Brücken

Zur Seite gedrehte Mauern sind Brücken

In meinem ersten Jahr in Brandeis beschlossen meine Freundin Lani und ich, an einem frühen Samstag morgen nach Norden zu trampen, um uns die Fischerboote in Gloucester, Massachusetts, anzusehen. Wir wollten die Nacht über wegbleiben. Da wir jedoch keine »Erwachsenen« in Gloucester kannten, mußten wir den lächerlich puritanischen Regeln, die das Verhalten der Studentinnen bestimmten, ein kleines Schnippchen schlagen. Als wir uns in unserem Wohnheim schriftlich abmeldeten, erklärten wir, daß wir die Erlaubnis unserer Eltern hätten, eine Familie in New York zu besuchen, deren Namen und Adresse wir angaben. (Es waren Leute, die die richtige Antwort geben würden, wenn bei ihnen nachgeforscht wurde.) Gloucester mit seinen buntgefärbten Herbstbäumen, der wuchtigen Schönheit seiner Meeresklippen, den wimmelnden Schiffen und Fischern war wunderschön. Stundenlang gingen wir an der Küste entlang und durchwanderten dann die Straßen aus dem achtzehnten Jahrhundert. Obwohl wir praktisch kein Geld hatten, gab uns ein netter Mann in einem kleinen Restaurant soviel zu essen, wie wir essen konnten und wollte nichts davon hören, daß wir unsere Mahlzeit bei ihm abarbeiteten.
Als die Wärme der Sonne nachließ, mußten wir unsere ursprüngliche Absicht, am Strand im Freien zu schlafen, aufgeben. Und da wir kein Geld hatten, konnten wir uns auch kein Motel leisten. Wir verabschiedeten uns also von den Leuten, mit denen wir uns in der Stadt angefreundet hatten, um mit unserem Daumen als einzigem Transportmittel wieder zurückzufahren. Als wir das Universitätsgelände in Waltham erreichten, war es schon spät; der Zapfenstreich für die Studentinnen des ersten Jahres war bereits vorüber. Wenn wir versuchten, über das Gelände zu unserem Wohnheim zu gehen, würden wir wahrscheinlich von den Sicherheitsbeamten angehalten und wegen Obertretung der Sperrstunden angezeigt werden. Und selbst wenn wir auf dem Gelände nicht angehalten wurden, war es sehr wahrscheinlich, daß wir erwischt würden, wenn wir versuchten, unbemerkt in unser Wohnheim zu schlüpfen.
Ridgewood - die Wohnheime für Männer - lag am Rand des Universitätsgebiets, direkt neben der Fahrstraße, wo wir aus unserem Fahrzeug ausgestiegen waren. Die Sicherheitsmaßnahmen waren dort nicht so streng, deshalb beschlossen wir, einen Freund zu bitten, uns sein Zimmer für die Nacht zu überlassen. Als wir ihn weckten, war er durchaus bereit, sich ein anderes Bett zu suchen und uns die zwei Betten in seinem Zimmer für die Nacht zu überlassen. Am nächsten Morgen standen wir früh auf und gelangten ohne Zwischenfall zurück in unsere Zimmer. Irgendwie - wir haben nie erfahren wie - kam es der Dekanin für Frauen zu Ohren, daß wir »die Nacht im Wohnheim der Männer« verbracht hatten. Sie rief uns zu sich und sagte, daß wir dafür vor dem Frauentribunal abgeurteilt werden müßten. Lani und ich konnten das nicht glauben. Das Ganze war absurd - von einer Gruppe von Frauen der Oberklasse gerichtet zu werden, die man zur Überzeugung abgerichtet hatte, daß wir unmoralisch gehandelt hätten, weil wir junge Frauen waren! Wir mußten vor diesem Tribunal erscheinen oder die Universität verlassen - bloß weil wir die Schönheit eines Herbsttages genießen wollten und uns davon durch die Regeln nicht hatten abhalten lassen. In dem kahlen, fensterlosen Zimmer saßen Lani und ich auf der einen Seite eines langen Tisches. Die Mitglieder des Tribunals saßen auf der anderen Seite.
»Wißt ihr nicht, daß ihr den Ruf der Universität geschändet habt, indem ihr euch von fremden Menschen mitnehmen ließt?« Wir sahen beide die Studentin, die diese Worte ausgesprochen hatte, angewidert an. »Dann muß der Ruf von Brandeis längst geschändet sein«, erwiderte ich, »wo hier soviel getrampt wird.« »Anständige Studenten trampen auf dem Universitätsgelände und nicht auf fremden Straßen.« Darauf folgte ein langer Streit, in dem die Frauen dieses Tribunals uns ihre Schimpfwörter an den Kopf warfen und Lani und ich sie mit dem Spott bedachten, den sie verdienten.
Als wir den Raum verließen, wußten wir, daß der Spruch auf schuldig und das Urteil auf Höchststrafe lauten würde. Dreißig Tage lang erhielten wir »Ausgehverbot«, was bedeutete, daß wir allabendlich nach dem Essen in unseren Zimmern sein und dort bleiben, oder aber beweisen mußten, daß wir am Abend in der Bibliothek studiert hatten. Ich habe die selbstgefällige Verurteilung dieses Tribunals nie vergessen. Die Frauen waren überzeugt, daß sie das Recht hatten, Gott, Herr und Mutter zu spielen. Da wir uns weigerten, ihre Lebensmoral anzuerkennen, waren wir »moralische Verbrecher«, und sie wollten uns bestraft wissen.

28. Februar 1972

Als die ersten Potentiellen Geschworenen in den Gerichtssaal geführt wurden, dachte ich an diesen kleinen Scheinprozeß zurück, der sich vor mehr als einem Jahrzehnt abgespielt hatte. Ich hatte das gleiche Gefühl der Unwirklichkeit, das Gefühl, daß ein Spiel gleicher Art abgezogen wurde, bei dem die Partei mit den gefährlich veralteten Ideen einen unfairen Vorteil besaß. Aber dies war ein anderes Spiel - ein tödlicheres. Und der Einsatz war viel höher als dreißig Tage in meinem Schlafzimmer. Auf dem Pult unmittelbar vor unserem Tisch wird eine hölzerne braune Lostrommel gedreht. Wenn sie anhält, greift der Sekretär hinein und zieht ein Stück Papier heraus. Er liest den Namen sorgfältig mit deutlicher Aussprache jeder Silbe. im oberen Stock sehen und hören Menschen an einem Fernsehmonitor zu. Unten im Gerichtssaal sind wir uns der Kameras und Mikrophone scharf bewußt, die unsere Handlungen zu jenen in einem Zimmer versammelten Menschen übertragen, die den Namen und Nummern auf unserer Geschworenenliste entsprechen. Kurz nachdem ihr Name aufgerufen war, erschien Mrs. Marjorie Morgan und nahm auf dem Zeugenstuhl Platz.
Mrs. Marjorie Morgan, die sich selbst als Ehefrau eines im Ruhestand lebenden Inhabers eines Ladens für Traktoren vorstellte. Mrs. Marjorie Morgan... provinziell und voller Vorurteile... Mrs. Marjorie Morgan, die Leo bei der Vernehmung ohne Zögern mitteilte, daß sie glaubte, ich sei des Mordes, der Entführung und der Verschwörung »wahrscheinlich schuldig«, und daß man mir nie hätte gestatten dürfen, in UCLA zu unterrichten. Es sei gesetzwidrig und unzulässig, betonte sie, daß Kommunisten an einer Universität unterrichteten. Der einzig anständige Zug an ihr war die Ehrlichkeit, mit der sie zugab, daß sie mich wahrscheinlich nicht unparteiisch beur-teilen könne. Daher war der Richter gezwungen, sie als Geschworene abzulehnen. Die Vernehmung potentieller Geschworener - das voir dire - zerfiel in zwei Teile.
Erst wurde der mögliche Geschworene gefragt, inwieweit er oder sie durch die Massenmedien über mich und meinen Fall Bescheid wisse. Wenn der Richter den Eindruck gewann, daß die Meinungsmedien vor Prozeßbeginn kein unverrückbares Vorurteil gegen mich geschaffen hatten, mußte sich die Person vorübergehend auf einen der zwölf Geschworenenstühle setzen. Wenn die Geschworenenbank voll war, begann der zweite Teil des voir dire, bei dem wir die potentiellen Geschworenen über ein ganzes Themenfeld eingehend befragten. Wir versuchten, alle rassistischen, pro-polizeilichen oder anderen Vorurteile ans Tageslicht zu ziehen, die sich bei der Beweiserhebung während des Prozesses plötzlich herausstellen könnten.
Am nächsten Tag wurde ein noch dreisterer Anti-Kommunist verhört. Als wir William Waugh nach seiner Einstellung zum Kommunismus fragten, sagte er »wenn jemand Kommunist sein will, dann soll er doch dahin zurückgehen, wo er hergekommen ist«. Das bezog sich auch auf mich, gab er zu - wenn ich Kommunistin sein wollte, sollte ich dahin gehen, wo die Kommunisten die Macht hatten. Da er jedoch nicht zugeben wollte, daß seine Einstellung seine Fähigkeit, mich unvoreingenommen zu beurteilen, beeinflussen würde, sofern der Prozeß etwas anderes als den Kommunismus betraf, mußte er seinen Stuhl nicht räumen. Vorläufig zumindest blieb er unter den Zugelassenen.
Dies war jedoch auch der Tag, an dem Mrs. Hemphill gerufen wurde. Mrs. Hemphill war die einzige Schwarze Frau in der ganzen Schar potentieller Geschworener. Eine derbe Frau, Anfang vierzig, die freundlich erklärte, daß sie mich unvoreingenommen beurteilen könne. Aber bevor sie noch ein Wort sagte, waren wir bereits sicher, daß Albert Harris, der Staatsanwalt, sie so bald wie möglich von der Liste streichen würde. Als sie ein paar Tage später eingehend zum voir dire vernommen wurde, beschrieb sie in ergreifender Weise ihre Lebensumstände. Ich war von ihren Worten gerührt, und vergaß darüber beinahe, daß dies zur Auswahlprozedur der Geschworenen gehörte, die mich wieder hinter Mauern schicken konnten.
Als Howard sie nach der Berufsarbeit fragte, die sie getan hatte, versetzte sie uns nach Arizona, wo sie zwölfjährig Baumwolle gepflückt und Zwiebeln geschält hatte. »Später«, sagte sie, »war ich Köchin für Schnellgerichte... Und ich habe auch in einer Sandwichfabrik gearbeitet, für die Lastwagen, die vorbeifahren... Als ich nach San José kam, habe ich anfänglich Hausarbeit getan und bei Spivey als Tellerwäscherin gearbeitet.« Beim Sprechen erinnerte sie mich an meine Mutter - ihren Kampf, Good Water in Alabama den Rücken zu kehren und sich mit jeder moglichen Arbeit, die sie finden konnte, durch die höhere Schule und das College zu schlagen. Alles, um schließlich an einer kleinen Schule Lehrerin zu werden. Mrs. Hemphills Geschichte war die Universalgeschichte der Schwarzen Frau in einer Welt, die sie am Boden sehen will. Mrs. Hemphill hatte sich durchgesetzt. Meine Mutter hatte sich durchgesetzt. Aber viele andere hatten das nicht. Das System stand ihnen entgegen. Und das war in Mrs. Hemphills Worten so kraftvoll zum Ausdruck gekommen. Meine eigene schwierige Lage war, auf einer anderen Ebene, ein Beweis für dieselbe politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlicb feindliche Welt, mit der sich fast jede Schwarze Frau an jedem Tag ihres Lebens auseinandersetzen muß. Am 13. März, fünfzehn Tage nachdem die Auswahl der Geschworenen begonnen hatte, wurde Mrs. Hemphill durch einen gebieterischen Einspruch der Staatsanwaltschaft ausgeschaltet. Sie war die einzige Schwarze Person, die im Zeugenstuhl befragt worden war. Das Gericht vertagte sich.
Am nächsten Tag, dem 14. März, erklärten wir uns mit der bisher festgesetzten Geschworenenbank einverstanden. Nicht deshalb, weil wir mit den Menschen, die auf der Bank saßen, zufrieden waren. Nein, keineswegs - schließlich war die einzige Schwarze Frau von Harris abgelehnt worden. Trotzdem waren wir nach unserer flüchtigen Sondierung der übrigen berufenen Geschworenen überzeugt, daß die Zusammensetzung der Juroren, die wir am 14. März erreicht hatten, wahrscheinlich die beste war, die wir erhoffen konnten. Hätten wir weiterhin gegen diejenigen Einspruch erhoben, die wir für besonders voreingenommen hielten, dann hätte sicher Harris gegen solche Einspruch erhoben, die wir für besonders vorurteilsfrei hielten. Er hätte sie einen nach dem anderen ausgeschaltet, wie er schon Janie Hemphill und die paar anderen ausgeschaltet hatte, die nicht ganz anklagehörig erschienen.
Wir hofften, daß uns unser Instinkt im Fall von Mrs. Mary Timothy nicht trog, deren Sohn aus Gewissensgründen den Dienst im Vietnamkrieg verweigert hatte. Während des voir dire hatte sie sich als leidenschaftlich unabhängige Frau erwiesen, von der wir glaubten, daß sie ihre Stellung behaupten würde. Wenn nur sie und die wenigen anderen, die uns irgendwie gefallen hatten, der Beweiserhebung objektiv und intelligent folgen und sich von den demagogischen Tricks der Staatsanwaltschaft nicht mitreißen lassen würden, konnten wir zumindest hoffen, daß die Geschworenen zu keinem einstimmigen Schuldspruch gelangen würden (was einen neuen Prozeß nötig machen würde).
Als die Geschworenen am 14. März vereidigt wurden, war auch eine Frau dabei, deren Teilnahme als Jurorin uns von Anbeginn Sorgen machte. Als Howard sie über ihre Einstellung zum Kommunismus befragte, hatte sie gesagt, daß die Kommunisten ihre Ziele »irgendwie gewaltsam« durchsetzen wollten. »Wenn Sie von >Gewalt< sprechen«, fragte Howard, »worauf bezieht sich das? Was meinen Sie damit?« »Subversiv«, erwiderte die Frau, »... etwas dieser Art. Ich weiß wirklich nicht...« »Jetzt sagen Sie etwas von >subversiver< Art. Können Sie uns erklären, was Ihrer Meinung nach so etwas >Subversives< ist?« »Ich könnte es mit einem Ausdruck meines elfjährigen Kindes >hinterlistig< nennen.« Als Howard sie bat, >hinterlistig< zu erklären, versuchte sie, den Gebrauch dieses Wortes so zu erläutern: »Ich habe es irgendwie zu sehr vereinfacht. Ich bin eben nicht so gebildet. Man liest und hört von ihren Aktivitäten, daß sie Aufstände anzuzetteln suchen. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Man liest es jedenfalls in den Zeitungen.« Howard war überzeugt, daß sie jedesmal, wenn sie naive Unkenntnis vorschützte, um sich dadurch als Geschworene zu qualifizieren, nur Theater spielte.
Immerhin war sie die Tochter eines Sheriff-Captains im Ruhestand - eines Mannes, der mehr als fünfundzwanzig Jahre seines Lebens, wie Mrs. Titcomb es nannte, mit »Polizeiarbeit« befaßt gewesen war. Während des voir dire hatte Howard sie gefragt, ob sie Schwarze Freunde hätte. Sie antwortete: »Oh, wir hatten vor vielen Jahren sehr liebe Schwarze Freunde, die von hier weggezogen sind. Hinter uns lebt eine Familie, mit der wir befreundet sind.« Gefragt, wann Schwarze zum letztenmal als gesellschaftliche Gäste in ihr Haus gekommen seien, antwortete sie »Schwarze in meinem Haus als gesellschaftliche Gäste... Meine Kinder haben sie fast täglich im Haus«. Am 14. März wurde sie mit elf anderen Juroren vereidigt. Aber ein paar Tage nach der Vereidigung wurde sie von ihren Pflichten entbunden. Den Zuschauern und der Presse wurde mitgeteilt, sie ginge aus »persönlichen Gründen«. Wenige Menschen haben je die Tatsachen erfahren. Wenn das Protokoll nicht geheimgehalten worden wäre, hätten die Medien vielleicht nicht so bereitwillig das Gerichtssystem der Vereinigten Staaten wegen seiner jedem Menschen garantierten Fairneß gelobt.
Es fing damit an, daß am Tag nach unserer Einwilligung die Liste und eine Beschreibung der Geschworenen in den Zeitungen erschien. Richter Arnasons Sekretär sagte, daß an jenem Tag eine Person in dessen Büro angerufen hätte, die sich als die Tochter der Geschworenen zu erkennen gab. Der Sekretär beschrieb ihre Stimme als hysterisch sie konnte nichts anderes sagen als: »Wenn meine Mutter Geschworene bleibt, dann helfe Gott Angela Davis.« Das Verteidigungsteam und die Vertreter der Anklage waren dringend in die Richterkammer gebeten worden, um von diesem Vorfall in Kenntnis gesetzt zu werden. Was schlugen wir vor? Wir bestanden darauf, daß die Tochter geholt würde, damit sie ihre Befürchtung, die Mutter wolle mir an den Kragen, näher erläutern könne. Sie war blaß, zart gebaut und sah viel jünger aus als ihre achtzehn Jahre. Man merkte gleich, daß sie diese amtliche Atmosphäre nicht gewöhnt war. Sie schien schüchtern und ein bißchen verängstigt. Ich wollte sie fragen, was sie veranlaßt hätte, ein so großes Risiko auf sich zu nehmen. War sie in irgendeiner Weise durch unsere Bewegung für meine Befreiung beeinflußt worden? Es konnte nur die Bewegung gewesen sein, die sie gezwungen hatte, sich der eigenen politischen Verantwortung bewußt zu werden, selbst wenn damit ein Angriff auf ihre Mutter verbunden war.
Ich konnte mir nicht helfen, sie tat mir leid, wie sie besorgt auf alle die fremden Menschen starrte, die an den Wänden der Richterkammer saßen. Selbst der Richter war davon ergriffen, ging mit einer väterlichen Geste zu ihr, legte ihr den Arm um die Schulter und sagte ihr milde, daß sie nichts zu fürchten hätte. Als ihre furchtbare Spannung etwas nachgelassen hatte, konnten wir zum Thema der Sitzung kommen. Ja, sie war sicher, daß ihre Mutter für meine Verurteilung stimmen würde, ohne Rücksicht auf die Beweiserhebung. Ihre Mutter hatte die Schwarzen Menschen nie leiden können und hatte ihrer Tochter verboten, sich mit Schwarzen Kindern anzufreunden.
Die eine Schwarze Freundin, die ihre Tochter als Kind hatte, hatte sie nicht im Haus besuchen dürfen - nicht nur, weil ihre Mutter es nicht erlaubte, sondern auch, weil die Eltern des Mädchens dieses nicht unter die Fuchtel einer Frau kommen lassen wollten, die in der Nachbarschaft wegen ihrer negerfeindlichen Gefühle bekannt war. Die Tochter hatte an einem ihrer Geburtstage geweint, weil ihre Freundin nicht kommen durfte. Als wir durch die Tatsachen dieser Episode hindurchgewatet waren, begann die Tochter mit einiger Verwirrung die Geschichte eines Schwarzen Freundes zu erzählen, auf den ihre Mutter ihren ätzenden Rassismus ausgespien hätte. Die zweite Szene dieser Konfrontation war ein Gespräch mit der Geschworenen, der wir die Beschuldigungen ihrer Tochter vorhielten. Natürlich behauptete sie, daß die Tochter in allem gelogen hätte. Sie sagte, sie und ihre Tochter seien nie miteinander ausgekommen - von allen ihren Kindern mochte sie sie am wenigsten leiden. Wie stand es mit der kleinen Schwarzen Freundin, die ihre Tochter als Kind nicht nach Hause bringen duifte? Diese Geschichte sei erfunden, erklärte sie.
Und der Schwarze Freund? Ihre Tochter hätte ihr erzählt, daß sie vergewaltigt worden sei - so die Frau. Nein, sie hatte während des voir dire nicht gelogen. Nein, sie wollte nicht freiwillig verzichten. Sie hielt es für ihr Recht, als Geschworene zu amtieren, und sie war entschlossen, ihre Bürgerpflicht zu erfüllen. Diese Frau schien bereit, fast alles zu riskieren, um zu den Geschworenen zu gehören und mich schuldig zu finden. Wir drohten, ihre Tochter zu holen und sie von Angesicht zu Angesicht mit dem Vorwurf des Rassismus zu konfrontieren. Aber sie war mehr als bereit, sich ihrer Tochter zu stellen. Wir mußten weitergehen. War sie auch bereit zu hören, wie ihre Tochter und alle anderen Zeugen, die wir ausfindig machen konnten, diese Bezichtigungen vom Zeugenstuhl aus vor dem Gericht, den Zuschauern, der Presse und der Welt erhoben? Sie dachte einen Augenblick nach und entschied sich dann, daß sie ganz verzichten wolle. Die Welt war ein wenig mehr, als sie in die Schranken fordern wollte.

27. März 1972

Als sich das Gericht zur Mittagspause vertagte, verließen Kendra und ich als letzte den Saal. Plötzlich kam Leo zurück in den Saal gestürzt und schrie: »Die Soledad-Brüder sind freigesprochen!« Wir johlten, wir umarmten uns, wir sprangen in die Luft. »Die SoledadBrüder sind frei.« Unsere lauten, ungehemmten, freudigen Rufe hallten durch den leeren Gerichtssaal.
Ich lachte und weinte vor Freude, aber dachte auch: Warum nicht George? Wenn sie ihn nur ein bißchen länger am Leben gelassen hätten.
Richter Arnason, der sich in seiner Kammer ausruhte, hatte unser wildes Gebrüll gehört und kam eilends an die Tür. Etwas ängstlich aussehend und wahrscheinlich auf das Schlimmste gefaßt, fragte er mit leiser Stimme, was geschehen sei. Wir drei konnten nur wiederholen, was wir geschrien hatten: »Die Soledad-Brüder sind freigesprochen worden.«
Dies war der Eröffnungstag unseres Prozesses. Zwei Herbste, zwei Winter, zwei Lenze waren schon irn vorbereitenden Geplänkel dahingegangen. Jetzt waren wir endlich in den abschließenden, entscheidenden Streit eingetreten. Und die Schuldloserklärung von John und Fleeta war ein Omen, das auf unseren künftigen Sieg deutete.
Dieser Sieg würde ein grundlegendes Element unserer Verteidigung bestätigen: den Politischen Charakter meiner Teilnahme an der Bewe
gung zur Verteidigung der Soledad Briider und die Strategie, Massenproteste und Massenwiderstand gegen die Verfolgung der Brüder zu entwickeln.
Harris hatte versucht, die Geschworenen mit der absurden Theorie in Wallung zu bringen, daß ich zur Begehung von Mord, Entführung und Verschwörung durch meine »grenzenlose und alles verzehrende Leidenschaft für George« getrieben worden sei. Indem er den Fall der ursprünglichen politischen Bezichtigungen entledigte, glaubte der Ankläger, klug zu handeln. In der Anklageschrift war mein erster »offener Akt« der »Verschwörung« die Teilnahme an der Kundgebung vom 19. Juni 1970 für die sofortige Freilassung der Soledad-Brüder. Polizisten hatten vor dem Großen Schwurgericht ausgesagt, daß ich bei dieser Kundgebung wie auch bei anderen Versammlungen und Sitzungen die Freilassung der Soledad-Brüder gefordert hatte. Weil sich jetzt so viele Menschen die Auffassung zu eigen gemacht hatten, daß ich eine politische Gefangene sei, war die Staatsanwaltschaft in die Verteidigung gedrängt. Unzweifelhaft hatte Harris Angst, von dem Kernbeweis, auf den er sich anfänglich gestützt hatte, Gebrauch zu machen. Das war die Wirkung der Massenkampagne, deren zentrales Thema das unterdrückerische, politische Wesen der Strafverfolgung war.
»Die Staatsanwaltschaft wird in den nächsten Wochen keine Beweise darüber vorlegen«, erklärte er vor den Geschworenen, »in welcher Weise die Angeklagte von ihrem Recht auf Redefreiheit und Versammlungsfreiheit gemäß dem Ersten Zusatzartikel zu unserer Verfassung Gebrauch gemacht hat, bis auf gewisse Briefe, die sie geschrieben hat. Sie werden einsehen, daß das Argument der Anklagevertretung in keiner Weise auf den politischen Überzeugungen der Angeklagten aufgebaut ist, welcher Art diese auch gewesen sein mögen. «
»Die Beweiserhebung wird offenbaren, daß die Behauptung politischer Hetze, die Behauptung, daß die Angeklagte eine politische Gefangene ist, die Behauptung, daß die Angeklagte unter Strafverfolgung wegen ihrer politischen t)berzeugungen steht - daß alle diese Behauptungen falsch und unbegründet sind.«
Wenn der Staatsanwalt jedoch die »politischen Beweise« ausmerzte, mußte er den Fall in einen anderen Rahmen stellen. Dieser neue Rahmen basierte auf dem Motiv der Leidenschaft. Ich wollte ganz einfach, sagte er, einen Mann befreien, den ich liebte.
Aber obwohl er nach Kräften versuchte, politische Überlegungen für den Fall völlig unwichtig erscheinen zu lassen, schlich sich die Politik doch wieder ein. »Heute morgen«, sagte er, »haben Sie gehört, daß ihre Bücher beweisen, daß diese Dozentin der Philosophie die Gewalt studiert hat. (Er bezog sich dabei auf zwei Bücher, Die Politik der Gewalt und Gewalt und soziale Änderung.) Weiteres Beweismaterial, das wir vorbringen werden, wird zeigen, daß die Angeklagte nicht nur in der Welt der Bücher und Ideen gelebt hat, sondern daß sie sich der Aktion, daß sie sich der Gewalt verschrieben hat.«
Dann versuchte er jedoch einen Rückzieher-. »Ihre eigenen Worte werden offenbaren, daß unter der kühlen akademischen Tünche eine Frau lebt, die durchaus imstande ist, durch Leidenschaft zur Gewalt getrieben zu werden. Die Beweiserhebung wird zeigen, daß ihr eigentliches Motiv zum Verbrechen nicht die Befreiung politischer Gefangener war, sondern die Befreiung des einen Gefangenen, den sie liebte. Das grundlegende Motiv für das Verbrechen war das gleiche Motiv, das jeden Tag Hunderten von Verbrechensfällen in den Vereinigten Staaten zugrundeliegt. Das Motiv war nicht abstrakt. Es beruhte irn Grunde nicht auf einem wirklichen oder eingebildeten Bedürfnis nach einer Strafvollzugsreform. Es beruhte nicht auf dem Verlangen nach sozialer Gerechtigkeit. Es beruhte einfach auf der Leidenschaft, die sie für George Jackson empfand ... «
Am zweiten Verhandlungstag hatten wir unsere Chance, das Argument des Staatsanwalts anzugreifen. Da wir uns einige Tage zuvor entschlossen hatten, daß ich die Eröffnungserklärung an die Geschworenen abgeben sollte, hatte ich jeden Augenblick der letzten Tage darüber mit meinen Anwälten diskutiert und mein Konzept vorbereitet. Jetzt fühlte ich mich gewappnet, die Begründung der Staatsanwaltschaft in Fetzen zu reißen.
Unsere Waffen waren gesammelt. Unser Verteidigungsteam war in guter Verfassung Howard, Margaret, Leo, Dobby und ich. Die Massenbewegung hatte eine noch nicht dagewesene globale Stärke. Fania, Franklin, Charlene, Kendra, Rob, Victoria, Phyllis, Stephanie, Bettina und die anderen vom Stab waren geschulte Organisatoren. Sie bereiteten sich vor, die Bewegung über die Ziellinie zu steuern. Außerdem war durch diese neue Wendung, diese neue Theorie der Leidenschaft, die Harris vorgetragen hatte, die Sache des Staates - falls das möglich war - noch kläglicher geworden, als sie ohnehin schon war. Das war eine Führung des Prozesses aus dem letzten Loch, entwickelt und ausgebaut, als es klar geworden war, daß das politische Argument einfach nicht verfangen würde.
An diesem zweiten Prozeßtag, als mich Victoria und Rodney, die für meine Sicherheit verantwortlich waren, durch die unvertrauten Straßen von San José fuhren, waren meine Gedanken völlig von der Aufgabe erfüllt, die ich meinte, bald ausführen zu sollen.
Als wir uns den Amtsgebäuden von Santa Clara County näherten, bemerkten wir eine ungewöhnlich große Menschenmenge, die um das Gebäude herumquirlte. Bewaffnete Hilfssheriffs rannten im Hof umher. Andere waren auf den Dächern der Amtsgebäude postiert.
Da ich nicht wußte, was dieser ganze Trubel zu bedeuten hatte, meinte ich, was auch immer im Gange sei, es müsse ein Teil der groI.ien Verschwörung sein, mich auf Lebenszeit ins Gefängnis zu schicken. Jeden Tag mußten sich die Leute, die den Gerichtssaal betraten Zuschauer, Presseleute, wir selbst und sogar die Geschworenen Metalldetektoren, demütigenden Filzungen und - zumindest die Zuschauer und die Presse - Kameras stellen, die ihre Gesichter fotografierten. Jetzt war das gesamte Gelände von Beamten besetzt, die Flinten, Gewehre und Maschinenpistolen trugen.
Als ich mich im Hof umsah, bemerkte ich einige Geschworene auf den Stufen des Gerichtsgebäudes und andere auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes. Einer sagte, ein Ausbruchsversuch sei im Gange, und zwar von Gefangenen im Bezirksgefängnis für Männer, das im selben Gebäudekomplex lag wie das Gericht. Der Hilfssheriff, der den Hintereingang bewachte, wollte mich nicht durchlassen. Das Gebäude stehe unter äußerster Alarmbereitschaft, sagte er, und niemand dürfe eintreten. Wir entdeckten später, daß die Presseleute im Pressezimmer eingeschlossen waren. Die Zuschauer waren im Korridor außerhalb des Gerichtssaales eingeschlossen und ein paar Geschworene, die schon das Gebäude betreten hatten, waren im Geschworenenzimmer eingesperrt.
Als der Richter die Sicherheitsvorkehrungen für die Prozeßbeteiligten aufhob und wir uns alle im Gerichtssaal versammelten, verkündete er, daß sich das Gericht bis zum nächsten Morgen vertage und entließ die Geschworenen sofort für den ganzen Tag.
Anscheinend hatten drei Männer, die im Bezirksgefängnis bis zur Verlegung in andere Haftanstalten festgehalten wurden, beschlossen, in die Freiheit zu entkommen. Sie hatten Geiseln genommen und versucht, über ihre Freilassung zu verhandeln. Aber wie wenn sie dem Beispiel der Wächter von San Quentin gefolgt wären, hatten die Hilfssheriffs die erste sich bietende Gelegenheit ausgenutzt und sich von allen Verhandlungen freigeschossen. Der Mann, den man für den Rädelsführer gehalten hatte, wurde getötet und die anderen zwei festgenommen.
Die Abendzeitungen hatten Schlagzeilen wie GEFÄNGNIS FLUCHTVERSUCH AN ANGELAS PROZESSORT. Und eine Anzahl Artikel enthielten langatmige Vergleiche zwischen diesem Vorfall und dem Aufstand vom 7.August. Ob es so geplant war oder nicht, jedenfalls setzte sich in den Köpfen vieler Leser dieses Berichts der Verdacht fest, daß wir etwas mit dem Fluchtversuch zu tun hatten.
Diese Episode, die sich ereignete, bevor wir noch Gelegenheit hatten, unsere Sache vor den Geschworenen vorzutragen, warf für uns sehr schwierige Fragen auf. Einerseits war das einzige Mittel, um sicherzustellen, daß ich nicht von Geschworenen beurteilt wurde, deren Vorurteile durch den Eindruck dieses Fluchtversuchs noch gewachsen waren, sofort einen Fehlprozeß zu beantragen. Wenn wir jedoch andererseits einen Fehlprozeß beantragten und auch bewilligt bekamen, dann würde die Auswahl von Geschworenen von neuem beginnen. Da wir glaubten, bereits die beste Geschworenenbank ausgewählt zu haben, die Santa Clara zu bieten hatte, konnte eine neue Jury nur schlechter sein.
Das Verteidigungsteam und die Organisatoren der Kampagne besprachen sich den ganzen Abend lang, bevor wir schließlich zu einer einmütigen Stellungnahme gelangten: ein kurzes voir dire der Geschworenen, um festzustellen, ob sie infolge des Fluchtversuchs, dessen Zeugen sie gewesen waren, mehr gegen mich eingenommen waren.
Nach der Beendigung der einzelnen Befragungen am nächsten Tag entschieden wir, daß der Schaden nicht irreparabel war. Wir wollten den Prozeß fortsetzen.
Das Podium war hinter dem Tisch des Staatsanwalts und ein wenig nach links. Als ich meine Notizen ordnete und anhub, um unsere Darstellung vorzutragen, sah ich Harris auf seinem Stuhl hin und her rutschen.
»Der Staatsanwalt«, sagte ich, »hat Ihnen einen langen und sehr verwickelten Pfad eröffnet, auf dem, wie er hofft, die Beweiserhebung Sie im Lauf dieses Prozesses entlangführen wird. Er sagt, daß dieser Pfad geradewegs in die Richtung meiner Schuld weist. Er sagt, die Beweise seien so schlüssig, daß sie jeden Zweifel über meine Schuld ausräumen und Sie keine Wahl haben werden, als mich dieser sehr schweren Verbrechen, Mord, Entführung und Verschwörung, schuldig zu finden.
Wir aber sagen Ihnen, Mitglieder des Schwurgerichts, daß eben die Beweise des Staatsanwalts Ihnen zeigen werden, daß dieser Fall überhaupt kein Fall ist. Die Beweiserhebung wird offenbaren, daß ich in allen Punkten der Anklage völlig unschuldig bin. Sie wird offenbaren, daß die Sache des Staatsanwalts gegenstandslos ist. Sie wird offenbaren, daß dieser Fall auf Mutmaßung, Unterstellung und Spekulation beruht ... Der Staatsanwalt hat am Montag damit begonnen, daß dieser Prozeß gegen mich im Grunde ein Prozeß wegen eines Verbrechens der Leidenschaft sei. Er hat gesagt, daß meine Leidenschaft für George Jackson so groß gewesen sei, daß sie keine Grenzen kannte, daß ich keine Achtung vor dem Menschenleben hatte. Später hat er in seiner Darstellung behauptet, daß mir nichts am Kampf um die Befreiung politischer Gefangener gelegen war, daß mir nichts an der Bewegung, den Strafvollzug in diesem Lande zu verbessern, gelegen war. Er hat Ihnen gesagt, er wolle beweisen, daß mir nur an der Freiheit eines Mannes, George Jackson, gelegen war, und daß dieses Interesse ausschließlich durch Leidenschaft motiviert war.
Geehrte Geschworene ... die Beweiserhebung wird offenbaren, daß bei der Anklageerhebung das Große Schwurgericht von Marin County gegen mich wegen der Verschwörung zur Befreiung nicht nur George Jacksons ermittelte, sondern auch Fleeta Drumgos und John Cluchettes.
Die Beweiserhebung wird offenbaren, daß der erste öffentliche Akt zur Anklage der Verschwörung in einer Kundgebung gesehen wurde, an der ich teilnahm, und die die Befreiung der Soledad-Brüder zum Gegenstand hatte. Am 19. Juni 1970 handelte ich in Ausübung verfassungsmäßig garantierter Rechte - Rechte, die mir durch den Ersten Zusatzartikel zur Verfassung gewährleistet sind -, als ich an dieser Kundgebung teilnahm, die die Verfolgung der Soledad-Brüder und anderer politischer Gefangener, sowie die Zustände des Strafvollzugs im allgemeinen zum Gegenstand hatte. Und dennoch wurde das als der erste öffentliche Akt einer Verschwörung gewertet, durch die Ereignisse des 7. August die Soledad-Brüder zu befreien. Die Beweiserhebung wird offenbaren, geehrte Geschworene, daß diese Anklage in weiten Kreisen, ja in der ganzen Welt die Besorgnis auslöste, daß ich das Opfer politischer Unterdrückung sei. Kann man nicht, so frage ich Sie, mit einigem Grund annehmen, daß auch dem Staatsanwalt bekannt ist, daß kein unparteiisches Schwurgericht mich auf der Basis solcl~er Beweise verurteilen würde. Daher hat er gesagt, er werde keine Beweise vorlegen, daß ich mich an dem Kampf beteiligt habe, die Soledad-Brüder zu befreien. Dadurch hat er den ganzen Charakter dieses Prozesses verändert.
Und nun sollen Sie ihm glauben, daß ich ein Mensch bin, der die Verbrechen des Mordes, der Entführung und der Verschwörung aus dem Motiv reiner Leidenschaft begangen habe. Sie sollen ihm glauben, daß hinter meiner äußeren Erscheinung finstere und selbstsüchtige Gefühle und Leidenschaften lauern, die, mit seinen Worten, keine Grenzen kennen.
Geehrte Geschworene, das ist äußerst fantastisch. Es ist äußerst absurd. Trotzdem, es ist verständlich, daß Mr. Harris aus der Tatsache, daß ich eine Frau bin, Kapital schlagen will, denn in dieser Gesellschaft handeln Frauen angeblich nur nach dem Gebot ihrer Gefühle und Leidenschaften. Ich möchte sagen, daß dies offensichtlich ein Symptom des männlichen Chauvinismus ist, der in unserer Gesellschaft vorherrscht.«
Ich hatte nicht geahnt, daß diese Ausführungen bei einer Anzahl weiblicher Geschworener ein solches Echo finden würden. ich versuchte, während meiner Erklärung sorgfältig darauf zu achten, wie die Geschworenen reagierten. Als ich von dem männlichen überlegenheitswahn in der Darstellung von Harris sprach, nickten Köpfe, und die Mienen einiger weiblicher Gesichter zeigten Zustimmung. Auch sie hatten es erfahren, daß sie beschuldigt wurden, irrational und eher gefühlsmäßig als logisch zu handeln, weil sie Frauen waren.
»Die Beweiserhebung wird offenbaren«, fuhr ich fort, »daß meine Teilnahme an der Bewegung für die Freilassung der Soledad-Brüder begann, lange bevor ich George Jackson persönlich kennengelernt hatte. Sie werden hören, daß ich kurze Zeit, nachdem Fleeta Drurngo, John Cluchette und George Jackson vor einem Großen Schwurgericht in Monterey angeklagt wurden, öffentliche Versammlungen zu besuchen begann, deren Ziel es war, eine Bewegung zur öffentlichen Verteidigung der drei gegen die unbegründeten Vorwürfe, sie hätten hinter den Mauern vom Soledad-Gefängnis eine Wache getötet, ins Leben zu rufen ...
Die Beweiserhebung wird offenbaren, daß meine eigenen Bemühungen, George Jackson zu befreien, stets im Rahmen einer Bewegung stattfanden, alle Soledad-Brüder zu befreien und alle Männer und Frauen zu befreien, die rechtswidrig in Haft waren.«
Dann beschrieb ich den Verteidigungsausschuß zur Befreiung der Soledad-Brüder und erklärte den Geschworenen, daß »... unsere Versammlungen für jeden offen waren, der daran teilnehmen wollte . . . Wir organisierten Demonstrationen, Kundgebungen, Flugblattaktionen und verschiedene andere informatorische und erzieherische Aktivitäten ...
Geehrte Geschworene, wenn zu dieser Frage Zeugen vernommen werden, werden Sie erkennen, daß wir solche Aktivitäten aussuchten, die uns erlaubten, Menschen in immer größerer Zahl für die öffentliche Verteidigung der Soledad-Brüder zu gewinnen.«
Und ich legte besonderen Ton auf das, wie wir glaubten, kritische Element unserer Verteidigung, indem idi sagte, daß »die Zeugenaussagen klar beweisen werden, daß unserer überzeugung nach der Einfluß großer Menschenmengen helfen würde, einen Freispruch für sie durchzusetzen, und daß sie auf diese Weise von einer ungerechten Strafverfolgung befreit würden.
Geehrte Geschworene, in unserer Einschätzung des Soledad-Falles haben wir recht behalten, denn am Montag morgen, als Sie hier die Eröffnungserklärung der Staatsanwaltschaft anhörten, und als Sie hörten, daß mir nichts daran lag, die Bewegung für die Freilassung der Soledad-Brüder zu fördern, wurden die schönsten Früchte unserer Mühen geerntet. Die zwölf Männer und Frauen, die über viele, viele Monate hinweg alle Beweise angehört hatten, die die Staatsanwaltschaft gegen die Soledad-Brüder anführen konnte, haben nunmehr im Gericht von San Francisco die zwei noch lebenden Soledad-Brüder fÜr nicht schuldig erklärt. Und wenn George Jackson nicht im August letzten Jahres von einem Gefängniswächter in San Quentin niedergestreckt worden wäre, dann wäre auch er auf diese Weise von jener ungerechten Strafverfolgung befreit worden.«
Ich fuhr in meiner Erklärung fort, indem ich im einzelnen die Aktivitäten des SoledadVerteidigungsausschusses beschrieb und sie einbezog in meine Erfahrungen mit dem Kampf für die Befreiung der Schwarzen Menschen und für die Rechte aller arbeitenden Menschen Chicano, Puertorikaner, Indianer, Asiaten und weiße. Ich sprach von meinen Erlebnissen im Schwarzen Studentenrat der Universität von San Diego, im Schwarzen Studentenverband, im Schwarzen Kongreß, SNCC, in der Kalifornischen Lehrer-Vereinigung, der Schwarzen-Panther-Partei, im CheLumumba-Club und in der Anti-Kriegs-Bewegung.
Ich versuchte den Geschworenen zu zeigen, wie meine Tätigkeit für die Verteidigung der Soledad-Brüder Teil der langen Geschichte meines Engagements für die Bewegung zur Verteidigung und Befreiung politischer Gefangener war, darunter auch Huey Newton, die New Yorker Panther 21, Bobby Seale und Ericka Huggins, die Los Angeles Panther 18 und die sieben anderen Brüder im Soledad-Gefängnis, die auch bezichtigt wurden, eine Wache getötet zu haben.
»Die Beweiserhebung wird offenbaren«, sagte ich ihnen, »daß ich mit den Soledad 7 korrespondiert habe, daß ich ihnen meine Liebe und mein Mitgefühl und meine Solidarität in ihrem Kampf ausgesprochen habe ...
Der Staatsanwalt hat gesagt, daß dieser Prozeß nichts mit einer politischen Geheimbündelei zu tun habe, aber geehrte Geschworene, während der ganzen Zeit, in der ich in der Bewegung für die Befreiung der Soledad-Brüder tätig war, war ich der Gegenstand einer ausgedehnten Bespitzelungskampagne. Der Staatsanwalt selbst besitzt zahlreiche Berichte, die über meine Tätigkeit für die Soledad-Brüder an die verschiedenen Polizeibüros ganz Kaliforniens geschickt worden sind. Er hat Polizeiberichte über Kundgebungen, bei denen ich gesprochen habe. Er hat Filme von Demonstrationen, bei denen ich und andere unsere Unterstützung der Soledad-Brüder proklamiert haben.
Der Staatsanwalt behauptet, ich sei an der Einführung einer Gefängnisreform nicht interessiert gewesen, aber er hat Polizeiberichte in seinem Besitz, die eigens für die Verwaltung des Soledad-Gefängnisses hergestellt worden sind, und meine Aktivitäten zum Gegenstand haben.
Der Staatsanwalt behauptet, daß ich während der Zeit vor dem 7. August ausschließlich ein Opfer der Leidenschaft gewesen sei, daß ich mich nicht wirklich für die Abschaffung der Unterdrückung in den Haftanstalten eingesetzt habe, aber er hat Beweisstücke, die seine eigenen Behauptungen widerlegen werden, Beweisstücke, die von einem ganzen Netz von Polizeispitzeln und Spitzeln der Strafvollzugsbehörde über meinen Politischen Einsatz für die Freilassung von George Jackson, Fleeta Drumgo und John Cluchette angefertigt worden sind.
Aber, geehrte Geschworene, er hat Ihnen gesagt, daß Sie diese Beweisstücke nicht sehen werden. Er will keine Beweise dieser Art vorlegen. Er will Beweise dieser Art nicht vorlegen, weil er dadurch die Machenschaften offenbaren würde, durch die ein unschuldiger Mensch herausgegriffen und unerhörter Verbrechen bezichtigt werden kann. Nein, er wird diese Beweise nicht vorlegen. Er wird Ihnen weiterhin vorreden, daß ich nicht die Person bin, die Sie vor sich sehen, sondern eine böse, finstere Kreatur, die durch unbeherrschte Gefühle und Leidenschaften an den Rand der Katastrophe getrieben worden ist. «
Als ich über meine Beziehungen zu Jonathan sprechen mußte, stellte ich diese in den Zusammenhang meiner Beziehungen zu den Familien aller drei Brüder. Hinsichtlich des Verteidigungsausschusses für die Soledad-Brüder erklärte ich den Geschworenen, daß »Jonathan in besonderer Weise zu unserer Gruppe gehörte, denn er trug in sich die zornigen Frustrationen und Probleme eines jungen Mannes, der an seinen älteren Bruder nur durch Gefängnisgitter verdüsterte Erinnerungen hatte. Jonathan war ein Kind von sieben Jahren, als sein Bruder ins Gefängnis geschleppt wurde, und zehn lange Jahre begleitete er verschiedene Mitglieder seiner Familie zu verschiedenen Gefängnissen im ganzen Staat Kalifornien, um seinen Bruder zu besuchen.
Diese Besuche müssen ihm ein unauslöschliches Bild davon vermittelt haben, wie das Leben eines Gefangenen aussah, und obwohl er erst siebzehn Jahre alt war, müssen ihn das Schicksal, die Ohnmacht, die Depressionen und das Gefühl der Unabänderlichkeit bei Männern wie James McClain, Ruchell Magee und William Christmas in tiefster Seele heftig geschmerzt haben. Und ich möchte jetzt rückblickend sagen, daß ich dieses ohnmächtige Aufbegehren, das sehr tiefe Aufbegehren und die sehr tiefe Verzweiflung verstehe, die Jonathan empfunden haben muß.«
Danach wandte ich mich der Frage der Pistole und der anderen Gegenstände zu, mit denen Harris meine Schuld beweisen wollte. Ich berührte die Tatsachen, die wir nicht in Abrede stellten: »Dies ist ein übles Spiel, das der Staatsanwalt da treibt. Er hat einen Plan, ein Diagramm, eine Verschwörung erfunden und paßt dann seinen Verschwörer, seinen Verbrecher in dieses Bild hinein. Da gibt es eine Inszenierung, einen Plan des Verbrechens. Und er sucht nach Mitteln, mich so hineinzuziehen, daß es immer noch plausibel erscheint. Da ich aber keine Verbrechen begangen habe und da alle meine Aktivitäten offen und unverfänglich waren, bleibt dem Staatsanwalt nur eine Alternative. Er muß seine Indizien den gewöhnlichen Umständen des alltäglichen Lebens entnehmen. Und er überläßt es Ihnen, geehrte Geschworene, das fehlende Glied ausfindig zu machen, das eine ganz banale Tätigkeit in eine kriminelle Handlung verwandelt.«
Nachdem ich den Geschworenen zwei Stunden lang die Richtlinien unserer Verteidigung auseinandergesetzt hatte, fühlte ich mich zuversichtlich genug, fortzufahren:
»... Wir sind zum Schluß unserer Grundsatzerklärung gelangt und bitten Sie, Ihre Gedanken auf den Schluß des Prozesses zu richten, nachdem Sie geduldig und fast bis zur Erschöpfung gesessen und alle Seiten der heftigen Auseinandersetzung gehört haben, die sich in diesem Gerichtssaal abspielen wird, und nachdem Sie in ruhiger Erwägung und Überlegung zusammengesessen haben. Wir haben das größte Vertrauen, daß Ihr Urteil ein gerechtes Urteil sein wird. Wir haben das äußerste Vertrauen, daß Ihr Urteil das einzige Urteil sein wird, das die Beweiserhebung und die Gerechtigkeit in diesem Prozeß erfordern. Wir haben die Zuversicht, daß der Prozeß damit enden wird, daß Sie zwei Wörter aussprechen - >Nicht Schuldig<.«
Natürlich waren wir keineswegs so sicher, wie ich mir den Anschein gab, denn wir wußten, daß einige der Geschworenen wahrscheinlich mehr der Anklage zugeneigt als daß sie objektive Richter von Tatsachen waren. Das Verteidigungsteam hatte sie sehr sorgfältig sowohl während der Darstellungen des Staatsanwalts als auch unserer Seite beobachtet. Zwei von ihnen schien viel mehr von der Geschichte gepackt, die der Staatsanwalt zusammengebraut hatte, als von der Verteidigung, die ich vorgebracht hatte. Dennoch glaubten wir, daß eine Anzahl von ihnen, wie Ralph Delange, der Elektriker, und Mary Timothy der Analyse, die ich vortrug, sehr genau zugehört hatten.
Am Ende meiner Erklärung war ich erschöpft und fragte mich immer wieder, ob ich das Richtige richtig gesagt hatte. Der überblick, den ich gegeben hatte, mußte den Hintergrund bilden, gegen den sie monatelang die Aussagen der Zeugen für die Anklage beurteilen mußten. (Harris hatte gleich zu Anfang gesagt, daß seine Beweisführung sechs Monate in Anspruch nehmen würde.) Hatte ich es eindringlich genug gesagt, so daß sie unsere Analyse der Tatsachen im Gedächtnis behielten - oder würden sie sich nur an das hübsche kleine Hirngespinst erinnern, das der Staatsanwalt vorgetragen hatte. Bis zum Ende des Prozesses würde keine direkte Auseinandersetzung mehr stattfinden, und das Ende war in so weiter Ferne.
Kühl und ruhig übernahm Richter Arnason wieder die Herrschaft im Gerichtssaal. »Danke, Miss Davis. Bevor wir den ersten Z~ugen aufrufen, wollen wir jetzt eine Pause einlegen, und das wird hoffentlich unsere regelmäßige Nachmittagspause sein, daher werden wir Ihnen dafür etwas Zeit gönnen. Danke sehr.«
Die Zeugenaussagen begannen. Die Anklage berief mehrere Frauen in den Zeugenstand, die am 7. August 1970 die Zeugenaussagen von Ruchell Magee zugunsten von James McClain angehört hatten, als Jonathan den Gerichtssaal betrat. Harris war sichtbar betroffen, als eine der Frauen McClains Gebaren als »fast gütig« bezeichnete.
Harris legte den Geschworenen grauenerregende, blutige Fotografien in plakathaften Vergrößerungen vor. Und nur Richter Arnasons Gefühl für Schicklichkeit verhinderte, daß der Staatsanwalt auch noch als Beweis die Bilder von Richter Haley vorlegte, dessen Schädel von einer Kugel halb abgesprengt war.
Ich mußte die Augen schließen und meinen Schmerz und meine Wut für mich behalten, als er die Fotografie von Jonathan hervorholte, der tot im Lieferwagen und auf dem Asphalt lag, über den er mit einem Seil gezerrt worden war.
Während der ersten Phase der Zeugenvernehmung hatte der Staatsanwalt die Strategie verfolgt, jede Erwähnung meines Namens zu vermeiden. Er wollte lediglich feststellen, was sich in jedem Augenblick des Aufstandes zugetragen hatte.
Wir benutzten das Kreuzverhör, um Jonathan, McClain und Christmas zu verteidigen und Harris' Behauptung, daß sie brutale Terroristen waren, zu widerlegen. Schon in diesem frühen Stadium des Prozesses begannen seine Theorien abzubröckeln, weil sie in sich nicht stimmten und weil wir sie bei unserem Kreuzverhör angriffen.
Er konnte zum Beispiel nicht endgültig beweisen - »unter Ausschluß eines begründeten Zweifels«, wie es in der juristischen Sprache heißt -, daß dabei die Forderung erhoben worden war, »die Soledad-Brüder zu befreien«. Wir gingen dem nach, weil Ruchell in einem veröffentlichten Brief an mich geschrieben hatte, daß man etwas ganz anderes geplant hätte - nicht etwa die Geiseln festzuhaltten, bis die SoledadBrüder oder sonst ein Gefangener befreit waren. Nicht einmal, um die eigene Flucht zu sichern, hätte man dies getan. Sie hatten keine andere Absicht, als eine Rundfunkstation zu erreichen, sagte Ruchell, wo sie der Welt klarmachen wollten, wie man viele von ihnen verschaukelt hatte, statt sie vor ein unparteiisches Gericht zu stellen, welche unglaublich jämmerlichen Zustände hinter Mauern herrschten und insbesondere wie vor kurzem ein Gefangener namens Fred Billingslea von Gefängniswachen ermordet worden war.
Viele der Zeugen, die bei dem Vorfall anwesend waren, hatten ein »Freiheit für die Soledad-Brüder« nicht gehört. Andere hatten überhaupt keine Forderung gehört. Einige hatten gehört »Befreit die Brüder in Folsom«. Captain Teague - derselbe Teague, der alle mich betreffenden Maßnahmen im Marin-Gefängnis beaufsichtigt hatte, war sicher, »Freiheit für alle politischen Gefangenen« gehört zu haben, aber er gab zu, daß das eine bei Kundgebungen und Demonstrationen der Linken viel gebrauchte Losung sei und lediglich ein Ausruf gewesen sein konnte - also keine Forderung zur Auslösung gegen Geiseln. Sheriff Montanas von Marin County hatte nach der Theorie der Staatsanwaltschaft einen Anruf von McClain aus dem Gerichtssaal erhalten. Und während dieses Telefongesprächs soll McClain die Freiheit der SoledadBrüder gegen die Freilassung der Geiseln gefordert haben. Natürlich erwarteten alle, daß der Sheriff dieses Gespräch den Geschworenen vom Zeugenstand aus wiederholen würde. Aber Montanas sagte niemals für die Anklage aus.
Das soll nicht heißen, daß nicht eine große Anzahl seiner Mitarbeiter aussagten - und nicht nur Hilfssheriffs vom Marin County (VOn denen viele abkommandiert worden waren, um mich zu bewachen), sondern Polizisten aus allen Städten des Bezirks - San Rafael, Novota ganz zu schweigen von den Wachen in San Quentin.
Harris versuchte mit mathematischer Präzision jeden Augenblick des Vorfalls zu rekonstruieren. Er verfing sich so sehr in Läppischkeiten wer an welcher Stelle wann und wieviele Sekunden lang stand - daß er nicht einmal merkte, wie sehr diese endlose Prozession von Zeugen ermüdete und die Geschworenen sichtlich zu langweilen begann.
Als Sergeant Murphy von San Quentin aussagte, nahm ihn Leo wegen der Gefängnismaßnahmen bei Fluchtversuchen ins Kreuzverhör.
»Um sicher zu sein, daß ich die Bedeutung jener Richtlinien verstehe, möchte ich fragen, ob es der Sinn dieser Richtlinien ist, daß, wenn Gefangene einen Fluchtversuch machen und Geiseln haben, und wenn die Wachen diese Flucht verhindern können, sie die Flucht verhindern müssen, selbst wenn das heißt, daß alle Geiseln dabei getötet werden?« Sergeant Murphys ungerührte Antwort: »Das ist richtig.« »Und das heißt also, ob sie einen Richter oder fünf Richter, eine Frau oder zwanzig Frauen oder ein Kind oder zwanzig Kinder als Geiseln halten, die Richtlinien für die Wachen von San Quentin sind, daß um jeden Preis die Flucht vereitelt werden muß. Ist das richtig?« »Das erstreckt sich auch auf die Beamten, die in der Anstalt arbeiten, Sir.« »Nun gut. Auch wenn sie andere Beamte, die in der Anstalt arbeiten, als Geiseln halten, so sollte das die Strafvollzugsbeamten nicht hindern, um jeden Preis die Flucht zu vereiteln. Ist das richtig?« »Das ist richtig.« »Mit anderen Worten, es ist wichtiger, die Flucht zu vereiteln als Menschenleben zu retten. Ist das richtig?« »Jawohl, Sir.«
Der Gerichtssaal war zum Platzen gespannt, Geschworene, Presse und Zuschauer warteten fieberhaft, ungeduldig, daß der Staatsanwalt die kritische Stelle in meinem Brief an George vorlas. Aber er las weiter und weiter, seine Wörter fielen eintönig und platt auf das sonst ungebrochene Schweigen im Saal.
»Zwischen zwei Möglichkeiten des Weiterlebens zu entscheiden, bedeutet das objektive Vorhandensein von Alternativen. Ich hoffe, Du hältst das nicht für eine Abwehrhaltung. Ich versuche nur die Kräfte zu verstehen, die uns Schwarze Frauen dahin gebracht haben, wo wir jetzt sind. Warum hat Dir Deine Mutter Vorwürfe gegeben statt des flammenden Schwertes? Die gleiche Frage könnte man jeder anderen Schwarzen Frau stellen und nicht nur bezüglich ihrer Söhne, sondern auch ihrer Töchter (dies ist wirklich entscheidend). In Kuba habe ich letzten Sommer einige sehr schöne Vietnamkrieger gesehen alle Fraueii. Und wir wissen, daß der nationale Befreiungskrieg Algeriens von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen wäre, wenn die algerischen Frauen nicht aktiv daran teilgenommen hätten. In Kuba sah ich Frauen, die mit Gewehren auf dem Rücken durch die Straßen patrouillierten - zur Verteidigung der Revolution. Aber auch junge compaheras, die ihre Männer und Liebhaber erzogen - und den machismo entiiiythologisierten. Schließlich, wenn Frauen kämpfen, Fabriken leiten können, dann sollten die Männer imstande sein, im Haus und bei den Kindern zu helfen ...
Aber zurück zur Frage: Wir haben von unseren revolutionären Vorfahren gelernt, daß keine vereinzelte Tat oder Reaktion dem Feind das Zepter entreißen kann. Der Sklave stürzt sich auf den Herrn, der i ihm am nächsten ist, besiegt ihn, flieht, aber er hat nicht mehr getan, als den ersten Schritt auf der langen aufsteigenden Spirale zur Freiheit.«
Ich konnte die Schweißtropfen Harris übers Gesicht rollen sehen, als er sich mühte, den Geschworenen meinen Brief an George vorzulesen. Oft las er fast wie ein Kind, das zwar die Silben aussprechen kann, aber den Sinn des Gelesenen nicht begreift.
»Und oft drückt man sich durch individuelle Flucht vor dem eigentlichen Problem.«
Harris las den letzten Satz, als bemerke er ihn zum erstenmal. Als werde es ihm klar, daß meine Worte nicht den geringsten Beweis für meine Teilnahme am Aufstand vom 7. August lieferten; daß sie mich im Gegenteil eher von den Verbrechen, deren er mich bezichtigte, entlasteten. Obwohl es schien, als wolle er zum Ende kommen und den ganzen Stapel Briefe wegwerfen, konnte er nicht einhalten. Er fuhr fort, eintönig, stockend.
»Nur wenn alle Sklaven aus ihrem Schlaf hochgerüttelt werden, ihre Ziele artikulieren, ihre Führer wählen, sich unverbrüchlich verpflichten, jedes einzelne Hindernis zu zerstören, das ihnen im Weg stehen könnte, wenn sie ihre Visionen einer neuen Welt auf den Boden der Erde, in das Fleisch und Blut der Menschen schreiben ... Eine Mutter kann nicht anders, als um das Leben von ihrem eigenen Fleisch und Blut zu schreien.«
Harris las das, als sei er ein ausländischer Student des Englischen, der jedes Wort seines Lehrers nachspricht. Ich sah mir die Geschworenen an. Ein paar Frauen, insbesondere Mrs. Timothy, schienen sein Motiv ergründen zu wollen, das ihn diese Briefstellen vorlesen ließ.
»Man hat uns verboten, die Wahrheit des Überlebens zu begreifen daß es ein kollektives Unterfangen ist und eher offensiv als defensiv sein muß -; uns befiehlt das Prinzip des Überlebens die Vernichtung alles dessen, was uns zwingt, unser Leben um dieses Prinzip zu arrangieren.«
Er sprach »Vernichtung« mit besonderer Betonung, wie jedes andere Wort, von dem er glaubte, daß es etwas mit Gewalt zu tun hätte.
»Ängste, Zwangsvorstellungen, die von dem Fantasiebild eines verhungerten Kindes heraufbeschworen werden, richten unseren Geist und Körper auf die unmittelbaren Bedürfnisse des Lebens. Das Geschwätz von der >Arbeit<, das Geschwätz von >Mach was aus dir<. Mahnungen, die sich auf Angst gründen, eine Angst, von einem System erfunden und erhalten, das ohne die Armen, ohne das Reserveheer der Arbeitslosen, ohne die Sündenböcke nicht existieren könnte.
Lebensinstinkte, von einem System verbogen und fehlgeleitet, das mich zwingt, meinen arbeitslosen Mann aus dem Haus zu werfen, damit der Sozialarbeiter mir nicht die Wohlfahrtszahlungen sperrt, die ich brauche, um mein hungriges Kind zu ernähren.«
Er eilte durch diesen Satz, um ihn möglichst herunterzuspielen. »Ein labyrinthisches Netz von mörderischen Einrichtutigen, die meinern Mann keine Beweglielikeit, keinen Entfaltungsrauni mehr lassen sollen, macht mich zur Empfängerin der Schecks, läßt rnich durch die Hintertür ein, um Fußböden zu scheuern (so daß das Arbeiterheer in Reserve bestehen bleibt) und besitzt noch die Frechheit, das für eine Gefälligkeit zu halten, für die ich dem weißen Schänder zu Willen sein und/oder meinen Schwarzen Mann unterjochen muß. Das Prinzip des (un)Gerechten Austauschs ist allmächtig.«
Harris zog sein zerknautschtes weißes Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Diese Pause war offenbar beabsichtigt. Er stand im Begriff, die Stelle zu lesen, die er für besonders belastend hielt. Anscheinend hoffte er durch die Pause, mit der er diese Stelle hervorhob, die Geschworenen alle anderen Ideen, die in dem Brief ausgesprochen waren, vergessen zu lassen und ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf das Kommende zu lenken. »Frustrationen, Aggressionen lassen sich nicht unbegrenzt unterdrücken. Man muß darauf gefaßt sein, daß sie sich irgendwann entladen. Wenn jedoch der Pfad der Revolution unter einer Lawine von Eindämmungsmechanismen begraben ist, dann schießen wir Schwarzen Frauen unsere Kugeln in die falsche Richtung und verstehen nicht einmal unsere Waffe. Denn für die Schwarze Frau liegt die Lösung nicht darin, daß wir weniger aggressiv werden oder daß wir die Waffe niederlegen, sondern daß wir lernen, richtig zu visieren, genau zu zielen, langsam abzudrücken und nicht zu reißen und nicht das Opfer zu betrauern. Wir müssen jubeln lernen, wenn das Blut der Schweine fließt.«
Harris hatte langsam gesprochen, mit aller Entschiedenheit und Dramatik, die er aufbringen konnte.
Ich hoffte, daß die Geschworenen nicht so unintelligent waren, wie er sich einbildete. Einige von ihnen müssen den bildlichen Vergleich verstanden haben.
Harris kehrte zu seiner früheren Eintönigkeit zurück. »Aber all das setzt voraus, daß sich der Schwarze Mann von dem Märchen freigemacht hat, seine Mutter, seine Frau mü13ten gekuscht werden, bevor er den Krieg gegen den Feind führen kann. Befreiung ist eine dialektische Bewegung - der Schwarze Mann kann sich als Schwarzer Mann nicht befreien, wenn sich nicht die Schwarze Frau von all diesem Dreck befreien kann - und umgekehrt. Und das ist lediglich der Anfang.
Ist es denn ein Zufall, daß Leroi Jories und Ron Karenga und dieser ganze Klüngel feiger Kulturnationalisten die völlige Unterwerfung der Frau fordern als Sühne für die >jahrhundertelangen Schäden, die sie dem Schwarzen Mann zugefügt hat<. Wie Du sagst, George, kann man nach gewissen klaren Kriterien ermessen, inwieweit die KonterRevolution von Leuten gefördert wird, die sich unsere Kampfgenossen nennen. Ihre Einstellung zu den Weißen ist das eine Kriterium. Ihre Einstellung zur Frau das andere.«
Ich dachte, Harris wollte die Aufmerksamkeit der Geschworenen von meiner Kritik an den blindlings anti-weißen Nationalisten in der Bewegung ablenken. Er verließ sich darauf, daß sie mich instinktiv mit dem anti-weißen Flügel der Schwarzen Befreiungsbewegung in einen Topf warfen und sich dadurch in ihrem bereits vorhandenen politischen Vorurteil bestätigt fühlten. »Die Befreiung der Frau in der Revolution ist untrennbar von der Befreiung des Mannes.« Er las diesen letzten Satz, als hätte er keinen verständlichen Sinn. »Ich bin ins Schwätzen gekommen. Ich hoffe, ich habe nicht in Tautologien geredet.« Hier nahm er Zuflucht zu derselben absichtlichen Pause wie zuvor.
Den letzten Teil des Briefes wollte er mit, höchster Dramatik, höchster Betonung verlesen. Den sollten sie im Gedächtnis behalten. »Jon und ich haben einen Waffenstillstand geschlossen. Solange ich meine Angewohnheit bekämpfe, ihm seine Jugend vorzuhalten, will er versuchen, seinen männlichen Chauvinismus zu bekämpfen. Sei nicht ungehalten mit mir, bevor Du mich verstehst - ich habe nie gesagt, daß Jon für irgend etwas zu jung ist ich habe nur erwähnt, wie unglaublich es ist, daß er es trotz der katholischen Schule usw. der Gesellschaft nicht gestattet hat, ihn in die Falle deY Pubertät zu locken. Trotzdem hat er es nicht gern, wenn man auf sein Alter anspielt. «
Die Worte hatten seltsam geklungen, als Harris versuchte, seiner Stimme Nachdruck zu verleihen: »Ich habe nie gesagt, daß Jon für irgend etwas zu jung ist ... « Dieser Satz, den ich ganz nebenher auf das Papier gekrakelt hatte, dieser Satz, mit dem ich George zeigen wollte, daß ich wußte, wie sehr er seinen Bruder liebte und bewunderte, diesen Satz wollte Harris sich als praktische Bestätigung seiner Verschwörungstheorie zunutze machen. Aber er hatte erst angefangen; es kam noch besser: »In der Nacht, nachdem ich dich zum erstenmal seit Monaten im Gericht gesehen hatte, träumte ich (oder der Traum war zumindest wichtig genug, um in mein Bewußtsein zu dringen), daß wir zusammen waren, Schweine bekämpften und siegten. Wir lernten einander kennen. « Es schien, als wolle Harris die Geschworenen glauben machen, ich sei in meine sogenannte Verschwörung so eingesponnen gewesen, daß ich selbst im Traum Verschwörung trieb.
»Ich liebe Dich. Revolutionäre Grüße von Che-Lumumba und dem Ausschuß für die Verteidigung der Soledad-Brüder. Angela.«
Als Harris zum Ende des Briefes gelangte, holte er tief Luft und ließ einen mächtigen Seufzer fahren. Er zeigte nicht die Zuversicht eines Staatsanwalts, der soeben das Kernstück seiner Beweisführung vorgetragen hat. Sein Benehmen schien viel eher darauf hinzudeuten, daß er sich restlos geschlagen fühlte. Und sein Seufzer war ein Seufzer der Erleichterung - als hätte er geglaubt, er würde nie bis zum Ende dieses Briefes kommen, den er hersagen mußte wie ein Schuljunge.
Der Zwiespalt meiner Gefühle lähmte mich. Da dieser Brief als Beweisstück dienen sollte, fühlte ich mich einerseits gedrängt, noch ein.mal darzustellen, wie furchtbar der Staat mit meinem Fall Schiffbruch erlitten hatte - mit dieser Art von Beweisen hatte man mich sechzehn Monate im Gefängnis eingesperrt. Aber andererseits fühlte ich mich erniedrigt, weil meine intimsten Gefühle auf diese Weise durch die berechnende und fühllose Darbietung des Staatsanwalts in die öffentlichkeit gezerrt wurden. Und der unverminderte Schmerz über Jons Tod, über Georges Tod und der brennende Zorn gegen ihre Mörder flammten wieder auf. Ich konnte nicht weinen, ich konnte nicht schreien. Ich mußte hier am Verteidigertisch sitzen und auf das nächste Beweisstück warten, mit dem der Staatsanwalt die Geschworenen von meiner Schuld überzeugen wollte.
Eine der nächsten Zeuginnen, die aussagte, war Mrs. Otelia Young. Eine Schwarze Frau, etwa sechzig Jahre alt, ziemlich klein und mit gebeugtem Rücken, als hätte sie Jahrzehnte lang schwer gearbeitet. Aber sie ging mit festen, entschlossenen Schritten zum Zeugenstand. Obwohl ihr Gesicht nicht direkt gerunzelt war, zeigte es doch einen fast zornigen Ernst. Ich fragte mich, ob die Anwesenden diese Entschlossenheit, diesen Ernst als gegen mich gerichtet auffaßten; die Geschworenen waren sichtlich verblüfft.
Mrs. Young hatte im Haus am 35th Place in der Wohnung unter mir gelebt. Wir hatten uns viele Male gegrüßt, und ich hatte gelegentlich das Telefon in ihrer Wohnung benutzt. Ich hatte sie sehr gern - sie hatte eine Vitalität an sich, die sie offenbar befähigt hatte, durchzuhalten. Das Funkeln ihrer Augen und ihr erfreulich kaustischer Humor hatten mich wünschen lassen, daß ich meine Freundschaft mit ihr vertiefen könnte. Aber dazu war keine Zeit gewesen.
Sie hatte Jonathan ein paarmal im Haus gesehen, und sie hatten sich gut angefreundet, weil sie beide es liebten, sich gegenseitig aufzuziehen. Mit unverkennbarer Zuneigung sagte Jonathan etwa: »Wie geht's denn heute, alte Hexe?« Und bevor er noch Atem holen konnte, vergalt sie's ihm mit: »Was hast du denn schon wieder angerichtet, du verrückter gelbhaariger Bengel?« Und sie gingen ihres Weges.
Jetzt hatte der Staat sie geladen, um gegen mich auszusagen.
Harris versuchte, seine Verschwörungstheorie zu untermauern. Mit seiner gewohnten Methode, alles, was ich vor dem Aufstand in Marin County getan hatte, in verschwörerische Aktivität umzudeuten, wollte er zu beweisen suchen - so sagte er in seiner Eröffnungserklärung - daß ich die Wohnung am 35th Place ausdrücklich zu dem Zweck genommen hätte, um mit Jonathan zu konspirieren, der, wie er sagte, auch in die Wohnung gezogen sei. Er rief Mrs. Otelia Young auf, um diese Hypothese zu stützen.
Ja, sagte sie, sie hätte Jonathan Jackson irn Haus am 35th Place gesehen. War er oft da gewesen? Nein, nicht oft, nur ein paarmal. Hatte sie gesehen, wie ich in die Wohnung einzog und meine Sachen in einem weißen Kombiwagen mitbrachte? Ja, sagte sie, sie hätte den Kombiwagen gesehen. War Jonathan dabei, als ich einzog - hatte er meine Sachen nach oben gebracht? Nein, der Kombiwagen war voller Bücher, und die hätte ich sämtlichst allein nach oben getragen.
Zweifelnde Gesichter im ganzen Gerichtssaal. Man konnte sehen, daß sich die Geschworenen fragten, warum Harris überhaupt Mrs. Young in den Zeugenstand gerufen hatte. Wir hatten uns schon gedacht, daß er alle Schwarzen Menschen rufen würde, deren er habhaft werden konnte - ganz gleich, was sie sagen würden. Eine rassistische List - die darauf baute, daß die Geschworenen meiner Unschuld doppelt mißtrauen würden, wenn Schwarze Menschen als Zeugen der Anklage auftraten. Aber die Aussage von Mrs. Young war offenbar ein Schuß, der nach hinten losging.
Ihre Antwort auf die Frage von Harris, womit sie beschäftigt sei, blieb besonders haften. »Verbringen Sie viel Zeit bei Ihrer Arbeit?« »Ja, ich arbeite - ich arbeite von sieben Uhr morgens bis acht, halb neun Uhr abends.« Sie sprach zornig mit einem Grollen in der Kehle, und ihre Worte donnerten durch den Saal. Alle begriffen sofort, daß sie eine Hausangestellte in einem weißen Haushalt war und sich jeden Tag von der Frühstückszeit bis zur Zeit des Abendessens abplacken mußte. Ich hätte gern gewußt, ob sich einige Geschworene daran erinnerten, was ich George über die Schwarzen Frauen geschrieben hatte. Merkten sie, daß ich über Otelia Young und alle ihre Schwestern geschrieben hatte, die um ihre Existenz kämpften?
Es war offensichtlich, daß Harris die Vernehmung unterbrochen hatte, ohne sie zu beenden. Er war der Angreifer in diesem Duell gewesen, aber er konnte nicht den Mut aufbringen, es bis zum Ende auszufechten.
Ein Kreuzverhör war nicht nötig, deshalb stieg Mrs. Young so stolz vom Zeugenstand nieder wie sie hinaufgestiegen war. Ihre Blicke waren dabei geradeaus gerichtet - auf die Tür am hinteren Ende des Gerichtssaales. Wir waren daher alle verblüfft, als sie zum Geländer kam, sich jählings mir zuwandte und mir ein riesiges, fast verschwenderisches Lächeln schenkte. Mit dem alten Funkeln in den Augen grüßte sie mich mit einem liebevollen, ausgedehnten »Hallo!« und winkte mit der Hand, wie man kleinen Kindern winkt.
Der März war schnell unter unseren Bemühungen dahingeschmolzen, eine Geschworenenbank auszuwählen, die die Nebelwand der Dutzende von Zeugen für die Staatsanwaltschaft durchdringen konnte. (Ursprünglich hatten über vierhundert auf der Liste gestanden.) Jetzt war vom April nichts mehr übrig.
Ich hatte seit langem vergessen, wie man sich entspannt; obwohl ich mich niemals dem Lebensstil anpaßte, der uns auferlegt wurde, war es doch sehr beängstigend, wie der Prozeß sein eigenes Leben entwickelte - ein Leben, das unser Leben aufzehite. Montag bis Donnerstag stürzten 'Margaret und ich aus dem Haus, um uns mit dem Richter, den Geschworenen und dem Staatsanwalt um neun Uhr fünfzehn zu treffen, als eilten wir zu unserer Berufsarbeit oder zur Vorlesung. Freitags mußte ich mich beim Bewährungsamt von Santa Clara melden, um zu beweisen. daß ich mich nicht abgesetzt hatte.
Samstag und Sonntag waren unsere Beratungstage - Tage, an denen wir die Prozeßlage abschätzten, Tage der Kritik, Selbstkritik, Diskussionen und schließlich der kollektiven Obereinkunft, welchen Stand wir in der kommenden Woche im Gerichtssaal einnehmen würden. Dann kamen die Beratungen mit dem Stab (les Verteidigungsausschusses, wo Gedanken für den Massenvertrieb von Prozeßliteratur gefaßt und formuliert wurden, wo Demonstrationen und Kundgebungen geplant wurden, wo die globale Verteidigungsarbeit mit den Ereignissen koordiniert wurde, die sich im Gerichtssaal entwickelten. Aber es war nicht nur mein Leben, das von diesem Fall mit Beschlag belegt wurde. Margaret, Howard, Leo, Dobby - sie arbeiteten unablässig. Charlene, Kendra, Franklin, Fania, Bettina, Stephanie, Rob, Victoria, Rodney und alle anderen Führer der Massenkampagne hatten ihr Leben ganz auf den Aufbau der Bewegung ausgerichtet. Selbst an dem Tag, an dem Fanias Baby geboren wurde, hatte sie ein paar Stunden mit mir im Gefängnis die Kampagne besprochen. Einige Monate später bat sie Mutter, Eisa bei sich in Birmingham zu behalten, damit sie ihre ganze Zeit auf die Organisation verwenden könnte. Als Mutter im Land und in Kanada umherreiste und die Menschen beschwor, mir und allen politischen Gefangenen behilflich zu sein, trug sie Eisa auf dem Arm mit sich.
Am 4. Mai erzählte ein Kronzeuge der Anklage die Geschichte, von der der Staatsanwalt hoffte, daß sie die Geschworenen endgültig von meiner Schuld überzeugen würde. Alden Flemming, ein dicker Mann mit rosigem Teint, an dem die Kleider sozusagen schlotterten, war der Besitzer einer Tankstelle, die am Ende eines der Eingänge zum Amtskomplex des Marin County lag. Er sagte aus, daß er mich mit Jonathan am 6. August, dem Tag vor dem Aufstand, in seiner Tankstelle gesehen hätte. Das Kreuzverhör ergab, daß er mich zuerst nach einer Fotografie identifiziert hatte, die so listig ausgesucht war, daß ihm keine andere Wahl blieb. Die Gruppe umfaßte einige Porträtfotografien von Schwarzen Frauen mit glattem Haar, deren Namen über die Fotos geschrieben waren. Es waren Bilder von Fania, Penny Jackson, Georgia Jackson und etwa sechs oder sieben Aufnahmen von mir, die alle während der von den Medien hochgespielten Soledad-Kundgebung am 19. Juni gemacht worden waren, dem Tag, an dem ich auch aus der Universität gefeuert worden war. Auf einigen dieser Aufnahmen sprach ich in ein Mikrophon, und eine zeigte sogar Jonathan, der neben mir ging. Keiner konnte die Absicht verkennen Flemming wurde gebeten, Angela Davis zu identifizieren.
Vor Gericht identifizierte er nicht nur alle Aufnahmen von mir, sondern deutete auch auf meine Schwester Fania und sagte, er sei nicht ganz sicher, aber er glaube, daß das Bild von Penny Jackson auch ich sein könnte. Als Leo ihn über seine Erfahrung mit Schwarzen Mensehen befragte, teilte er uns hastig mit, daß 20 Prozent seiner Kunden Schwarze seien was in einem Bezirk, dessen Bevölkerung zu knapp drei Prozent Schwarz ist, unglaubhaft erschien.
»Haben Sie Erfahrung im Anblick von Schwarzen Frauen mit Afro-Frisur?« fragte Leo. »Ja.« »Haben Sie diese Frisur oft in Ihrem Leben gesehen?« »Seit sie populär geworden ist.« »Nun gut, und wie lange würden Sie sagen, ist die Afro-Frisur eine populäre Frisur Schwarzer Frauen?« »Oh, vielleicht sieben Jahre.« »Und ich nehme an, Sie haben in dieser Zeit viele Schwarze Frauen mit Afro-Frisuren gesehen? Wäre das eine angemessene Behauptung?« »Zwanzig Prozent der Leute, die zu meiner Tankstelle kommen.« »Sie meinen alle Leute, die zu Ihrer Tankstelle kommen, tragen Afro-Frisuren?« »Ich würde sagen, fünfzehn oder zwanzig Prozent.« »Dann haben Sie also eine riesige Menge von Schwarzen Frauen mit Afro-Frisur gesehen?« »Stimmt.«
Dann kam Leo mit einem neuen Thema. »Wie viele Schwarze Menschen mit heller Haut haben Sie in Ihrem Leben zu Gesicht bekommen?« »So hell wie diese Dame ist, würde ich sagen, nicht mehr als zehn.« (Jede Schwarze Person oder jeder, der einige Zeit im Verkehr mit Schwarzen Menschen verbracht hat, wüßte, wenn wirklich 20 Prozent seiner Kunden Schwarz sind, daß er dann eine große Anzahl mit so heller Haut wie meiner gesehen hat, und viele mit viel hellerer Haut.) »War das eins der Merkmale, das Ihnen bei der Identifizierung geholfen hat?« »Ja.« »Sonst etwas?« »Ihre Gesichtszüge.« Und als Leo ihn bat, bei der Beschreibung dessen, was an meinen Gesichtszügen auffällig sei, genauere Angaben zu machen, sagte er: »Also, ich würde sagen, sie hat große Augen. Die Backenknochen sind höher. Ich würde nicht sagen, daß sie ein starkes Gesicht hat, ein so schweres Gesicht wie farbige Menschen es haben.« Dann stellte Leo die unvermeidliche Frage, wobei er »farbige Menschen« im Tonfall von Flemming aussprach. »Gibt es eine besondere Art von Gesicht, das >farbige Menschen< Ihrer Meinung nach im allgemeinen haben?« Flemming stotterte etwas und sagte schließlich: »Also, ich würde sagen, diejenigen, mit denen ich zu tun hatte, deren Gesichter sind platter, und das ist es.« »Gesichter sind platter.« »Ja.« »Und das Gesicht von Miß Davis war nicht platt, und das machte sie ungewöhnlich. Ist das richtig?« »Also ich - ich finde nicht, daß sie ein plattes Gesicht hat.« Leo sah Flemming ins Auge, ließ eine deutliche Pause eintreten und fragte dann: »Mr. Flemming, finden Sie nicht, daß alle farbigen Menschen gleich aussehen?« Und als wolle er seine Wahrheitsliebe endgültig vor den Geschworeneu beweisen, antwortete er ohne Zögern: »Nicht im Fall von Miß Davis.«
Es war klar, daß die Einstellung dieses Mannes so von Rassismus durchsetzt war, daß er nicht imstande gewesen wäre, eine Schwarze Person ehrlich zu identifizieren, auch wenn sein Leben daran gehangen hätte. Die Ergebnisse unseres Kreuzverhörs sind in der Presse des Establishments nie veröffentlicht worden - alle Berichte hatten das direkte Verhör von Harris zum Inhalt, dessen inszenier-ung, wie wir glaubten, schon vorher arrangiert und eingeübt worden war.
Die Geschworenen schienen von einer kleinen Probe Detektivdramatik beeindruckt zu sein, mit der Howard aufwartete. Ohne daß ich es wußte, hatte er eine Woche vorher Kendra gebeten, ihn nach Marin zu fahren, wo er in der Tankstelle von Flernming vorfuhr. Wie es ihm bei allen Zeugen der Anklage gestattet war, hatte er Flemming über die Aussage befragt, die er dem Staatsanwalt gemacht hatte. Aber bevor sie weiterfuhren, war Kendra ausgestiegen, hatte Flernming gebeten, den Ölstand zu prüfen, und ihn, um sich ihm so auffällig wie möglich zu machen, in eine kleine Unterhaltung verwickelt.
Es überraschte mich, als Leo nun Flemrning fragte, ob er je die Schwarze Frau gesehen hätte, die neben mir hinter dem Verteidigertisch saß. Ich nahm an, er wolle den Zeugen nur verwirren. Flemming antwortete, er hätte sie zwar nie persönlich gesehen, aber er glaube, daß er einen Zeitungsartikel gesehen hätte, in dem ihr Bild abgedruckt war. Es stellte sich dann heraus, daß er nicht die geringste Erinnerung hatte, Kendra in der Tankstelle gesehen zu haben, obwohl er behauptet hatte, daß er nicht mehr als zehn Schwarze Frauen gesehen hätte, die eine so helle Hautfarbe hatten wie ich.
Während die Anwälte auf dieses wichtigste Beweisstück der Anklage loshämmerten, nährten die Schwestern und Brüder des Ausschusses die Flammen in den Straßen, unter den Menschen. Je mehr die Bewegung für meine Freiheit an Zahl, Kraft und Zuversicht zunahm, desto zwirlgender wurde es, daß alle Beteiligten darin nicht etwas Ungewöhnliches sahen, sondern einen kleinen Teil des großen Kampfes gegen die Ungereclitigkeit, einen Zweig an einem fest verwurzelten Baum des Widerstandes. Es war nicht nur politische, Unterdrückung, sondern Rassismus, Armut, Polizeibrutalität, Drogen und alle die hunderttausend Arten, durch die Schwarze, Braune, Rote, Gelbe und weiße Arbeiter an das Elend und die Verzweiflung gekettet sind. Und das nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern in Ländern wie Vietnam, wo die Bomben wie Regen von den B 52 Bombenflugzeugen fielen und unschuldige Kinder verbrannten und verstümmelten.
Es war unsere Absicht, in der Massendemonstration, in der unsere Kampagne ihren Gipfel erreichen sollte, alle diese Kämpfe zu einer einzigen dramatischen Demonstration zusammenzufassen. Unsere verschiedenen Bewegungen - politische Gefangene, Wohlfahrtsrechte, nationale Befreiung, Arbeit, Frauen, Anti-Krieg - konnten hier oder dort Stürme entfachen. Aber nur eine mächtige Vereinigung aller konnte den großen Orkan erzeugen, der das ganze Gebäude der Ungerechtigkeit umstürzte.
Viele andere Organisationen riefen zusammen mit unserem Ausschuß zu einer Kundgebung gegen Rassismus, Unterdrückung und den Krieg auf. Sie sollte am Schauplatz meines Prozesses stattfinden - San Jos6, Kalifornien - und zwar am 26. Mai. Meine Kautionsvorscliriften hinderten mich, an der Kundgebung teilzunehinen. Ich hatte jedoch das Glück, daß die Leute, die dem Park gegenüber wohnten, und zwar unmittelbar hinter der Tribüne, mir ihr Haus ganz zur Verfügung stellten. Ich sah und hörte der Kundgebuiig von einem Zimmer in ihrem Erdgeschoß zu.
Die Menge beeindruckte nicht nur durch ihre Zahl - Tausende kamen aus dem ganzen Staat -, sondern, was wichtiger war, durch ihre Zusammensetzung, da Schwarze, Chicano und weiße etwa in gleicher Stärke vertreten waren. Es war auch nicht die übliche Ansammlung von Politikos, die zu jeder Demonstration laufen, vor allem, weil so viele aus San José kamen, das keine lange Tradition des radikalen politischen Protestes besaß. Man konnte die pulsende Frische und Begeisterung derer fühlen, die sich zum erstenmal in ihrem Leben gezwungen sahen, in diese vereinte Forderung nach Gerechtigkeit einzustimmen.
Unter den Rednern waren Richard Hatcher, der Schwarze Bürgermeister von Gary, lndiana, Schwester Mary McAllister, eine der Angeklagten im Prozeß der acht von Harrisburg, Phillip de la Cruz von der Gewerkschaft der Landarbeiter, Raul Ruiz, der la Raza Unida vertrat, Pat Sumi, die über die Verbindung zwischen der Frauenbewegung und der Unterdrückung sprach, und Franklin Alexander, der die Rede für den Ausschuß hielt. Als die Reden zu Ende und die vielfarbige Menge heiser vom Schreien war, konnte niemand leugnen, daß zumindest ein moralischer Sieg errungen war. Jetzt handelte es sich nur noch darum, unsere nächsten Schachzüge sorgfältig zu planen und geschickt auszuführen - sowohl im Gerichtssaal wie draußen auf der Straße.
In den letzten Monaten hatten die Anwälte - insbesondere Dobby und Margaret - eine eindrucksvolle Ansammlung von Zeugen für die Verteidigung zusammengeholt. Wir hatten von Anbeginn gewußt, daß wir uns um die Widerlegung der tatsächlichen Behauptungen nicht so sehr zu sorgen brauchten - da kaum Tatsachenmaterial gegen mich vorhanden war - als um die Politik, die in der Darstellung des Staatsanwalts enthalten war. Da der Staatsanwalt, in einem letzten Grabengefecht, die Theorie der Leidenschaft aufs Tapet gebracht hatte, mußten wir das wahre Bild meines Engagements für den Soledad-Fall und besonders für George zeichnen und den Geschworenen eine umfassende Darstellung meiner vorhergegangenen politischen Aktivitäten, vor allem im Hinblick auf politische Gefangene liefern. Wir waren da in einem Dilemma, weil wir zwar unsere Zeugen aussagen lassen wollten, aber die Nichtigkeit der Anklage so sehr in die Augen sprang, daß man eigentlich keine Verteidigung brauchte, um sie zu widerlegen. Harris hatte meine Schuld nicht über jeden begründeten Zweifel hinaus bewiesen. Wir waren daher nicht verpflichtet zu beweisen, daß ich unschuldig war.
Wir hatten mehrere lange, ziemlich hitzige Auseinandersetzungen, wie wir unsere Verteidigung gestalten sollten. Einige im Verteidigerteam und einige Führer der Kampagne, die sich mit dem Rechtssystem auskannten, fanden die Anklage so fadenscheinig, daß man ihr mit einer Verteidigung nur eine Legitimität und Glaubwürdigkeit verleihen würde, die sie aus eigenem Anspr-uch nicht besaß. Ich meinte zuerst, daß wir das ganze Verteidigungsmaterial so präsentieren sollten, wie wir's geplant hatten, nicht so sehr, weil eine Verteidigung in meinem besonderen Fall juristisch nötig war, sondern weil ich darin ein urigeheuer wirkungsvolles Mittel sah, die Unterdrückerrnethoden der Regiei ui)g anzuprangern, mit denen sie alle Gegner mundtot machte. Vielieicht war die Festigkeit, mit der ich diese Einstellung vertrat, auch teilweise darauf zurückzuführen, daß ich Monate der Vorbereitung nicht einfach zum Fenster hinauswerfen wollte. Margaret, Dobby und ich hatten seit unvordenklichen Zeiten, wie es schien, an meinen Aussagen und an dem Politischen Beweismaterial gearbeitet, das durch andere Zeugen vorgelegt werden sollte.
Die Befürworter der »Keine-Verteidigung«-Strategie erinnerten uns daran, daß wir die Methoden der Unterdrückung im ganzen Prozeß angeprangert hatten - und dazu kam dann noch das Schlußplädoyer, in dem alles noch einmal zusammengefaßt würde. Dann richteten sie von neuem unsere Aufmerksamkeit auf den Prozeß selbst und legten dar, daß wir den Geschworenen immer wieder gesagt hätten, der Beweis läge beim Staatsanwalt - nicht bei der Verteidigung. Wenn der Staatsanwalt sein Argument nicht »über jeden begründeten Zweifel hinaus« beweisen konnte, dann brauchten wir kein Wort der Verteidigung vorzubringen. Wenn wir eine Verteidigung boten, die Wochen und Monate dauerte, dann könnten die Geschworenen denken, daß wir uns vor etwas fürchteten, was ihnen selbst entgangen war, als der Staat seine Beweise vorlegte. Wenn andererseits überhaupt keine Verteidigung stattfand, dann konnten die Geschworenen denken, daß wir schwiegen, weil wir keine Gegenargumente hatten.
Nachdem diese Debatten beendet waren und sich die Temperamente abgekühlt hatten, einigten wir uns alle auf eine dritte Methode der Verteidigung - eine kurze Reihe von Zeugen mit Aussagen, die im Tatsächlichen und Politischen bündig waren.
Das Ende war nahe. Nachdem Leo den Antrag auf einen vom Richter angeordneten Urteilsspruch gestellt und begründet hatte, den Arnason, wie vorauszusehen war, ablehnte, begründeten wir unsere Verteidigung in zweieinhalb Tagen. Einige Genossen, ein Freund und ein Rechtsanwalt, den ich in den Tagen vor dem Aufstand in San Francisco gesehen hatte, gaben Zeugnis für die Gründe, weshalb ich mich damals in der Gegend von San Francisco aufgehalten hatte. Wir vernahmen den Freund, in dessen Haus ich zu Besuch war, als ich von dem Aufstand und Jonathans Tod erfuhr. Meine Zimmergenossin Tamu sagte als Zeugin über die Waffen aus. Sie erklärte, daß die Pistolen und die Munition von den Mitgliedern des Che-Lumumba-Clubs für Schießübungen benutzt wurden, und daß der Ort, wo sie aufbewahrt wurden - im Haus in der 45th Street - einer ganzen Anzahl von Schwestern und Brüdern leicht zugänglich war. Und letzter Zeuge war Dr. Robert Buckout, ein Experte für Aussagen von Augenzeugen. Er beschrieb Experimente und zeigte Dias, die bewiesen, daß die Menschen den natürlichen Hang haben, Einzelheiten von Personen und Ereignissen, an die sie sich nur lückenhaft erinnern können, selbst dazuzuerfinden. Ein Experiment, das die Geschworenen zu beeindrucken schien,' zeigte einen weißen Studenten, der mit einem schwarzen Beutel auf dem Kopf in der Universität herumging. Es stellte sich heraus, daß eine große Zahl derer, die später nach ihm gefragt wurden, mit Sicherheit einen Schwarzen Mann gesehen haben wollten.
Wir beendeten die Beweisführung der Verteidigung, Harris rief ein paar Zeugen auf, um unsere Argumente zu entkräften, und hielt dann sein abschließendes Plädoyer. Seit der Eröffnung des Prozesses war seine Zuversicht beträchtlich verschlissen, und ich hatte den Eindruck, daß er die ganze Sache nur möglichst schnell hinter sich bringen wollte. Leo hielt das abschließende Plädoyer für die Verteidigung. Es gab Augenblicke, in denen ich von seiner Darstellung - die beredt war und zu Herzen ging - so gepackt wurde, daß ich völlig vergaß, daß hier mein Leben auf dem Spiel stand. Er schloß sein Plädoyer mit dem Blick auf die Verteidiger:
»Wir haben eine große Verantwortung auf unseren Schultern getragen. Wir haben versucht, diese Verantwortung mit Wahrheitsliebe und mit Würde zu tragen. Mit diesen meinen letzten Worten übertragen wir diese Verantwortung nun von unseren auf Ihre Schultern. Und damit verbinden wir die folgende Hoffnung: Wenn Sie, die zwölf Männer und Frauen, bewährt und treu, das letzte Kapitel im Fall des Volkes gegen Angela Davis schreiben, dann werden Sie sagen können, daß Sie erwählt wurden, daß Sie gedient haben, erwogen haben und das einzige Urteil gefällt haben, das sich in diesem Fall mit der Gerechtigkeit verträgt. Und das ist das Urteil nicht schuldig. So wird es sein.«
An jenem Freitag morgen, kurz vor Mittag, zogen sich die Geschworenen in das »verbotene« Zimmer im oberen Stock zurück. Prozeßzuscliauer, Aktivisten der Bewegung, Presseleute versammelten sich auf dem Rasen vor dem Gerichtsgebäude, um an der Wache, die der Ausschuß eingesetzt hatte, teilzunehmen oder sie zu beobachten. Der Rasen vor dem Gericht war mit Schildern, Kindern, Nahrungsmitteln, Hunden und Spielen besetzt,
Horst, ein Journalist aus der DDR, der von Anfang an dem Prozeß beigewohnt hatte, hatte uns schon seit Wochen zum Mittagessen eingeladen. Wir mußten immer ablehnen, weil wir während der Mittagspause immer irgend etwas zu beraten hatten. Da jetzt die Geschworenen in Klausur waren, gab es nichts mehr zu beraten, und ich ging mit Horst, Margaret, Stephanie, Kendra, Franklin, Victoria, Rodney, Benny und Sylvia zum Essen. Wir waren noch in der Bar und warteten auf Plätze, als mich einer der Kellner ans Telefon rief, das der Barniixer hinter seinem Tisch hervorholte.
Niemand sprach ein Wort, als ich den Hörer aufnahm. Es war Fania. »Angela. Warte einen Moment. Der Richter will dich sprechen.« »Was ist los?« fragte ich. »Was will der Richter von mir?« »Ich weiß nicht mehr als du. Er hat mich nur gefragt, ob ich wüßte, wo du bist. Ich muß ihm sagen, daß du am Apparat bist.« »Es ist der Richter«, sagte ich mit lautem Flüstern zu den anderen. Ich hielt dabei die Hand über die Sprechmuschel. Wir alle dachten das Naheliegende: »Schon ein Urteil!« Die dazwischenliegende Stille war lang und ließ mich zweifeln, ob er überhaupt noch kommen würde. Aber schließlich nahm er den Hörer und fragte: »Miß Davis? Wo sind Sie?«
Fania wußte, wo wir waren. Ich hatte das komische Gefühl, daß sie einen Grund haben mußte, um es Richter Arnason zu verschweigen. Aber warum hätte sie überhaupt angerufen, wenn er nicht wissen sollte, wo wir waren? »Wir sind im Plateau Seven«, antwortete ich. »Warum?« Er ließ meine Frage unbeachtet und sagte mit großer Dringlichkeit in der Stimme: »Gehen Sie nicht fort. Bleiben Sie da, bis ich Sie wieder anrufe.« Er beendete das Gespräch so schnell, wie er es begonnen hatte.
Bevor wir Zeit hatten, unsere vielen Vermutungen in Worte zu fassen - ein Urteil? Störung der Juroren? Drohungen? - schlüpften Männer in Zivil, offenbar Polizisten, in die Bar und verteilten sich an verschiedenen Stellen im Raum. Jemand versuchte, die Spannung zu vermindern, indem er vorschlug, wir sollten unser Essen bestellen. Der Kellner führte uns durch einen Gang - wo wir weitere Polizisten in Zivil bemerkten, die sich möglichst unauffällig benahmen - in ein privates Speisezimmer. Das Zimmer war viel zu groß für unsere kleine Gruppe, und der Tisch schien für ein Bankett gedeckt zu sein - bestimmt nicht für uns. Franklin, Victoria, Rodney und Benny machten sich gro13e Sorgen um unsere Sicherheit. Wenn eine Drohung ausgesprochen worden war - und sie jetzt ausgeführt werden sollte? Franklin wollte zum eigentlichen Restaurant gehen, um festzustellen, ob etwas Ungewöhnliches im Gange sei, aber er wurde von einem Polizisten angehalten, der sich hinter der Tür zu unserem Zimmer postiert hatte.
»Ich dachte mir, daß dieses Zimrner seinen Grund hatte«, sagte Franklin, als er an den Tisch zurückkehrte. »Sie haben uns hier tatsächlich eingeschlossen, und Polizisten bewachen die Türen.«
Ein paar Minuten später kam Howard mit Lieutenant Tamm, dem Public-Relations-Mann des Sheriff-Amtes zur Tür herein. Howard war außer Atem. »Es hat eine Geiselnahme stattgefunden, und man glaubt, daß die Entführer dich mitnehmen wollen.«
Wir waren wie betäubt. Das schien völlig sinnlos.
»Der Richter wünscht eine Konferenz. Dobby und Leo sind schon dort. Du und Margaret sollt mit mir kommen. «
Lieutenant Tamm sagte nichts.
Vor dem Plateau Seven warteten zwei Polizeiautos. Die Konferenz im Gericht war kurz und warf kein weiteres Licht auf die Lage. »Ich nehme Sie nicht in Gewahrsam, Miß Davis«, sagte Arnason in Gegenwart aller Anwälte, »aber um Ihrer eigenen Sicherheit willen möchte ich Sie bitten, hier im Gerichtssaal zu bleiben, bis wir dieses Problem gelöst haben. «
Es war mir bisher noch nicht eingefallen, daß man an meine Mitwirkung bei dieser Geiselnahme glauben könnte. Schließlich hätte es, wenn ich wirklich hätte entkommen wollen, weniger riskante Mitte,1 gegeben, und ich hätte nicht zu warten brauchen, bis die Beratungen begannen.
Leo und Dobby hatten einige weitere Einzelheiten in Erfahrung gebracht. Nach der Aussage eines FBI-Agenten, der sich im Gerichtsgebäude postiert hatte, war ein Flugzeug von vier Schwarzen Männern gewaltsam in Besitz genommen worden, nachdem es von Seattle gestartet war. Forderungen waren über das Radiogerät des Flugzeugs übermittelt worden. Der Agent sagte, wenn sie auf dem Flughafen von San Francisco landeten, wollten sie, daß ich mit 500 000 Dollar und fünf Fallschirmen am Ende der Landebahn stünde. (Es sollten aber nur vier Männer sein.) Ich sollte ein weißes Kleid tragen.
Glücklicherweise war ich rot gekleidet. Hätte ich zufällig an jenem Morgen ein weißes Kleid angezogen, dann wären einige Leute unzweifelhaft überzeugt gewesen, daß ich an dieser Entführung beteiligt war.
Da nicht vorauszusehen war, wie lange wir im Gerichtssaal abgekapselt sein würden, veranlaßte Howard, daß die Familie zu uns kommen durfte.
Lieutenant Tamm kam und erzählte, daß die Entführer Plastikboniben an Bord hätten und drohten, das Flugzeug mit seinen fast hundert Passagieren in die Luft zu sprengen, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt würden.
Während wir im Gerichtssaal rumsaßen, versuchten Leo und Dobby in der Richterkammer die neuesten Entwicklungen in dieser Luftpiraterie zu hören. Leo kam heraus und sagte, Arnason werde unter keinen Umständen zulassen, daß ich zum Flughafen gebracht würde. Später kam Dobby und schüttelte mit bitterem Lächeln den Kopf. »Ihr werdet nicht glauben, was gerade passiert ist. Anscheinend ist die Maschine auf dem Flughafen von Oakland gelandet. Der Agent der FBI war am Telefon und hat voller Panik jemandem gesagt, er solle das Flugzeug gleich wieder starten lassen - alle ihre Agenten sind, als Flughafenangestellte verkleidet, in San Francisco, und nur ein einziger Agent ist in Oakland.«
Es war etwa sieben Uhr, als die wahre Geschichte dieser Entführung endlich ans Licht kam. Und sie hatte absolut nichts mit mir, weißem Kleid und Fallschirmen zu tun. Ja, mein Name war von den Entführern nicht einmal erwähnt worden. Es gab auch keine vier Entführer. Alle diese Ausschmückungen waren der Geschichte hinzugefügt worden, während sie vom Radiokontrollturm über die FBI zu uns gelangte. Wir mußten argwöhnen, daß die FBI versucht hatte, mich in diese Entführungen hineinzuzerren, um die Beratungen der Geschworenen zu stören.
Die News von San José wurde an allen Ecken der Stadt verkauft. Ihre Schlagzeile lautete ENTFÜHRER VERLANGEN ANGELA, was sich auf die früheren irrtümlichen Berichte der FBI stützte. Obwohl der Richter angeordnet hatte, daß alle Fernsehgeräte aus den Hotelzimmern der Geschworenen entfernt wurden, gab es doch keine Garantie, daß nicht einer irgendwo zwischen dem Gericht und seinem Hotelzimmer die Schlagzeile zu Gesicht bekam. Wenn einer der Geschworenen die Zeitung sah und davon beeinflußt wurde, dann konnte man den Prozeß für ungültig erklären. Wir konnten nur hoffen, daß sie nichts wußten.
Aus dem ganzen Chaos dieses ersten Beratungstages ergab sich ein unbestreitbarer Anlaß zum Feiern. Miß Mary Timothy war zur Vorsitzenden der Geschworenen gewählt worden. Von Anfang an hatten wir sie für die ehrlichste und objektivste der Geschworenen gehalten. Während des voir dire waren wir zuversichtlich geworden, als wir hörten, daß ihr Sohn den Kriegsdienst verweigert hatte. Als in Vietnam besonders heftige Bombenangriffe stattfanden, hatte sie im Gericht einen Knopf mit dem dreigezackten Friederissymbol getragen. Im Lauf des ganzen Prozesses hatten wir die Geschworenen darauf aufmerksam gemacht, daß der Staatsanwalt die stereotypen Vorstellungen über Frauen auszunutzen versuchte, indem er mich als ein irrationales, gefühlsgetriebenes weibliches Wesen porträtierte. Daß Mrs. Timothy zur Vorsitzenden der Beratungen gewählt worden war, bewies, daß die Geschworenen über die Frage der gesellschaftlichen Diskriminierung der Frauen nachdachten. Ihre erste aktive Geste als Geschworene zeigte, daß sie nicht nur Männer als geeignete Führer betrachteten.
Howard hatte hinsichtlich der Beratungen eine Theorie, die er in den letzten Tagen des Prozesses wiederholt vortrug. Wenn die Geschworenen einen Freispruch wollten, dann wäre das Urteil von Anfang an einstimmig, und sie würden nicht länger als ein paar Stunden in Klausur bleiben. Wenn sie länger blieben als einen Tag, dann würden sie wahrscheinlich sehr lange fortbleiben und am Ende zu keiner Entscheidung gelangen. Am Freitag waren wir so sehr von dem Flugzeug auf dem Flug von Seattle nach San Francisco in Anspruch genommen, daß wir kaum Zeit hatten, uns um den Schuldspruch zu kümmern. Samstag morgen sagte Howard, daß sie noch vor dem Mittagessen wiedererscheinen würden. Als daher ein Gerichtssekretär die Moorpark Apartements anrief und sagte, der Richter wolle einen der Anwälte sprechen, glaubten wir, daß die Geschworenen einer Entscheidung nahe seien. Gespannt und schweigend gingen wir alle zum Gericht. Aber ein Urteil lag noch nicht vor, nur eine Bitte der Geschworenen, ihnen einige Beweisstücke auszuliefern. Immerhin faßten wir etwas Mut, als wir sahen, daß die Notiz für den Richter unterschrieben war »Mary Timothy, Vors.«. Wir nahmen diese kleine humoristische Anspielung zum Zeichen, daß wenigstens kein Kampf bis aufs Messer tobte.
Draußen auf dem Rasen wurde eifrig gewacht. Nachdem die Reporter verscheucht worden waren, gingen Victoria, Rodney und ich durch die Menge, aßen Sandwiches aus dem großen Freßkorb, spielten mit den Babies und dankten den Leuten für ihre ermunternden Worte.
Unter den Wächtern befand sich auch Andy Montgomery, einer der führenden Sprecher der Schwarzen Gemeinschaft von San Jos6 und ein aktives Mitglied des dortigen Verteidigungsausschusses. Er war es gewesen, der für die Mitglieder des juristischen Stabes ein Büro und Unterkunft gefunden hatte. Er hatte in meiner Sache bei Versarnmlungen der Schwarzen Konferenz gesprochen und Mitglieder dieser Konferenz für die Kampagne gewonnen. Er hatte erfolgreich Mitglieder seiner Kirche aufgefordert, an der Kampagne teilzunehmen, und war ganz allgemein weitgehend für die örtliche Anteilnahme an dem Fall verantwortlich. Wir hatten versprochen, daß wir am Freitag, falls die %.-juschworenen noch berieten, bei ihm zu Hause zu Mittag essen würden. Es zeigte sich dann, daß fast alle, die irgend etwas n-lit dem Fall zu tun hatten, entweder in Andys Haus waren oder draußen auf der Straße - meine Familie, die Anwälte und deren Familien, Bettina, Kendra und Franklin, Rodney, Victoria und Mitglieder des Ausschusses von San José.
Das Essen bei Andy sollte eigentlich eine Atempause im Fegefeuer des Wartens sein. Aber die Spannungen waren für ein erholsames Ausruhen zu quälend. Als ich bei Andy ankam, wurde ein doppeltes Sprungseil mitten auf der Straße gedreht, und Margaret sprang zu anfeuernden Schreien »Schneller! Schneller!« Ich machte mit. Nachdem ich mich mehrere Male im Seil verheddert hatte, kriegte ich es spitz und wollte nicht mehr aufhören. So waren wir als Kinder irn Sommer in New York Seil gesprungen. Bettina sprang, Howard, Leo, Charlene und wir überredeten sogar meinen Vater, mitzumachen. Als er einmal ange364
fangen hatte, wollte er gar nicht mehr aufhören. Etwas weiter die Straße hinunter hatte Benny ein Footballspiel zusammengeholt, und wir beschimpften die Spieler, wenn sie nlit schlecht geworfenen Bällen unser Seilspringen störten.
Als das Huhn und die Rippchen, Kartoffelsalat, Kohl und Maisbrot fertig waren, aßen wir, als wollten wir das Ende einer langen Hungersnot feiern. Niemand sprach viel vom Prozeß, aber es hatte sich in der Nachbarschaft rumgesprochen, daß wir bei Andy waren, und fur den Rest des Abends hatten wir einen endlosen Strom von Besuchern.
Am Ende merkten wir, daß wir etwas zu kräftig gespielt hatten Kendra war das Opfer unserer vorzeitigen Feier. Während des Footballspiels hatte sie sich den Knöchel verstaucht, und Franklin mußte sie ins Krankenhaus fahren, wo sie ger-öntgt wurde, einen Gipsverband und Krücken erhielt. Vielleicht hatten wir's übertrieben, aber die Enge in unserer Brust war fast geschwunden, und da wir uns um Kendra und ihren verstauchten Knöchel sorgen mußten, machten wir uns nicht so viele Gedanken über den Spruch der Geschworenen.

4. Juni 1972

Es war Sonntag morgen. Wir richteten uns auf einen verwarteten Tag ein und hatten uns nicht einmal untereinander verabredet. Ich hatte die Nacht in der Wohnung von Leo und Geri verbracht. Leo und ich hatten uns in unsere ständige Debatte über den Einfluß der Massenbewegung auf den Verlauf des Prozesses vertieft.
Plötzlich kam Howard ganz außer Atem in die Wohnung gestürzt er war den ganzen Weg von seiner Wohnung am anderen Ende der Siedlung gerannt. Er sagte uns nur, es sei Zeit zu gehen. Im ersten Augenblick verstand ich nicht einmal, was »Zeit zu gehen« bedeuten sollte. Der Gedanke, daß die Geschworenen am Sonntag morgen zu einer Entscheidung gelangen würden, war so unvorstellbar, daß ich mich noch nicht einmal angekleidet hatte.
Die letzten Sekunden waren die quälendsten. Wir hatten Tage gewartet, während die Geschworenen berieten, drei Monate, während sich der Prozeß anbahnte, zweiundzwanzig Monate seit dem Aufstand von Marin County, und jetzt sagte man uns, wir müßten warten, bis die Presse sich versammelt hätte, eher könnten wir den Spruch nicht hören. In diesem Hinterzimmer, in dem wir so oft auf das Zusammentreten des Gerichts gewartet hatten, sprachen mir - und sich - die Anwälte Mut zu, daß es keinen anderen Spruch geben könne als Nicht Schuldig. Auch hätte bei der Fadenscheinigkeit der Anklage und der Wucht der Massenbewegung ein Schuldspruch ja nie in Frage gestanden. Wir hatten diesen Spruch tatsächlich nie als Alternative in Betracht gezogen - es war entweder Freispruch oder Uneinigkeit der Geschworenen. Jetzt konnte diese letztere Möglichkeit ausgeschlossen werden: sie hatten bereits angekündigt, daß sie zu einer Entscheidung gelangt seien. Allerdings gab es noch eine Möglichkeit, die wir alle nicht gern in Erwägung gezogen hatten ein Kompromißsprucb, der zwar theoretisch ungesetzlich war, aber immer wieder vorkam, wenn mehrere Anklagen erhoben wurden. Aber niemand hatte gesagt - zumindest nicht in meiner Gegenwart - »Das einzige, was wir wirklich zu befürchten haben, ist ein Freispruch in der Anklage wegen Mord und Entführung und ein Schuldspruch wegen Verschwörung«.
Leo versuchte, die Spannung etwas zu lindern, indem er sagte, daß wir in dem Augenblick Bescheid wissen würden, in dem die Geschworenen den Gerichtssaal betraten: ihr Mienen besonders die von Mrs. Timothy und Mr. Delange - würden die Entscheidung preisgeben, die sie gefällt hätten. Aber natürhch half das alles nicht sehr viel. Die Spannung, die Angst dagegen gab es kein Mittel. Ich konnte nicht länger als eine Minute sitzenbleiben, ohne aufzuspringen und meine Nervosität etwas abzulaufen. Und wenn ich anfing zu laufen, mußte ich mich wieder setzen, denn das Zimmer war viel zu klein, um meiner Energie zu genügen. Ich konnte nur die Zähne zusammenbeißen und mir die Fingernägel tief in die Handflächen eingraben. Margaret sagte mir immer wieder, wir brauchen nur noch ein paar Minuten einen kühlen Kopf zu behalten; bald läge das alles hinter uns. Kendra hatte Mühe, ihre Fassung zu bewahren.
Als wir zum Gerichtssaal gingen, standen die Menschen dichtgedrängt im Korridor, aber anscheinend hatten sich die Vertreter der Presse noch nicht eingefunden, und wir mußten noch länger warten. Auf dem Korridor erklärte Mutter, daß sie draußen warten wolle, während der Spruch verkündet wurde. Als ich versuchte, sie zu beruhigen und zu ermutigen, kehrten meine eigene Kraft und Zuversicht zurück.
Irgendwo in der wartenden Menge begann eine Stimme leise zu summen - ein Neger-Spiritual. Ein anderer nahm die Melodie auf und fügte die Worte hinzu »Erwachte heute morgen, mein Herz wollte Freiheit«. Binnen kurzem waren alle, einschließlich meiner Mutter, eingefallen. Captain Johnson, der der Schrecken der Presse und der Prozeßteilnehmer gewesen war, kam heraus, sah sich um, sagte aber zum erstenmal seit Menschengedenken nichts dagegen.
Endlich nahmen wir im Saal unsere Plätze ein. Howard, Dobby und Leo saßen am Tisch, und ich saß von Margaret und Kendra flankiert an der Schranke. Der Gerichtsdiener kündigte die Ankunft des Richters an. Wenige Minuten danach begannen die Geschworenen durch die Tür zu kommen. Beim Anblick des ersten Geschworenen ließ Margaret, die von uns allen die ruhigste gewesen war, ein gedämpftes »Oh nein« hören und glitt auf ihren Stuhl nieder. Ich beugte mich zu ihr und sagte ihr dieselben Trostworte, die sie mir gesagt hatte. Sie schluchzte leise.
Ich sah mir die eintretenden Geschworenen an und suchte nach ermutigenden Zeichen in den Gesichtern. Aber sie waren alle ausdruckslos, als hätten sie sich jeder Spur von Gefühl entledigt. Der Schweiß brach mir aus und ich fühlte eine Schwäche in meinem ganzen Körper. Im Gesicht von Mrs. Timothy lag nicht ein Schatten der gewohnten Wärme; es war kalt und marmorn, und das Leuchten in Delanges Augen war zu einem dumpfen Starren geworden, das auf niemanden gerichtet war. Wie von einer zerbrochenen Schallplatte dröhnten Leos Worte durch mein Hirn: »Wir werden sofort wissen, wie der Spruch lautet, wenn wir uns ihre Gesichter ansehen.«
Während der prozessualen Formalitäten, die dem Verlesen des Urteils vorausgehen, suchte ich nach einer Erklärung, wie diese plötzliche Verwandlung in der Haltung der Geschworenen zustandegekommen war. Ihre Gesichter sagten: »Verurteilt.« »Schuldig.« Aber das war unmöglich, unlogisch, absurd. Wenn das Ganze nicht ein großer Schwindel gewesen war. Wenn sie nicht bewußt versucht hatten, uns in den letzten Monaten etwas vorzugaukeln und diese eisigen Blicke die Wirklichkeit hinter den Masken waren, die sie nun endlich abgelegt hatten. Ich wollte hinauseilen, um meine Mutter vor den Folgen zu bewahren. Diese abgerissenen Gedanken, die aus Verzweiflung und Nichtverstehen geboren waren, schüttelten mich so fürchterlich, daß ich mir Mühe geben mußte, den Gerichtssekretär zu hören, der die von Mrs. Timothy an das Gericht übergebenen Dokumente verlas.
Die erste Anklage war Mord. Darauf folgte ein lautes, klares »Nicht Schuldig«. Lautes Schluchzen fiel in den Augenblick der Stille, die darauf folgte. Es war Franklin. Mir war, als ob alle tief und schwer mit dem Rhythmus eines einzigen Lebewesens atmeten. Die zweite Anklage war Entführ~ung. »Nicht Schuldig« erklang es wieder. Franklin weinte lauter. Ich glaubte nicht, da13 ich viel länger an mich halten könnte. Aber ich mußte den letzten Spruch hören, die Anklage wegen Verschwörung. Meine eine Hand umklammerte Kendras, die andere Margarets. Als der Sekretär zum dritten Mal »Nicht Schuldig« vorlas, schrien, lachten, weinten und umarmten wir uns - ohne den Hammer des Richters zu hören. Er wollte den Prozeß mit derselben Würde beschließen, mit dem er ihn geführt hatte. Er las ein ziemlich langes Zitat aus »Zwölf Männer« von G. K. Chesterton, dankte und beglückwünschte Verteidigung, Anklage und Geschworene, entließ die letzteren aus ihrer Verpflichtung und erklärte den Fall Nummer 52613, Staatsvolk von Kalifornien gegen Angela Davis für beendet.
In ihrer Freude sah meine Mutter so schön aus, daß sie mich an Bilder aus ihrer frühen Jugend erinnerte. ich fühlte mich für sie glücklicher als für alle anderen, mich eingeschlossen.
Das letzte, wonach mir der Sinn stand, war eine Pressekonferenz - ich wollte jetzt nicht meine Gedanken und Gefühle so strukturieren, daß ich sie vor der Kamera und dem Mikrophon artikulieren konnte aber das war das einzige Mittel, um mit allen den Menschen zu reden und ihnen zu danken. Als wir das Pressezimmer betraten, beendeten die Geschworenen gerade ihre Konferenz. Da ich noch nie ein Wort mit ihnen gewechselt hatte, war ich nicht sicher, wie ich mich ihnen gegenüber verhalten sollte. Ich stand an der Tür. Die Geschworene, die zuerst vom Podium herunterstieg, war diejenige, von der wir geglaubt hatten, daß sie am ehesten mit der Anklage sympathisierte. ich war gespannt, wie sie reagieren würde. Als sie sich näherte, streckte ich meine Hand aus, aber sie faßte mit beiden Armen zu, drückte mich an sich und sagte »Ich bin so glücklich für Sie«. Alle Geschworenen folgten ihrem Beispiel.
Vor dem Gerichtsgebäude hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Sobald sie von dem Urteilsspruch gehört hatten, waren die Leute zum Regierungskornplex geeilt. Da das Sprechverbot und die Kautionsbedingungen nun hinter mir lagen, konnte ich zum ersten Mal seit zweiundzwanzig Monaten - seit dem Aufstand - wieder vor einer Menge sprechen. Ich dankte ihr für ihr Kommen, für ihre ganze UnterstÜtzung und sagte, jetzt sei es an der Zeit, unsere Kräfte für die Freiheit von Ruchell, die sechs in San Quentin und andere politische Gefangene einzusetzen.
Vom Gericht gingen wir hinüber zu Gloria und David, wo meine Eltern wohnten. Familie, Anwälte, Freunde, Genossen, Mitarbeiter der Ausschüsse und die meisten Geschworenen - wir saßen alle in der Sonne auf dem Rasen des Gartens hinterm Haus. Ich versenkte mich tief in den Augenblick, kostete meine Wonne, speicherte sie. Denn ich wußte, daß sie von kurzer Dauer sein würde. Arbeit. Kampf. Konflikte lagen vor uns wie ein mit Steinen bestreuter Pfad. Wir mußten ihn beschreiten.
Aber erst das Gras, die Sonne. . . und die Menschen.