's mit unserm Operntext«, fragt er weiter und tut seine Wünsche und Ideen kund, die auf einen festen Plan Mathildes verweisen, eine Arbeit, die wohl begonnen, aber nicht zum Abschluß gebracht wurde. Aus dieser Zeit gibt es von Mathilde selbst nur einen einzigen Hinweis auf diese Arbeit: »Ich bin in außerordentlicher Tätigkeit. Mein Operntext geht gut vorwärts, der erste Akt ist beinahe komponiert.« (1.Jännar 1865) Sie hatte an diesem (oder einem neuen?) Operntext auch in Milwaukee gearbeitet.
Mathilde Anneke hatte schon seit längerem mit dem Gedanken gespielt, ihre »Poesien« in einem Sammelband herauszubringen. Cäcilie Kapp hatte sie dazu gedrängt, und auch Fritz Anneke schien es ihr vorgeschlagen zu haben (siehe Brief vom Juni 1868). 1870 stellte sie eine Gedichtreihe zusammen. In einem Schulheft mit der Titelseite »Trümmer und Efeu, eine Gedichtsammlung aus alter und neuer Zeit von Mathilde Franziska Anneke geb. Giesler, 1870«, stehen auf 45 Seiten 27 Gedichte in sauberer, klarer Kurrentschrift. Ein lückenloses Inhaltsverzeichnis geht den Gedichtseiten voran. Zur Herausgabe dieses Sammelbandes kam es jedoch nie. Wohl aber wurden viele dieser Gedichte einzeln veröffentlicht. So das oben besprochene »Vor Marseille«, »Prolog, nach dem Frieden des letzten Krieges«, »Der sterbende Unionssoldat«, »Ständchen«, »Entblättert«, »Alpenklänge« u. a.
Wie unter ihren Gedichten, so finden wir auch unter einigen ihrer Prosawerke tendenzlose Darstellungen. Eine Erzählung, »Als der Großvater die Großmutter nahm«, verfaßte Mathilde Anneke während ihres Schweizer Aufenthaltes und ließ sie in mehreren Zeitungen abdrucken. Sam. Lucas nahm sie in seine Elberfelder Zeitung auf und zahlte ihr »Thaler 22.15 in Bar«. Willibald Winckler erbat sich die Erzählung für die in Baltimore, Maryland, erscheinenden Belletristischen Blätter. Er stieß sich nicht daran, daß die Geschichte soeben erst in der Chicago Sonntagszeitung zu lesen war, »da hier die Chicagoer Blätter nicht circulieren«. Die uns erhaltenen Folgen erschienen in der Chicago Sonntagszeitung, »Sonntagsausgabe der Illinois Staatszeitung«. »Für die Enkel niedergeschrieben, aber dem Großmütterlein gewidmet«, kam die erste Folge am Sonntag, dem 24. Januar 1864, zum Abdruck, mit sieben Fortsetzungen bis zum 7. März des Jahres. Mathilde nennt die Geschichte »ein Sittengemälde meiner lieben westfälischen Heimat«. Als solches muß es gelesen werden und nicht als literarisches Kunstwerk. Es beschreibt das Leben auf Schloß Cappenberg und in der Umgebung und gibt ein eingehendes Bild vom Hochzeitsbrauchtum jener Zeit. Kern der Erzählung ist, wie bereits eingangs erwähnt, die Liebesgeschichte ihrer Eltern.
Die Mehrzahl von Mathilde Annekes Werken aber ist Tendenzliteratur, die vor allem für Zeitungen und Zeitschriften wie geschaffen war. Nur ein kleiner Teil ihrer literarischen Arbeiten fand als gebundenes Werk den Weg auf den Büchermarkt. So ihr Unterhaltungsroman Das Geisterhaus von New York, das Drama Oithono und die Memoiren des Jahres 1849. Dieses spannend geschriebene kleine Büchlein mit dem Titel Memoiren einer Frau aus dem badisch-pfälzischen Feldzuge kam 1852 in Newark, New Jersey, im Verlag der Newarker Zeitung ihres Mannes heraus, wurde 1918 von A. B. Faust in den German American Annais wieder abgedruckt und fand in unseren Tagen einen weiteren Nachdruck.[36] Es ist ein Werk, das nicht allein die Ereignisse des Schlachtfeldes schildert, sondern kritische Beobachtungen an Freund und Feind vornimmt und mit den betrübten Worten schließt: »Lebe wohl, deutsche Erde! Lebe wohl, mein armes unglückliches Mutterland!«
Bald nach dem Druck dieser Memoiren schloß Mathilde Anneke in Amerika mit der Vergangenheit und den Erinnerungen ab und wandte sich den Problemen der neuen Heimat zu. Unter dem Eindruck der politischen Situation vor dem amerikanischen Bürgerkrieg beschäftigte sie sich, neben dem Kampf um Frauenrechte, speziell mit der Sklavenfrage. Entwürfe zu einigen Erzählungen mit diesem Thema nahm sie vielleicht schon auf ihre Reise in die Schweiz mit.
Während ihres Schweizer Aufenthalts schrieb Mathilde Anneke verschiedene Sklaven-Novellen, in denen sie beabsichtigte, speziell das Los der Frau - ihr zweifaches Joch - in der Sklaverei darzustellen. Die Geschichten sollten gesammelt unter dem Titel »Gebrochene Ketten« erscheinen. In ihrem Brief vom 2. August 1863, schreibt sie darüber:

  • Mary und ich wollten gemeinschaftlich, unter dem Titel »Gebrochene Ketten«, ein Bändchen amerikanischer Erzählungen herausbringen. Sie ist glücklich im Erfinden, aber nicht im Benutzen des Stoffes. Den verarbeite ich besser, wie die »Sklavenauktion« seinerzeit, die in vielen Journals erschien, gezeigt hat. Marys Reise und ihr Unwohlsein halten uns in den Plänen auf.

Zur Herausgabe ist es aber nicht mehr gekommen. Wir müssen daher ihre Erzählungen, die in Zeitungen Deutschlands und Amerikas verstreut gedruckt wurden, einzeln ausfindig machen. Die Novellen erschienen in den Unterhaltungsbeilagen der Zeitungen und richten sich propagandistisch an das Gewissen der Welt. Gesichert kennen wir drei Erzählungen dieser Art, die unter Mathilde Annekes Namen veröffentlicht wurden: »Die Sclaven-Auction«, »Gebrochene Ketten« und »Uhland in Texas«, letztere größeren Umfangs und von Mathilde Anneke als »kleiner Roman« bezeichnet. Ferner liegt ein unveröffentlichtes Manuskript mit dem Titel »Der Sturmgeiger« in der Anneke-Sammlung vor, das sie als dreibändigen Roman angelegt hatte und als ihr liebstes Werk betrachtete. Über diesen Roman sagt sie: »Er schildert getreu echt amerikanische Situationen.« Der Verleger Costenoble plante bereits, ihn in drei Bänden herauszubringen (Brief 21. Dez. 1864). Ein Jahr vorher hatte »Mary schon einzelne Bruchstücke übersetzt, die im Daily Life mal erschienen« (Brief 20. Dezember 1863).
Eine weitere Erzählung, »Die Sclavin - ein amerikanisches Nachtstück«, erschien ohne Verfassernamen in der Philadelphia Tageszeitung Freie Presse. Der Zeitpunkt des Erscheinens fällt mit Mathilde Annekes öffentlichem Auftreten in dieser Stadt zusammen, mit ihren Reden über Frauenrechte im Oktober 1852. Ihre Ansprachen wurden in derselben Zeitung angekündigt und ausführlich besprochen. Diese Tatsache sowie Thema, Stil und Wortschatz der Geschichte lassen mit einiger Sicherheit vermuten, daß auch diese Erzählung aus ihrer Feder stammt. Ein weiterer Anhaltspunkt ist auch die Verwendung der Bezeichnung »Äthiopier« für Neger, was wir in Mathilde Annekes Schriften öfters finden, seltener jedoch anderswo. Der Name des Helden in dieser Geschichte ist Alfons - wie auch in der von ihr geschriebenen Erzählung »Die Sclaven-Auction«.
In allen diesen Erzählungen, sei es als Hauptthema, sei es als beigeordnete Episode, sind schöne schwarze Mädchen Gegenstand sexuellen Appetits weißer Lüstlinge. In »Die Sclavin« wie in »Die Sclaven-Auction« ist der Handel um ein Sklavenmädchen Mittelpunkt der Erzählung. Häufig verbindet Mathilde Anneke die reale Existenz einer bekannten Persönlichkeit mit dem erfundenen Stoff ihrer Erzählung und versucht, auf diese Weise einen höheren Grad an Glaubwürdigkeit zu erreichen. Aber auch propagandistischen Zwecken dient diese Erzählweise, wie besonders im Fall von Gerrit Smith, der als Symbol für den Abolitionismus galt. Gerrit Smith, Kongreßabgeordneter des Staates New York, hatte sein bedeutendes Vermögen in den Dienst der Sklavenbefreiung gestellt. Mathilde Anneke war mit Gerrit Smith persönlich bekannt. Wiederholt lesen wir in ihren Briefen über Besuche und Zusammenkünfte mit ihm. »Die Sclaven-Auction« kontrastiert sein gütiges Verhalten mit den herrschenden Sitten und Typen der Sklavenhalter und setzt ihm dadurch ein ehrendes Denkmal. Diese Erzählung reiht Schilderung an Schilderung von Demütigungen und Leiden der Sklaven, vor allem der Sklavinnen, und von der Arroganz, Brutalität und Lüsternheit der Sklavenhalter. Mathilde Anneke macht dem Leser gewisse Zustände eindringlich bewußt: ... er sagte mit halb gedämpfter Stimme: »Ich kann lesen«... Um die Bedeutung dieses Ausspruchs ihrer Leserschaft in Europa verständlich zu machen, fügte sie noch hinzu:... daß die Kunst des Lesens zu den größten Verbrechen der amerikanischen Sclaven im Süden Amerika's gezählt wird ... und Niggers dürfen sich selbst nicht »Männer« nennen, Massa! Offen bleibt, ob sich Sklavinnen »Frau« nennen dürfen. Sie läßt Alfons, den Helden der Geschichte, über seine Familienverhältnisse erzählen: Wir beide, meine kleine Schwester und ich, waren Kinder des alten Massa ... Man erfährt, daß Alfons' Mutter als Mätresse neben ihrer Herrin im Hause wohnt.
Alfons' Schwester Lili ist ein besonders liebreizendes Mädchen, was man bald auszunutzen hofft:

  • ... einstmals hörte die Mutter sie sagen, daß Lili nicht mehr weit davon wäre, einen sehr hohen Preis als Maitresse zu bringen. Mutter sah ein, wofür sie ihr Kind geboren hatte, sie sah, daß sie ihr eigenes Leben noch einmal in dem Leben ihres Kindes durchleben sollte, und sie wußte, daß es nicht recht war, und wußte, daß nichts auf der ganzen Erde sie davon erlösen würde ...

Eines Tages führt die Mutter die Kinder an einen Bach, wo Lili Blumen pflückt und ein Kränzchen windet. Wie zufällig stößt sie das Mädchen von dem erhöhten Ufer in das Wasser, das ihm die düstere Zukunft hinwegschwemmen soll. Als das Mädchen vor die Herrin des Hauses gebracht wird, bedauert diese nur, daß der Tod Lilis einige Hunderter weniger in der Aussteuer ihrer Tochter bedeutet.
Alfons, dessen Mutter kurz nach diesem Unglück stirbt, verliebt sich in Isabella, eine andere schöne Sklavin des Hauses. Im zweiten Teil der Erzählung ist sie Handelsobjekt bei einer Sklavenauktion. Mathilde Anneke schildertdas rohe Gebaren beim Hergang der Auktion. Es war zu ihrer Zeit nicht üblich, ordinäre Redensarten realistisch wiederzugeben, doch gelingt es ihr, die Atmosphäre anzudeuten. Sie schreibt von »pöbelhaftesten Ausdrücken« und zitiert in Anspielungen: »Ihr findet nicht eine so schmucke Dirne mehr, nicht für den Zweck, wofür ich sie euch anbiete.« Den Effekt solcher Reden spiegelt sie in den Reaktionen der Zuschauer wider, an dem grunzenden Hohngelächter, das durch die vertierte Versammlung zog. Die Unmenschlichkeit der Versteigerung beschreibt sie weiter durch die damit verbundenen Verhältnisse:

  • Ein sogenannter Sclavenstall - »Sclavepen« ― ist eine aus rohen Brettern notdürftig zusammengeschlagene Bude, wie wir sie in Europa an Markttagen temporär für Kühe, Schweine oder Kälber aufführen würden. Die zu verkaufenden Sclaven werden nach diesen Plätzen der Schmach und der Schande für das ganze Land, haufenweise, mit eisernen Ketten zusammengefesselt hingetrieben und müssen hier bleiben, bis sie durch den schrecklichen Klang des metallenen Hammers abberufen und von einer Kette erlöst werden, um gleich darauf in eine andere, vielleicht schwerere, wieder geschmiedet und in entsetzlichere Knechtschaft noch als vorher geführt werden.

Während die Geschichte Alfons' in der ersten Erzählung, »Die Sclavin«, einen tragischen Ausgang nimmt, sieht Alfons in der »Sclaven-Auction« einer glücklichen Zukunft entgegen. Gerrit Smith erscheint als Retter und verhilft Alfons und Isabella zu einer eigenen Farm im Norden der Staaten. »Die Sclaven-Auction« erschien 1862 in fünf Fortsetzungen in Didaskalia,[37] aber auch »in vielen anderen Journalen«, wie Mathilde Anneke am 2. August 1863 ihrem Mann berichtet. Im folgenden Jahr veröffentlichte sie in der Sonntagsbeilage des Milwaukee Herold [38] eine weitere Erzählung, »Gebrochene Ketten«. Auch hier ist die Sklavin als Sexobjekt Hauptthema, Kindesmord aus Verzweiflung über die Zukunft der Kindes ein Nebenmotiv der Erzählung. Im Archiv liegen zwei Fassungen dieser Erzählung, eine handschriftliche und eine im Typoskript. Bemerkenswert ist, daß der Handschrift - von Mathilde eigenhändig geschrieben - jene vielen klischeehaften Epitheta ornantia fehlen, die dem Typoskript angefügt wurden und dadurch den Stil verkitschen. Vom literarischen Standpunkt her gesehen ist diese die beste ihrer Erzählungen und soll daher einer gründlicheren Betrachtung unterzogen werden.[39]
Im Mittelpunkt der Handlung steht Lelia, eine junge, bildschöne Negerin, die von ihrer Herrin, der eben verstorbenen Lady Kingsbury, wie ein Kind des Hauses erzogen und geliebt worden war. Die verheiratete Tochter der Verstorbenen, Mrs. Randall, die danach strebt, Lelia in ihren Besitz zu übernehmen, hatte diese »Verzärtelung« einer Sklavin mißbilligt und beabsichtigt nun, Lelia Sklavenarbeit und Sklavenbehandlung zukommen zu lassen, »wie es sich gehört«. Auch der verheiratete Sohn des Hauses, Allen Kingsbury, beansprucht Lelia für sein Erbteil. Seine Absicht ist es, Lelia zu seiner Mätresse zu machen. Entschieden wird der Streit der Geschwister durch die Nachricht von der gesetzlichen Befreiung der Neger.
Im Herausgreifen und Gegenüberstellen zweier Momente, dem der tiefsten Erniedrigung und dem des höchsten Triumphes, wird eine ganz bestimmte und genau kalkulierte Rezeption erreicht. Das Entsetzen, Sklave zu sein, nicht über sein eigenes Leben bestimmen zu können, vollzieht der Leser mit Lelia in gemeinsamer Erkenntnis. Die ganze Tragweite eines solchen Schicksals wird dem Bewußtsein des Lesers eingeprägt. Nicht distanziertes Mitleid mit dem geplagten Menschen irgendwo im Süden, sondern schlagartiges Begreifen und Miterleben der Situation im Ich-Erlebnis ist der psychologische Effekt. Die Erzähl-Situation ist die eines allwissenden Erzählers, doch wird der Blickpunkt so sehr auf Lelia konzentriert, daß der Eindruck einer personalen Erzählweise [40] entsteht. Die Perspektive führt vom Erzähler zu Lelia und zur Identifikation des Lesers mit ihr. Die erzählte Zeit erstreckt sich auf nur zwei Tage. Am ersten werden wir unseres Sklaventums bewußt, am zweiten erleben wir unsere Befreiung. Nicht eine juristisch abstrakte Feststellung wird registriert, sondern wir werden in das individuelle Geschehen mitverwebt.
Die Demütigung Lelias erfolgt in der Peripetie, in der strukturellen Mitte der Erzählung, und erfolgt auf doppelte Weise: als Schwarze durch Mrs. Randall, als Frau durch Allen Kingsbury. Allens Erklärung, daß er Lelia für sich als Mätresse sichern will, verstärkt die Verzweiflung und Erniedrigung.
Lelias Widerstreben ist geschlechtsbedingt, geht so weit, daß sie sich der grausamen Mrs. Randall zu Füßen wirft, und um die »Gnade« fleht, lieber deren Sklavin werden zu dürfen, als im goldenen Käfig Mätresse zu sein. In Lelia kulminiert der Begriff Sklaverei. Durch sie erleben wir Sklaventum, Abhängigkeit und Erniedrigung im stärksten Maße, denn sie ist Frau. Allen Kingsbury, der Mann, ist der Vertreter einer Gesellschaft, die die Frau vor allem als sexuelles Wesen sieht. Ihre Erniedrigung durch ihn ist in ihrem Frausein begründet. Lelia ist Sexobjekt, ist Ziel seiner animalischen Begierde und steht ihm aufgrund eines Gesetzes zu, das auf Zustände primitiver Vorzeit zurückgeht.
Das Schicksal der anderen Sklaven, die in der Erzählung eine Rolle spielen, wird nur gestreift, doch stehen die Figuren als Typen für viele andere: Der aufbegehrende schwarze Junge, das junge Liebespaar, dessen Trennung zu befürchten ist, die schwarze Mutter, der jedes ihrer fünf Kinder »in zartester Jugend von ihrem Herzen gerissen« und in die Sklaverei verkauft wurde. Und ehe sie das letzte, das sie nun in den Armen hält, denselben Weg gehen lassen soll, macht sie ihm lieber selbst ein Ende. Mrs. Randall beschuldigt die Sklaven der Gefühllosigkeit, muß aber Lelias Antwort schweigend hinnehmen:
Weil ihre Gefühle mächtiger wie die Eurigen und ihr Herz opferfähiger, so konnte sie es ruhiger und gottgefälliger in ihren Armen zum sanften Tode, denn zur fluchwürdigen Sklaverei eingehen sehen.
Das Thema Sklaverei führte Mathilde Anneke in ihrem »kleinen Roman« weiter, den sie ebenfalls um diese Zeit, während ihres fünfjährigen Aufenthaltes in der Schweiz, zur Zeit des amerikanischen Bürgerkrieges schrieb. Seit acht Tagen arbeite ich nun Tag und Nacht an einem kleinen Roman, »Uhland in Texas«, schreibt sie am 20. Dezember 1863 an ihren Mann. Und genau ein Jahr später berichtet sie er liegt fertig da.
Auch an diesem Roman wirkte Mary Booth mit. In mehreren Briefen berichtet Mathilde Anneke über diese Zusammenarbeit. Das Verfasserproblem schien Mathilde durch Marys Tod als gelöst betrachtet zu haben, der Roman erschien lediglich unter ihrem Namen, obwohl sie sich darüber Gedanken machte, wie aus ihrem Brief vom 21. Dezember 1864 an Fritz Anneke hervorgeht: An »Uhland in Texas« hat Mary Teil - namentlich in der Erfindung - in der Anlage, die nicht gerade meisterhaft ist. Die Ausführung gehört mir. Wie sie es mit der Autorschaft will gehalten haben, kannst Du sie fragen. Ich habe auf dem Titel: Ein deutschamerikanisches Lebensbild aus Texas von M. F. Anneke und Mary Booth. Ein kleines Vorwort sollte das erklärt haben bei einer Ausgabe als Buch. Den Gedichten nach zu schließen, die Mary Booth in dem Sammelband Wayside Blossoms herausgab, gewinnt man nicht den Eindruck, daß das Talent Mary Booth' einen wesentlichen Beitrag zu Mathilde Annekes Dichtung leisten konnte. Wahrscheinlich war Mary die bessere Kennerin faktischer Ereignisse aus der Sklavenzeit und Mathilde, wie sie schreibt, die Gestalterin der Erzählung.
Der Druck in Buchform kam jedoch nicht zustande. Im gleichen Brief beklagt sich Mathilde über das Verhalten des Verlegers: Der vorliegende Roman, »Uhland in Texas« ist so lang wie das »Geisterhaus«. Er war ursprünglich für eine deutsche Ausgabe bestimmt und auch verkauft für hundert Taler. Allein, da der dumme Buchhändler, der mittlerweile mit dem Schleswig-Holstein Schwindel Spekulation trieb, ihn mindestens acht Monate zurücklegen wollte, so zog ich ihn zurück. Das traf gerade in die Zeit, wo die Verleger ihre Wahl für Oster- und Herbstmessen schon getroffen, und es ging mir wie Dir, zu spät für das eine wie für das andere zu kommen. So bemühte sich Mathilde dann auch nicht mehr um einen anderen Verleger, sondern sandte das Manuskript kurzweg nach Amerika ab, um es dort als Zeitungsroman zu veröffentlichen. Das geplante Vorwort fiel dadurch weg. Das erste Kapitel von »Uhland in Texas« erschien am 15. April 1866 in der Sonntag-Ausgabe der Illinois-Staatszeitung und wurde Sonntag für Sonntag weitergeführt bis zum Erscheinen des Schlusses am 3. Juni 1866. Der Roman ist eine Mischung von Erfindung, Tatsache und Agitation. Der Titel bezieht sich auf
eine deutsche Ansiedlung, die kurz vor dem Sezessionskrieg in der Gegend von Indianola in Texas gegründet worden war und den Namen »Uhland, dem deutschen Dichter, dem Freunde und Genossen zur Ehre« trug. Zentrales Thema der Erzählungen ist wiederum die Sklavenfrage, doch greift Mathilde nun weiter, über das individuelle Schicksal einer einzelnen Figur hinaus zu historischen und politischen Zusammenhängen. So lernen wir die Auffassung der Sklavenhalter in den Südstaaten kennen, wo selbst humane Sklavenbesitzer meinen, die Sklaverei von der Bibel herleiten zu können; sie widersetzen sich den abolitionistischen Bestrebungen des Nordens, die Sklaverei abzuschaffen: Was tut die ihnen zu leid? Ich denke, wir kümmern uns nicht um die Institutionen des Nordens, was hat er sich in unsere zu mischen f läßt Mathilde Anneke die hübsche Marianne, Tochter des Hauses, fragen. Sie zeigt, wie sich an dieser Frage die Meinungen teilen und eine Trennungslinie entsteht, die sich durch Familien, kirchliche Gemeinschaften, Freundschaften und Siedlungen zieht und schließlich zum brutalsten Bruderkrieg führte. Ihrer Gesinnung entsprechend stellt sie in Kontrasten, in Schwarz-Weiß-Malerei dar, die die Sache der Südstaaten als eindeutig verworfen, die der Union als richtig und gut schildern. Denunziationen gegen Sklavenfreunde, Jagd nach Nordländern, Brutalitäten Weißer untereinander und gegen Schwarze, Debatten über die »göttliche Institution« der Sklavenhaltung fügen sich in Motiven und Bildern zur Gesamtheit des Romans.
Auch hier ist wieder eine Episode eingeblendet, die die demütigende Behandlung der Frauen zeigt. Der Bräutigam Mariannes kauft sich kurz vor der geplanten Hochzeit Flora, ein schönes Sklavenmädchen, das ihm zu Willen sein muß. Wieder ein Bild als Hinweis und Agitation gegen die mindere Stellung der Frau nicht nur als Sklavin, sondern auch als Gattin.
Das Schicksal der Deutschen in Texas ist ein weiteres Thema des Romans. Deutsche werden als Sklavenfreunde erkannt und verfolgt. Sie schließen sich in befestigte Plantagen ein, nehmen Landsleute in ihr geschütztes Asyl auf und rüsten sich zur bewaffneten Verteidigung. Dutchmen and Nigger, alles ein Teufel, sagen die Sklavenhalter von ihnen und üben an ihnen die gleichen Grausamkeiten aus wie an den Negern. Ein Deutscher und ein ihm anhängender Neger werden mit Stricken an die Hufe eines wilden Pferdes gebunden und in die Steppe gejagt. Ein Indianertrupp bringt das Pferd zum Stehen, und es wird berichtet, wie sie erstaunt waren über die Barbarei, die aus dem Bereich der gepriesenen Civilisation ihnen entgegen getragen ward. Mathilde Anneke fügt hinzu:

  • ... daß diese Art und Weise eine durchaus nicht ungewöhnliche (war), in der man an den treuen Unionsfreunden und freien Negern des Landes Rache nahm. Die Annalen zählen Beispiele auf, die an Entsetzlichkeiten unsere Erzählung weit überragen und die zu melden wir der Geschichte allein überlassen wollen.

Gerrit Smith wird wieder als edler Menschenfreund und Held jener Tage genannt. Ein Zeitungsbericht wird vorgelesen, der die Meldung bringt, daß Gerrit Smith aus eigenen Mitteln ein Schiff, mit Kleidern und Lebensmitteln ausgerüstet, persönlich nach Texas begleitet habe, um den armen Sklaven und loyalen Bürgern, von denen er weiß, daß sie größtenteils Deutsche sind, zur Hilfe zu eilen. Das Schiff aber wurde vor New Orleans gekapert. In der Fußnote wird dieser Bericht als historische Tatsache bestätigt:

  • Um den geschichtlichen Fortgang in dieser sich wirklich zugetragenen Affaire anzudeuten, bemerken wir, daß der edle Gerrit Smith durch Androhungen des tapferen General Butler, der damals New Orleans besetzt hatte, aus den Händen der südlichen Piraten und Mörder gerettet wurde.

Neben Gerrit Smith führt Mathilde Anneke auch andere persönliche Bekannte ihres Kreises ein. Zum Beispiel preist sie das Werk Sobolewskys, jenes Komponisten, der sich in Milwaukee niedergelassen hatte und mit dem sie auch befreundet war. Wir lesen in ihren Briefen an Fritz Anneke des öfteren über ihn. So berichtet sie im November 1859 über eine Soiree in ihrem Hause, wo Sobolewskys sehr schön musizierten. Der alte Meister und ich führten »Hiawatha«, ein sehr schönes Melodrama, auf, das allgemein entzückte. An anderer Stelle berichtet sie von der Uraufführung seiner Oper Mohega, die Blume des Waldes, wofür Mary Booth ein originelles Kostüm nähe. Und Mary Booth wird Indiana genannt, wie die Schwestern Mariannes im Roman. Wie Mary, so haben auch die zwei Schwestern in dem Roman indianisches Blut in den Adern. Es wird darauf angespielt, daß sie die Enkelkinder der Prinzessin Pokahonta seien. Die Geschichte Pokahontas ist in der deutschen Literatur jener Zeit wiederholt behandelt worden.[42] Auch Mathilde Anneke schrieb darüber eine Novelle, die sie an die Kölnische Zeitung schickte,[43] die aber anscheinend auf dem Wege dorthin verloren ging.
Die sprachliche Gestaltung all dieser Sklaven-Erzählungen stellt keine hervorragende schriftstellerische Leistung dar. Die Behandlung des Stoffes nach Stil, Wortwahl und Bildelement weist die Geschichten in den Bereich der Trivialliteratur. Da ist kaum ein Substantiv, dem nicht ein Attribut vorangestellt ist, Adjektive und Genitive, die das Bild zum Stereotyp stempeln. Endlose, oft ungeschickte Relativsätze bewirken eine holprige Ausdrucksweise. Zwar wird im Verlauf des Erzählens die Sprache natürlicher und damit wirkungsvoller, besonders wo die Gefühlsäußerungen der einfachen Leute zu Wort kommen:
Sie schlug ihren mächtigen dunklen Arm um den Nacken ihres braven Gatten und sagte im seligsten Tone: »Alter Mann, Herr Gott, sei gesegnet, wir werden nicht als Sklaven sterben.«
Im gesamten aber bleibt in allen Novellen ein trivialer Ton im Vordergrund. Wenn das Wesen des Kitsches im künstlerischen Nichtauthentismus [44] liegt, so trifft jener Begriff ohne Zweifel auch auf den Stil dieser Erzählungen zu. Vom Formalen her gesehen handelt es sich um Feuilletons, die in jenen Jahren gerade ihre Blütezeit erlebten. Das Feuilleton
im engsten und eigentlich literarischen Sinn ist die aus aktuellem Geschehen und individuellem Erleben geborene Kunstform höchst subjektiver Prägung, die sich durch die Form und Stilelemente ihrer Zeit bestimmt, dem literarischen Tagesbedürfnis eines Publikums (Leserkreis) anpaßt...[45]
Dieses Publikum war im Fall Mathilde Annekes die Lesergemeinde der Gartenlaube oder der Sonntagsbeilage von deutsch-amerikanischen Tageszeitungen. Der für das Feuilleton so charakteristische Plauderton herrscht in allen ihren Erzählungen vor, und allzuoft grenzt er an das Banale, wofür die Anfangskapitel des Romans Uhland in Texas ein typisches Beispiel sind. Was über »die dürftige ästhetische Qualität« der deutsch-amerikanischen Literatur im allgemeinen gesagt wurde, trifft auch auf die Werke Mathilde Annekes zu. Es wäre aber verfehlt, wollte man ihr schrittstellerisches Schaffen allein mit dem Maßstab der Ästhetik messen. »Das Salz der Ästhetik ist nur eine von vielen Zutaten und nicht immer die wichtigste.«[46] Denn wo sie sich inhaltlich mit der neuen Umgebung auseinandersetzt, wo sie Partei nimmt und mitgeht mit jenen Auseinandersetzungen, denen sich jeder amerikanische Bürger zu stellen hatte, wächst sie über das hinaus, was A. B. Faust für die deutsch-amerikanische Literatur feststellt, daß sie von mehr historischem als von literarischem Interesse sei.[47] Hätte A. B. Faust »Gebrochene Ketten« gekannt, hätte er Mathilde Anneke aus diesem begrenzenden Urteil ausgeklammert. Natürlich sind ihre auf Umwelt und Zeitgeschehen bezogenen schriftstellerischen Arbeiten von historischem und soziologischem Interesse. Darüber hinaus handelt es sich aber um Arbeiten, die die Möglichkeit bieten, sich durch Literatur kritisch mit der Umwelt auseinanderzusetzen, durch Literatur eine Erweiterung und Intensivierung seiner Wahrnehmungen zu erfahren, in Literatur von einem selbst oder seiner sozialen Gruppe ungelebte und bisher unerlebbare eigene und soziale Möglichkeiten zu erfahren.[48]
Es fragt sich nun, wo Mathilde Anneke den Stoff für diese Erzählungen fand. Die Gegend, in der sie lebte, die Staaten, die sie bereiste, die Kreise, in denen sie sich bewegte, waren alle frei von Sklavenhaltung. Entscheidend in dieser Hinsicht ist das Erscheinungsjahr 1852 für ihre erste Sklavenerzählung. In demselben Jahr war Harriet Beecher-Stowes Onkel Toms Hütte herausgekommen und hatte großes Aufsehen erregt. Mit Sicherheit kann man annehmen, daß auch Mathilde Anneke das Buch gelesen hat. Zudem gehörte Beecher-Stowe den abolitionistischen Kreisen an, mit denen Mathilde Anneke aufgrund ihrer feministischen Aktivitäten zusammengetroffen war. Harriet Beecher-Stowe war die Schwester des bekannten Abolitionisten Henry Ward Beecher, der auch in der Frauenbewegung eine führende Rolle spielte. Man wird nicht fehlgehen in der Annahme, daß Mathilde Anneke aus diesem Buch Anregungen gewann - ebenso wie Mary Booth, die ja an der »Erfindung« dieser Geschichten beteiligt war. Die gleichen Motive, speziell solche, die von den Leiden der Frauen und Mütter handeln, von der Zersplitterung der Familie, Trennung der Liebenden, Kindesmord aus Verzweiflung, sexuelle Ausbeutung usw., erscheinen leicht variiert auch in Mathilde Annekes Erzählungen. Anders als bei Harriet Beecher-Stowe fehlt bei ihr jedoch der religiöse Unterton, jene gottergebene »Onkel-Tom«-Haltung, die heute so beurteilt wird. Das passive Sich-Ergeben und Trösten durch den christlichen Glauben, wird durch aktiven Widerstand von seiten der Schwarzen ersetzt. Allerdings tritt diese Auflehnung nur bei Männern, sogar Knaben zutage. Söhne, Brüder, Verlobte der gequälten Frauen schreiten zur Tat; die Frauen bleiben passiv. Das verwundert, da doch gerade Mathilde Anneke immer wieder die Frauen zur Aktivität, zur Mitarbeit aufrief: ... sie muß mithelfen, wenn der Sieg gelingen soll.
Während der Stoff der erwähnten Erzählungen meist frei von ihr erfunden wurde oder sich an ähnliche Erzählungen anlehnte, schrieb Mathilde Anneke auch Feuilletons, die dem Inhalte nach Reportagen über tatsächlich erfolgte Ereignisse vor und während des amerikanischen Bürgerkrieges darstellen. In diesen Reportagen verzichtet sie auf feministische Propaganda und konzentriert sich darauf, die Welt von Recht und Gerechtigkeit der Union, von dem Unrecht und der Verworfenheit der südstaatlichen Sache zu überzeugen. »Novellen« nennt sie auch diese Schilderungen. Eine Eintragung in ihr Tagebuch vom 8. Januar 1863 lautet: An »Didaskalia«: Zwei Novellen über Butler. Eine solche »Novelle« mit dem Titel »Major Anderson und Fort Sumpter« in der Augsburger Allgemeinen [49] berichtet in erzählerischem Detail von dem entscheidenden Entschluß Major Andersons, sich auf Fort Sumpter zurückzuziehen und sich dort mit seinen Leuten einzuschließen. Eine »Novelle«, »Der Tod des amerikanischen Oberst Elmer Elsworth«,[50] schildert das Ereignis, das nicht in offener Feldschlacht, sondern durch die meuchelmörderische Hand eines schleichenden Verräters erfolgte, als das erste bedeutende Opfer im gegenwärtigen Freiheitskampf der Amerikaner. Bei dem überraschenden Überfall auf Alexandria durch die Armee der Union will Elsworth die ihm so verhaßte Sezessionsflagge ... von den Zinnen eines großen Hotels reißen und wird vom Hotelbesitzer erschossen. Dieser ist der berüchtigte Jim Jackson, ein notorischer Bully, der Schrecken aller Sclaven des Districts. In dem Mörder und seinem Opfer stehen sich die beiden politischen Lager symbolisch gegenüber. Elsworth, der Offizier der Union, als edler Mensch für die Befreiung der Sklaven kämpfend, Jackson der Unmensch, die göttliche Institution der Sklaverei verteidigend. Mathilde Annekes Erzählweise nimmt Partei, ist Agitation. Weil sie Elsworth' Handlung gutheißt, nennt sie den andern, der sein Haus verteidigt, Meuchelmörder. Sie versucht den Leser zu bewegen, mit ihr Partei zu nehmen, indem sie Jim Jacksons Greueltaten schildert, die er und seine Familie an Sklaven verübt hatten.

Neben diesen feuilletonistischen Arbeiten verfaßte Mathilde Anneke auch sachliche, weniger anekdotenhafte Berichte über politische Ereignisse, historische Abhandlungen usw., die sie bei verschiedenen Zeitungen, zum Beispiel in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, im Morgenblatt für gebildete Leser, in Das Ausland usw. veröffentlichte. Wie in den »Novellen« stellt sie sich in diesen Berichten auf die Seite der Union, nimmt aggressiv Partei gegen die Sache der Sklavenstaaten. Unter dem Titel »Die Spaltung der nordamerikanischen Union« schreibt sie im Ausland über die politische Lage der Vereinigten Staaten und stellt gleichzeitig ihre eigene Auffassung dar.

  • Die Drohung der Sklavenhalterbarone, sich von der Union zu trennen, ist in der Geschichte der Vereinigten Staaten durchaus nichts Neues. Diese Drohung, welche ihre Creaturen in den freien Staaten pflichtschuldigst wiederposaunten und bis aufs äußerste ausbeuteten, ist seit einer Reihe von Jahren eines der hauptsächlichsten Mittel gewesen, mit welchen sie bis jetzt die Union beherrscht haben. Als im Jahre 1856 zum ersten Mal ein republicanischer Präsidentschaf ts-Candidat aufgestellt wurde, tönte das Geheul: »die Union ist in Gefahr, wenn die schwarzen Republicaner siegen ...«, und die Zahl derjenigen, welche sich durch diesen Popanz ins Bockshorn jagen ließen, war nicht gering, namentlich unter den deutsch-amerikanischen Micheln ...[51]

Über Lincoln macht sie in diesem Artikel eine Feststellung, die eine Erklärung dafür liefert, warum wir in ihren und in Fritz Annekes Briefen nichts Positives über ihn lesen:

  • Lincoln wird indessen von diesem Recht und von dem moralischen Einfluß, den er auszuüben im Stande ist, nur einen sehr bescheidenen Gebrauch machen. Er gehört der conservativen Fraction der republicanischen Partei, dem rechten Flügel derselben, an und wird es sich angelegen seyn lassen, den Süden in keiner Weise zu reizen, sich in keiner Weise mit ihm zu überwerfen.

Ihren eigenen Standort lokalisiert sie in der Beschreibung der Republikanischen Partei:

  • Die republicanische Partei besteht aus sehr verschiedenartigen Elementen. Während sich der rechte Flügel derselben mit der Forderung begnügt, daß der weiteren Ausbreitung der Sklaverei Schranken gesetzt werden sollen, verlangen die weitergehenden Fractionen, daß kein Sklavenstaat mehr in die Union aufgenommen, daß das schmachvolle Sklavengesetz widerrufen und daß die Sklaverei im District Columbia, der unmittelbar unter der B undesregierung steht, aufgehoben werden soll. Die äußerste Linke, welche einen sehr zahlreichen Theil der Partei bildet, zu der sich mit der Zeit fast alle Deutsch-Amerikaner schlagen werden, und die mehrere der hervorragendsten Männer zu den ihrigen zählt, geht noch einen Schritt weiter und verlangt die gänzliche Aufhebung der Sklaverei. Sie unterscheidet sich von den Abolitionisten nur dadurch, daß sie eine allmähliche Aufhebung auf verfassungsmäßigem Wege will, während diese für sofortige Aufhebung mit allen Mitteln sind.

Diese Abhandlung ist eine gründliche Darstellung des Konfliktstoffes, der mit der Zeit zwischen Norden und Süden gewachsen war. Zurückgehend auf die Verfassung bringt Mathilde Anneke die Interpretation der beiden Lager hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zur Union und verfolgt die einzelnen Etappen der Geschichte, die zur Ausbreitung der Sklaverei, ihrer Duldung und ihrer Unterstützung im gesamten Gebiet der Vereinigten Staaten führte.
Die meisten ihrer Artikel erschienen in der Augsburger Allgemeinen oder anderen Cotta-Lieferungen. Seit den Tagen, da sie über den Erzbischof Clemens August, Reichsfreiherr von Droste zu Vischering berichtet und sich damit den Unwillen Annette von Droste-Hülshoff zugezogen hatte,[52] war sie Korrespondentin der Augsburger Allgemeinen. Noch zwanzig Jahre später finden wir ihren Namen als Mitarbeiterin an dieser Zeitung im Honorarbuch des Cotta Verlages. Die Augsburger Allgemeine war eines der angesehensten Blätter jener Zeit. Die bedeutendsten Köpfe hatten sich um das Privileg bemüht, in der Augsburger Allgemeinen veröffentlichen zu können. Heine hatte für dieses Blatt geschrieben und es als das wichtigste Organ der europäischen Presse gesehen, als eine Zeitung, »die mit Recht eine Allgemeine Weltzeitung genannt wird und vielen hunderttausend Lesern in allen Landen belehrsam zu Händen kommt«.[53] Mathilda Anneke verfügte als Journalistin über eine geradezu unbegrenzte fachliche Breite der Berichterstattung. Blättert man in den Seiten dieser oder in den zahllosen anderen Zeitungen, für die sie geschrieben hat, so staunt man über die Vielfalt aber auch die große Zahl ihrer Beiträge. Sie verwendet in ihnen einen sachlicheren Stil und eine natürlichere Sprache als in manchen ihrer Gedichte oder Prosawerke, wo ihre blümchengespickten Metaphern, selbst gemessen an dem damals üblichen Bildervorrat, oft exaltiert erscheinen. In ihren Reportagen gelingt ihr manch guter Wurf, was ihr die Anerkennung Cottas auch in finanzieller Hinsicht einbrachte. Übrigens geben die Honorarbücher Cottas ein aufschlußreiches Bild über seine Haltung den Mitarbeitern gegenüber. Vor allem merkt man, daß er sich in der Bemessung des Honorars nicht davon beeinflussen ließ, ob es sich bei einem Autor um einen Mann oder eine Frau handelte. Auch seine soziale Einstellung ist aus den Geschäftsbüchern ersichtlich. Als Mathilde Anneke sich einmal gegen die Bewertung ihrer Artikel als »Nachrichten aus zweiter Hand« verwahrte und die schwierige häusliche Lage schilderte, in der sie sich befand, sandte Cotta widerspruchslos eine Nachzahlung (siehe Brief vom 21. Dezember 1861 und Antwort Cottas).
Viele von Mathilde Annekes Berichten, wie zum Beispiel die folgende Textprobe, lesen sich flott und witzig, was man bei ihrer sonst humorlosen Natur kaum erwarten würde:

  • Schweiz   Zürich, 3. Oktober 1861
    Mit der Rang- und Titelsucht hat es sich im lieben deutschen Vaterlande seit Anno 1848 auch nicht um ein Haarbreit gebessert, fast könnte man sagen: Es ist noch ärger geworden. Selbst der große Franz Liszt, der Töne Meister, hat sich nicht nur mit dem kaiserlichösterreichischen »Orden der eisernen Krone«, sondern zuletzt gar mit dem Kammerherrnschlüssel beehren lassen. Wenn's noch ein Klavierschlüssel wäre! Aber wozu jener ihm dienen soll? Vielleicht, um endlich die legale Heirat mit der Fürstin Wittgenstein zu vermitteln? Das könnte möglich, aber für die Reputation beider doch am Ende einerlei sein. Überdies hatte Franz Liszt schon eine hübsche Sammlung von Titeln und Würden. Doktorhüte und Ehrendegen gehörten zu den ganz gewöhnlichen; zu den ungewöhnlichen aber dürfte man den eines »Ehrenmönches« zählen, womit die gütigen Fransziskaner Brüder in Baiern ihn eine geraume Zeit zuvor belehnt haben, und wodurch das schnurrige Gerücht entstanden sein mag: der geniale Künstler und Weltsohn sei ins Kloster gegangen. Damit hat's nun einstweilen noch keine Not. In der Kunst geht Liszt seinen ruhigen Weg. Seine konsequente Vertretung der neuen Richtung in der Musik, die ehemals die »Musik der Zukunft«, jetzt die »neue deutsche Schule« genannt wird, ohne den Werken der älteren Meister den Rücken zu kehren, ist achtunggebietend. Seine Grundsätze, jüngeren, strebsamen Talenten Anerkennung zu verschaffen, ehren den Meister mehr als alle seine anderen Vorzüge, wenn man weiß und täglich mehr und mehr beobachtet, wie die Aristokratie des Geistes und der Talente die Tatenfelder für sich und ihre Ritterbürtigen allein behauptet und mit den Argusaugen des Neides den Eingang zur Arena bewacht. Während Richard Wagner, der Wortführer der Partei, die fabulösesten Purzelbäume schlägt und in seiner unvergleichlichen Plauder- und Schreibseligkeit einen theoretischen Blumenkohl zutage fördert, für welchen seine Pauken und Trompeten verantwortlich sein mögen, hält Liszt sich frei von dergleichen Extravaganzen. Das neueste kleine Schriftchen, »Die Zigeuner und ihre Musik« von Franz Liszt, womit der Künstler anspruchslos unserer musikalischen Literatur ein Geschenk gemacht hat, zeigt, wie er auch dem scheinbar Geringfügigen Bedeutung zu geben vermag durch ein tiefes Erfassen des Gegenstandes, dem er eine so große Liebe und Begeisterung widmet. Er kennt das Grundwesen dieses nomadischen Völkchens, gibt uns eine Charakteristik seiner musikalischen Natur.. .

Auch für Kindergeschichten hatte sie echtes Talent, wie manche Erzählung dieser Art in den Sonntagsbeilagen deutsch-amerikanischer Zeitungen bezeugt. Märchen wie »Das Wassernixchen« oder »Das einsam gewordene Storchennest« wurden von den Kindern in Milwaukee mit großem Beifall aufgenommen. Die folgende Textprobe zeigt nicht nur, wie gut Mathilde Anneke den Ton der kindlichen Lesestufe trifft, sondern auch, wie geschickt sie feministische Tendenzen einzuflechten versteht:

  • Man hat immer und immer die wunderschöne Geschichte vom Däumling erzählt. Ganze Bücher sind über den kleinen Mann gedruckt und geschrieben, Bilder gezeichnet und gemalt worden, und zuletzt ist sein Leben gar in Herrn Hackländers Zeitschrift, Über Land und Meer, fein zierlich in Wort und Bild dargestellt worden.
    Von dem Herrn Däumling ist also immer und überall die Rede gewesen, aber von Fräulein Fingerlinchen habe ich noch nie und nimmer irgendwo etwas gehört noch gesehen.
    Es war nimmer bei Hofe, weder bei der prunksüchtigen Frau Eugenie in Paris, noch bei der gelehrten Königin von Preußen zu Bällen und Konzert geladen, obwohl es selbst wie eine kleine Prinzeß so fein und artig und niedlich war. Auch ging es nicht jeden Sommer in die Badeplätze, deren es doch so viele an dem schönen Rhein und in der prächtigen Schweiz gibt; ausgenommen an der Tamina, dem weißen, kalten Gletscherstrom ...

Ein als »Reise-Almanach« betiteltes Manuskript, das eine Fahrt von Milwaukee nach Chicago über den Michigan-See schildert, ist ein typisches Beispiel für ihre belletristische Journalistik, in die sie Gedanken über Freiheit und Gleichheit mischt:

  • Und auch Dich würde sie einlassen, freundliche Schwarze, dachte ich, als durchs glänzende Gemach die dunkle Zofe des Schiffs einherschritt. Es würde nicht mehr heißen, weil Dich die Sonne Afrikas ein wenig dunkler gefärbt hat, sollst Du nicht essen von unserem Brote und trinken von unserem Wein, sondern sollst Du hingehen und bauen dem reichen Südländer Zuckerrohr und Reis, sollst Sklavin sein und Deine Kinder verkaufen lassen ohne Murren -sollst eine Hyäne werden, ohne zu murren.-Armes Weib! Der Lenz kann auch Dich erlösen, kann die Bande Deines Geschlechts sprengen, wie er alle Bande sprengt.
    Während ich so träumte von Lenz und Freiheit und im luftigen Reich meiner Ideale schwebte, ward mir gewaltig schwindlig. Das Schiff begann einen lustigen Tanz, und die gute Schwarze erteilte mir allerlei Ratschläge, damit ich mich auf den Füßen hielt. Es war aber zu spät, denn mit dem Ausruf: I am sick - wankte und schwankte ich schon in meine Koje hinein, wo ich die Nacht hindurch eine Pflege genoß, die mich mit Dankbarkeit gegen die gute Frau erfüllte und ich fortwährend summen mußte: »Schwarze Mumma, dunkle Perle ...« Früh morgens langten wir im Hafen von Chicago an. Ich nahm Abschied von meiner Mumma mit dem Gefühl, als hätte ich mich für ihre Gastfreundschaft zu bedanken gehabt, und ging guten Mutes zu unseren Freunden ins Rio Grande Hotel.* (* Hier nimmt Freiligraths »schwarze Mumma« wieder Gestalt an - anders und mitfühlender als in Heines Atta Troll.)

In Milwaukee galt Mathilde Anneke als die Theater- und Musikkritikerin ihrer Tage. Regelmäßig lieferte sie eine literarische Analyse der aufgeführten Theaterstücke sowie eine kritische Bewertung der Darbietung von Opern und Konzerten. Ihr Bericht über den Musikverein in Milwaukee stellt ein Stück Geschichtsschreibung über die kulturelle Entwicklung Deutschamerikas dar.[54] Als »Zierde der deutsch-amerikanischen Presse« bezeichnet, war sie eine gesuchte Mitarbeiterin an den führenden Zeitungen ihrer Tage. Aus New York sandte E. Steiger, Herausgeber der Literarischen Monatsberichte, folgende Aufforderung an sie:

  • New York, 9. November 1869
    Geehrte Frau,
    Hierdurch erlaube ich mir, Sie um Einreichung von Beiträgen für meinen Literarischen Monatsbericht, welche ich entsprechend honorieren werde, zu ersuchen.
    Diese Artikel, welche mir um so willkommener sein werden, je kürzer, bündiger und klarer sie sind (sie dürften den Umfang von 2 oder 3 Seiten nicht übersteigen) sollen der Tendenz meines Monatsberichtes entsprechend, vorzugsweise behandeln und betreffen:
  • Deutsche Presse,
  • Deutsche Sprache,
  • Deutsche Schulen und Unterricht,
  • Deutsche Büchersammlungen und Lesevereine,
  • Geistige Bestrebungen unter den Deutschen,
  • Deutsche Vereine,
  • Deutsches Leben im Allgemeinen,
  • Hervorragende Persönlichkeiten unter den gebildeten Deutschen und ihre Tätigkeit auf literarischem Gebiete,
  • Deutsche Vorleser,
  • und Mitteilungen über Aussichten - Charakteristisches - und Interessantes verschiedener Art, soweit es besonders die Deutschen betrifft.
    Wenn ich nun auch zunächst bei Ihnen eine Darstellung dieser Verhältnisse aus Ihrer Umgebung als wünschenswert betrachte, so sind mir doch Artikel über Ihnen etwas ferner liegende Gegenden, sofern Sie sich über die dort herrschenden Zustände genau zu unterrichten Gelegenheit gehabt haben, willkommen.
    Die mir zugekommenen Correspondenzen, welche durch die in den ersten 5 Heften meines Monatsberichts erschienenen Artikel veranlaßt worden sind, machen es mir jedoch zur Pflicht, Sie noch besonders darauf aufmerksam zu machen, daß die betreffenden Mitteilungen und Notizen stets so treu und verläßlich sein müssen, daß man ihnen von anderer Seite auf keine Weise mit begründeten Berichtigungen entgegentreten kann.
    Daß persönliche Angriffe oder Ausfälle darin nicht enthalten sein sollen, brauche ich wohl kaum zu erwähnen.
    Das fortwährend steigende Interesse an den Artikeln in meinem Monatsbericht, welches sichtlich zu Tage tritt, setzt mich in die angenehme Lage, meinen geehrten Correspondenten eine aufmerksame Beachtung ihrer Mitteilungen seitens eines sich immer vergrößernden Leserkreises in Aussicht zu stellen.
    Ob Sie sich dem Publikum gegenüber nennen wollen oder nicht bleibt Ihrem Belieben anheim gestellt.
    Der Termin zur Einsendung von Artikeln für das Dezemberheft wäre der 22. November.
    Ich sehe Ihren gef. Mitteilungen entgegen, ob ich bis zu dieser Zeit event. für spätere Hefte Ihre Beiträge erwarten darf und zeichne
    Hochachtungsvoll, E. Steiger

Zufrieden mit ihrer Leistung und als Zeichen seiner Wertschätzung sandte Emil Steiger ein Frei-Exemplar seiner Verlagsproduktion mit folgendem Schreiben:

Werte Frau, in dankbarer Anerkennung der Teilnahme, welche Sie bisher meinen Bestrebungen um die Förderung der Literatur der Deutschen in Amerika gewidmet haben, erlaube ich mir, Ihnen hiermit den soeben erschienenen 3. Band der »deutsch-amerikanischen Bibliothek« als Probe zu übersenden und bitte um desselben Annahme.

Man könnte die Liste der Themen, die Steiger aufstellt, ebensogut als Inhaltsverzeichnis ihrer unpolitischen journalistischen Arbeit verwenden. Natürlich schrieb Mathilde Anneke auch Unpolitisches und Tendenzloses. Hauptsächlich schrieb sie ja, um ihre Lebenskosten zu decken.
Dennoch läßt sich aus ihrem Gesamtwerk leicht erkennen, wie politisch engagiert sie als Schriftstellerin war. Es erscheint daher etwas erstaunlich, wenn in der bisher umfassendsten Arbeit über deutschamerikanische Prosadichtung Mathilde Franziska Giesler-Anneke unter den »nicht tendenziösen Autoren« eingereiht wird und von ihr gesagt wird, daß sie sich, ähnlich jenen Deutschamerikanern, die nicht zu den Achtundvierzigern zählten, ferngehalten habe »von dem Geschrei ihrer radikaleren Landsleute« und sich den Konflikten des Bürgerkriegs gegenüber neutral verhalten habe. Ihr Aufenthalt in der Schweiz wird als Grund angenommen, daß sie sich mit dem Zeitgeschehen in Amerika nicht befaßt habe . Condoyannis, der dies schreibt, wundert sich darüber, da doch Fritz Anneke, ihr Mann, als Offizier in der Unionsarmee diente und sie selbst in den Vereinigten Staaten als aktive Feministin bekannt geworden war. Condoyannis bemerkt auch nicht, daß gerade das, was er verallgemeinernd als typisch deutschamerikanisch bezeichnet, Sehnsucht nach der alten Heimat als Thema der Dichtung, für Mathilde Anneke überhaupt nicht zutrifft. Auch kann von ihr nicht gesagt werden, daß sie »am Leben vorbeigedichtet« habe. Mathilde Anneke hat - wie viele andere Dichter des Vormärz - auch Upolitisches, Untendenziöses geschrieben, wie bei der Besprechung verschiedener Werke gezeigt wurde. Die große Mehrheit ihrer Werke läßt jedoch die politische und soziale Richtung ihres Denkens erkennen und dient dem Zweck, ihre Ideale zu propagieren. Mathilde Anneke zählt zu den wenigen deutschamerikanischen Autoren, die das politische Leben Amerikas - nicht nur Deutschamerikas - in ihre schriftstellerischen Arbeiten miteinbezogen haben.
Condoyannis kennt allerdings nur einen Roman von Mathilde Anneke, den einzigen, der in Buchform erschienen ist, Das Geisterhaus in New York.[56] Und dieser Roman ist tatsächlich völlig unpolitisch, spielt zwar auf amerikanischem Boden, könnte aber ebenso, wie Condoyannis hervorhebt, in irgendeiner Hauptstadt Europas angesiedelt sein. Aber nicht nur in seinen voreiligen Schlüssen über Mathilde Annekes tendenzloses Schreiben, sondern auch in seinem Urteil über den Roman als literarisches Zeugnis hat Condoyannis versäumt, gründlicher hinzusehen. Wenn man diesen Roman auch nicht gerade zu den Werken der Weltliteratur zählen wird, so steckt literarisch doch mehr darin, als Condoyannis' Darstellung vermuten läßt. Dem Werk liegt eine recht originelle Variation des Faust-Themas zugrunde, das sich sowohl in der verwendeten Bildersprache als auch in seiner Anlehnung und Wahl der Figuren kundtut. Parallel dazu und ohne jeden kausalen Zusammenhang findet man in diesem Roman auch eine Anlehnung an die damals beliebte und modische Gattung der Schicksalstragödie. Durch die als Schlußfolgerung sich ergebende Idealisierung des Künstlers - im Sieg der Kunst und des Künstlers über die Macht und das Verderben des Geldes - könnte man das Werk auch als eine Art Künstlerroman auffassen. Die großen Schwächen des Romans, wie Mangel an Motivierung, Inkonsequenz der Handlung und des Gesprächs, allzu häufig erscheinende Blumenbilder (eine typisch Annekesche Eigenheit) und versüßlichte Beschreibung der Liebesbeziehungen usw. können nicht wegdisputiert werden.
Den Sieg der Reinheit künstlerischen Wollens, Sieg des Künstlers über die dunklen Mächte seiner Feinde hatte Mathilde Anneke schon viele Jahre früher, im Jahre 1842 in ihrem Drama, Oithono oder Die Tempelweihe [57] behandelt. Oithono, »ein auf mehreren Bühnen zur Darstellung gebrachtes, im Verlag Fr. Klönne in Wesel erschienenes Trauerspiel,[58] ist ein Künstlerdrama, in dem der Künstler dem König gleichgesetzt wird: Darf doch der Künstler mit dem König gehen Er selbst ist König - ja ich bin der König.
Darüber hinaus ist das Werk des Künstlers der Schöpfung Gottes vergleichbar:

Wie, war es Wahn, erhitzter Fieberblick,
Der Wanken sah die Streben meines Baus?
Du konntest wanken? - sag? was steht nun fest
Du Weltenbauherr! Deine Erde wankt
Und Deine Himmel selber auch erzittern . ..

Der Künstler bringt das Göttliche auf die Erde herab:

Ihr Künstler seid im Bündnis mit den Hohen
Darauf wir Sterblichen wohl neidisch sind; allein
Wir bleiben schadlos, da ihr uns ein Bild
Des Himmels niederholet...

So spricht die Prinzessin zu Oithono. Ziel des Künstlers ist es, das Göttliche in der Vollkommenheit seiner Schöpfung darzustellen:

O wer begreift des Künstlers Hochgefühl
Entfaltet sich Vollendung ihm am Ziel.
Vollendung! raune mir ins Herz hinein:
Haucht ich doch Leben in den toten Stein -
Vollendung!

Plakat zur Aufführung des Dramas Oithono von Mathilde Anneke in Milwaukee (State of Historical Society of Wisconsin, Madison, Wisconsin) In der Handlung des ersten und zum Teil in der des zweiten Aktes finden sich Parallelen zu Goethes Tasso. Wie Tasso liebt Oithono eine Prinzessin, wie Tasso setzt ihm die Prinzessin den Lorbeerkranz aufs Haupt. Beide weihen ihrer Prinzessin ihr Meisterwerk, beiden wird die Prinzessin durch Neider entfremdet, beider Geist und Leben wird dadurch zerstört. Die Handlung spielt hier wie dort an einem Fürstenhof Oberitaliens. Mit dem Namen Mirza, der Berglandschaft und dem Hirtenleben im zweiten und dritten Akt, ergibt sich eine Ähnlichkeit zu Grillparzers Der Traum ein Leben. Die Sprache der einzelnen Figuren ist je nach Stellung und Bedeutung im Drama entweder in Reimen (Oithono), freien Rhythmen (Prinzessin) oder Prosa (Neider) gesetzt. In sprachlicher Hinsicht ist der deutsche Originaltext der späteren, von Fred Townsend ins Englische übersetzten Fassung bei weitem überlegen. Der Hang zum Pathos, der Mathilde Anneke eigen war, kommt hier in der dramatischen Gestaltung vorteilhafter zur Geltung, während er in ihrer Prosa oft störend wirkt.
Über die Aufnahme des Stückes besitzen wir zwei sehr unterschiedliche Rezensionen. Die Wirkung in Deutschland wurde von Annette von Droste-Hülshoff in einem Brief an Schücking beschrieben:

  • Die Tabouillot hat neulich ein Stück auf die Bühne gebracht; den Titel habe ich vergessen, es ist ein Männername, der Held Architekt, baut eine Kathedrale, die von seinen Neidern untergraben wird und zusammenstürzt; es soll über alle Beschreibung erbärmlich gewesen sein. Das Publikum ist outriert, dennoch hat es ihr alles gebracht, was sie wünschen konnte: ein volles Haus, Lob und Geld. Sie hatte das Manuskript einem etwas obskuren Verleger, ich glaube in Detmold oder Minden, angeboten und die Übereinkunft getroffen, daß, falls sie es zur Aufführung bringen könne und dann der allgemeine Beifall sich herausstelle, er ihr zweihundert Taler dafür geben, widrigenfalls aber jeder das Seine behalten solle... Der Verleger kam also zur Aufführung herbei, das wußte die ganze Stadt, und jeder interessierte sich mehr für die arme Tabouillot wie für den dummen Teufel von Verleger, der dem Stücke nicht selbst ansehen konnte, was daran war. Das Haus füllte sich zum Ersticken, ihre besten Freunde nahmen hinter dem Schafskopf Platz und wurden fast ohnmächtig vor Entzücken, alle anderen klatschten sich die Hände wund. Am andern Morgen erschien eine lobende Rezension; kurz, mein Verleger hat von seinem Geldsacke scheiden müssen und wird, zur Vermeidung größeren Schadens, am besten tun, sein heilloses Manuskript in den Ofen zu stecken...[59]

Ganz so heillos und erbärmlich war das Stück aber nicht. Wir wissen, daß Annette ihren weiblichen Dichterkolleginnen gegenüber immer mit besonderer Strenge zu verfahren pflegte. Und Mathilde hat neben der Bornstedt das vollste Maß ihrer vernichtenden Kritik erfahren. Übrigens wird man sich in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß bei der Erstaufführung von Grillparzers »Der Traum, ein Leben« gesagt worden war, »etwas Elenderes sei kaum je produziert worden«.[60] Gänzlich verkannt hat Annette Mathildes Drama freilich nicht, denn zur Weltliteratur ist es nicht aufgestiegen. Aber so viele Stücke dichtender männlicher Genossen sind mit größeren Schwächen behaftet in die Literaturgeschichte eingegangen. Oithono ist eines der wenigen von Frauenhand geschriebenen Dramen und verdient, zumindest registriert zu werden. Mathilde Anneke hat damit auch in späteren Jahren in Amerika Erfolg erzielt. Es wurde in Milwaukee vor vollem Haus am 2. April 1884 aufgeführt und mit Begeisterung aufgenommen. Bis nach St. Louis fand der Beifall seinen Widerhall. Die Westliche Post, die sonst immer in Opposition zu Mathildes Leistungen gestanden hatte, brachte folgende Besprechung:

  • Gestern Abend war das deutsche Theater bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Zuschauer kamen, um der Vorstellung der »Tempelweihe« von Frau Mathilde Franziska Anneke beizuwohnen. Diese Vorstellung ist nicht nur durch den Inhalt der Tragödie, durch die edle Sprache, durch die besonders dafür geschriebene Musik, sondern auch durch die Stellung der Verfasserin das Hauptereignis dieser Saison gewesen. Wenn auch die Verfasserin in weiten Kreisen hochverehrt wird, so ist doch der Erfolg keineswegs ein succes d'estime gewesen, sondern durch Handlung und Architectonic des Stückes herbeigeführt. Die Fabel des Stückes ist einfach. Der Architekt eines Kirchenbaues wird durch die von einem Rivalen angezettelte Verschwörung gestürzt. Er flieht und lebt dann, an Körper und Geist gebrochen, im Walde. Seine Sehnsucht ruft ihn zurück. Er findet den Tempel nach seinen Plänen durch seine Schüler aufgerichtet, seinen Rivalen eingekerkert, seine Gegner zerstreut, und bei den Klängen des Tedeums stirbt er auf den Stufen seines Baues. - Wenn man die Sitzung des Conventes und die Volksszenen als Chöre denkt, so hat man in diesem Stücke eine vollkommene griechische Tragödie, in welcher das Maß des Schönen nie überschritten wird. Ein harmonisches, mächtig wirkendes, lebensvolles Ganze ist diese Novität für Milwaukee. Die dazu von Eugen Lüning, dem Dirigenten des Musikvereins, komponierte Musik schloß sich meisterhaft dem Stücke an. Nach dem dritten Acte wurde der Frau Anneke von dem Verein »Germania« ein Lorbeerkranz überreicht.[61]

Zwei Jahre vor Mathilde Annekes Tod wieder aufgeführt, schließt dieses Ereignis den Kreis ihres wirkungsreichen Lebens. Das Drama wurde auch als Symbol für ihr Lebenswerk betrachtet und in einem /strophigen Gedicht von L. Burstall besungen. Erste und letzte Strophe lauten:

Wir lauschen still an Deinem Ehrentage
Den Klängen, die Du einst entlockt
Aus Deiner goldenen Lyra straffen Saiten,
Als noch der Jugend Hoffnung wob
Die duft'gen Schleier um der Zukunft Bühne
Verhüllend Dir das Schlachtfeld, die Tribüne

Was Du gebaut, es wird sich mächtig heben
Wenn auch noch mancher Sturm darüber rauscht,
Der Schein zerrinnt und frei ersteht das Leben,
Das Deine Schüler hier sich eingetauscht.
Mit Menschenkräften einen sich die Zeiten,
Zum Weiterbau die Säulen zu bereiten![62]

Es ist heute schwer zu sagen, ob Mathilde Franziska Anneke unter günstigeren Umständen, als das 19. Jahrhundert sie den Frauen bot, eine bedeutendere Schriftstellerin geworden wäre. Ein Vergleich mit Annette von Droste-Hülshoff drängt sich auf, wohl der einzigen großen Dichterin im Deutschland des 19. Jahrhunderts.[63] Es war gewiß kein völlig sorgenfreies Leben, das Annette führte; und doch - im Vergleich zu dem Alltagsleben einer durchschnittlichen Bürgerin, die völlig im Hause aufzugehen hatte, oder einer Frau wie Mathilde von Tabouillot und späteren Anneke, die für sich und ihre Kinder den Lebensunterhalt beschaffen mußte - es war ein bevorzugtes Dasein. Man betrachte sich nur die verschiedenen Arbeitszimmer der Droste, sei dies im Rüschhaus oder im Fürstenhäuschen. Sie waren zum Dichten eingerichtet. Dazu kommt die Muße des Lebens, der stete Prozeß der Vergeistigung, der nur wenigen Frauen jener Zeit vergönnt war. Damit soll natürlich nicht gesagt werden, daß die soziale Lage, daß die äußeren Umstände Garanten für große Kunst sind. (Bezaubert von dem Blick, der sich von den Droste-Besitzungen auch heute noch bietet, hin zu den tiefen Wäldern, über die weiten Fluren, meinte ich einmal: »Ja, da kann man leicht dichten.« Worauf die 91jährige Baronin Berta von Droste-Hülshoff treffend antwortete: »Versuchen Sie's doch!«) Wohl aber, daß günstigere Umstände, wie vor allem Bildung und Erziehung, größere Aufgabenbereiche, ein weiterer Radius der Bewegungsfreiheit mehr Talente unter den Frauen hervorgebracht hätten, als es für das 19. Jahrhundert tatsächlich der Fall war. Unter den vielen dichtenden Frauen des vorigen Jahrhunderts, die unzählige Romane geschrieben haben, ist kaum eine, deren formale Bildung sich mit der ihres männlichen Gegenübers messen kann. »Die mangelnde ästhetische Qualität« jener Frauendichtung ist nicht immer nur Mangel an  Talent, sondern vor allem Mangel an entsprechender Schulung und geistiger Bewegungsfreiheit. Beweis dafür ist die plötzlich aufblühende Literatur der Frauen im 20. Jahrhundert, als sich langsam Möglichkeiten für eine höhere geistige Entwicklung und erweiterte Horizonte und neue Aufgabenkreise boten. Aber auch heute noch wird die Statistik ergeben, daß eine wesentlich geringere Zahl von Frauen als Männer sich aus der Alltagsgeschäftigkeit aufschwingen kann zu unbehinderter schöpferischer Leistung.
Auf Mathilde Annekes Arbeitstisch lastete immer allzu viel, was den Höhenflug freier, schöpferischer Entwicklung hemmte. Sie schrieb unter dem Druck ihrer wirtschaftlichen Situation, was sie als sehr bitter empfand und in ihrem Brief vom 21. Dezember 1861 zum Ausdruck bringt. Durch ihr ganzes Leben zieht sich dieses Ringen mit den materiellen Nöten. Wie hätte sie es sich leisten können, ein Wort, einen Satz zu betrachten, den Klang, die Form zu wägen, daran zu meißeln, bis jenes vollendet Schöne erreicht war, das befriedigt? Und wieder denkt man an die Droste, erinnert sich der Sicht von der Höhe über die dunstige Fläche des Bodensees hinweg in die endlose Ferne und fühlt, wie dort Gedanken und Bilder wachsen, zur Form reifen konnten, ohne daß die überfällige Bäckerrechnung zur Eile trieb, die Kinder krank wurden oder der Mittagstisch bereitet werden mußte. In dieser Hinsicht mag Mathilde Anneke als typisches Beispiel für die Frauen im allgemeinen gelten, denen die geistige Ruhe für schöpferisches Tun nur in den seltensten Fällen gewährt ist. Die journalistische Tätigkeit bot sich Mathilde Anneke als Möglichkeit, für Geld zu schreiben. Sie brachte aber auch die ständige Übung im flüchtigen Zeitungsstil mit sich, der auf die Dauer zur Gewohnheit werden mußte. Der Zwang zur schnellen Produktion hatte unweigerlich einen nachträglichen Einfluß auf Stil und Form, selbst wenn Mathilde Anneke aus einer größeren Fülle von Talent hatte schöpfen können. Wenn sie als Dichterin nicht immer die Form fand, die hoher Kunst gerecht wird, gibt ihr Werk als Schriftstellerin dennoch Zeugnis von einer Mission, die zu erfüllen sie berufen war. Unter einer neuen politischen und sozialen Konstellation führte sie fort, was die Dichtung des Vormärz gewollt hatte. Wohl war diese literarische Epoche in Deutschland zu Ende gegangen, nachdem die Voraussetzungen dazu vorüber waren. Aber die für die Deutschen neuen Verhältnisse in Amerika gaben solcher Dichtung noch weiterhin Inspiration. Und so schrieb Mathilde in der neuen Heimat für die Freiheiten, die dort zu erkämpfen waren, für die Befreiung der Neger, für die Gleichberechtigung der Frau. Das Weiterleben der Vormärzdichtung in Amerika ist kein Provinzialismus, kein Anachronismus, sondern eine Anpassung an neue Gegebenheiten.
Mit ebenso nachteiligen Verhältnissen wie die Dichtung der Frauen, wenn auch anderer Art, hatte die Dichtung Deutsch-Amerikas zu kämpfen. Es gilt geradezu als Kennzeichen deutsch-amerikanischer Literatur, daß kein Dichter, keine Dichterin dieser Gruppe das Niveau von Weltliteratur erreichte. Die wenigen Einwanderer, die sich schon in Deutschland in der Literatur einen Namen gemacht hatten, kehrten nach einem mehr oder weniger kurzem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten wieder nach Deutschland zurück. Das trifft für die Zeit von Thomas Mann und Bertolt Brecht zu ebenso wie für die Tage Lenaus und Sealsfields. Wer in diesem Land blieb, zur Feder griff und deutsch schrieb, befand sich im Pionierstadium seiner Existenz. Alle Kräfte waren darauf gerichtet, Wurzel zu fassen und sich veränderten Verhältnissen anzupassen. Zum Wachsen und Entwickeln eines künstlerischen Talents, bevor die Existenzfrage der Gemeinschaft gelöst war, konnte es unter diesen Umständen nicht kommen. Auch die amerikanische Kunst und Literatur im allgemeinen erreichte erst Weltgeltung, als sich die Verhältnisse stabilisiert hatten, als sich ein Volks- und Staatsbewußtsein entwickelt hatte, das in einer gemeinsamen Erfahrung, einem gemeinsamen Schicksal, einer gemeinsamen Geschichte, vor allem aber in einer gemeinsamen Sprache wurzelte. Dies ist ein Werdegang, der sich seit prähistorischen Zeiten in der Kulturgeschichte der Völker immer wieder abzeichnet. Als sich aber die deutschen Einwanderer in Amerika assimiliert hatten, kam es zur Anpassung nicht nur in wirtschaftlicher, politischer und kultureller, sondern auch in sprachlicher Hinsicht. Und damit war der deutsch-amerikanischen Literatur jede weitere Entwicklung abgeschnitten.
Während die spanische, portugiesische und vor allem die englische Literatur Amerikas im 19. Jahrhundert bereits den Rang von Weltgeltung erreicht hatten, war der deutschen Literatur dieses Raumes dichterische Vollendung versagt geblieben weil ihr Wurzel und Resonanz in der größeren Einheit der Nationalsprache fehlten. Wohl schufen Deutsch-Amerikaner manch ergreifendes Gedicht, manch eindrucksvolle Prosa. Aber es blieb bei diesen Schöpfungen des Augenblicks, die zu keiner Kontinuität als nationaler Literatur von Bedeutung führten. Mathilde Anneke war auch Teil dieser Gruppe und hatte auch an den Nachteilen zu tragen, die sich in diesem Raum für die Entwicklung künstlerischer Talente ergaben.

Texttyp

Literaturkritik