Wände

Die Hand zwischen der Kerze und der Wand
Wird groß an der Wand...
Es muß sein, daß die Hand
Es will, daß sie an der Wand größer wird,
Größer wird und schwerer als die Wand...
Wallace Stevens

22. Dezember 1970

Als das Flugzeug nach der zwölfstündigen Auslieferungsreise quer über den Kontinent in Kalifornien landete, standen draußen ebenso viele bewaffnete Männer, wie auf dem Flugfeld an der Ostküste gestanden hatten, um meinen Abflug zu beaufsichtigen. Die Hilfssheriffs und Polizisten schienen unter den Hunderten von Männern, die die Luftwaffenuniform der Vereinigten Staaten trugen, wie verloren. Sie waren auf dem gesamten Gebäude aufgestellt und säumten auf beiden Seiten die Route, die die Kolonne auf der Fahrt durch das Militärgelände nahm.
Die Fahrt dauerte zehn oder fünfzehn Minuten. Dann bog die Kolonne in den Verwaltungskomplex des Marin County ein, den ich nach Zeitungsbildern, die seit dem Aufstand vom 7. August aufgenornmen waren, wiedererkannte. Der Wagen, in dem ich saß, fuhr in eine Garage, in der sofort eine Stahltür herunterkrachte. Auf der anderen Seite dieser Tür hatte sich eine Menge angesammelt, und als ich aus dem Wagen stieg, ließen sie ein lärmendes »Freiheit für Angela Davis und alle politischen Gefangenen« hören. Da ich noch Handschellen trug, machte ich das Zeichen der Solidarität mit einer Doppelfaust.
Obwohl ich niemanden in der Menge erkannte, fühlte ich mich durch ihre Anwesenheit verjüngt, wie seinerzeit am Tage meiner Verhaftung in New York durch die Rufe zu meiner Unterstützung. Wenige Sekunden, nachdem ich meine Fäuste erhoben hatte, wurde ich in einen Fahrstuhl gestoßen, der sich zur Registratur des in den oberen Stockwerken befindlichen Gefängnisses öffnete. Und zum dritten Mal seit meiner Verhaftung durchlief ich dasselbe Ritual-. Formulare, Fotos und Fingerabdrücke.
Der Unterschied zwischen dem Gefängnis von Marin County und der Haftanstalt für Frauen in New York war kraß. Als ich die Haftanstalt zum erstenmal gesehen hatte, war ich von ihrem totalen Dreck angeekelt gewesen. Das Gefängnis von Marin County war dagegen auffallend, ja antiseptisch sauber. Keine Mäuse huschten auf den schimmernden Ful3böden. Es gab keine Graffiti an den neu gestrichenen Wänden. Während die Haftanstalt schäbig, schummrig und verliesartig gewesen war, war dieses Gefängnis schmerzhaft hell. Ich war die 60-Watt-Birnen in meiner New Yorker Zelle gewöhnt; hier brannten meine Augen von den hellen Leuchtstäben.
Während ich registriert wurde, bemerkte ich ein System von kleinen Fernsehschirmen hinter dem Pult. Anscheinend wurde das gesamte Gefängnis von einer internen Fernsehanlage bewacht. Ich war gespannt, ob ich eine Kamera in meiner Zelle finden würde.
Nachdem ich registriert war und dafür gesorgt hatte, daß ich eine Quittung über alles erhielt, was ich aus New York mitgebracht hatte, gab die Aufseherin das Signal, die Tür am Ende des Ganges zu öffnen. Ein Druck auf einen Knopf; die Metalltijr glitt schwerfällig in die Wand. Diese mechanische Vollkommenheit war viel beängstigender als die archaischen Einrichtungen in der Haftanstalt für Frauen.
Mit einer Begleitmannschaft weiblicher Bewachung ging ich den Gang entlang, der von eisernen Türen gesäumt war und außer kleinen quadratischen Gucklöchern keine Fenster aufwies. Am Ende des Ganges bogen wir rechts ein und standen zwei Einzelzellen gegenüber, die durch eine zum Gang geöffnete Duschkabine getrennt waren. Eine an die Decke montierte Fernsehkamera war auf die Zellen gerichtet.
Die leitende Aufseherin schloß die hintere der beiden Zellen auf. Ich trat mit zwiespältigen Gefühlen ein: Ich war wütend, weil ich wiederum dem Willen rassistischer Kerkerrneister unterworfen wurde, fühlte aber eine gewisse Erleichterung, weil ich endlich allein war und Zeit hatte zu denken.
Nachdem sich die Türen hinter mir geschlossen und die Aufseherinnen mich allein gelassen hatten (obwohl sie mich wahrscheinlich am Fernsehschirm beobachteten), untersuchte ich mein Quartier. Es war größer als meine Zelle in der liaftanstalt, etwa zweieinviertel Meter im Quadrat. Aus einer der Wände ragte eine Metallplatte mit einer acht Zentimeter hohen Matratze in den Raum. An der gegenüberliegenden Wand war eine kombinierte Toiletten- und Waschbecken-Anlage; das Wasser aus dem Becken floß in die Toilette ab. Wenn man sich die Zähne putzen oder das Gesicht waschen wollte, mußte man über der offenen Toilettenschüssel stehen. Die einzigen sonstigen Einrichtungs~l,egenstände waren ein etwa dreißig Zentimeter breites Regal, darunter zwei Kleiderhaken und ein kleiner Metalltisch, der an einem runden Holzstuhl befestigt war.
Ich streckte mich auf der kleinen Matratze aus und versuchte mir vorzustellen, was außerhalb der Mauern vor sich ging. Ich hatte keine Möglichkeit gehabt, mit Margaret oder John zu sprechen, nachdem das Bundesgericht entschieden hatte, daß ich nach Kalifornien überführt werden sollte. Ich war sicher, daß sie beide sofort nachkommen würden, aber bisher hatte ich darüber noch nichts gehört. Kein Wort von ihnen oder sonst jemandem.
Ich lag noch da, starrte an die Decke und versuchte, meine Gedanken zu ordnen, als eine Aufseherin kam und sagte, ein Anwalt warte auf mich. Ich erwartete, Margaret oder John zu sehen und folgte der Aufseherin zur Besuchskabine für Anwälte. Auf der anderen Seite der metallenen Trennwand waren Terrence Kayo Hallinan, ein Anwalt aus der Umgebung von San Francisco, der im Verteidigungsausschuß initgearbeitet hatte, und Carolyn Craven, die ich aus Los Angeles kannte, und die damals Korrespondentin für das örtliche Bildungsprogramm im Rundfunk war. Es war Carolyn gelungen, als Kayos Rechtsgehilfin eingelassen zu werden. Als die Schergen später erfuhren, daß sie auch Nachrichtenkorrespondentin war, verkündeten sie, daß nur »arntlich bestätigte Anwälte« im Gefängnis zugelassen würden. Das bedeutete, daß ich buchstäblich unter Verschluß gehalten werden sollte, bis Margaret und John aus New York kamen.
Da ich mich mit nichts anderem beschäftigen konnte als den Gedanken, die mir durch den Kopf jagten, fielen mir meine Brüder in San Quentin ein. Ich wußte, daß nicht weit von diesem Gefängnis die mittelalterliche, von Wasser umgebene Festung lag, in der man George gefangen hielt. Wußte er, daß ich jetzt in Kalifornien war? Vielleicht erhielt ich bald eine Nachricht von ihm und den Brüdern, die mit ihm im Adjustment Center (eine Art »Besserungsabteilung«) eingesperrt waren, der schlimmsten Abteilung im Gefängnis. Wenn ich an sie dachte und über unser gemeinsames Unglück reflektierte, konnte ich mich über die niederdrückende und bedrohliche Einsamkeit hinwegsetzen.
Ich habe in dieser Nacht nicht geschlafen - ich habe nicht einmal versucht, die Grübeleien über mein, Georges, Johns, Fleetas und Ruchells Zukunft zu verbannen. Ich wußte, daß die Gaskammer uns alle erwartete. Dann, wie ein Omen aus der Hölle geschickt, um meine wildesten Ängste zu bestätigen, zerrissen die Schreie einer Frau die Stille. Mein Herz schlug wie ein verängstigter Vogel irn Käfig. Zwischen den Schreien, die einem das Blut stocken ließen, schien sie zu flehen: »Laßt mich hier raus! Laßt mich hier raus!« Ihr Kreischen war um so entsetzlicher und verwirrender, weil ich meine Umgebung nicht kannte. Mit Ausnahme meiner Zelle, der benachbarten Zelle und der Besuchskabine am Ende des Ganges war mir alles völlig fremd. Die Schreie hielten an. Sie waren so nahe, und ich fühlte mich so rnachtlos. Die Dunkelheit lag auf mir wie ein Sargdeckel, der meinen ersten Tag im Gefängnis von Marin County schloß.
Früh am nächsten Morgen kamen Margaret und John mich besuchen. Kurz danach wurde ich durch das Gewirr von unterirdischen Gängen geführt, durch das die Gefangenen von ihren Zellen zum Gericht gebracht wurden. Die Anklage wegen Mord, Entführung und Verschwörung sollte an diesem Morgen erhoben werden. Margaret und John beantragten einen Aufschub der Anklageerhebung, mit der Begründung, daß die Zusammenstellung des Verteidigungstearns noch nicht abgeschlossen sei. Nachdem der oberste Richter von Marin County unserem Antrag stattgegeben hatte, gab er offiziell bekannt, daß sowohl er wie alle anderen Richter dieses Bezirks sich für diesen Prozeß disqualifiziert hätten, weil seine Beziehungen zum Richter Haley ihn wahrscheinlich hindern würden, diesen Fall unvoreingenommen zu beurteilen. Dann verhängte er eine Schweigepflicht, die mir, den Anwälten und allen, die unmittelbar oder mittelbar mit dem Fall verknüpft waren, untersagte, öffentliche Angaben Über das Beweismaterial zu machen, das sich im Laufe des Prozesses ergeben könnte.
Im Gerichtssaal war alles modern und makellos. Die Lichter, die viel heller brannten als Tageslicht, betonten die Neuheit. In diesem sauberen, hübschen Saal, dachte ich, werden Männer und Frauen in schmutzige Zellen geschickt, einige davon in die Todeskammer von San Quentin ganz in unserer Nähe. Wie ich aus Zeitungsberichten erfahren hatte, waren die Gerichtssäle - und der ganze Regierungskornplex von Marin County - von Frank Lloyd Wright entworfen worden. Der Saal, in dem ich zum ersten Mal vor Gericht stand, hatte in der Decke ein großes rundes Paneel, das von Lichtern umrahmt war. Die Einrichtung des Raumes war so angelegt, daß sie dem Kreis an der Decke entsprach - der Richtertisch, die Geschworenenbänke und die Tische für Anklage und Verteidigung - alle waren strategisch so angebracht, daß sie einen Kreis bildeten.
Später merkte ich, daß Wright beim Entwurf der Gerichtssäle etwas ganz Bestimmtes im Sinn gehabt hatte. Er wollte das Wesen der Gerechtigkeit in den Vereinigten Staaten darstellen. Die Parteien in einem Prozeß, meinte er, sollten nicht als gegeneinander Kämpfende gesehen werden. Im Gegenteil, Richter, Geschworene, Staatsanwälte und Angeklagter halten sich im Kreis bei den Händen in gemeinsamer Verfolgung des Rechts.
Als ich Wrights Botschaft des Händchen-Haltens begriff, mußte ich an ein Spiel denken, das wir als Kinder spielten - »Ringel Ringel Reihen« usw., bei dem dann schließlich gewisse Kinder »aus« waren. Es gab absolut gar nichts, was mich mit den Männern, die irn Kreis des Gerichtssaales saßen, verband. Meine Genossen, meine Freunde und ich - wir alle betrachteten diese Männer als Drahtzieher eines juristischen Spiels, das gegen uns gezinkt war. Wir mußten daher ständig die Volksbewegung verstärken, die uns die einzige Hoffnung gab, dieses Spiel zu schlagen. Tatsächlich hielt zwei Tage später der Nationale Vereinigte Ausschuß für die Freiheit von Angela Davis (NUCFAD), der von meiner Schwester Fania und meinem Genossen Franklin geleitet wurde, eine Weihnachtstagswache vor den Regierungsgebäuden. Die Mauern meiner fensterlosen Zelle waren viel zu dick, als daß ihre Sprechchöre hätten hindurchdringen können. Aber ich konnte sie fÜhlen, und fühlte mich durch sie glücklich und stark.
Da ich mich nun in Marin County befand, mußte ich meinen Anklägern auf ihrem Boden begegnen. Wir mußten ein juristisches Team zusammenstellen. John hatte vor, zur Ostküste zurückzukehren, wenn die Frage der Verteidiger unter Dach war, aber Margaret wollte bleiben. Ich mußte völliges und totales Vertrauen zu meinen Anwälten haben; ich legte buchstäblich mein Leben in ihre Hände. Margaret und ich hatten dieses tiefe Vertrauen zueinander längst gefaßt, denn wir liebten uns wie Schwestern.
Es gab viele Kriterien, die die anderen Mitglieder meines juristischen Teams hoffentlich auch erfüllten. Natürlich wollte ich Anwälte, die sich mit mir und miteinander vertragen konnten. Wir würden viele arbeitsreiche Monate miteinander verbringen. Ein Kriterium allerdings gab es, das alle anderen Überwog. Ich mußte Anwälte haben, die mit mir der Meinung waren, daß dies ein politischer Fall war. Sie mußten sich darauf einstellen, daß der Prozeß in jeder Hinsicht politisch sein würde. Außerdem würde der Kampf irn Gerichtssaal Hand in Hand mit einem Kampf gehen, der von einer Massenbewegung geführt wurde. Die Anwälte würden von Anfang an begreifen müssen, daß die Ereignisse im Gerichtssaal notwendigerweise mit der Kampagne auf den Straßen in Beziehung gesetzt und koordiniert werden mußten.
Hayward Burns, der Präsident der Nationalen Konferenz Schwarzer Rechtsanwälte, hatte mich mit Howard Moore zusammengebracht. Am Tag, an dem ich von New York ausgeliefert wurde, hatte ich mit Howard gesprochen, der auf meine Bitte von Atlanta angeflogen kani. Schon während unserers ersten Gesprächs im Gefängnis von New York war es klar, daß er bei Bürgerrechtsprozessen im Süden seine Anwaltsrolle als Teil der größeren Aufgabe betrachtete: unterjochte Menschen zu verteidigen, die um ihre Freiheit kämpften. Wenn Howard von dem Kampf sprach, dann geschah das mit einer Eindringlichkeit, die mich überzeugte, daß die Befreiung der Schwarzen Menschen die wichtigste Aufgabe in seinem Leben war. Er verstand sofort, warum ich es für wichtig hielt, daß ich selbst direkt an der Verteidigung teilnahm. Die Beweise, die gegen mich auf gehäuft wurden, waren politische Beweise: meine Reden bei Kundgebungen, meine Führung in der Massenbewegung zur Befreiung der Soledad-Brüder, meine Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei. Meine Politik stand auf dem Spiel, und es war meine Aufgabe, sie zu verteidigen. Howard war einverstanden, daß einer unserer ersten Anträge meine Teilnahme am Verteidigerteam zum Inhalt haben sollte.
Abgesehen von seinem starken politischen Engagement und seinem Können als Anwalt war er auch ein warmherziger Mensch. Ich mochte ihn gut leiden. Die Entscheidung war gefallen. Margaret rief in seinem Büro an und fragte, ob er bereit sei, als mein Hauptverteidiger aufzutreten. Er war sofort einverstanden, und Franklin fuhr nach Atlanta, um die Vereinbarung festzulegen. Die erste Hürde war genommen. Ich fühlte mich ungeheuer erleichtert.
Obwohl sich Howard bereit erklärt hatte, die Hauptlast des Prozesses zu tragen, hinderten ihn ältere Verpflichtungen in seiner Anwaltspraxis, vor Anfang April seine Wohnung von Atlanta nach Kalifornien zu verlegen. In den drei dazwischenliegenden Monaten brauchten wir Anwälte, die die Antrage zur Prozeßvorbereitung bearbeiteten. Und für das Team, das schließlich den Prozeß führen sollte, brauchten wir ein oder zwei Anwälte, die vor kalifornischen Gerichten als Verteidiger amtlich zugelassen waren.
Wir baten drei Anwälte ins Team, die die Anträge zur Prozeßvorbereitung einreichen und verhandeln sollten: Al Brotsky, der ein Partner in Charles Garrys Anwaltsfirma war, und der auch den anderen Anwälten dessen Büro zur Verfügung stellte; Michael Tigar, den ich kannte, als er in der UCLA Jura dozierte, und Dennis Robert, einen Freund und Kollegen von Michael. Später ist auch Sheldon Otis, ein bekannter Prozeßanwalt aus Detroit, dem Team beigetreten.
Das Gefängnis schien darauf angelegt, für alles so wenig Raum wie nur möglich zuzugestehen. Die kleine Anwaltskabine im Frauengefängnis konnte einen Anwalt nur knapp beherbergen, zwei konnten sich reinquetschen, wenn sie nicht gar zu groß waren und einer saß, während der andere hinter dem Stuhl stand. Meine Seite der Metallwand war ebenso klein - wenn ich länger in der Kabine sitzen rnu13te, dann dauerte es immer einige Zeit, bis ich die Platzangst überwinden konnte, die sich im Gefängnis bei mir entwickelt hatte.
Zunächst war ich von dem juristischen Jargon, mit dem die Anwälte den Fall besprachen, völlig verwirrt. Wenn ich in meiner kleinen Kabuse eingeschlossen saß, wirbelten mir diese geheimnisvollen Ausdrücke um den Kopf. »Einer unserer ersten Anträge muß der >Neun fünfundneunzig< sein«, sagte einer. Was hatte >Neun fünfundneunzig< mit meinem Leben und dem Versuch zu tun, es vor der Todeskammer zu retten? Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was es bedeutete.
Der Platzmangel für die Anwaltskonferenzen war der Anlaß zu unserem ersten größeren Gefecht mit den Kerkermeistern. Die Frage war so klar wie die Rechtmäßigkeit unserer Beschwerde. Wenn sie uns nicht die Möglichkeit schafften, als Gruppe zusammenzukommen, versagten sie mir ein grundlegendes verfassungsmäßiges Recht - das Recht, Verteidiger meiner Wahl zu haben. Aber die Aufseher im Gefängnis machten es klar, daß sie sich nicht verpflichtet fühlten, meine Rechte zu respektieren, und ohne heftigen Kampf keinen Zoll weichen würden.
Gefängnisse sind gedankenlose Orte. Gedankenlos in dem Sinne, daß Denken in der Verwaltung nicht stattfindet; kein Lösen von Problemen, keine vernünftige Abschätzung einer Situation, die auch nur irn geringsten von der Norm abweicht. Das Vakuum, das durch dieses Gedankenmanko entsteht, wird von Regeln ausgefüllt und von der Angst, einen Präzedenzfall zu schaffen (soll heißen, eine Regel, die sie noch nicht verdaut iiatten). Bevor wir uns der großen Schlacht um mein Leben - dem Schmieden von Waffen, um das Ungeheuer zu erschlagen - auch nur annähernd widmen konnten, mußten wir endlose Energien vergeuden, um gegen Sticheleien zu kämpfen. Die Regeln, durch die Gefängnisse bestehen, erlauben als einzigen Quell der Leidenschaft, der den Verwaltern noch übrig bleibt, die Nähe von Schmerz und Tod. Die mit dem Töten am schnellsten bei der Hand waren, waren auch immer die, die sich über die Verletzung einer Regel am meisten empörten.
Nachdem sie sich bereitgefunden hatten, uns Platz für eine Anwaltskonferenz zu schaffen, arrangierten sie eine schwer »gesicherte« Sitzung in dem - wie es sich herausstellte Stabszimmer des Sheriffs. Es war der Captain, der mich holen kam, umgeben von uniformierten und bewaffneten Wachen. Wachen mit grimmiger Miene waren auf dem Weg postiert. Es kam mir so vor, als hätten sie die halbe Polizeimacht mobilisiert. Wer konnte schon glauben, daß sie mich wirklich als eine so riesige Bedrohung betrachteten? Es war viel wahrscheinlicher, da(3 sie mir die Gefährlichkeit nur andichteten, damit Dutzende von Wachen benötigt wurden, um mich zu bändigen. Es war Teil einer Verschwörung, mich schuldig zu sprechen, bevor ich noch die Chance hatte, vor Gericht zu stehen. Je näher ich dem Stabszimmer kam, wo es Fenster und Türen zur Außenwelt gab, desto größer wurde die Zahl der Wachen und desto kleiner der Abstand zwischen ihnen. Und kurz bevor ich den Sitzungsraum betrat, mußte ich durch eine enge Gasse gehen, die von zwei Reihen Schulter an Schulter stehender Hilfssheriffs gebildet wurde. Glaubten sie, ich wollte davonrennen? Es war ein täuschendes Abbild des Flughafens in New Jersey. Aber dann fiel mir ein, daß diese Männer wahrscheinlich noch gefährlicher waren als die auf dem Flugfeld von New Jersey: es waren dieselben Männer, die von Jonathan entwaffnet und in Schach gehalten worden waren - von einem siebzehnjährigen Jüngling. Sie dachten ohne Zweifel an den Aufstand vom 7. August. Und ohne Zweifel wurde ihr Benehmen sowohl von Scham und Verlegenheit als auch von brennendem Rachedurst motiviert.

5. Januar 1971

Auf einen Knopfdruck öffnete sich gleitend die Eisentür, die die Frauenabteilung absperrte. Ich war auf dem Weg zum Gericht, wo ich vom Staat Kalifornien formell wegen Mord, Entführung und Verschwörung unter Anklage gestellt werden sollte. Nachdem ich die lange Strecke durch die unterirdischen Gänge für Gefangene hinter mich gebracht hatte, wurde ich in eine Aufenthaltszelle unmittelbar neben dem Gerichtssaal gewiesen. Einige Minuten später zog Captain Teague, der die Wachmannschaft befehligte, seine Schlüssel aus dein Pistolengurtel, öffnete die Tür mit gebieterischer Geste und sagte: »Miß Davis, Sie können jetzt eintreten.«
Als ich den Gerichtssaal betrat, erhob sich donnernder Beifall, und meine Augen wurden sekundenlang von Blitzlicht und hellen Lampen geblendet. Ich sah geradewegs hinüber zu den Zuschauerbänken, bemühte mich, bekannte Gesichter zu entdecken und hob die Faust, um mich für den Empfang erkenntlich zu zeigen.
Als ich ein paar Tage später das Bild dieser Szene betrachtete, sprang mir ihre krasse Ungereimtheit in die Augen. Da war ich mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen, den ungefesselten Arm erhoben. Am Tisch nur wenig zu meiner Rechten saß Ruchell Magee, den ich noch nicht gesehen hatte. Er stak in einem Gewirr von Ketten, sein Gesicht zeigte die Spur einer Grimasse, als wolle er probieren, bequemer mit seinen Ketten fertigzuwerden. Hätte ich Ruchell eher gesehen, dann wäre meine erste Geste gewesen, ihm die Hand zu reichen und meinen Bund mit ihm zu bekräftigen. Erst als ich auf dem Platz saß, der zu der Tür gerichtet war, durch die ich eingetreten war, sah ich 272
i den in Ketten gefesselten Schwarzen Mann, der mein Mitangeklagter war. Als ich ihn entdeckte, schenkte ich ihm mein herzlichstes Lächeln und versuchte ihm zu sagen, daß ich ihn liebte, und daß wir zusammen seien. Ruchell lächelte zurück.
Die Sitzordnung schien ganz falsch. Wir waren so weit voneinander entfernt. Der Richterstuhl war mir näher als Ruchells Stuhl. Das gleiclie galt für den Staatsanwalt. Ruchell war ganz auf der anderen Seite des Gerichtssaales. Diese »Gerechtigkeit im Ringelreih'n« schien darauf aus zu sein, das natürliche Bündnis zwischen meinem Bruder und mir zu zerreißen. Ich war wütend und traurig. Es hatte sogar den Anschein, als säße ich da auf meiner Seite des Kreises mit fünf guten Anwälten der Bewegung, während Ruchell allein mit seinem Pflichtverteidiger Leonard Bjorkland dasaß.
Als ich am nächsten Tag die Chronicle von San Francisco las, spürte ich schon die Anfänge einer Kampagne, die mich öffentlich gegen Ruchell ausspielte. Der Artikel über die Anklageerhebung begann: »Angela Davis, angeklagt wegen Mord und Entführung trat voller Zuversicht in den Gerichtssaal von Marin County, hob die geballte Faust und erklärte später dem Richter >Ich bin in allen Punkten nicht schuldig<.« Etwa fünfzehn Absätze weiter unten kam der Satz: »Man hörte ein Seufzen im Publikum des Saales, als Ruchell Magee, ein Häftling in San Quentin und Mitangeklagter von Miß Davis, aus einer benachbarten Aufenthaltszelle in den kreisrunden Saal gebracht wurde.«
Das war am 6. Januar. Am 18. Januar schrieb derselbe Reporter einen Artikel, der mit den Worten begann: »Man nennt Ruchell Magee >den anderen Angeklagten( im Prozeß gegen Angela Davis ... überschattet von der neu bejubelten Heldin der Schwarzen Revolution.« Und dann: »Wenn Magee ein Revolutionär ist, dann ist es die Gefängnisluft - nicht ein Leben geistiger Bemühung -, die ihn dazu gemacht hat.«
Auf diese Art versuchte die Presse, Ruchell und mich in den Augen der Öffentlichkeit soweit wie möglich voneinander zu entfernen. Selbst in Rucbells biographischer Skizze wurde ich zum Vergleich herangezogen: »Magees Leben im Gefängnis begann, als er sechzehn Jahre war; etwa in dem gleichen Alter erwarb sich Miß Davis, die Tochter einer Familie der Mittelklasse, ein Stipendium in der Brandeis Universität .. . In den Jahren, in denen Miß Davis eine akademische Laufbahn verfolgte, die sie durch Europa und schließlich zur Universität von Kalifornien in San Diego führte, wo sie sich unter Herbert Marcuse auf ihr Doktorexamen vorbereitete, studierte Magee in seiner Zelle Gesetzesbücher.«
Der Artikel schien darauf angelegt, jeden Anschein der Solidarität zwischen uns wegzubrennen - meine Parteigänger gegen Ruchell und Ruchells Parteigänger gegen mich aufzuhetzen. Sie wollten Uneinigkeit und Teilung, denn geteilt wären wir beide höchst verletzlich. Einigkeit war das einzige sichere Mittel, uns beide zum Sieg zu führen.
Wenn man die Äußerlichkeiten unserer Lebensläufe außer acht ließ, dann wurden die Gemeinsamkeiten leicht sichtbar. Es lief alles darauf hinaus, daß wir Schwarz waren und jeder auf seine Weise versucht hatte, die Kräfte zu bekämpfen, die unser Volk erwürgten.
Ich hatte mich immer glücklich geschätzt, daß ich zu denen gehörte, denen das Schlimmste erspart blieb. Ein kleiner Schlenker des Schicksals und auch ich hätte in dem Schlamm von Armut, Krankheit und Analpabetentum versinken können. Deshalb fühlte ich mich nie berechtigt, einen Unterschied zwischen mir und meinen Schwestern  und Brüdern herzustellen, die alles Leid für uns alle auf sich nahmen.
Als ich später erfuhr, wie Ruchell seine zweiunddreißig Jahre zugebracht hatte, wurde es ganz klar, daß er zu ihnen gehörte.
Er war in Louisiana geboren. Als dreizehnjähriger Junge wurde er wegen »versuchter Notzucht« eines weißen Mädchens verurteilt und im Zuchthaus von Angola eingesperrt, wo schon das Überstehen eines jeden Tages ein ständiger Kampf war.  Hinter jenen Mauern wurde er zum Mann. Acht Jahre später wurde ihm von Staats wegen erklärt, er dürfe das Gefängnis verlassen vorausgesetzt, daß seine Eltern einverstanden waren, mit ihm in einen anderen Staat zu ziehen. Sie zogen nach Kalifornien. Ruchell war kaum länger als ein Jahr auf den Straßen, als die Polizei von Los Angeles ihn verhaftete, weil er in einen ganz trivialen Kampf mit einem Bruder verwickelt war. Bei dieser schweren Vorstrafe gab man sich nicht einmal den Anschein eines gerechten Prozesses. Das System stand gegen ihn in einem Maße, daß der Pflichtverteidiger - gegen seinen Einspruch - auf »nicht schuldig wegen Unzurechnungsfähigkeit« plädierte. Als der Prozeß beendet war, war Ruchell zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt, weil man ihn der Entführung bezichtigte. (Was man ihm vorwarf, war nichts weiter, als daß er den betroffenen Bruder zwangsweise ein paar Straßenblocks im Auto mitgenommen hatte.)
Ruchell, das waren wir alle, nicht nur, weil man ihn zum Sündenbock des Rassismus machte, sondern auch in seiner Spannkraft, in seiner Weigerung, sich unterkriegen zu lassen. Die Schulen in Louisiana hatten ihm das Lesen und Schreiben nicht beigebracht. Hinter Mauern in Kalifornien benutzte er die Verfassung der Vereinigten Staaten als Fibel und bekämpfte sein Analphabetentum. Er las Gesetzesbücher und erwarb sich soviel Rechtsgelehrsamkeit, daß er zu seinem eigenen Fall Schriftsätze verfaßte, die er bei den zuständigen Gerichten hinterlegte. Nur auf Grund seiner eisernen Entschlußkraft wurde er ein so gewandter Anwalt, daß ein Berufungsgericht seine Verurteilung auf Grund seines Plädoyers aufhob.
Aber auch in der zweiten Runde führte sein Prozeß zur Verurteilung, weil das Gericht ihm das Recht verweigerte, seine eigene Verteidigung zu führen. Wieder wurde er von einem Pflichtverteidiger verramscht. Aber selbst angesichts dieser zweiten Verurteilung hat Ruchell nicht aufgegeben. Er verfaßte weiter Schriftsätze an die Gerichte - und nicht nur in eigener Sache, sondern auch für andere Brüder. Zu gleicher Zeit schrieb er an alle Menschen in Freiheit, von denen er glaubte, daß sie ihm behilflich sein könnten, das ihm angetane Unrecht anzuprangern.
Ironischerweise erfuhr ich, daß auch ich einen Brief von Ruchell erhalten hatte, erst als dieser dem Gericht vorgelegt wurde. Die FBI hatte ihn in meiner Wohnung beschlagnahmt. Es war einer von vielen hundert Briefen, die ich während meines Konflikts in der Universität wöchentlich erhalten hatte. Weil ich niemanden hatte, der mir bei der Erledigung der Post behilflich war, blieb er unter den unbeantworteten Briefen begraben. Hätte ich damals nur gewußt ...
Als die Frauenabteilung im Gefängnis von Marin County geplant wurde, hatte man offenbar angenommen, daß in diesem Bezirk, der zu den reichsten des Landes gehört, nur wenige Frauen in Haft genommen würden. Der sehr kleine Prozentsatz an Schwarzen, Chicano und armen Menschen stand in direktem Verhältnis zu dem, was die Regierung für diese Abteilung für ausreichend hielt. Einschließlich des Lazaretts, der Einzelzellen und des Komplexes für Jugendliche gab es nicht mehr als siebzehn Betten für die Frauen.
Man hätte glauben sollen, daß in einem Gefängnis von so kleinem Maßstab Aufseherinnen gedeihen würden, die weniger unpersönlich, weniger brutal reagierten. Tatsächlich war auch mein erster Eindruck von diesen weiblichen Kerkermeistern, daß sie Amateure waren und erst die Rolle probten, die eine Aufseherin nach ihrer Ansicht spielen sollte. Aber gerade weil sie sich mühten, gute Kerkermeister zu sein, gingen sie manchmal in ihrer Haltung bis zum Äußersten.
Kurz nach meiner Ankunft hatte ich einen Zusammenstoß mit einer dieser Aufseherinnen den ersten in einer unendlichen Reihe von derartigen Konflikten. Es war an einem Sonntag im Januar. Ich hatte einen Teil des Morgens damit verbracht, im San Francisco Examiner die Artikel zu lesen, die mich am wenigsten langweilten. Spät am Morgen wurde ich herausgerufen, weil ich Besuch hatte, aber ich hatte kaum die Formalitäten der Vorstellung hinter mir, als eine schäumende Aufseherin in die Besucherkabine gestürzt kam.
»Wo ist die Rasierklinge? Geben Sie sie her! Wenn Sie die Rasierklinge nicht aushändigen, werden wir's Ihnen schon zeigen ... « Ich wußte nicht, wovon sie redete. Das letztemal, daß ich eine Rasierklinge auch nur gesehen hatte, war vor meiner Verhaftung. Ich antwortete nicht.
Sie beharrte bei ihrer unverständlichen Aufforderung. »Wenn Sie die Rasierklinge nicht sofort abgeben, muß dieser Besuch abgebrochen werden.« Ich sah sie ein paar Sekunden scharf an und fragte sie schließlich, wovon sie eigentlich rede. »Was ist mit der Rasierklinge in Ihrer Zeitung passiert?« fragte sie wild. »Welche Rasierklinge? Welche Zeitung?« fragte ich.
Endlich schloß ich aus ihren zuweilen unzusammenhängenden Bemerkungen, daß sich in der Sonntagszeitung eine Reklame für Rasierklingen einer besonderen Marke mit einer beigelegten Warenprobe befunden habe. »Ich lese keine Reklamen«, sagte ich. »Wenn eine Rasierklinge in der Zeitung war, muß sie noch drin sein.«
Ich sagte ihr, wenn sie aufhören wollte, sich so hysterisch zu gebärden, könnte sie die lächerliche Rasierklinge haben. Und ich ging durch den Gang zu meiner Zelle. Die umfangreiche Zeitung war auf dem Bett gestapelt. Da ich keine Lust hatte, ihr bei der Suche zu helfen, sagte ich ihr, sie solle die Klinge selbst holen. Immer noch nervös, blätterte sie in der Zeitung, bis sie die Reklame fand. Als sie sie ausriß und mir mit einem finsteren Gesicht zeigte, daß die Rasierklinge nicht mehr da war, war ich sicher, von jemand in eine Falle gelockt worden zu sein.
»Offensichtlich«, sagte ich, »hat jemand die Rasierklinge rausgenornmen. Aber das ist Ihr Problem, nicht meins. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was damit passiert ist . . .«
Wie erwartet, spie sie laute, harte Drohungen gegen mich aus. »Sie kriegen nie wieder Besuch, bis Sie die Rasierklinge rausgegeben haben. Wir nehmen Ihnen das Privileg, im Laden zu kaufen. Und wenn Sie glauben, daß Sie Ihren Rechtsanwalt anrufen oder mit ihm sprechen können, bevor Sie die Rasierklinge rausrücken, dann irren Sie sich. Sie irren sich.«
Ich versuchte, nicht zu explodieren. Ich mußte ihnen zeigen, daß sie mich mit solchem Kleinkram nicht provozieren konnten. »Ich habe alles gesagt, was ich zu sagen habe«, antwortete ich. »Es ist klar, daß man mit Ihnen keine vernünftige Unterhaltung führen kann, auch wenn man wollte. Aber eins. Ich weiß, was für Rechte ich habe. Ich weiß sehr genau, daß Sie mich nicht hindern können, meinen Anwalt zu sehen. Versuchen Sie's - und dann geht's wirklich um die Wurst.«
Ich drehte mich abrupt um und setzte mich aufs Bett. »Sie können jetzt gehen«, sagte ich. Sie war immer noch rot im Gesicht, schnellte herum und rannte raus, wobei sie beinahe vergaß, die Tür hinter sich zuzuschließen. Allein in meiner Zelle dachte ich über meine Lage nach. Wenn sie es wagten, konnten sie mich unbegrenzt von jedem Verkehr abschneiden. Aber ich beruhigte mich bei dem Gedanken, daß meine Anwälte schon zu mir gelangen vmrden, wenn man wirklich versuchen sollte, ihnen den Besuch bei mir zu verwehren.
Am späten Nachmittag, kurz bevor die Schicht dieser Aufseherin zu Finde ging, kam sie mit verlegenem Gesicht zurück. »Ich muß mich, glaube ich, bei Ihnen entschuldigen, Miß Davis«, sagte sie zögernd. »Eine Gehilfin am Empfangstisch hat die Rasierklingen aus allen Zeitungen entfernt, bevor sie ins Gefängnis gelassen wurden.« »So leichten Kaufs sollst du nicht davonkommen«, dachte ich bei mir.
Am nächsten Tag ging ich ins Büro der Aufseherin, um das tägliche Telefongespräch zu führen, das allen Gefangenen zustand. Mit lauter und verächtlicher Stimme erzählte ich Brotsky den Vorfall mit der Rasierklinge in allen Einzelheiten. Ich wollte den Aufseherinnen klar machen, daß ich zum Kampf bereit war, wenn sie mich herausfordern wollten.
Die Proteste der Anwälte, die an die verschiedenen Stufen der Gefängnishierarchie gerichtet waren, versetzte diese in die Defensive. Der Nationale Vereinigte Ausschuß für die Freiheit von Angela Davis machte mit. Ich konnte sehen, daß sie die schnell wachsende Massenbeweguiig zu fürchten begann. Sie wußte, daß ein ungerechtfertigter Angriff auf mich an die große Glocke gehängt werden würde.
Im Gefängnis von Marin County lernte ich schon ganz früh die rassistischen Vorurteile meiner Schergen kennen. Dieselbe Aufseherin, die in die Sache mit der Rasierklinge verwickelt war, schloß eines Tages meine Zelle auf und befahl mir barsch, mit ihr zu kommen. In voller Uniform und mit Schultertasche war sie anscheinend im Begriff, das Gefängnis zu verlassen.
»Ich gehe nirgendwohin, wenn man mir nicht sagt, was geschehen ist«, sagte ich. »Nun kommen Sie schon.« Als ich mich weigerte, gab sie zu, daß es im Gebäude Alarm gegeben hatte. Ich war immer noch nicht befriedigt und verlangte nähere Angaben, worauf sie endlich zugab, daß eine telefonische Bombendrohung eingetroffen sei und der ganze Komplex evakuiert werde. Die weiblichen Gefangenen würden nach unten in einen Bornbenkeller gebracht.
Ich war gewöhnt, mit den Armen auf dem Rücken gefesselt zu werden - das war Teil der Routine. Als die anderen drei weiblichen Häftlinge auf den Korridor herausgebracht wurden (und das war seit Monaten der einzige direkte Kontakt, den ich mit den Häftlingen hatte), offenbarte die Art ihrer Fesselung den krassen Rassismus der Aufseherinnen. Eine Schwarze Frau war dabei und eine Chicano-Frau. Sie waren aneinander geschlossen, der rechte Arm der einen an den linken Arm der anderen. Die einzige sonstige Gefangene war eine Weiße. Die Aufseherinnen hatten nichts getan, um sie in ihrer Bewegung zu hindern. Da waren wir denn also, ich mit beiden Händen auf dem Rücken gefesselt, die Schwarze Frau an die Chicano-Frau gekettet und die weiße Frau mit beiden Händen frei. Die Schergen von Marin County waren entschlossen, mich in Einzelhaft zu halten, deshalb begannen wir die Gerichte mit Hafterleichterungsanträgen zu bedrängen. Der Vorwand war derselbe wie in New York. Das heißt, es geschah nicht, weil ich so gefährlich war. Im Gegenteil, es sei mein Leben, daß sie zu schützen suchten. Sie fürchteten, sagten sie, daß ein fanatischer Anti-Kommunist oder jemand, der vom Tode des Richters Haley übermäßig betroffen war, mir Schaden zufügen könnte. Und wie leicht war es, in Marin County verhaftet zu werden, sagten sie. Da könnte einer tatsächlich irgendein Kleinstverbrechen begehen, um ins Gefängis zu gelangen - und mich umlegen. Die Verwaltung müsse so etwas in Erwägung ziehen, sagten sie.
Daher lehnte der Richter eine Verfügung ab, mich mit dem Gros der Insassen zusammenkommen zu lassen - er wollte von uns einen eingehenden, dokumentierten Antrag, in dem genau die Bedingungen meiner Gefangenhaltung spezifiziert und nach Maßgabe des Gesetzes begründet werden sollte, warum ich nicht in Einzelhaft zu halten sei. Das war ein typischer Versuch, das Rad der Justiz zurückzudrehen. Immer wenn meine Rechte verletzt wurden - dann verlangte man von uns die Begründung, warum sie nicht verletzt werden sollten.
Unzweifelhaft wußte der Richter, was er tat, weil er sich schließlich zu einer Kompromißlösung bequemte. Er erlaubte mir nicht, mich unter die anderen Frauen zu »mischen«; statt dessen wies er die Gefängnisverwaltung an, eine dauernde Möglichkeit zu schaffen, mich mit meinem Anwaltsteam beraten zu können - eine Forderung, die wir in demselben Antrag erhoben hatten.
Diese dauernden Einrichtungen zur Beratung wurden »innerhalb des Sicherheitsbereichs« geschaffen, das heißt hinter einer Reihe elektrisch gesteuerter schwerer Eisentüren, und innerhalb des internen TV-Systems. In einem dieser Räume, hinter einer Eisentür mit dem kleinen Guckloch, befand sich die sogenannte Zelle für Jugendliche. Sie lag direkt neben dem Büro der Aufseherin. Sie brauchte nichts weiter tun, als auf ihrer Seite eine Metallklappe herunterzuziehän, um mich durch ein bullaugenartiges Fenster beobachten zu können. Die Zelle war etwas größer als meine. Die Wände waren mit dein gleichen öden Grau gestrichen, der Zementfußboden hatte die gleiche anstalthafte Rostfarbe. Darin waren kojenartige Betten das heißt Metallplatten, die an der Wand befestigt waren, mit je einer dünnen Matratze wie der, auf der ich jede Nacht schlief. Auch sonst gab es noch ein paar kleine Unterschiede zwischen dieser und meiner Zelle - die Toilette war nicht mit dem Wascl-ibecken verbunden und die Dusche befand sich innerhalb der Zelle. Aber der einzige Unterschied, der mir wichtig war, war das Oberlicht. Um diese Zeit sehnte ich mich so nach ein bißchen natürlichem Licht, daß ich jauchzte, weil ich nun gelegentlich erkennen konnte, ob es draußen hell oder dunkel war. Das Oberlicht war eher durchscheinend als durchsichtig, so daß ich den Himmel nicht wirklich sehen konnte, aber ich konnte Flugzeuge über mir vorbeifliegen hören, und an Regentagen wurde die Eintönigkeit meiner Umgebung durch das Geräusch von Regentropfen unterbrochen. In den Traumphantasien meiner Nächte stieg ich durch dieses Oberlicht in die Freiheit.
In der ersten Zeit wurde ich, wenn die Anwälte kamen, von meiner Zelle zum Beratungsraum und wieder zurück eskortiert. Später konnten wir jedoch den Richter überzeugen, wenn er schon nicht in absehbarer Zeit die Einzelhaftbedingungen mildern wollte, dann sollte ich jedenfalls zu jeder Zeit Zutritt zum Beratungszimmer haben, selbst wenn die Anwälte nicht anwesend waren. Um ihm die Entscheidung zu erleichtern, wiesen wir darauf hin, daß ich bereits einen Antrag angekündigt hätte, in meinem Fall als einer meiner eigenen Anwälte aufzutreten, und daher sei es die Pflicht der Gefängnisverwaltung, mir sowohl gebührenden Zugang zu juristischem Schrifttum als auch Räurnlichkeiten zu schaffen, wo ich es studieren konnte. Er willigte dann ein, daß ich das Konferenzzirnmer - die Zelle für Jugendliche - zwischen acht Uhr morgens und zehn Uhr abends als meinen Arbeitsbereich benutzen durfte.
Wir waren in einem kleinen Scharmützel Sieger geblieben, was die Schergen zur Vergeltung reizte. Da sie wußten, daß sie die Anordnung des Richters nicht verletzen durften, die mir den Zugang zu dem Arbeitszimmer gewährte, erfanden sie so viele lästige und kleinliche Regeln, wie ihre kleinen Hirne nur ausbrüten konnten. Erst erklärten sie, es sei gegen die Regeln, daß ich meine Mahlzeiten in der Arbeitszelle einnahm. Der zwei Sekunden währende Gang um die Ecke und ein paar Meter den Korridor entlang durfte erst angetreten werden, nachdem sie mir das Frühstück in mein Schlafquartier gebracht hatten. Wenn es Mittagessenszeit war, öffneten sie die Tür der Arbeitszelle und führten mich zurück zu meiner Schlafzelle. Nach dem Mittagessen - der Gang zurück; zum Abendessen dasselbe. Diese Routine konnte nur dann durchbrochen werden, wenn einer der Anwälte mich gerade in meiner Arbeitszelle besuchte - dann konnte ich dort meine Mahlzeiten einnehmen.
Die Tatsache, daß diese Zelle der Bereich sein sollte, in dem ich an meinem Fall arbeitete, nutzten sie bis zum Unsinn: weil ich dort arbeiten Sollte, konnte ich dort nicht auch essen; ich durfte dort nicht meine täglichen Freiübungen machen. Aber sie konnten nichts dagegen tun, daß ich Gymnastik, Katas oder Kopfstand machte, wenn mir in der Arbeitszelle danach zumute war. Oft tat ich das genau in dem Augenblick, in dem ich wußte, daß sie mich beobachteten.
Die Arbeit, die ich im Gefängnis zustandebrachte, erforderte weit mehr als die normale Konzentration. In diesem Zustand fast dauernder Einsamkeit war die totale Versenkung in meine Arbeit die grundlegende Bedingung für mein Überleben und meine geistige Gesundheit. Das wußten die Schergen und waren daher gewillt, zu den kleinlichsten Maßnahmen zu greifen, weil sie hofften, mich mit Kleinigkeiten zu lähmen. Die Oberaufseherin hat sich darin besonders bewährt.
Ich kann nicht sagen, daß mich alles, was sie taten, kalt ließ. Es gab Sachen, die ich nur lästig fand, und es gab andere, die mich wirklich ärgerten und zu ohnmächtiger Wut reizten. Oft war ich zur mittäglichen oder abendlichen Essenstunde tief in meine Arbeit versunken ich las oder verfaßte einen Schriftsatz oder Brief oder wollte einfach nur für mich etwas niederschreiben. Dann öffnete eine Aufseherin die Tür, damit ich in meine Schlaf/Essenszelle zurückkehrte, um meine Mahlzeit einzunehmen. Während meiner unappetitlichen, einsamen Mahlzeit - es dauerte fast niemals mehr als zehn Minuten, sie entweder zu vertilgen oder mich zu entscheiden, daß ich sie nicht mochte dachte ich weiter über die Arbeit nach, die ich gerade vor mir hatte. Natürlich wollte ich nach Beendigung der Mahlzeit so schnell wie möglich an meine Arbeit zurück. Eine halbe Stunde verging, ohne daß meine Zellentür geöffnet wurde. Fünfundvierzig Minuten, eine Stunde. Zu der Zeit konnte ich meine ohnmächtige Ungeduld nicht mehr bezähmen und schrie, so laut ich konnte, daß jemand kommen und meine Zelle aufschließen solle. Aber je mehr ich schrie, desto länger warteten sie selbstverständlich, bis jemand mit dem Schlüssel kam. Manchmal versuchten sie, die Verzögerung zu rechtfertigen, indem sie zum Beispiel angaben, daß irn Gang eine Gefangene registriert und -Fingerabdrücke gemacht würden - kein Häftling durfte mich in dieser Zeit zu Gesicht kriegen. Bei anderer Gelegenheit sagten sie schnöde, es täte ihnen leid, daß sie nicht so schnell essen könnten wie ich - und sie wollten sich von mir nicht bei ihrer gernütlichen Mahlzeit stören lassen. Diese Situation wurde so unerträglich, daß ich lieber die Mahlzeiten überging, wenn sie meine Arbeiten unterbrachen, als daß ich mich damit abfand.
Monatelang war diese Arbeitszelle im Mittelpunkt einer ständig tobenden Schlacht zwischen der Oberaufseherin und mir. Sie sah zum Beispiel durch ihr Guckfenster, daß ich mich manchmal auf die untere Bettstelle in der Arbeitszelle ausstreckte und in dieser Position las. Nach kurzer Zeit wurden die Matratzen aus der Zelle entfernt. Danach legte ich mich auf die nackte Metallplatte, um ihr zu zeigen, daß sie mich in meiner Gewohnheit nicht gestört hatte die dünne Matratze hatte ohnehin das Bett nicht bequemer gemacht. Diese Aufseherin und die anderen waren besonders erzürnt, als sie erfuhren, daß David Poindexter vor dem Bundesgericht von der Anklage der Begünstigung (Beherbergung eines Strafverfolgten) freigesprochen worden war. (Man konnte nicht beweisen, daß David wußte, daß ich nicht nur von der kalifornischen Polizei, sondern auch von der FBI gesucht wurde.)
Ich habe mich zuweilen gefragt, wie sehr ich mich von diesen sinnlosen Mätzchen ablenken ließ. Ich wußte zwar, wie leicht man die Perspektive verliert, wenn man eingesperrt ist besonders, wenn man nicht mit anderen verkehren kann, die unter den gleichen Bedingungen leben -, aber ich fragte mich, ob ich auf diese trivialen Vorfälle so reagierte, als hinge das Leben davon ab. Ich fürchtete, daß diese Kleinigkeiten bei mir zur Besessenheit werden könnten, denn wenn das geschah, dann könnte eben dies meine Kerkermeister in den Stand setzen, mich geistig unter ihre Kontrolle zu bringen. Da war zum Beispiel ein Ritual des Pillenschluckens, das für eine der Aufseherinnen von besonderer Wichtigkeit zu sein schien. Die Anrüchigkeit ihrer Person wurde nur von ihrer Dummheit übertroffen. Sie glaubte tatsächlich, wenn sie mir ein Aspirin gegen Kopfschmerzen oder gegen Krämpfe gab, daß ich mich ihrer Anweisung fügen und meine Zunge heben würde, damit sie sehen konnte, ob ich es geschluckt oder versteckt hatte, bis sie die Zelle verließ. Es war übrigens dieselbe Aufseherin, die Margaret einmal verbieten wollte, mir Bücher zu bringen. Eines Samstags hatte Margaret mir einige gebundene Bücher und eine Taschenbuch-Anthologie des Faschismus gebracht. Die Aufseherin glaubte, alle Taschenbücher seien Romane. Sie erlaubte Margaret, mir die gebundenen Bücher zu bringen, nicht aber das »Geschichtenbuch«, wie sie das Werk über den Faschismus nannte. Nach dem Verständnis dieser stumpfsinnigen Frau durfte ich keine »Geschichtenbücher«, das heißt Belletristik, in meiner Arbeitszelle haben und Das Wesen des Faschismus sei ein solches Buch.
Der Gefängnisarzt von Marin County gab eine falsche Diagnose über einen Ausschlag, der sich bei mir gebildet hatte, und während er mich gegen eine vermeintliche Allergie mit Antihistamin behandelte, verbreitete sich der Ausschlag über meinen ganzen Körper. Das gab uns die gewünschte Handhabe, einen Arzt von außerhalb zu verlangen, der mich untersuchen sollte. Bert Small, ein Arzt der Schwarzen Bewegung, der die Freie Gesundheitsstation der Panther leitete, erkannte meinen Ausschlag sogleich als eine für Gefängnisse typische Pilzerkrankung, die s0 weit fortgeschritten war, daß die Heilung schwierig wurde. Bert kam deshalb mindestens einmal die Woche, um mich zu untersuchen. Während seiner Besuche stand immer eine Aufseherin vor der Zelle, die uns durch das Gitter beobachtete. Einmal entdeckten wir, daß eine zweite Matrone mit einem Notizblock in der der Zelle benachbarten Dusche versteckt war und offenbar alles niederschrieb, was wir sagten. Nach einigen Wochen wurde Bert verboten, mich an sich zu drücken (er begrüßte mich immer mit einer festen Umarmung). Bald darauf erklärte man ihm, daß jegliche nichtmedizinische Unterhaltung verboten sei. Da die Aufseherinnen nicht sehr gescheit waren, entwickelten wir ohne große Schwierigkeiten eine Code-Sprache, in der wir fast alles besprechen konnten, ohne daß sie es verstanden.
Von allen Aufseherinnen gab es nur eine, die sich besonders bemühte, nett zu sein. Sie war schüchtern, sprach mit leiser Stimme, war eine junge Frau und offenbar in Polizeiarbeit unerfahren. Ich nehme an, sie war eine der Frauen, die angestellt wurden, als man meine Anwesenheit im Gefängnis als Ausrede benutzte, um die Zahl ihrer Gehilfinnen zu vergrößern. Eines Nachts, als diese Gehilfin alleine Dienst hatte, schrie eine Schwester in der Hauptabteilung kurz bevor das Licht ausging »Gute Nacht, Angela«. So laut ich konnte, schrie ich zurück »Gute Nacht«. (Zur Hauptabteilung ging man etwa siebzig Meter den Gang hinunter, dann um die Ecke und bis zum Ende des nächsten Ganges.) Mehrere Monate lang schwieg diese Gehilfin dazu, daß ich mit gefangenen Frauen, die ich nie gesehen hatte und auch nie hoffen konnte zu sehen, Gespräche führte und Freundschaften schloß. An dem Tag, an dem Ericka Huggins und Bobby Seale in New Haven von der Anklage des Mordes freigesprochen wurden, veranstalteten wir eine regelrechte Feier. Einmal überreichte mir diese Aufseherin zwei Schokoladentafeln, die mir die Schwestern im Hauptstamm als Geschenk geschickt hatten. Als ich sie öffnete, entdeckte ich lange Briefe Kassiher -, die unter der Hülle versteckt waren.
Donnerstags und sonntags waren die Besuchstage für die Frauen in Marin County. In den ersten Monaten durfte mein Besuch erst kommen, wenn alle anderen Frauen mit ihren Besuchern fertig waren, weil kein Kontakt zwischen uns erlaubt war. Solange er sich ausweisen konnte, durfte mich jeder besuchen. NUCFAD arrangierte in den meisten Fällen Besuche von Menschen, die ich noch nicht kannte. Oft waren diese Besuche durch das Glas und das Telefon, die mich von den Besuchern trennten, anstrengend und die Vorstellung schwierig. Und meistens war es schon Zeit, den Besuch zu beenden, wenn wir gerade ins Gespräch gekommen waren.
Nach umfangreichen und gut dokumentierten Anträgen erließ der Richter schließlich eine Verfügung, daß juristische Forschungshelfer unserer Wahl an gewissen Stunden des Tages zum Gefängnis zugelassen werden sollten. Ich konnte sie in der Anwaltskabine besuchen, wenn sie allein kamen; wenn ein zugelassener Anwalt dabei war, wurden sie in die Arbeitszelle eingelassen. Juristische Forschungsgehilfen waren im Laufe der Zeit Franklin und Kendra, Fania, Charlene, Cassandra Davis und Bettina Aptheker.
Ich hatte Bettina in New York kennengelernt, als wir beide die höhere Schule besuchten. Sie gehörte zu den Freunden, die mir von Claudia und Margaret Burnham vorgestellt wurden. Zu jener Zeit gehörte Bettina zur Führung von Advance, der Jugendorganisation, der ich mich angeschlossen hatte, und die der komunistischen Partei brüderlich verbunden war. Was mir danach von Bettina noch am lebhaftesten in Erinnerung geblieben war, war die Beschreibung einer Reise in die Sowjetunion. Ich war von der Gleichheit, die sie dort beobachtet haben wollte, ungeheuer beeindruckt. Sie hatte die Wohnung eines Arbeiters und die eines Arztes besucht; die des Arztes, sagte sie, sei nicht luxuriöser gewesen als die des Arbeiters. Bettinas Vater, Herbert Aptheker, war der Direktor des Instituts für marxistische Studien, und ich fühlte mich von den Vorlesungen, die ich bei ihm hörte, gepackt und aufgeklärt.
Einige Jahre später, 1964, tat sich Bettina in der Berkeley-Universität als maßgebende Führerin der Bewegung für die Freie Rede hervor, die der Universitätsrebellion der sechziger Jahre den Weg ebnete. Als sie mich zur Zeit des Kampfes um meine Anstellung in Los Angeles besuchte, hatte ich sie seit etwa zehn Jahren nicht mehr gesehen. Sie schrieb damals für das World Magazine (das Magazin der Tageszeitung unserer Partei) und interviewte mich über den Kampf, den ich um meine Stellung bei der UCLA führte. Wenn wir uns danach begegneten, dann immer nur für kurze Zeit und mitten in politisch dringenden Geschäften. Es war enttäuschend für mich, daß wir uns nicht hinsetzen und in entspannter Atmosphäre miteinander sprechen konnten.
Als ich nach Kalifornien ausgeliefert wurde, lebte sie mit ihrem Mann, Jack Kurzweil, einem Professor an der Staatsuniversität von Kalifornien in San Jos~. Ihr Kind, Joshua, war etwa vier Jahre alt. Bettina war gerade dabei, das Manuskript ihres Buches Die akademische Rebellion: Eine marxistische Kritik abzuschließen. Sie hatte sich entschlossen, einen großen Teil ihrer Zeit der Arbeit dem Nationalen Vereinigten Ausschuß zu widmen. Ich war glücklich, daß sie auch noch Zeit erübrigen konnte, um als juristische Forschungsgehilfin in meinem Fall aufzutreten, denn das bedeutete, daß sie mich für längere Dauer und außerhalb der amtlichen Besuchsstunden besuchen konnte.
Bei einem ihrer ersten Besuche erwähnte Bettina, daß der Verteidigungsausschuß in England ein Buch mit Schriften von mir, über mich und über die Bewegung für meine Freiheit veröffentlichen wolle. Wir seien gebeten, Material zusammenzustellen, aus dem sich der Ausschuß die Literatur für das Buch aussuchen könnte.
Bettina und ich fanden nach kurzer Debatte, daß die Bewegung genauer und vollständiger von dem hiesigen Ausschuß in dem Buch dargestellt werden könnte. Zudem könnte es, wenn es hier zusammengestellt würde, zugleich als Organisationsmittel für die Kampagne in unserem Land benutzt werden. Gleich nach dieser Besprechung begannen Bettina und ich, an diesem Projekt zu arbeiten. Von Anfang an betrachteten wir das Buch als ein Mittel, um den Menschen ein tieferes Wissen von Unterdrückung beizubringen, sie mit Fällen politischer Häftlinge bekanntzumachen und ihnen klarzumachen, was im allgemeinen wirklich hinter den Mauern vor sich ging. Ich bestand darauf, daß der Inhalt des Buches sich nicht nur mit meinem Fall beschäftigen, sondern auch andere politische Gefangene einbeziehen solle - George, John, Fleeta, Ruchell und die vielen eingesperrten Schwestern und Brüder im ganzen Land. Es wäre dann eine der Hauptthesen des Buches, daß man die traditionelle Definition des »politischen Gefangenen« neu überdenken müsse, da der Rassismus an Intensität zugenommen habe. Abgesehen von den Dutzenden von Männern und Frauen, die wegen ihrer politischen überzeugungen oder Aktivitäten im Gefängnis saßen, gab es noch Tausende, die auf Grund falscher Bezichtigungen verurteilt, oder nur weil sie Schwarz oder Braun waren, unverhältnismäßig lange Strafen erhalten hätten. Das Buch hätte nicht nur für die politischen Gefangenen im eigentlichen Sinne des Wortes die Stimme zu erheben, sondern auch für jene, die in irgendeiner Weise zum Opfer des Rassismus oder des Syndroms Polizei-Gericht-Gefängnis wurden.
Bettina und ich, wir verfaßten beide Artikel über Gefängnisse und politische Gefangene. Während langer Gespräche in der Haftanstalt, die durch das Glas, die Telefone und das Metallnetz zwischen uns erschwert wurden, faßten wir unsere Entschlüsse über das andere Material, das außerdem noch aufgenommen werden sollte. Auf Anordnung der Gefängnisverwaltung durften die Forschungsgehilfen nur einen unbeschriebenen Papierblock und einen Bleistift in die Anstalt bringen. Daher mußte mir das gesamte Material von den Anwälten gebracht werden. Und Bettina mußte die Dinge, die sie mit mir besprechen wollte, ihrem Gedächtnis einprägen, bevor sie zu mir kam.
Schließlich war das Buch nach mehreren Monaten intensiver Arbeit praktisch fertig. George, John, Fleeta und Ruchell, sowie auch Bobby und Ericka hatten dafür Beiträge geschrieben. Howard und Margaret hatten sich zu den wesentlichen juristischen Aspekten des Falles geäußert und Fania, Franlzlin und Kendra hatten über die Massenbewegung geschrieben. Von den unzähligen Aufrufen, die für meine Sache erlassen worden waren, wählten wir einen repräsentativen Querschnitt aus den Vereinigten Staaten und aus dem Ausland. An den Anfang des Buches stellten wir James Baldwins herzbewegenden Brief an mich. »Einige von uns, weiß und schwarz«, schrieb er, »wissen, ein wie hoher Preis bereits gezahlt worden ist, um ein neues Bewußtsein, ein neues Volk, eine noch nicht dagewesene Nation ins Leben zu rufen. Wenn wir es wissen und nichts tun, sind wir schlimmer als die Mörder, die in unserem Namen gedungen werden. Wenn wir es wissen, dann müssen wir um dein Leben kämpfen, als wäre es unser eigenes - was es ist und mit unseren Leibern den Gang zur Gaskammer unpassierbar machen. Denn wenn sie dich am Morgen holen, dann kommen sie für uns noch in derselben Nacht.« Dabei kam uns der Gedanke, der Anthologie den Titel »Wenn sie am Morgen kommen« zu geben. Es war ursprünglich unsere Absicht gewesen, das Buch in einem Verlag der Bewegung veröffentlichen zu lassen. Schließlich hatten wir nicht im Sinn, es in einer kommerziellen Massenauflage zu vertreiben es sollte als Waffe zur Organisation dienen. Aber es mußte gleich erscheinen, wenn es irgendeinen Einfluß auf die Kampagne für meine Freiheit und die Freiheit anderer politischer Gefangener haben sollte. Zu jener Zeit hatte kein Verlagsunternehmen der oewegung die Mittel, es so schnell herzustellen. Infolgedessen gaben wir das Buch einer Schwarzen Firma, The Third Press. Leider wußten wir nicht, daß diese Firma vor allem daran interessiert war, mit dem Buch kommerziellen Gewinn zu erzielen so daß sie es sogar fälschlich als ein Buch ausgab, das von mir verfaßt (statt herausgegeben) war.
Aber trotz dieser Probleme war das Buch ein wichtiges Ereignis für uns alle hinter Mauern. Ich war besonders gerührt, als Ruchell mir sagte, »Wenn sie am Morgen kommen«, das eine lange Abhandlung über sein Leben und seinen Fall enthielt, hätte die Verfolgung, die er durch den Staat erlitten hatte, am härtesten angeprangert.
Zu gleicher Zeit, als das Gericht mir den Besuch juristischer Forschungsgehilfen erlaubte, hatte es auch das Gefängnis angewiesen, potentiellen Zeugen für die Verteidigung in Anwesenheit eines zugelassenen Anwalts den Zugang zur Arbeitszelle zu erlauben. Meine Eltern und Benny und Reggie konnten mich auf diese Weise besuchen. Als meine Mutter und mein Vater am 16. März zur ersten Verhandlung über die zur Prozeßvorbereitung eingereichten Anträge und zur großen Kundgebung vor dem Regierungskomplex gekommen waren, hatten wir noch in der Kabine durch Glas und übers Telefon miteinander gesprochen. Es war schön, sie nun endlich wieder umarmen zu können. Herbert Marcuse und seine Frau kamen mehrere Male. Und unsere Parteivorsitzenden Henry Winston, Jim Jackson und William Paterson kamen zusammen aus New York.
Ich erwartete immer voller Spannung die Besuche von Georges Anwalt John Thorne, weil ich dadurch über das Schicksal von George und den anderen Brüdern in San Quentin auf dem laufenden gehalten wurde. Margaret, Howard und Sheldon besuchten George, John, Fleeta und Ruchell, so oft sie es möglich machen konnten.
Im Juni stellte Howard einen Antrag auf Haftentlassung gegen Kaution vor dem neuen Richter, Richard Arnason von Sonoma County, dem der Fall übertragen worden war. Alle hatten hochgespannte Hoffnungen - das heißt alle außer mir - daß Arnason zu unseren Gunsten entscheiden würde. Die Fragestellung war einfach: Menschen, die unter der Anklage eines todeswürdigen Verbrechens standen, wurden nicht gegen Kaution freigelassen, »wenn der Schuldbeweis auf der Hand liegt und der Schuldverdacht groß ist«. Der logische Schluß war, daß bei einem Mangel an ausreichendem Beweismaterial der Angeschuldigte bis zum Prozeß freigelassen werden sollte. Howard und Kendra waren meiner Entlassung so sicher wie ihres eigenen Lebens und versuchten beide, mich aufzuheitern, indem sie mir für morgen die Freiheit versprachen.
Während der Verhandlung über den Kautionsantrag war Albert Harris so fest überzeugt, daß Arnason den Antrag ablehnen würde, daß er ins Protokoll aufnehmen ließ: »Wenn sie gegen Kaution das Gefängnis von Marin County verläßt, dann kann man ihr ebensogut mit ihren Habseligkeiten auch eine Kreditkarte für ein Flugticket geben, denn man wird sie niemals wiedersehen.«
Als Arnason den Antrag ablehnte, fühlte ich, wie sich die Zange abermals schloß, aber ich war nicht besonders erschüttert, weil ich ohnehin erwartet hatte, daß er den einfachsten Ausweg wählen würde. Kendra weinte und Howard war so niedergeschlagen, wie ich ihn noch nicht erlebt hatte. Anscheinend sollten die Anträge, die der Richter genehmigte, einen Ausgleich für den furchtbaren Schlag schaffen, den er uns durch die Ablehnung der Haftentlassung versetzt hatte. Arnason bejahte unsere Eingabe, daß ich als Mitverteidiger in eigener Sache zugelassen wurde. Und weil die Haftentlassung abgelehnt worden war, fand er sich zu der Anordnung bereit, ab sofort in meiner Gefängniszelle günstigere Bedingungen (besonders für die Vorbereitung meines Falles) zu schaffen. Er verfügte, daß mir die Benutzung einer Schreibmaschine gestattet würde und daß ich, wie die anderen Frauen, einen Radioapparat haben dürfe. Er wies sogar die Aufseherin an, mich kurze Zeitspannen mit den Frauen der Hauptabteilung verbringen zu lassen. Ich entdeckte, daß sich die Verhältnisse beim Hauptstamm irn Gang um die Ecke von dem, was ich in der Haftanstalt für Frauen gesehen hatte, nicht wesentlich unterschieden. Ich merkte von neuem, wie lebenswichtig es ist, sich jeder vernichtenden Strömung des Gefängnislebens zu widersetzen ...
Denn Haftanstalten und Gefängnisse sind tödlich. Da gab es den hynotisierenden Stumpfsinn des Fernsehens; ein paar langweilige Schulbuchtex ' te, einige Detektivgeschichten und eine Menge unglaublich schlechter Romane. Die Frauen durften schreiben, wenn sie wollten, aber das kleine Schreibpapier, das nur selten vorhanden war, erschwerte ernsthaftes Schreiben und begünstigte statt dessen nur kurze belanglose Mitteilungen, die außerdem noch zensiert wurden, bevor sie zur Post gingen. Selbst eines Bleistifts habhaft zu werden, konnte ein ausgedehntes und kompliziertes Unternehmen sein. Dann gab es die abgegriffenen Karten und Gesellschaftsspiele, unerläßliches Inventar in jedem Gefängnis - Dinge, die die Tatsache der Gefangenschaft mit gezuckerter Harmlosigkeit übertünchen und eine unrrierkliche Rückwandlung zur Kindheit fördern. Wie ich schon beim Jargon in der Haftanstalt für Frauen gemerkt hatte, sind wir alle in den Augen der Kerkermeister, ob wir nun sechzehn- oder siebzigjährig sind, »Mädchen«. Sie sahen so gern ihren kindlichen Gefangenen zu, die so selig in harmlose Spielchen vertieft waren. Jeder Zeitvertreib, der intellektuelle Ansprüche stellte, schien verdächtig. Die Schergen in Marin County wehrten sich besonders hartnäckig dagegen, ein Schachspiel im Gefängnis zuzulassen, und erlaubten es nur, wenn es dumme Voraussetzungen erfüllte. Das Spiel, das schließlich im Tagesraum zugelassen wurde, war eine kindische Abart vom Schach.
Das andere Gefängnisventil war überwältigend sexistisch. Es war die hartnäckige Anwesenheit der Waschmaschine mit Trockenschleuder und Bügelvorrichtungen, die abgesehen von den Metalltischen und Stühlen ohne Rückenlehne die einzigen Einrichtungsgegenstände des Tagesraumes waren. Die »ldee«, die dem zugrundelag, war wahrscheinlich, daß Frauen, weil sie Frauen sind, einen wesentlichen Teil ihres Daseins vermissen, wenn sie von ihrer Hausarbeit getrennt sind. Die Wäsche und Anstaltskleidung der Männer wurde zum Waschen anderswohin geschickt; von den Frauen erwartete man, daß sie ihre selbst besorgten. Wenn sie sich nicht freiwillig zum Waschen und Bügeln meldeten, wurde ein Arbeitsplan verfügt. Dieses Arbeitssystem stellte sich dann auch als rassistisch heraus. Wenn sich viele Frauen aus reiner Langeweile freiwillig zum Waschen meldeten, wurden die Schwarzen Frauen unweigerlich zurückgestellt. Aber wenn sich niemand freiwillig meldete, wurden die Schwarzen Frauen dazu befohlen.
Inmitten all dieser Dinge wird der Schlaf zu einer Art Luxus. Gerade weil er Bewußtlosigkeit mit sich bringt, die völlige Negation einer ohnehin leeren Existenz, wird er der am wenigsten monotone Zeitvertreib. Die Aufseherinnen ermunterten uns, den Schlaf als ein Privileg zu betrachten, indem sie den Gebrauch eines Bettes während der Tageszeit als Lohn für »gutes Betragen« gestatteten. Falls zum Beispiel eine Frau um halb sieben, wenn das Frühstück gebracht wurde, nicht aufgestanden und vollständig gekleidet war und ihre Decken nicht säuberlich unter die Matratze gesteckt hatte, dann büßten alle Frauen in dieser Zelle die »Bettprivilegien« für den ganzen Tag ein. Sie wurden dann sämtlich in dem anliegenden Tagesraum eingesperrt, wo man sich nur auf Schemeln ausruhen konnte. Diese Gefängniswärter sind ernsthafte Leute, die in dem Glanz ihrer Dienstabzeichen völlig aufgehen. Wenn diese Ernsthaftigkeit herausgefordert wird, zeigt sie ihr wahres Gesicht. Einer jungen Schwarzen Gefangenen, die gelegentlich zu einem Arbeitsurlaub das Gefängnis verlassen durfte, wurde mitgeteilt, daß sie deswegen nicht zusammen mit den anderen Frauen in den Tagesraum mit dem Fernsehapparat gehen dürfe. Das Fernsehen war ihr nicht sehr wichtig, aber diese Art der Vergeltung machte sie v.,ütend. Sie sagte der Aufseherin, ihr Abzeichen berechtige sie nicht, sie derartig zu bestrafen. Zur Erwiderung rief die Aufseherin eine Macht zu Hilfe, die größer war als ihr Dienstabzeichen - ihren Rassismus. Sie erklärte der Schwarzen Frau, daß sie sich »für ihre Farbe zuviel herausgenommen« habe. Dieser Vorfall entfachte eine fürchterliche Schlacht unter den Frauen, aber interessanter Weise entsprach die Schlachtlinie nicht der Rassenlinie: zwar nahmen alle Schwarzen Frauen für die Schwester Partei, aber auch einige weiße.
Dieses Rangbewußtsein, dieses Insignien-Privileg, erstreckt sich bis in Bereiche, die wahrhaft tödlich sind. Oftmals, wenn ich mit bewaffneten Wachen auf dem Weg zum Gericht im Fahrstuhl fuhr, öffneten die Männer ihre Pistolentaschen - einfach zur Schau nur für meine Augen.

8. Juli 1971

Howard, John Thorne und ich folgten den Wärtern durch die hell erleuchteten Gänge für Häftlinge in eine Aufenthaltszelle im Gerichtsbereich. Eine Toilette ohne Sitzring stand in der Ecke und zwei hölzerne Bänke standen sich an den Wänden der engen Zelle gegenüber. Die obere Hälfte der einen Wand bestand aus durchsichtigem Plexiglas. Sie war nur etwas kleiner als die, in der Ruchell und ich warteten, wenn wir vor Gericht erscheinen mußten. Obwohl ich hätte wissen müssen, was mir bevorstand, wurde ich durch das schwere metallische Klirren, das jäh unsere Stille zerriß, aufgeschreckt. Die Ketten, Schlösser, Bein- und Handschellen, deren Rumpeln ich zum erstenmal im Gerichtssaal von Salinas gehört hatte, klangen jetzt sehr bekannt. Auf der anderen Seite der Glaswand stieg George zu einer ganztägigen Konferenz zwischen ihm und seinen Anwälten und mir und meinen Anwälten die Treppe herunter. Da ich jetzt offiziell als Mitverteidiger in eigener Sache anerkannt war, hatte sich der Richter bereit erklärt, durch eine Verfügung ein Treffen zwischen mir, allen Soledad-Brüdern und meinem Mitangeklagten Ruchell zu gestatten. Ein paar Tage später schrieb ich George von meinen Eindrücken in diesem ersten Augenblick:

»Eine Szene ist mir in den Sinn gehämmert: ich stehe in der kleinen Glaskabine unten, stehe, warte, liebe, begehre, und dann heiße kalte Wut, als die Ketten anfangen zu rasseln und Du langsam die Treppe heruntersteigst... Ich bin's, die Dir die Ketten runterreißen sollte. Ich bin's, die Deine Feinde mit ihrem Leib bekämpfen sollte, aber ich bin hilflos, machtlos. Ich staue meine Wut im Innern, ich tue nichts. Ich stehe und sehe zu, gezwungen, die Haltung des unbeteiligten Zuschauers einzunehmen, die ganze Szene durch Glas wahrgenommen, wie im Labor, wütend auf sie, daß sie mir das auferlegen, wütend auf mich, daß ich nichts tue. Wütend auf mich, weil ich mitansehen mußte, wieviel Gegenkraft Du Dir selbst aufzwingen mußtest, jedem Schritt, lang, hart, nicht willens, von Ketten und Schweinen gezügelt zu werden, Deinem ganzen Körper mit jeder Fußbewegung in hartem Schwanken «

Sobald er die Zelle betrat und sah, daß wir da waren, löste sich die Verachtung auf seinem Gesicht sofort in das Lächeln auf, dessen ich mich von Salinas noch so gut erinnerte. Seine erste instinktive Geste war der Versuch, die Arme auszustrecken. Eine Umarmung. Er hatte vergessen, daß seine Handgelenke an seine Hüften gekettet waren, und daß er sie nur ein paar Zoll bewegen konnte. Mit meinen freien Händen - sie hatten mich diesmal nicht gefesselt - versuchte ich, die Ketten irgendwie gutzumachen. Acht Stunden waren nicht lange genug. Wir sprachen von allem, aber die Zeit reichte nicht. Wir besprachen unsere Strategie für die Verteidigung und sprachen davon, daß George möglicherweise in meinem Prozeß aussagen sollte. Er war sicher, daß wir den Prozeß gewinnen würden. Ich sagte ihm, daß unser Sieg ein gemeinsamer Sieg sein müsse. Für uns alle. Danach fand ein ganztägiges Treffen mit Ruchell statt. Es kam zu einer kritischen Zeit. Obwohl wir beide in unserer politischen Einstellung zu dem Fall fest vereint waren, konnten wir uns über die Mittel, mit denen er vom juristischen Standpunkt angegangen werden sollte, nicht ganz einigen. Ruchell wollte, daß der Prozeß aus der Zuständigkeit des kalifornischen Staates in die der Bundesgerichtsbarkeit übertragen werde.
Er war auf Grund seiner jahrelangen Erfahrungen mit kalifornischen Gerichten überzeugt, daß sie ihm ans Leben wollten. Er meinte, wir hätten bessere Chancen, die Unterdrückung und rassistische Behandlung, denen wir beide unterworfen waren, auf ein Minimum zu bringen, wenn wir uns auf diese Strategie des Zuständigkeitswechsels einigten. Ich hatte diese Strategie studiert und darüber nachgedacht und lange Diskussionen mit Margaret und Howard über die Tauglichkeit von Ruchells Standpunkt geführt. Schließlich hatte ich mich entschieden, daß es für uns am besten wäre, es auf der Staatsebene auszutragen. Unter den vielen Gründen für meine Entscheidung bezog sich einer in sehr praktischer Weise auf die Frage, wo wir die bessere Geschworenengruppe bekommen würden. Im Bundesgericht war es der Richter, der die in Frage kommenden Geschworenen befragte und die Entscheidungen, ob sie Vorurteile hegten oder nicht, alle selber traf. In einem Staatsgericht konnten dagegen wir, die Verteidiger, das Recht beanspruchen, die möglichen Geschworenen eingehend zu befragen, um sie auf ihre Einstellung zum Rassismus und zum Kommunismus zu testen. Huey Newtons Fall hatte bereits den Präzedenzfall gesetzt, nachdem Charles Garry die Auswahl der Geschworenen zu seiner eigenen Sache gemacht hatte. Es wäre nicht möglich, in dieser Art die Lebensumstände eines Geschworenen im Gerichtssaal zu durchleuchten, wenn wir den Fall vor ein Bundesgericht brächten. In den vielen Monaten vor der Prozeßeröffnung führten Ruchell und ich kurze Diskussionen über diese Frage in der Aufenthaltszelle, wo wir morgens auf das Zusammentreffen des Gerichts warteten, und während der Prozeßpausen. Wir korrespondierten auch über unsere Meinungsverschiedenheiten. Margaret, Sheldon und Howard besuchten Ruchell in San Quentin und debattierten mit ihm über das ganze Für und Wider einer Prozeßverlegung.
Es lag mir viel daran, daß wir eine Übereinkunft erzielten, weil ich von vornherein entschlossen gewesen war, daß er und ich zusammen vor Gericht stehen sollten. Von vielen Seiten, auch von dem Richter selbst, war starker Druck ausgeübt worden, die Fälle getrennt zu verhandeln. Aber unser Verteidigungsteam hatte stets die Einstellung vertreten, daß man sich solchen Trennungsbemühungen widersetzen solle. Solange die Frage der Gerichtszuständigkeit noch in der Schwebe war, hatten wir mit vielen unserer Anträge zur Prozeßvorbereitung nicht vorankommen können. Denn wenn wir auf Staatsebene Verhandlungen führten, konnte das Ruchells Kampf um die veränderte Zuständigkeit vereiteln. Es war eine schwierige Zwickmühle. Als die Zeit nahte, alle Unentschlossenheit beiseite zu tun, um die ernsthafte Prozeßführung zu beginnen, waren Ruchell und ich uns noch über unsere juristische Einstellung uneins.
So stand es, als wir unser achtstündiges Treffen im Gefängnis begannen. Anwälte - meine und Ruchells - waren anwesend, daneben auch Mitglieder unserer AusschÜsse. Die Auseinandersetzung wurde zuweilen recht hitzig. Aber trotz allem gab es keinen Bruch in der Solidarität, die uns verband. Ruchell betonte, daß dies eine technische Meinungsverschiedenheit wegen der juristischen Strategie, aber kein grundlegender Bruch zwischen uns sei. Als es offenbar wurde, daß die Kluft zwischen unseren juristischen Positionen sich vor dem Ende unserer Konferenz nicht schließen würde, sah ich mich gezwungen, um der Einigkeit willen, folgendes Zugeständnis zu machen: Ich schlug vor, daß ich mich Ruchells Bemühungen anschließen und die Verlegung des Prozesses beantragen würde, aber nur mit der Maßgabe, daß Ruchell, wenn der Antrag vom Bundesgericht abgelehnt wurde, mit mir gemeinsam den Prozeß vor dem Staatsgerichtshof führen solle. Diesem Vorschlag stimmte er zu. Später sah ich ein, daß dieses Einverständnis von vornherein an Mängeln litt und mehr ein Resultat unserer Verzweiflung gewesen war als ein wirklicher Versuch, unsere Meinungsverschiedenheit aus der Welt zu schaffen. Denn Ruchell war so felsenfest überzeugt, daß der Richter dem Verlegungsantrag zustimmen würde, daß er die Möglichkeit der Ablehnung nicht ernsthaft in Erwägung zog. Ich war ebenfalls sicher - felsenfest - daß der Antrag abgelehnt würde, so daß ich die Möglichkeit, den Prozeß vor einem Bundesgerichtshof zu führen, nie ernsthaft in Erwägung zog.
Der Antrag wurde abgelehnt. Aber statt nun den Prozeß vor dem Staatsgericht beginnen zu lassen, versuchte Ruchell, die Verlegungsstrategie weiter zu verfolgen. Ich wußte, mit welcher Leidenschaft er seiner Oberzeugung anhing, deshalb konnte ich ihm wegen seiner Handlungsweise eigentlich keinen Vorwurf machen. Aber jetzt machte sich die Ausweglosigkeit, der wir zu entgehen gehofft hatten, erst in aller Hartnäckigkeit geltend. Wenn wir unsere Verteidigung vorantreiben wollten, dann gab es nur einen Weg, dieser Ausweglosigkeit zu begegnen und das verstanden wir beide. Trennung war jetzt der einzige Ausweg. Trennung war das Wort, das ich nicht hatte hören wollen, aber da wir beide mit gleicher Überzeugungskraft unserer eigenen Strategie anhingen, mußten wir die Trennung der Prozesse beantragen. Unmittelbar danach gab unser Ausschuß eine Presseerklärung ab: »Am Montag, dem 19. Juli, gab Richter Richard Arnason seine Zustimmung zu dem Antrag, die Prozesse des Staates Kalifornien gegen Angela Davis und Ruchell Magee getrennt zu verhandeln...
Seit Beginn der Hetzkampagne haben die allgemeinen Massenmedien, unterstützt von zweifelhaften >linken Freunden< versucht, einen Keil zwischen Angela und Ruchell zu treiben. Die Mittel, deren sie sich bedienten, reichten von falschen und rassistischen Vergleichen zwischen Angela und Ruchell bis zur Aufstellung einer Hierarchie politischer Gefangener. Angela und Ruchell haben sich viele Stunden bemüht, ihre juristische Strategie zu koordinieren. In den ersten sieben Monaten der Verhandlungen zur Prozeßvorbereitung haben sie unablässig versucht, ihre juristischen Strategien aufeinander abzustimmen. Da sie jedoch ihre Strategien nicht koordinieren konnten, war das Endergebnis der Antrag auf Trennung der Prozesse, auf die sich beide Angeklagte geeinigt hatten. ... Es sollte klar sein, daß der Trennungsbeschluß nicht der Ausdruck politischer Meinungsverschiedenheiten war. Auch betraf er keine substantiellen Fragen der juristischen Verteidigung. Die Meinungsverschiedenheiten betrafen ausschließlich Fragen der Prozeßführung... Ruchell will versuchen, den Kampf vor einem Bundesgericht auszutragen, und Angela will versuchen, denselben Kampf vor einem staatlichen Gericht auszufechten.
Aber beide glauben, daß ohne eine von Schwarzen geleitete Massenbewegung, die den Gerichtssaal nur als ein Forum ihres Kampfes benutzt, die Schlacht nicht gewonnen werden kann. Und wir werden gewinnen. Für diejenigen im ganzen Lande, die tatsächlich darum kämpfen, eine Massenbewegung aufzubauen, die alle politischen Gefangenen befreien kann, sind wir nun doppelt verantwortlich. Die Fälle von Ruchell Magee und Angela Davis müssen mit der Absicht vors Volk getragen werden, den Massen einen tiefen Einblick in die Unterdrückung durch unseren Strafvollzug zu gewähren... Der Tag des Aufstandes, der dazu dienen mußte, um Angela und Ruchell fälschlich zu beschuldigen, wird sich bald zum erstenmal jähren. Ausschüsse in Kalifornien und im ganzen Lande gedenken des 7. August durch verschiedene Aktivitäten, die von Kundgebungen und Teach-ins bis zu Gedenkfeiern reichen werden. In Pasadena, Kalifornien, wird ein Park dem Gedenken Jonathan Jacksons geweiht. Durch derlei Aktivitäten werden die Menschen die Zustände kennenlernen, gegen die Ruchell und die erschlagenen Brüder am 7. August gekämpft haben.«

3. August 1971

Richter Keating nimmt im Zeugenstuhl Platz. Er sieht erbärmlich dünn aus, und die tiefen Furchen in seinem Gesicht lassen ihn älter erscheinen, als er ist. Etwas an ihm erinnert mich an die Rassisten, die meine Kindheit bevölkert haben. Ich fühlte mich zuversichtlich und voller Tatendrang, als ich ihn über seine Beurteilung bei der Auswahl der Geschworenen von Marin County befragte. Dieses Mal führe ich den Angriff.
Unsere Stellung war, daß die Anklage gegen mich von einem großen Schwurgericht beschlossen worden sei (dazu brauchte man nur acht Minuten ohne eine Diskussion über die Anklageerhebung), das rassistisch und nicht repräsentativ war. Man hatte uns ein Verhör zugestanden, um festzustellen, ob die Richter bei der Auswahl dieses Großen Schwurgerichts durch ihre eigene Rasse und durch Klassenvorurteile beeinflußt worden waren. Wir waren überzeugt, daß die Richter von der Schwarzen Gemeinschaft, der Arbeitergemeinschaft und der Jugendgemeinschaft nichts wußten und daher nicht imstande waren, eine repräsentative Geschworenenbank auszuwählen. Wir waren schon ziemlich weit im Verhör, als ich eine Fotografie hervorzog, die mir Margaret gegeben hatte. Ich näherte mich dem Zeugenstand, gab ihm das Bild und fragte ihn, ob das eine treffende Darstellung seines Hauses (gemeint war auch: seines Reichtums) sei. Überrascht und verärgert darüber, daß wir sein Heim fotografiert hatten, murmelte er immerhin so laut, daß ihn die Gerichtsreporter hören konnten, vor sich hin: »Richter haben wohl keine Bürgerrechte oder Privatsphäre, wie? Die Menschen, die die Bürgerrechte durchsetzen, haben keine. Ja, das ist mein Haus. Ich möchte sagen, es könnte gefährlich sein, so etwas noch einmal zu versuchen... Wir können Einbrecher dort nicht gut brauchen.« Als ich Keating fragte, ob er ein Mitglied der Schwarze-Panther-Partei als Geschworenen empfehlen würde, sagte er: »Das sind nach Adolf Hitler die übelsten Rassisten.« Und er behauptete ferner: »Sie sind Befürworter von Haß, Gewalt und Mord... Überall verspritzen sie Haß und Gewalt und Mord.« Er fügte hinzu, daß für die kommunistische Partei das gleiche gelte. Ich war sprachlos, nicht so sehr schockiert, daß dies seine Empfindungen waren, sondern daß ein Richter eines Appelationsgerichts solche Behauptungen in das Protokoll einer Gerichtsverhandlung hineingeschrien hatte. Eine Meinungsumfrage, die wir durchführten, bestätigte, daß die rassistischen und antikommunistischen Vorurteile tief in den Herzen der Durchschnittsbürger von Marin County wurzelten. Der Richter Keating war ein typischer Bürger von Marin County. Wie konnte mein Prozeß im Regierungsviertel dieses County, direkt neben dem Gerichtssaal von Richter Haley stattfinden? Wir schickten uns an, unseren Antrag auf Verlegung des Gerichtsortes zu begründen.
Denn ein Prozeß an dieser Stelle wäre ein Schlachtfest, ein sicheres Vorspiel für die Gaskammer in San Quentin. Alle höheren Richter des Bezirks hatten bekannt, daß sie meinen Prozeß nicht vorurteilsfrei führen könnten. Die große Geste, mit der sie sich lossagten, hieß für mich nichts anderes, als daß sie von meiner Schuld hoffnungslos überzeugt waren. Die Meinungsforschung bewies, daß die Mehrheit der Bevölkerung von Marin County, die sowohl weiß wie wohlhabend war, mich der Entführung, des Mordes und der Verschwörung für schuldig hielt. Aufschlußreicher war aber, daß sie mich einer noch schlimmeren Sache für schuldig hielten - daß ich Kommunistin war, daß ich eine Schwarze war. Viele von ihnen waren empört, daß man mir erlaubt hatte, die Kinder von anständigen weißen Kaliforniern zu unterrichten. Wenn sie darüber abstimmen könnten, würden sie mich für immer voll der Universität von Kalifornien verbannen. Seit diese Meinungsumfrage durchgeführt worden war, war George von den Wachen in San Quentin ermordet worden. Die Hysterie, die von diesen Ereignissen hochgepeitscht wurde und dazu dienen sollte, die Opfer zu Verbrechern zu stempeln - war allgegenwärtig. Die öffentliche Meinung in diesem wohlhabenden weißen Bezirk hielt jeden, der sich für die Gefangenen von San Quentin einsetzte, für ebenso schuldig, wie es die Gefangenen nach ihrer Meinung waren. Unser Antrag, den Gerichtsort zu verlegen, war wohl begründet und gut dokumentiert. Richter Arnason, der Prozeßvorsitzende, den man aus einem anderen Bezirk herbeigeholt hatte, konnte nicht anders, als ihm stattzugeben. Aber wir wollten nicht nur den Prozeß von Marin County fortverlegen.
Jeder Schwarze Mensch weiß, daß es im Staat Kalifornien nur wenig Plätze gibt, wo ein auch nur dem Anschein nach vorurteilsfreier Prozeß durchgeführt werden kann. Wenn ein Prozeß stattfinden sollte, dann wollten wir ihn in San Francisco stattfinden lassen, wo wir hoffen konnten, ein paar Schwarze Menschen unter den Geschworenen zu haben. Aber die, denen die Entscheidung über den Prozeßort zustand, wollten nicht nach San Francisco, das sich jenseits der Brücke mit seiner vielfarbigen Bevölkerung mit vielfältigen sozialen Meinungen und Politischen Überzeugungen breitmachte. San Fraucisco war zu unzuverlässig; die Möglichkeit, daß sich eine große örtliche Bewegung bildete, um den Prozeß zu überwachen, war viel zu groß. Man wollte einen ruhigeren Ort, einen Ort, wo Meinungsverschiedenheiten durch leise Höflichkeitsfloskeln gedämpft wurden. Einen Ort, wo Schwarze Menschen nicht in großer Zahl lebten, aber genug führende Schwarze Gestalten in der Gemeinschaft tätig waren, um den vorhandenen Rassismus zu verschleiern. Man wollte einen Ort mit geographischen Vorzügen, aber ohne politische Färbung, und vor allem ohne eine Tradition fortschrittlicher politischer Auseinandersetzungen.
Dieser Ort sollte, wie wir feststellten, San José sein. Die Kerkermeister und Sheriffs von Marin County betrachteten diese Änderung des Gerichtsortes als persönliche Niederlage. Ihre Gesichter zeigten den Ausdruck tiefen Bedauerns - Bedauerns, daß sie über die Schlächterei nicht selbst die Aufsicht führen durften. Mit unverhohlenem Vergnügen weigerten sie sich, uns das Datum oder die Stunde unseres Umzugs zu verraten. Howard und Margaret warnten mich, ich solle mich jederzeit zum schnellen Auszug bereithalten. Sie hatten mir Kartons mitgebracht, in die ich meine Sache packen konnte: Bücher, Papiere, Briefe, die sich in diesem Gefängnis im Laufe des letzten Jahres bei mir angesammelt hatten. Die Warnungen kamen mir sehr zupaß. Eines Morgens weckte mich die Oberaufseherin um drei oder vier Uhr und kreischte, ich hätte in wenigen Minuten bereit zu sein. Ich war bereit. Ich hatte nichts weiter zu tun, als mich zu waschen und die Zähne zu putzen.

21. August 1971

In der kleinen Anwaltskabine des Besuchsraumes gaben sich Bettina und ich alle Mühe, das Manuskript von »Wenn sie am Morgen kommen« fertigzustellen. Als Howard eintraf und Barbara Ratliff mitbrachte, die die Vorbereitungsarbeiten für einen unserer Anträge übernominen hatte, durften wir alle drei in die Arbeitszelle zurückkehren. Wir hatten uns gerade zurechtgesetzt, als sich der große Schlüssel im Schloß drehte, die Tür aufging und die Frau Hilfssheriff, zu Howard gewandt, sagte: »Mr. Moore, Sie müssen gehen. Wir haben Alarm im Gebäude.« Seit der letzten Bombendrohung waren Monate vergangen. Trotzdem war uns die Prozedur nicht unbekannt. »Wir kommen zurück, wenn's vorbei ist«, sagte Howard. Und die drei verließen die Zelle. Ich nahm an, daß die Frau binnen kurzem zurückkehren würde, um mich und die anderen Gefangenen, wie beim letztenmal, in den Bombenkeller zu bringen, aber eine halbe, dann eine ganze Stunde verging, ohne daß jemand an der Tür erschien. Schließlich kam sie zur Zelle zurück und sagte mir, sie hätte den Auftrag, mich zu meiner Schlafzelle zu bringen. Als ich sie fragte, was los sei, wollte sie nur sagen, daß sie lediglich einen Befehl ausführe, den sie erhalten habe.
Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich auf meiner Bettstelle gelegen und an die Decke gestarrt habe und meine Phantasie schweifen ließ. Ich wartete auf Nachricht von irgendwem, von Howard, Margaret, wem auch immer. Es war sehr spät, als die Wärterin in meine Zelle zurückkam und sagte: »Mr. Moore erwartet Sie.« Sie schloß das Tor auf, und ich ging ein paar Schritte hinter ihr her. Als ich um die Ecke im Gang bog, sah ich Margaret und Howard vor der Tür der Arbeitszelle stehen. Margarets Augen waren rot und geschwollen, und das einzige Mal, daß ich diesen Ausdruck völliger Verzweiflung schon auf ihrem Gesicht gesehen hatte, war an dem Morgen vor etwa zehn Jahren, als ihre Mutter in das Zimmer kam, in dem wir schliefen, um ihr und den anderen Kindern zu sagen, daß ihr Vater in der Nacht am Herzschlag gestorben war. Howard schwitzte stark, seine Stirn war tief gefurcht, seine Augen zugekniffen, und er atmete schwer, als sei er erschöpft. Ich sah sie an und hatte das Gefühl, als ob etwas in meinem Innern zusammenstürze. Wir waren allein in der Zelle, die Tür war verschlossen, aber noch niemand hatte das Schweigen gebrochen. In den letzten endlosen Stunden des Wartens hatte ich wirre Bilder einer Explosion in San Quentin, die sich meinen Gedanken aufdrängten, von mir gewiesen. Wie oft hatte George gesagt, daß der Krieg, der ihm von seinen Schergen erklärt war, beim geringsten Anlaß in einen offenen Kampf ausbrechen könnte? Ich schrie in meinem Innern. »Es darf nicht sein, daß George etwas zugestoßen ist.«
Aber je lauter ich schrie, desto deutlicher sagten mir ihre Gesichter, daß etwas geschehen war - daß das Schlimmste eingetroffen war. »George?« fragte ich und ließ seinen Namen in der Luft hängen. Ich wollte meine Frage nicht konkreter machen. Howard nickte. »Er ist nicht...?« Howard beugte den Kopf, und die schmerzhafte Hoffnung erfüllte mich, daß ich dieses kleine, fast unhörbare »Ja« nicht vernommen hätte. Ich streckte den Arm nach Margaret aus, die in furchtbares Schluchzen ausbrach, und wir standen da und hielten uns umschlungen. Ich fühlte mich erfroren, unfähig, mich zu bewegen, unfähig, Wörter aus meinem Mund zu bringen, unfähig, Tränen aus meinen Augen zu bringen. Als hätte mich jemand in Eis eingeschlossen. »Die Schweine haben ihn getötet, Angela.« Howards Stimme drang aus der Ferne in mein Bewußtsein. »Sie haben ihn ermordet. In den Rücken geschossen.« Schon drehte sich der Schlüssel, und die Wärterin sagte ihnen, sie müßten gehen. Wieder in der Zelle, erwachte ich von dem erstarrten Alptraum, um der Wirklichkeit von Georges Tod ins Gesicht zu sehen. Und dann, allein im Dunkeln, begann ich zu weinen. Ich dachte an Georgia, Robert, Penny, Frances, Delora und Georges Neffen und Nichten. So mußten sie also den ersten Jahrestag von Jonathans Tod begehen.
George war ein Symbol des Willens von uns allen hinter Gittern und jener Kraft, die unterdrückte Menschen anscheinend immer wieder aufbringen können. Selbst wenn wir glauben, daß uns der Feind von allem entblößt und uns selbst unserer Seelen beraubt hat. Die Kraft, die fast eine biologische Notwendigkeit ist, zu glauben, daß wir die Richtung unseres Lebens zu bestimmen haben. Diese Notwendigkeit hatte an George genagt, der die ganzen Mannesjahre hinter Gitter zugebracht hat - und was äußerst wichtig war, er hatte es verstanden, dieser Notwendigkeit den klarsten, umfassendsten Ausdruck zu geben, und seine Schriften hatten die Menschen in der ganzen Welt aufgerüttelt. Die Schwestern in der New Yorker Haftanstalt für Frauen hatten etwas Wichtiges über sich selbst gelernt, als sie Soledad Bruder lasen.
Als George in San Quentin meine Nachricht erhielt, daß die Frauen von seinem Buch entzückt, aber über seine früheren wenig schmeichelhaften Äußerungen über Schwarze Frauen verstört seien, entschuldigte er sich und wollte, daß sie alle sein Fehlurteil verstanden. Heute abend lagen wahrscheinlich Männer und Frauen in jedem Gefängnis des Landes wach wie ich und trauerten und versuchten, ihren Zorn in konstruktive Bahnen zu lenken. Menschen in der ganzen Welt mußten von Rache reden - konstruktive, organisierte Massenvergeltung. Am nächsten Tag schien es, als sei die ganze Welt in meiner Zelle. Jeder Platz um den Arbeitstisch war besetzt. Zuerst war es schwer, die Wörter zu einem Gespräch in Bewegung zu setzen, niemand wußte recht, wo er beginnen sollte. Als ich Charlene, Kendra, Franklin, Margaret, Howard ansah... ich konnte die Tränen nicht zurückhalten. Dann brach Franklin in Schluchzen aus. Charlene oder Kendra sagte, daß der Ausschuß begonnen habe, eine Wache außerhalb von San Quentin einzurichten - das Leben anderer Brüder mußte gesichert werden, und die Umstände, die zum Mord an George geführt hatten, mußten unverzüglich untersucht werden. Sie sagten, Berichte von brutalen Prügelszenen und greulichen Folterorgien sickerten aus dem Gefängnis. Schon hatte unser Ausschuß Verbindungen mit dem Abgeordneten Ron Dellums, den kalifornischen Volksvertretern Willie Brown, Dr. Carleton Goodlett und vielen anderen damit befaßten Männern des öffentlichen Lebens aufgenommen und sie um die Erlaubnis gebeten, San Quentin zu besichtigen und die Gefangenen über die Ereignisse zu befragen, die zu Georges Tod geführt hatten. Auch wollten sie die Wunden untersuchen, die den Brüdern von den Wachen zugefügt worden waren. Nachdem sie gegangen waren, um so schnell wie möglich den Gegenangriff zu organisieren, versuchte ich eine Erklärung zu verfassen, die der Presse übergeben werden sollte.
»George wußte«, schrieb ich, »daß der Preis für sein intensives revolutionäres Engagement darin bestand, an jedem Tag seines Lebens gegen den möglichen Todesstoß gewappnet sein zu müssen. Georges beispielhafter Mut angesichts des Schreckgespenstes einer schnellen Hinrichtung, seine Erkenntnis, die durchdie Qual von sieben Jahren Einzelhaft geschärft war, seine Standhaftigkeit angesichts der überwältigenden Macht, die gegen ihn stand, wird stets eine Quelle der Begeisterung für alle unsere Schwestern und Brüder innerhalb und außerhalb von Gefängnissen sein.«
Ich schrieb über die Familie Jackson:

»Ihre Trauer ist tief. In etwas mehr als einem Jahr wurden zwei ihrer Söhne, George und Jonathan, von faschistischen Kugeln gefällt. Ich spreche Georgia und Robert Jackson, Penny und Frances und Delora meine Liebe aus. Für mich bedeutet Georges Tod den Verlust eines Genossen und revolutionären Führers, aber auch den Verlust einer unersetzlichen Liebe... Ich kann nur sagen, daß ich diese Liebe fortsetzen werde, indem ich versuche, ihr jenen Ausdruck zu geben, den er sich gewünscht hätte - indem ich meinen Entschluß bekräftige, für die Sache zu kämpfen, in deren Verteidigung George gestorben ist. Mit seinem Beispiel vor Augen sind meine Tränen und meine Trauer die Wut auf das System, das an seiner Ermordung schuldig ist. Er schrieb seine Grabschrift, als er sagte: >Schleudert mich in das nächste Dasein, der Abstieg zur Hölle wird mich nicht schrecken. Ich krieche zurück, um auf ewig seiner Spur zu folgen. Sie werden über meine Rache nicht siegen, nie, niemals. Ich bin Teil eines rechtschaffenen Volkes, daß langsam ist im Zorn, aber ungezügelt in der Wut. Wir sammeln uns an seiner Tür, in solcher Zahl, daß das Poltern unserer Füße die Erde erschüttert.<«

Dann war ich allein mit meinem Radio.
Den ganzen Tag sendete eine Station Leseproben aus Georges Buch, und die Station, die nur Nachrichten brachte, begann die unsinnige Geschichte zu verbreiten, daß George unter einer Perücke eine sperrige Pistole aus der Besuchszone in das Adjustment Center, die am stärksten bewachte Abteilung von San Quentin, geschmuggelt habe. Ich hörte mir die Talk Shows im Radio an. Die Mehrheit der Leute, die in die Talk Shows hineintelefonierten, argwöhnten, daß in San Quentin so manches nicht stimmte, und daß das, was da faul war, nicht den Gefangenen anzulasten sei, sondern der Gefängnishierarchie. Immer wieder kam in den Anfragen die Überzeugung zum Ausdruck, daß die Gefängnisverwaltung sie zum Narren gehalten hätte, und immer wieder sprachen die Menschen über den Hochmut, den die Verwaltung zeigte, indem sie nicht einmal eine glaubhafte Geschichte erfunden hätte. Wer in aller Welt würde glauben, daß das Märchen von der Perücke all die Gewalttätigkeit rechtfertigte, die gegen die Gefangenen losgelassen wurde.
George war tot, und der tiefe persönliche Schmerz, den ich fühlte, hätte mich erstickt, wenn ich ihn nicht in eine richtige, und richtig eingesetzte, Wut verwandelt hätte. Ich konnte nicht in meinem eigenen Verlust schwelgen. Jedes individuelle Zähneknirschen würde mich auf die Knie zwingen. Persönliche Trauer in dieser stillen, grauen Zelle unter den haßerfüllten Augen meiner Schergen konnte die Willensstränge zerreißen, die mich zusammenhielten. Georges Tod würde wie ein Magnet sein, wie eine Stahlscheibe tief in meinem Innern, die magnetisch die Elemente an sich zog, die ich brauchte, um stark zu bleiben und um so härter zu kämpfen. Ich wollte den Haß gegen meine Schergen schärfen, meine Verachtung für das Strafvollzugsystem in die richtige Stellung bringen, und meine Bande zu den anderen Gefangenen festigen. Das würde mir den Mut und die Energie verleihen, die ich für einen langdauernden Krieg gegen den böswilligen Rassismus, der ihn getötet hatte, brauchte. Er war dahin, aber ich war hier. Seine Träume waren nun die meinen.

2. Dezember 1971

Die Fahrt nach San José war viel länger, als ich erwartet hatte. Obwohl ich mich in der Geographie von Nordkalifornien nicht sehr gut auskannte, merkte ich doch, daß man aus sogenannten »Sicherheitsgründen« einen Umweg machte. Ich hatte gehofft, San Francisco oder Berkeley zu sehen, oder irgendeinen Ort mit normalen (aber für mich außergewöhnlichen) Szenen menschlicher Aktivität. Aber als ich im Gefängnis von Palo Alto eintraf, brachte ich keine angenehmen Erinnerungen mit. Die Fahrt war die ganze Zeit über die Autobahn gegangen, und die Autokolonne war viel schneller gefahren, als das Gesetz erlaubte. Und als wir uns Palo Alto näherten, war es pechfinster geworden.
Ein schmächtiger, blasser Mann fuhr mit mir im Auto. Damals wußte ich nicht, daß er der Untersheriff von Santa Clara County war. Er hatte nicht das gewöhnliche Gebaren eines gesetzeshütenden Beamten. Er schien seiner selbst nicht sicher. Er versuchte mich zu trösten, mir zu versichern, daß die Zeit, die ich im dortigen Gefängnis absitzen müßte, viel erträglicher sein würde, als das Jahr des Grauens, das ich gerade in Marin County hinter mir hatte. Aber Gefängnis war Gefängnis. Wenn man sich mit der Tatsache, eingesperrt zu sein, nicht abgefunden hatte, gab es keine Unterschiede von besser oder schlimmer.
Wie bei der FBI, wie in der Haftanstalt für Frauen in New York, wie im Gefängnis von Marin County, so jetzt im Gefängnis von Santa Clara das Ritual: Name ... Adresse ... Alter ... Geburtsort ... Frühere Verhaftungen ... usw., usw., usw. Foto . . Fingerabdrücke ... Würde jemals eine Zeit kommen, da ich endgültig entlassen war?
Ich hatte gelernt, daß ein Häftling, der neu registriert ist, jedesmal zwei Telefonanrufe machen darf. ich rief zuerst meine Anwälte an, damit sie wußten, daß ich angekommen war, und dann meine Eltern. Ich hatte fast nie die Möglichkeit gehabt, mit ihnen telefonisch zu sprechen, außer wenn ich in ein neues Gefängnis gebracht wurde. Sie waren überglücklich, meine Stimme zu hören, aber zugleich auch frustriert und gespannt, was diese neue Lage bringen würde. Mutter sagte, daß sie noch vor Weihnachten zu mir kommen werde. Mein jüngerer Bruder Reggie, der einen Arbeitsurlaub vom College hatte, wollte auch an die Westküste reisen. Meine Mutter wollte sich auf Dinge konzentrieren, durch die sie der Wirklichkeit meines Unglücks entfliehen konnte. Obwohl sie bis zum Ende stark blieb, glaube ich, daß sie dieses ganze Unheil härter traf als alle anderen. Ich fragte sie, ob sie wieder angefangen hätte, regelmäßig zu essen, und ob es ihr gelungen sei, wieder etwas von dem zuzunehmen, was sie abgenommen hatte. immer wenn wir uns sahen oder miteinander sprachen, ermahnten wir uns am Ende wegen der gleichen Dinge. Diesmal ermahnte sie mich, mehr zu essen und wieder etwas zuzunehmen. Ich bat sie, sich nicht so viele Sorgen zu machen und sagte ihr widerstrebend auf Wiedersehn.
Sobald ich den Hörer aufgelegt hatte, wurde eine verdeckte Tür links vom Empfangspult aufgeschlossen. Wir gelangten in einen kurzen und engen Gang, und als ich nach rechts sah, erblickte ich die furchterregendste Gefängniszelle, die ich bisher gesehen hatte. Der ganze Bereich war von Glaswänden umgeben. Jenseits dieses Glases war ein Gang, vier Meter lang und siebzig Zentimeter breit, und an diesem Gang zwei Zellen. Jede von ihnen war ungefähr zwei Meter zu zweieinhalb. Eine enthielt das Metallplatten-Bett, eine dünne Matratze, Toilette und Waschbecken, die andere war eine wattierte Zelle, die vollständig mit schwerem, buschigem und silbergrau gefärbtem Stoff ausgeschlagen war. Dieser Stoffbeschlag wurde von einem einzigen Loch im Boden durchbrochen, das als Toilette diente.
»Sie müssen Ihre Kleider ablegen«, sagte die Aufseherin. Sie gab mir ein Kleid, einige Pyjamas, einen Pulli und eine Unterhose, einen Büstenhalter, einige Socken und Pantoffeln mit Gummizug. Ich sagte ihr, ich würde die Kleider anziehen, aber nicht die Unterwäsche. Sie behauptete, ich müsse meine Unterwäsche aushändigen und die Gefängniswäsche anziehen. Es war mir ernst damit, daß ich die Unterwäsche des Gefängnisses nicht tragen wollte. Als ich in New York nicht sterilisierte Unterwäsche getragen hatte, hatte ich mir eine l'urchtbare Pilzerkrankung zugezogen, die sich über meinen ganzen Körper verbreitet hatte und erst nach Monaten geheilt werden konnte. Ich sagte der Aufseherin, sie könne meine Unterwäsche haben, aber nichts, was sie sagte oder tat, würde mich veranlassen, diese Gefängnishöschen anzuziehen.
Weibliche Gefängnisbeamte müssen wohl etwas von einer Voyeuse an sich haben - auch die nicht homosexuellen stehen unweigerlich dabei und beobachten einen mit tiefem Interesse, wenn man sich nackt auszieht. Diese Aufseherin war sich wahrscheinlich gar nicht bewußt, mit welcher Intensität sie mich ansah, denn als ich sie fragte, was sie so interessant fände, sah sie furchtbar verlegen aus und ging schnell aus der Zelle.
Das verschossene kittelartige Kleid war zu eng und zu kurz. Der langweilige Pulli reichte mir nicht bis zur Hüfte, und seine Ärmel rutschten mir halbwegs die Arme herauf. Ich konnte die weißen Kindersocken nicht über meine Fersen ziehen oder mich in die 'Gummipaiitoffeln hineinquälen. Ich warf die Pantoffeln und Socken durch die offene Tür auf den Gang.
Dann bemerkte ich, wie kalt es in dieser Zelle war. Es war nicht nur kalt, sondern die Toilette war auch undicht und Wasser lief über den ganzen Fußboden. Ich trat hinaus auf den Gang, um eine Beschwerde zu schreien, aber niemand war in Sicht, und die Tür zum größeren Gang war verschlossen. Ich sagte mir, daß Margaret und Howard bald da sein mußten und wir dann beginnen konnten, diese untermenschliehen Verhältnisse zu bekämpfen. In dem engen kindischen Kittel ohne Unterwäsche und barfuß fror ich und zog mir deshalb die Pyjamahose unter das Kleid und den winzigen Pulli darüber, dann die Pyjamajacke über den Pulli. Ich muß komisch ausgesehen haben.
Da es keinen Platz zum Sitzen gab, stieg ich auf die Koje, zog die Armeedecke über die Schultern und versuchte, mich auf das Buch zu konzentrieren, das ich mitgebracht hatte. Ich hatte kaum eine Seite beendet, als eine Aufseherin mit flammend rotem Haar durch das Tor in den äußeren Gang trat. Sie schloß meine Tür auf und fragte mit einem, wie mir schien, einigermaßen' freundlichen Ton, ob ich Frühstück haben wollte. Ich sagte ja. Fünf Minuten später kam sie zurück und sagte, für ein Frühstück sei ich nicht »qualifiziert«. Sie hätte im Gefängnis von Marin County nachgefragt, und dort hätte man ihr gesagt, daß ich vor meiner Fahrt Tee - Tee! - bekommen hätte. Da dies der Fall sei, stünde mir bis zum Mittagessen nichts zu. »Ihr Leute wißt wohl auch nicht, was es heißt, sich menschlich zu benehmen?« stieß ich aus. Schnell aber stumm schoß sie aus der Zelle. Ich beschimpfte mich, weil ich überhaupt auf ihr nettes Angebot ja gesagt hatte, und versuchte, mich wieder in mein Buch zu vertiefen. Als später Margaret kam und mich in meiner Decke hocken sah, frierend über einem wassergetränkten Fußboden, klappte ihr der Unterkiefer runter. »Das muß ein Scherz sein!« sagte sie. »Ich bin in vielen Gefängnissen gewesen, aber das schlägt alles.«
Durch ihre Empörung wurde mir ein bißchen wohler. Eine Zeitlang hatte ich mich gefragt, ob ich mich zu sehr anstellte. Und dann dachte ich an Georges Beschreibungen von den vielen Verliesen, in die man ihn im Laufe der letzten zehn Jahre geworfen hatte. Dieser Ort hier konnte nicht so schlimm sein wie der 0-Flügel in Soledad oder das Adjustment (Besserungs)Center in San Quentin oder Einzelhaft in Folsom oder irgendeine der anderen Zellen, wo man versucht hatte, Willen und Entschlossenheit aus George herauszuquetschen.
»Das hier ist nicht mal ein Gefängnis«, sagte ich Margaret. »Es ist ein Platz für Gelegenheitshaft - ein Ort, wo man Häftlinge ein paar Stunden oder vielleicht über Nacht unterbringt. Aber mich wollen sie hier monatelang behalten. Ich kann es nicht glauben«, fuhr ich fort, »hier ist nicht genug Platz für Freiübungen, nicht einmal für solche, bei denen man auf der Stelle stehenbleibt.«
Wir beschlossen, eine maßstabgerechte Skizze der Zelle anzufertigen und mit einer Beschreibung zu versehen. Wir wollten, daß der Ausschuß sie in ihrer Pressemitteilung und ihrer Propaganda über meine Haftverhältnisse verwandte.
Margaret ging, um die Zeichnungen dem Ausschuß zu übergeben. »Halte dich tapfer«, sagte sie, »hier wird es bald größere Änderungen geben.«
Ich lächelte ihr zu. »Margaret, du weißt, daß ich's überstehe.«
Ein wenig später führte eine Aufseherin eine junge, sehr trostlos aussehende weiße Frau an meiner Zelle vorbei. Ich hörte, wie eine Tür neben mir aufgeschlossen wurde. Sie muß bei einer Drogenrazzia erwischt worden sein, dachte ich. Da mir nicht nach einem Gespräch mit jemand, den ich nicht sehen konnte, zumute war, sagte ich nichts zu ihr, sondern ging zurück in meine innere Zelle, stieg auf die obere Koje und fuhr fort Der weibliche Eunuch zu lesen, bis Margaret und Howard kamen. Sie brachten die Nachricht, daß der Ausschuß bereits die Räder in Bewegung gesetzt hätte. Im ganzen Land und selbst in anderen Ländern erhielten die Menschen von den Zuständen Kenntnis, unter denen ich gefangengehalten wurde. Innerhalb von Stunden überfluteten Telegramme und Telefonanrufe das Büro des Sheriffs. Sheriff James Geary, der sich für einen Mann mit liberalen Grundsätzen hielt, reagierte auf diese massenhaften Proteste und ordnete einige Änderungen an. In einem Interview, das im Mercury von San Jos6 erschien, beklagte er, daß die Menschen im ganzen Lande glaubten, er habe mich in das jämmerlichste aller Verliese gesteckt. Eine Frau, sagte er, hätte dagegen protestiert, daß ich in einem »ungeheizten Loch barfuß bis zu den Knöcheln im Wasser waten müsse«.
Nicht nur gab es Änderungen in der Heizung, der Bekleidung und den Schuhen, sondern auch im Betragen der Gefängniswärterinnen. Einige von ihnen waren fast nett geworden. »Miss Davis, haben Sie noch einen Wunsch?« - »Sind Sie sicher, daß alles in Ordnung ist?« »Wie hat das Essen geschmeckt?« - »Haben Sie irgendwelche Beschwerden?« - »Haben Sie für morgen einen besonderen Wunsch?«
Vor diesem Platzregen von Protesten waren die Mahlzeiten fade Fernsehgerichte gewesen, was von den Kerkermeistern damit gerechtfertigt wurde, daß die Gefangenen selten länger als einen Tag dablieben. Nach den Protesten wurde eine Köchin angestellt, und die Gefängnisverwaltung schlug den Anwälten vor, daß ich in meiner Zelle einen Fernsehapparat haben und das Rundfunkgerät und die elektrische Schreibmaschine behalten könnte, die ich mir in Marin angeschafft hatte. Durch diese Neuerungen litt die Zelle an Verstopfung. Großmütig öffneten die Kerkermeister die Tür zur Polsterzelle. Dadurch geriet ich in den Besitz einer, wie es in der Propaganda des Staatsanwalts hieß, »Zwei-Zimmer-Suite«. Eine Zwei-Zimmer-Suite bestehend aus einer Zelle von 2 m mal 2.70 m und einer noch kleineren Polsterzelle, deren Klosettloch eines Tages verstopft war und mir Bücher und Fußboden mit flüssigen Exkrementen bedeckte.
Genau wie die »Zwei-Zimmer-Suite« war auch mein »eigener privater Fernsehapparat«, von dem der Staatsanwalt dauernd redete, eine Farce. Mein Fernsehen war nur deshalb »privat«, weit man darauf bestand, mich in Einzelhaft zu halten. Der Staatsanwalt hat nie erwähnt, daß im regulären Frauengefängriis den Gefangenen ein Farbfernsehapparat zur Verfügung stand. Auch hat er nicht gesagt, daß ich, als ich meinen bekam, den Wunsch äußerte, daß auch die Gefangene in der Nachbarzelle einen erhielt, und als die Gefängnisverwaltung das abschlug, der Ausschuß auch für sie einen Apparat anschaffte.
In jenen Tagen, als sich der Zustand meiner Gefangenhaltung verbesserte, fühlte ich eine tiefe Traurigkeit in mir aufsteigen. Was für mich getan worden war, war bisher nur für mich getan worden. Aber ich wurde von den Scliemen aller jener Schwestern und Brüder verfolgt, deren Leben in anderen Gefängnissen zerrüttet wurde. Ruchell, Fleeta, John, Luis, Johnnie Spain, David Johnson, Hugo Pinell, Willie Tate, Earl Gibson, Larry Justice, Lee Otis Johnson, Martin Sostre, Marie Hill, die Attica-Brüder ... Die Namen schrillten mir in den Ohren. Mein Kopf zersprang mir von wirren Bildern ihrer Verliese, ihrer Wärter - von schreckensvollen Bildern, die mir die Verbesserung meiner physischen Umstände besonders schmerzhaft erscheinen ließen. Die ungeheure Energie der Bewegung, die die Verhältnisse meiner Gefangenschaft so schnell umgewandelt hatte, war eine Energie, auf die nleine Schwestern und Brüder den gleichen Anspruch hatten. Ich versuchte, den Schmerz ein wenig dadurch zu lindern, daß ich mit Schwestern und Brüdern in Gefängnissen des ganzen Landes Kontakt aufnahm. Fast zwanghaft beantwortete ich stundenlang Brief auf Brief von Gefangenen - Briefe, die sich in den Monaten in Marin angesammelt hatten, als mir die Kerkermeister nicht die gesamte Post aushändigen wollten. Mehr als je fühlte ich das Bedürfnis, meine Verbindung zu jedem anderen Gefangenen fester zu gestalten. Es schien, als sei meine Existenz wesentlich von meiner Fähigkeit abhängig, die Hand nach ihnen auszustrecken. Ich beschloß damals, wenn ich jemals freikäme, mein Leben für die Sache meiner Schwestern und Brüder hinter Mauern einzusetzen.
Kurz bevor der Wechsel des Gerichtsortes beschlossen worden war, mußte Sheldon aus persönlichen Gründen seine Arbeit an meinem Fall niederlegen. Nachdem die Anträge zur Prozeßvorbereitung erledigt waren, hatte sich das urspr-üngliche Verteidigungsteam aufgelöst. Zu dieser Zeit baten wir Doris Walker, eine Anwältin, die schon in vielen Prozessen für die Sache des Fortschritts eingetreten war, sich dem Team anzuschließen. Wir begrüßten ihre Teilnahme nicht nur wegen ihrer hervorragenden juristischen Qualitäten und ihres fraglosen Engagements für den Kampf, sondern weil wir es auch für politisch wichtig hielten, daß Frauen in der Verteidigung sichtbare Rollen übernahmen.
Nachdem die Umsiedlung zum Bezirk von Santa Clara vollzogen war, mußten wir uns sputen, um die letzte Erweiterung des Teams der Verteidiger durchzuführen. Howard, Margaret und Dobby gehörten dazu. Wir wollten noch einen weiteren Anwalt. Während unseres ersten Gesprächs über Anwälte in der Haftanstalt für Frauen in New York war neben dem Namen von Howard auch der von Leo Branton genannt worden als einem der ersten Anwälte, dem wir den Fall übertragen wollten. Ich interessierte mich besonders für Leo Branton, weil er als einer der wenigen Anwälte den Mut gehabt hatte, bei den Smith-Act-Prozessen Kommunisten zu verteidigen. Erst vor kurzem hatte er, obwohl schon im Ruhestand, den Prozeß der Panther überiiommen, der noch auf den Oberfall der Polizei von Los Angeles vom Januar 1970 zurückging.
Als wir wegen des Verteidigungsteams mit ihm erste Kontakte aufgenommen hatten, war er ganz mit dem Panther-Prozeß beschäftigt gewesen und hatte deshalb keine größere Verantwortung übernehmen können. Infolge eines Mißverständnisses - wir hatten den Eindruck, daß er außer Landes gegangen sei, nachdem er die Verteidigung der Panther beendet hatte -, waren wir seit dem Herbst 1970 nicht mehr mit ihm in Verbindung getreten. Als Dobby mir sagte, daß er sich dem Gedanken, unserem Team beizutreten, außerordentlich aufgeschlossen gezeigt hätte, war ich regelrecht entzückt. Kurz danach machte er die Reise von Los Angeles nach San Jos6, um seine Teilnahme am Team zu besprechen.
Ich hatte Leo erst einmal gesehen - ganz kurz bei einer vorprozessualen Verhandlung gegen die Panther. Weil alle von diesem tollen Schwarzen Anwalt sprachen, der an der Sache der Panther so starken Anteil nahm, daß er aus dem Ruhestand getreten war, um sie zu verteidigen, hatte ich den Eindruck gewonnen, daß er schon einigermaßen bejahrt sei. An dem Tag, für den sein Besuch angesetzt war, sah ich einen jung aussehenden Mann mit gut entwickeltem Körperbau, der sehr fesch gekleidet war. Es kam mir nicht in den Sinn, daß das Leo Branton sein könnte, der aus dem Ruhestand getreten war, um den Fall der Panther zu übernehmen - aber wer war es? Ich war so verblüfft, daß ich nach der Vorstellung durch Howard zu allererst fragte, wie alt er sei. Dabei stellte sich heraus, daß er sich im Alter von 45 Jahren zurückgezogen hatte und mit seiner Frau Geri für einige Zeit nach Mexiko gezogen war. Leos Geschichte war faszinierend. Er hatte die Smith-Act-Prozesse geführt, war in den frühen sechziger Jahren in den Süden gegangen, um Arbeiter in Bürgerrechtsfällen zu verteidigen und war schließlich einer der wenigen Schwarzen Anwälte geworden, die Leute aus der Unterhaltungsbranche verteidigten. Er war zum Beispiel der Anwalt von Nat King Cole gewesen, und als wir ihn baten, unseren Fall mit zu übernehmen, verwaltete er die Hinterlassenschaft von Jimi Hendrix in England für dessen Familie.
Unsere Besprechung ergab, daß Leo unser amtlich anerkannter Verteidiger werden wollte, sobald er den Prozeß in England hinter sich gebracht hatte. Seine Entscheidung machte uns alle froh und stolz. Mit Margaret, Howard, Dobby und Leo war unser juristisches Team jetzt das beste, das wir uns erhoffen konnten. Das war ein unbestreitbarer Schritt zum Sieg!
Kurz nach der Umsiedlung ging ich regelmäßig zu den prozeßvorbereitenden Verhandlungen zum Gericht. Die Kerkermeister bestanden darauf, daß wir die zehnminütige Fahrt in die Innenstadt von San Jos8 drei Stunden vor PrOzeßbeginn antraten. Die Kolonne bewaffneter Männer fuhr zwischen halb und dreiviertel sechs Uhr morgens los. Einige Autos fuhren dem unbeschrifteten Auto, in dem ich saß, voraus; einige fuhren hinterher und stets fuhr ein Auto nebenher. Wenn sie beabsichtigten, dadurch Aufsehen zu vermeiden, dann hatten sie kaum Erfolg. Jeden Morgen war eine ganze Reihe von Machinationeu und Manipulationen notwendig, um diese Formation, die mit über hundert Kilometer Geschwindigkeit nach San Jos6 raste, in Ordnung zu halten. Als ich mich einmal früh am Morgen für eine dieser Fahrten vor Tagesanbruch ankleidete, stellte ich mein Radio an, wie stets nach dem Erwachen. Eine Nachricht wurde durchgesagt: »Gestern abend hat der Oberste Gerichtshof des Staates Kalifornien durch Abstimmung beschlossen, die Todesstrafe abzuschaffen, da sie grausam und ungewöhnlich und daher verfassungswidrig ist.« Ich war zuerst überzeugt, daß ich die Nachricht falsch gehört hatte. Ich hatte mich viele Male mit Anthony Amsterdam unterhalten, dem Anwalt, der die Schriftsätze anfertigte und das Problem der Todesstrafe vor dem hohen Gericht erläuterte. Er hatte mich im Gefängnis besucht, als er vor dem Bundesgericht Berufung gegen die Verweigerung der Kautionsstellung einlegte. Zu keiner Zeit schien er das Ergebnis seiner Bemühungen optimistisch zu beurteilen. Aber da war es. Die Todesstrafe abgeschafft.
Meine Gedanken flogen in diesem Augenblick zu den Brüdern in Soledad, denen die Todesstrafe in ihren Prozessen drohte. Nicht länger konnte Ruchell zum Tode in der Gaskammer, die seiner Zelle so nahe lag, verurteilt werden. John Cluchette konnte vom Staat nicht getötet werden. Fleeta, mein Bruder und ebensosehr Blutsbruder wie Benny oder Reggi, mein lieber Fleeta - würde sein Leben nicht an die Zyanidtabletten verlieren, die in die Säure neben dem Todesstuht geworfen wurden. Johnny Spain, Luis Talamante, Hugo Pinell, David Johnson, Willie Tate - der Staat konnte nicht mehr von ihrem Leben nehmen, als das Gefängnis bereits genommen hatte. Earl Gibson und Larry Justice würden dem amtlichen Tod entgehen, der oft denen beschieden ist, die sich ihren Wärtern nicht unterwerfen.
Ich lachte laut auf. Wäre ich an einem anderen Ort gewesen, so hätte ich geschrien, aber dort, in der Einsamkeit des Gefängnisses, bezwang ich meine Freude.
Margaret kam herein. Ich merkte, daß sie die Nachricht bereits vernommen hatte: sie tanzte fast vor Erregung. Wir umarmten einander. Ich sagte ihr, dies sei der eine Tag, an dem ich nicht ungern in der Todeszelle von San Quentin weilen würde. »Die müssen dort regelrecht Karneval feiern«, sagte ich.
Margaret sagte hochgestimmt etwas davon, daß sich Howard bereits an jenem Morgen auf eine Verhandlung über die Kautionsstellung vorbereite. »Kautionsverhandlung?« fragte ich. »Was für eine Kautionsverhandlung?« Margaret sah mich an, als hätte ich ein bißchen den Verstand verloren. »Angela«, sagte sie, »die Todesstrafe ist abgeschafft. Ist dir nicht klar, daß damit Richter Arnasons ganze rechtliche Grundlage für die Kautionsverweigerung wegfällt? Jetzt gibt es für ihn keine Ausflüchte mehr. Er muß dich rauslassen!«
Ja, natürlich! Bei seiner ursprünglichen Entscheidung, mir die Kautionsstellung zu verweigern, hatte Arnason mit Nachdruck versichert, daß er mehr als gewillt sei, mich gegen Kaution freizulassen, wenn ich nicht eines todeswürdigen Verbrechens angeklagt wäre. Jetzt gab es keine todeswürdigen Verbrechen mehr. Arnasons Worte standen im Protokoll. Das Argument, das er sich zueigen gemacht hatte, als er unseren Antrag auf Kautionsstellung ablehnte, war nicht mehr stidlhaltig. Nach dem eigenen Argument des Richters war ich jetzt »gesetzlich« zur Kaution zugelassen.
In meiner Freude, daß Fleeta, die anderen Brüder und ich nicht mehr zum Tode verurteilt werden konnten, hatte ich die Kautionsangelegenheit völlig verdrängt. Jetzt jubelten wir. Es war das erste Mal in sechzehn Monaten, daß ich frei und von Herzen lachen konnte.
»Wir haben Arnason heute früh angerufen«, sagte Margaret, »und er hat sich schon bereit erklärt, heute über die Kaution verhandeln zu lassen. Howard und Dobby bemühen sich gerade, eine Abschrift des Gerichtsurteils zu erhalten. Sie müßten in wenigen Minuten hier sein. Und Franklin, Kendra und die übrigen Ausschußmitglieder versuchen verzweifelt, die Kautionssumme zusammenzukriegen.«
Ich war einer Euphorie nahe, als Margaret sagte, daß ich bald gegen Kaution frei sein würde. Aber je konkreter sie die Sache darstellte, je mehr sie von Tatsachen und Einzelheiten sprach, desto mehr schrumpfte meine Euphorie zu einem überwältigenden Pessimismus zusammen. »Dieser Richter wird mich nicht gegen Kaution freilassen«, sagte ich, »nicht nach all diesen Monaten, nicht jetzt, am Vorabend des Prozesses. Warte nur. Irgendwo findet er ein Hintertürchen.« Ich wollte Margarets Begeisterung keinen Därnpfer aufsetzen, aber ich erinnerte mich nur zu lebhaft an unsere letzte Kautionsverhandlung. Praktisch alle Ausschußmitglieder hatten fest damit gerechnet, daß wir gewinnen würden. Ich glaube, daß ich die einzige war - die Anwälte nicht ausgenommen -, die gegen die Möglichkeit, freigelassen zu werden, schwere Vorbehalte hatte. Als dann Arnason verkündete, daß er mich »gesetzlich« nicht freilassen dürfe, war es eine so fürchterliche Enttäuschung für alle und schuf eine so durchgreifende Niedergeschlagenheit, daß es schwer war, die Scherben aufzusamtnein und die Bewegung wieder ins Rollen zu bringen. Ich empfand, daß eine zweite riesige Niederlage für die Bewegung katastrophale Folgen haben könnte. Dazu kam der psychologische Schaden, den eine solche Niederlage mir zufügen würde; ich mußte mit meinen Kräften sparsam umgehen, um zu überstehen. Ich konnte mir nicht gestatten, meine Hoffnung auf die Freilassung, die durch die eigenmächtigen Worte eines weißen Mannes in der schwarzen Robe der Rechtlichkeit nur vernichtet werden würden, zu hoch wachsen zu lassen. Gewiß gab es eine entfernte Chance, daß ich gegen Kaution freigelassen würde, aber in der Meinung, die ich mir jetzt bildete, war es genau das: eine entfernte Chance. Zudem war ich sicher, daß Arnason diese Entscheidung nicht allein fällen würde. Die wahre Entscheidung, meinte ich, würde auf Regierungsebene gefällt werden, und die lag viel höher als die des Appelationsgerichts.
Wir betraten die Kammer für die vorbereitende Kautionsverhandlung. Ich hatte mir die Szene bereits in meinem Kopf zurechtgelegt. Um als möglichst fairer Richter zu erscheinen, würde Arnason sich bereit erklären, seine Entscheidung neu zu überdenken und tatsächlich auch eine neue Kautionsverhandlung anberaumen. Aber zwischen jetzt und dem Termin, zu dem er die entscheidende Verhandlung ansetzte, würde er jedes juristische Handbuch durchforschen, die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes tausendmal nach einer Gesetzeslücke untersuchen und am Tag der Verhandlung mitteilen, daß es ihm fürchterlich leid tue, aber das Gesetz verbiete ihm, mich gegen Kaution freizulassen.
Als die drei Anwälte und ich in die Gerichtskammer traten, sahen wir uns einem betreten aussehenden Staatsanwalt gegenüber, Albert Harris. Howard trug unsere äußerst einfache Begründung für die Kautionsstellung vor: 1) die bisherige Verweigerung gründete sich ausschließlich auf die mit Todesstrafe bedrohten Anklagepunkte gegen mich, 2) vor einigen Stunden hatte der Oberste Gerichtshof die Todesstrafe abgeschafft - es gab kein mit dem Tode bedrohtes Verbrechen mehr, 3) demnach müßte mir die Kautionsstellung sofort zugebilligt werden.
So überzeugt waren Howard und Dobby von der Unfehlbarkeit ihrer Begründung, daß sie bereits Kautionssteller an der Hintertür des Gerichts warten ließen. Aber meine pessimistische Einstellung war richtig. Der Richter beraumte einen anderen Verhandlungstermin an. Er sagte, er brauche Zeit, um die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes zu prüfen, und der Staatsanwalt brauche Zeit, um die Antwort auf unsere Begründung vorzubereiten.

23. Februar 1972

Die Kautionsverhandlung wurde für Mittwoch angesetzt - in der Kammer. Der Richter gab Howards kräftigem Widerstand gegen eine geschlossene Verhandlung nach und sagte, wenn wir die Verhandlung öffentlich führen wollten, dann sei er nur zu gern bereit, uns entgegenZukommen - aber dann müsse er das Datum der Verhandlung ziemlich weit hinausschieben. Wir verstanden die Bedeutung dieser Entscheidung recht gut. In meiner Geistesverfassung betrachtete ich sie als einen Wink mit dem Zaunpfahl, daß unser Antrag auch diesmal wieder abgelehnt werden würde. Wenn nicht, warum scheute er sich dann, die Verhandlung vor der Öffentlichkeit abzuhalten?
Kendra, Franklin und Margaret versuchten, mich davon zu überzeugen, daß der Richter keine andere Wahl hätte. Margaret erklärte mir wiederholt, daß nach ihrer »professionellen Ansicht« ihm das Gesetz keine Lücke biete. Diesmal nicht. Wir verstanden jedoch alle Howards Zurückhaltung zu diesem Thema. Er war das letzte Mal so sicher gewesen - und hatte meinetwegen so sehr gelitten, als die Ablehnung erfolgte. Fast alle forderten mich auf, alles zu packen, für alles bereit zu sein, so daß ich ohne den kleinsten Aufschub durch die Tore schreiten könnte, nachdem die Entscheidung verkündet war. Aber ich weigerte mich zu packen, irgendeine Geste zu machen, die jemanden - insbesondere die Kerkermeister - glauben lassen könnte, daß ich wirklich an meine Freilassung dachte. Ich erinnerte mich allzu lebhaft, und mit großer Trauer, an das arrogante Benehmen der Aufseherinnen und Hilfssheriffs von Marin County, als der Richter auf unseren Kautionsantrag vom Juni vorigen Jahres sein »Abgelehnt« gesprochen hatte. Schließlich mußte ich mir vor Nervosität zitternd die Handschellen anlegen und mich durch die Stahltüren zur Gerichtsverhandlung führen lassen. Ich war mir jeder Bewegung, die ich machen mußte, überdeutlich bewußt: wie ich meine gefesselten Hände auswärts halten, meinen Riicken dem Auto zuwenden, mich auf den Rand des Sitzes niederlassen und in die Mitte rutschen mußte. Niemals nahm ich die Hilfe meiner Kerkermeister an, und wenn es mir noch so schwer fiel, das Auto zu besteigen. So oft schon hatte ich mich bemüht, auf dem Weg vom uefängnis zum Gerichtsgebäude jede kleinste Einzelheit wahrzunehmen. Auf einigen Fahrten hatte ich mich über die Kinder gefreut, die auf der Straße spielten; auf anderen bemerkte ich das Leid auf dem Gesicht Schwarzer Dienstmädchen, die zur Arbeit bei den Reichen Palo Altos gingen. Aber immer lag das brutale, obszöne Moffett-Flugfeld auf unserem Weg, der Ort, von dem aus Flugzeuge ausgeschickt wurden, um Laotianer, Vietnamesen und Kambodschaner zu töten. Vielleicht sah ich jetzt diese Szenen zum letztenmal durch die Fenster eines Polizeiautos und doch konnte ich mir nicht einreden, daß dafür auch nur die geringste Wahrscheinlichkeit bestand. Ich fühlte mich wie ein Seiltänzer. Wenn ich weiterhin die Möglichkeit ausschloß, gegen Kaution freigelassen zu werden, dann konnte mich mein Pessimismus in einen Abgrund der Depression stürzen. Wenn ich mich jedoch davon überzeugen ließ, daß heute der Tag sei, dann riskierte ich, von meiner Euphorie in einen noch tieferen Abgrund gestürzt zu werden. In den nächsten paar Minuten versuchte ich verzweifelt, mein Gleichgewicht zu bewahren. Ich suchte nach jenem Mittelweg zwischen totalem Pessimismus und ungezügeltem Optimismus. Ich mußte noch etwas länger auf dem Seil tanzen.
Da waren wir denn und arrangierten uns in der Richterkammer für die Verkündung der Entscheidung: Margaret, Howard, Dobby und ich auf der einen Seite des Zimmers; Albert Harris und Clifford Thompson auf der anderen und der Richter in seinem großen thronartigen Sessel in der Mitte. Amasons Nonchalance muß beabsichtigt gewesen sein. Er verkündete seine Entscheidung so beiläufig, daß wir keine Gelegenheit fanden, unser Ti-iumphgeschrei loszulassen. Sechzehn Monate Gefangenschaft waren zu Ende. Ohne Aufhebens.
Die Anwälte besprachen mit dem Richter die Kautionsbedingungen. Ohne mir noch der bevorstehenden Freiheit recht bewußt zu sein, überlegte ich mir, warum er sich endlich entschlossen hatte, mich freizulassen. Bestimmt nicht, weil er persönlich den Wunsch hatte, mich vor dem Prozeß freizulassen. Wäre das der Fall gewesen, dann hätte er mich vor Monaten freigelassen. Er hätte nicht auf die Abschaffung der Todesstrafe zu warten brauchen. Auch hatte Arnason nicht nur der neuen Gerichtsentscheidung wegen unserem Antrag stattgegeben. Er hätte ohne m7eiteres den Ausführungen des Staatsanwalts folgen können, daß die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes erst nach neunzig Tagen voll rechtsgültig sei; er solle daher diese drei Monate warten, und mich erst dann freilassen - vorausgesetzt, daß die Entscheidung nicht geändert würde. (Später entdeckte ich, daß jeder Richter im Staat Kalifornien bei einem Kautionsantrag auf der Basis der Abschaffung der Todesstrafe sich dem Argument des Staatsanwalts angeschlossen und die neunzig Tage abgewartet hatte.) Es war nicht der Richter. Es war nicht das Gesetz. Da blieb nur noch eine Erklärung. An eben jenem Morgen hatte der Ricliter selbst einen Einblick in seine Motive gestattet, die zur Gewährung der Kautionsstellung geführt hatten.
Er sprach von »... der Post, die ich in den letzten zwei Tagen erhalten habe und den Telefonanrufen, die ich nicht selbst entgegengenommen habe, sondern die mein Stab entgegengenommen hat, aus ... einer sehr großen Anzahl von Staaten und von Telegrammen aus fremden Ländern. Es ist ein Fall von erstaunlichem Interesse«.
Der wahre Grund, weshalb er sich gezwungen sah, eine Entscheidung zu unseren Gunsten zu fällen, hatte mit unserer riesenhaft wachsenden Verteidigungskampagne zu tun. Arnason wollte damit nicht sagen, daß er sich »dem öffentlichen Druck beuge«. Und doch war es klar, daß die riesige Mobilisation von Millionen Menschen ihn beeindruckt hatte.
Diese Einsicht rief mir die vielen heftigen Diskussionen ins Gedächtnis, die wir wegen der Kautionsstellung geführt hatten - Diskussionen, die mich gewöhnlich allein auf einer Seite und Fania, Kendra, Franklin und die anderen Ausschußmitglieder auf der anderen gefunden hatten. Wir hatten unsere Kautionskampagne schon vor etwa einem Jahr begonnen. Ich hatte kräftige Vorbehalte dagegen gehabt, daß wir soviel Energie auf die eine Frage der Kaution verschwendeten. Erstens war ich sicher, daß wir nicht die geringste Chance hatten zu siegen. Zweitens hielt ich die Politische Bedeutung der Kautionsfrage für zu klein. Sie erlaubte es den Menschen nicht, gegen das System der Unterdrückung ihren Widerstand zu manifestieren, das nicht nur meiner eigenen Gefangenhaltung, sondern der so vieler anderer, die irn Gefängnis schmachteten, zugrundelag.
Erst nach Monaten begann ich meine eigene Fehleinschätzung zu begreifen. Gewiß war die Forderung nach Kaution keine revolutionäre Forderung. Gewiß offenbarte sie nicht in sich selbst den faulen Kern des kapitalistischen Systems. Aber gerade weil der Kautionsantrag etwas war, was jedem rechtlich Denkenden einleuchtete, konnte die Kampagne viele Tausende von Menschen erfassen, die damals nicht bereit gewesen wären, meine unbedingte Freiheit zu verlangen. Sie wollten sich für meine Freiheit nicht festlegen, aber sie würden sich vielleicht auf die Forderung festlegen, daß ich bis zum Beweis meiner Unschuld - oder Schuld - vom Gericht auf freien Fuß gesetzt würde.
Die Anteilnahme so vieler Menschen war schon an sich ungeheuerlich, aber was mich am meisten beeindruckte und mich von der Richtigkeit des Kautionskampfes überzeugte, war die Art, in der die am Kampf beteiligten Menschen sich politisch entwickelten. Viele von ihnen begannen sich auch für andere Gebiete der Kampagne zu interessieren. Nachdem sie in die Wirklichkeit des Strafvollzugs- und Rechtssystems Einblick gewonnen hatten, sahen sie sich gezwungen, auch die politische Unterdrückung, von der wir sprachen, ernstlich zu bedenken. Wenn sie von meinem Fall erfuhren, erfuhren sie auch etwas über die Soledad-Brüder, über die unterrnenschlichen Zustände in den Gefängnissen, über das Gesetz des unbestimmten Strafmaßes, nach dem George für etwas, wofür er als Weißer und Wohlhabender schlimmstenfalls auf Bewährung verurteilt worden wäre, eine Haftstrafe von einem Jahr bis lebenslänglich erhielt. Sie erfuhren vom Rassismus, und wie er jeden Winkel des Strafvollzugs erfüllte,. Und sie erfuhren von der Dynamik, die den Rassismus zum wesentlichen Bestandteil der Verfolgung revolutionärer und fortschrittlich gesinnter Menschen macht. Viele, die sich zögernd für die Kautionsforderung eingesetzt hatten, wurden später starke und wirksame Führer der Kampagne.
Arnason sagte uns, daß die Verteidigung und die Anklage sich über die Bedingung der Kaution einigen müßten, bevor er die Summe formell zusagen könne - sie würde, wie er sagte, 102 500 Dollar betragen, davon müßten 2500 Dollar dem Gericht unmittelbar und bar bezahlt werden. Natürlich versuchte die Staatsanwaltschaft durchzusetzen, daß ich, sowie ich in Freiheit sei, durch so viele Einschränkungen in meiner Bewegungsfreiheit gehindert würde, daß ich ebensogut hätte im Gefängnis bleiben können.
Die Schlacht tobte weiter. Harris ergriff die Gelegenheit, auf den Ausschuß loszuschlagen (dessen Vorhandensein ihn immer persönlich zu beleidigen schien). Er beantragte, daß ich bei nichts anwesend oder beteiligt sein dürfe, was mit dem Nationalen Vereinigten Ausschuß für die Freiheit von Angela Davis zu tun hätte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich mich nicht einmal mit meiner eigenen Schwester treffen dürfen, weil sie die Verteidigungskampagne im ganzen Land koordinierte. Harris schien nicht mich als seinen Hauptfeind zu betrachten, sondern diese Massenbewegung, die aufgestanden war, um seinen Verfolgungsapparat zu blockieren.
Viele Stunden schienen vergangen zu sein, bis wir schließlich zu einer Vereinbarung gelangten - oder vielmehr zu einem Waffenstillstand. Draußen hatte sich eine große Menge von Schwestern und Brüdern versammelt, um die Verhandlung abzuwarten und aus erster Hand die Nachricht von der Entscheidung zu erhalten. Sie wußten nicht, was wir seit Eröffnung der Sitzung wußten. Als Howard und Dobby sich aus dem Büro einige Akten holen mußten, wurden sie vom Richter angewiesen, die Entscheidung geheimzuhalten, mit keinem Vertreter der Nachrichtenmedien zu sprechen, geradewegs zum Büro zu gehen und geradewegs zurückzukommen. Margaret und ich gingen in das Geschworenenzimmer, um dort zu warten. Wir hofften, daß Howard die Anweisungen des Richters - ein klein wenig mißachten würde.
Plötzlich hörte man im Gerichtsgebäude ein lautes Dröhnen. Jubel, Geschrei, Gelächter. Die Nachricht war zum Volk gelangt. Und es war sein eigener Sieg, den es in Anspruch nahm. In diesem Augenblick durchbrachen auch meine eigenen Gefühle, die ich während der langen Sitzung beherrscht hatte, plötzlich alle Dämme. Und das war auch richtig so: daß meine eigenen Glücksgefühle aufwallen und sich mit den Gefühlen derer vereinigen sollten, die sie geschaffen hatten.
Howard und Dobby kehrten bald wieder zurück. Ich sagte Howard, ich hätte gewußt, daß er die Kautionsentscheidung nicht geheimhalten könne, wenn er rausginge.
»Aber ich habe nichts gesagt«, beharrte Howard. »Ich ging mit möglichst unbewegtem Gesichtsausdruck raus. Ich merkte, wie gespannt und erregt Franklin und Kendra und die anderen waren. Und doch ging ich weiter. Dann kam Franklin zu mir gerannt, und ich habe nur gelächelt. Ich habe Übers ganze Gesicht gelächelt - ich konnte nichts dafür. Mehr brauchte Franklin nicht. Er hat mich und Kendra an sich gedrückt, und dann brach die Hölle los.«
Nun mußten wir uns konkreten Dingen zuwenden. Woher sollten wir das Geld und die Sicherheit für die Bürgschaft hernehmen? Der Bürge mache Schwierigkeiten, sagte Howard. Derjenige, den er ins Auge gefaßt hatte (einen sogenannten »Bewegungs«-Bürgen) hatte es im letzten Augenblick mit der Angst gekriegt und davon gesprochen, wie Eldridge Cleaver das Land in zwei Lager gespalten hätte. Dieser Bürge hatte sich so sehr als Rassist entlarvt, sagte Howard, daß wir ihn grundsätzlich selbst dann nicht gebrauchen könnten, wenn er seine Meinung änderte.
Wenn es sich um schlechte Nachrichten handelte, setzte Howard immer eine väterliche Miene auf. Schon irn Geschworenenzimmer hatte er mir sehr schonend mitgeteilt, daß ich wahrscheinlich noch ein paar Tage im Loch bleiben müsse, bis die Bürgschaft aufgetrieben und ein Bürge gefunden war.
Zwar gab es ein vor einigen Monaten gegebenes öffentliches Versprechen von Aretha Franklin, daß sie für die Bürgschaft aufkommen werde. Jetzt war sie zwar außer Landes, aber als meine Mutter sie erreichte, sagte sie, daß sie immer noch gewillt sei, mich auszulösen. Das Problem war jedoch, daß sie noch einige Zeit im Ausland bleiben mußte, und das Geld konnte ohne ihre persönliche Unterschrift nicht ausgehändigt werden.
Der Ausschuß suchte weiter. Er brachte schnell 2 500 Dollar zusammen, die dem Gericht übergeben werden mußten, und 10 000 Dollar, die für die zehn Prozent Bürgschaftsvergütung bereitgehalten werden mußten, wenn die 100 000 Dollar in Sachgütern gefunden wurden. Als ich diesmal mit gefesselten Händen in der Kolonne bewaffneter Männer zum Gefängnis zurückfuhr, fühlte ich mich stark. Was sich soeben ereignet hatte, war der unabänderliche Beweis für die Macht des Volkes.
In der Zelle legte ich mich in tiefer Trauer aufs Bett. Warum ich und nicht die anderen? Ich konnte mich eines Schuldgefühls nicht erwehren. Aber ich wußte, daß meine Freiheit nur dann Bedeutung haben würde, wenn ich sie gebrauchte, um die Freiheit jener zu erwirken, mit denen ich das gleiche Schicksal geteilt hatte.
Plötzlich kamen Menschen zu meiner Zelle. Franklin sagte, daß ich gleich entlassen würde. Was sollte das heißen? Stephanie kam mit derselben unverständlichen Ankündigung. Dann erklärte Howard, daß sie jemand gefunden hätten, der gewillt war, sein Besitztum als Bürgschaft einzusetzen. Jemand, der einfach aufgetaucht war, weil er durch den Magnetismus der Bewegung zu uns gefunden hatte. Ein weißer Farmer von Fresno County, der von seinem Vater einen großen Landbesitz geerbt hatte und mit unserer Bewegung sympathisierte. Bald kam die Nachricht von einer anderen Möglichkeit. Der Bürge, der sein Büro im unteren Stock unseres Bürohauses in San Jos6 hatte, wollte die ganze Angelegenheit übernehmen. Die Verhandlungen fanden unmittelbar vor dem Gefängnis statt. Schließlich erschien Howard mit der aufrüttelnden Nachricht: die Bürgschaft war endgültig perfekt, jetzt blieb nur noch der Papierkram zu erledigen! Ich wollte vor Freude schreien. Aber die zähe Gefängnisbürokratie hemmte den natürlichen Fluß meiner Gefühle. Jede Sekunde des Wartens war jetzt wie die Monate und Jahreszeiten, die ich hinter Gittern verwartet hatte. Ich konnte die häßliche Gefängniskleidung nicht schnell genug loswerden und die violette Hose anziehen, die Kendra gebracht hatte - eine Hose, die ihr zu klein und mir jedenfalls zu eng war. Meine Hände zitterten so, daß ich mich kaum anziehen konnte. Und doch war ich Sekunden später draußen am Registriertisch und wartete darauf, daß die Kerkermeister (die innerlich vor Wut kochten) auf die Knöpfe drückten, die die Tore öffneten.
Das erste Tor glitt mit seiner verrücktmachenden Langsamkeit auf. Ein Schritt, und diese Schwelle war überwunden. Mein Herz klopfte, als ich wartete, bis sich das Tor hinter mir mit dem grauenhaften Krachen schloß, das meine Nerven schon so viele Male strapaziert hatte. Dies war das letzte Mal. Ich trat durch das nächste Tor, das sich vor mir öffnete und wurde von einem stürmischen Jubel begrüßt.
Ich warf meine Arme um den ersten Menschen, den ich draußen sah, Refu, einen Bruder, den ich in Los Angeles gekannt hatte. Ich hätte gern alle umarmt, jede Schwester und jeden Bruder in der Menge.
Gefängnis, Gefangenschaft, Sheriffs, Ketten - alles das lag weit hinter mir. Aus Sicherheitsgründen mußten wir das Gefängnisgelände schnell räumen. Refu erinnerte mich freundlich daran, daß ich Zeit haben würde, alle diese Leute an einem besser gesicherten Ort wiederzusehen. Margaret und ich stiegen in Victoria Mercados gelben Mustang und Pflügten unseren Weg durch die Anhänger und Reporter, die sich um den Wagen gesammelt hatten. Als wir die Autobahn hinabrasten, schrien, lachten und küßten wir einander. Ich war raus; keine Wächter, keine Polizeiautos, keine Handschellen. »Alle treffen sich bei Bettina und Jack«, sagte einer.
Als wir in das Haus kamen, tat mir das Gesicht vom vielen Lächeln und Lachen weh. Margarets sechsjähriger Sohn Hollis und Bettinas und Jacks vierjähriger Joshua waren beide da. Mit der besonderen Zärtlichkeit, die kleine Kinder zeigen können, fragte mich Joshua'. »Angela, bist du wirklich frei?« Und Hollis war so außer sich, daß er mir die Arme um den Hals warf.
Mitglieder des Nationalen Stabes waren anwesend, die Führer und Aktivisten vom San-Jos6Ausschuß und von Ausschüssen aus der ganzen Bucht, alle unter einem Dach. Ich dachte zurück an alle Schwierigkeiten, die uns entgegengestanden hatten, als wir den Verteidigungsausschuß für die Soledad-Brüder zu organisieren suchten. Meine Bewunderung für die Führer meines Ausschusses kannte keine Grenzen. Ich sah viele von ihnen zum erstenmal, alle diese schönen Schwestern und Brüder, die mein Leben den bleichen Händen rassistischer Verfolgung entrissen hatten.
In einem Hinterzimmer traf ich mich mit den Führern der Chicano Verteidigungsorganisation. EI Comité Para la Defensa de los Presos Politicos hatte sich meines Falles besonders angenommen. Ihre Unterstützung war im Santa Clara County, wo die Chicano Bevölkerung zahlenmäßig stärker war als die Schwarze, ausschlaggebend. Victoria Mercado, eine ChicanoSchwester, die dem Nationalen Stab des Ausschusses schon früh beigetreten war, hatte viele Monate in José mit El Comité gearbeitet. Den ganzen Abend lang kam ein endloser Strom von Menschen zu uns herein. Inmitten dieses Tumults nahm ich das Telefon und wählte Birmingham. Mutter und Daddy. Da ich ihren tiefen Schmerz und ihre völlige Hingabe an den Kampf kannte, fühlte ich mich um ihretwillen glücklicher als um meinetwillen. Unsere Gefühle waren so hochgespannt, daß das Telefon fast mehr zur Schranke wurde als zum Mittel der Verständigung. Dann mußte ich meinen Bruder Benny und seine Frau Sylvia anrufen. Ihr Engagement war zugleich persönlich und politisch, und wir hatten uns dadurch noch mehr lieben gelernt. Dann die Anrufe nach New York. Ich mußte Charlene erreichen, die sich der gewaltigen Aufgabe unterzogen hatte, die nationale Kampagne zu leiten. Danach rief ich Winnie an. Henry Winston, Vorsitzender unserer Partei, und Gus Hall, unser Generalsekretär, hatten gemeinsam die Botschaft der Kampagne in die ganze Welt getragen.
Dann tauchte ein Problem auf. Franklin formulierte es. Hunderte hatten sich im Solidaritätszentrum versammelt - dem Büro des San José-Ausschusses - um zu feiern. Sie warteten ungeduldig darauf, daß ich bei ihnen vorbeischaute. Da zu den Kautionsbedingungen auch das Verbot gehörte, bei großen vom Ausschuß organisierten Versammlungen zu sprechen oder anwesend zu sein, schien es ratsam, nicht hinzugehen. Was sollte ich tun? Die erste Verletzung meiner Kautionsbedingungen könnte als Vorwand dienen, um mich wieder ins Gefängnis zu stecken. Sollte ich nichts riskieren und mich genau an das Gebot des Richters halten? Sollte ich aus egoistischer Sorge für dies bißchen Freiheit die Schwestern und Brüder enttäuschen, die soviel gegeben hatten? Gerichtsverfügung oder nicht, ich war nur denen verantwortlich, die mit mir und für mich gekämpft hatten. Wenn ich meine Freiheit dadurch aufs Spiel setzte, daß ich meine Verpflichtungen ihnen gegenüber erfüllte, dann sollte es sein. Wenn ich beim Volk blieb, würde ich nie allein sein.
Als wir das Solidaritätszentrum betraten, brach die Menge in eine lange, donnernde Ovation aus - eine Ovation, die mich fast entschädigte für die letzten achtzehn Monate in Verborgenheit und Haft. Wir hatten bereits ausgemacht, daß ich zu Margaret ziehen würde. Bob und Barbara Lindsay, Freunde von uns in San Jos~, hatten ihr ein Haus für die Dauer des Prozesses zur Verfügung gestellt. Sechzehn Monate lang hatte Margaret mich in Gefängnissen besucht - New York, Marin County, Santa Clara; es war jetzt eine seltsame Vorstellung, daß wir unter demselben Dach schlafen gehen und aufwachen konnten. Wie vor vielen Jahren, wenn wir den Sommer zusammen in unserem Haus in Birmingham verbracht, oder ich bei ihrer Familie in New York gewohnt hatte.
Selbst der Versuch einzuschlafen, war vergeblich, deshalb verbrachte ich die erste Nacht der Stille und Dunkelheit in Gedanken. Die tiefe Wirkung, die das Gefängnis auf mich gehabt hatte, war erschreckend. Meine Reaktionen waren noch auf die Spärlichkeit des Gefängnismi lieus abgestimmt, auf die dichte Feindseligkeit, die einen überall umgab. Da ich daran gewöhnt war, auf einer Pritsche zu schlafen, die nur wenig breiter war als mein Körper, war es ein sonderbares Gefühl, daß ich mich in Margarets großern Bett umdrehen konnte.
Aber noch etwas anderes an diesem Haus machte mich traurig und vertrieb die Feiertagsstimmung. Das Haus hatte Barbara Lindsays Mutter gehört, einer schönen Frau namens Emma Stern. Ich hatte sie als die weißhaarige alte Dame kennengelernt, mit tief ins Gesicht gegrabenen Falten, die das erste Parnphlet über die Soledad-Brüder verfaßt hatte. Obwohl sie mehr als siebzig Jahre alt war, war sie eine der aktivsten Führer im SoledadVerteidigungsausschuß gewesen. Im Sommer 1971 war sie erkrankt. Eine Zeitlang war sie irn Krankenhaus, dann wieder draußen und schien erholt. Als George getötet wurde, müssen die Kräfte, die sie am Leben gehalten hatten, vorn Schmerz aufgezehrt worden sein. Kurz nach Georges Beerdigung war Erlima Stern gestorben.

24. Februar 1972

Es war nicht genug Zeit, den ersten Morgen, an dem die Sonne auf den üppigen Garten hinter dem Haus schien, richtig auszukosten. Ich wollte mich den primitiven Freuden hingeben: mich auf dem Gras ausstrecken, die Sonnenwärrne und -kraft, die ich in meinen verschiedenen Zellen so sehr vermißt hatte, in mich aufsaugen. Aber ich mußte den Drang, Bäume zu berühren, Wolken zu beobachten und dein Klang von Kinderstimmen zu lauschen, unterdrücken. Binnen kurzem mußte ich mich der Presse stellen und den Medien samt den Millionen, die sie erreichen, gegenübertreten.
In diesem Augenblick kündigte die Klingel Fanias Ankunft an. Sie hatte so schwer an der Kampagne gearbeitet und war dafür durch die ganze Weltgeschichte gereist, daß sie nicht da war, als ich entlassen wurde. Sie hatte an jenem Abend in Idaho eine Rede zu halten. Wir umarmten uns, zum Bersten voll von der aufgesparten Freude der letzten achtzehn Monate. Wir Schwestern waren Genossinnen geworden.
Nach der Pressekonferenz machten wir uns auf den Weg zu Bettina und Jack, wo Gus Hall auf meinen Besuch wartete. Gus verstand am besten, wie meine Gefühle beschaffen waren. Er hatte etwa acht Jahre im Bundeszuchthaus von Leavenworth verbracht. Er beschrieb den Augenblick, als seine Genossen erfuhren, daß ihn der Richter gegen Kaution freigelassen hatte. Die Nachricht platzte in eine Sitzung des Parteikongresses. Die Mitglieder, sagte er, waren im Zweifel, ob sie die Neuigkeit gleich verkünden sollten, denn sie wußten genau, daß damit die ganze übrige Sitzung zum Teufel gehen würde. Sie riskierten aber den Teufel und brachten das ganze Tagesprogramm zum Erliegen.
Auf dieser Reise wurde Gus von Luis FigLierosa begleitet, einem Führer der kommunistischen Partei und Senator aus Chile. Er war klein, ein riesiger Schnurrbart fiel ihm über die Lippen, und er wirkte wie ein gutmütiger Onkel. In seiner herzlichen, ungekünstelten Art fragte mich Gus, ob ich mit ein paar Genossen des Bezirks mein Mittagessen einnehmen wollte. Ich nahm es an und wurde daran erinnert, daß wir uns beeilen mußten, um, meine Mutter vom Flughafen abzuholen.
Die Gefängnisbesuche meiner Mutter waren für mich so schmerzlich gewesen. Sie war so empfindsam, besonders wenn ihre Kinder betroffen waren, daß ich die Pein, die meine Gefangenhaltung ihr bereitete, kaum ermessen konnte. Wenn es einen gebieterischen persönlichen Grund gab, weshalb ich frei sein wollte, dann um meiner Mutter willen.
Als sie an jenem Nachmittag aus dem Düsenflugzeug stieg, war ein Leuchten um sie, das ich noch nie gesehen hatte. Eisa, meine kleine Nichte, war in ihren Armen. Im nächsten Augenblick hielten wir uns timschlungen. Keine Kerkermeister, die die Intimität dieser Begegnung besudeln konnten.
Als ich nach dem Essen ein Glas Champagner ausgetrunken hatte mehr zu trinken wagte ich nicht -, trank ich fast jedem zu, der da war. Spontan begannen wir die »Internationale« zu singen »Steht auf, Verdammte dieser Erde ... « und gleich danach »Die Nationalhymne der Neger«. Meine Mutter sang laut und klar: »Hebt eure Stimme und singt, bis Erd' und Himmel klingt ...« Selbst die Schwarzen Kellner fielen ein.

25. Februar 1972

Der bullige weiße Polizist, der die Aufsicht führte, war offensichtlich über mein Erscheinen ergrimmt. Seine Stimme bebte vor Wut, als er mich aufforderte, dort hinter den weißen Strich zu treten. Wieviele Aufnahmen gab das? Gleich den anderen Polizisten, die an der Wand standen, trug er eine dtinkelblaue Fallschirmjägerkluft mit einer gleichfarbenen Baseballkappe. Man hätte ihn leicht für einen Parkplatzwächter, einen Fernsehmonteur oder einen Automechaniker halten können. Aber da war die schwere Pistole, die ihm am Gürtel baumelte, und der sechzig Zentimeter lange Schlagstock, den seine Hand so fest umklammerte. Als der Fotograf fertig war, kommandierte mich dieselbe wutgeladene Stimme zu einem anderen weißen Strich - dieser war für Frauen reserviert. Mit vor Zögern schweren Schritten ging ich von dem Strich hinter die spanische Wand. Ich hielt den Atem an, als man meinen Körper abtastete, die Finger in mein Haar drückte und mich aufforderte, meine Unterhose runterzulassen. Kendra, Victoria, Franklin und Rodney kannten bereits die besondere Routine im Bezirksgericht von San Francisco für die Zuhörer beim Soledad-Prozeß. Aber Mutter, Sylvia und Benny waren ungläubig, empört und entsetzt über dieses entwürdigende Vorspiel zu einer Gerichtsverhandlung.
Der Gedanke, daß die regelmäßigen Prozeßbesucher sich Tag für Tag diesen demütigenden Durchsuchungen unterziehen mußten, war erschreckend. Die Wiederholung dieser offensichtlich faschistischen Routine verlieh ihr unzweifelhaft den Anschein der Normalität. Unzweifelhaft hatte sie bereits einen gefährlichen Präzedenzfall für die politischen Prozesse der Zukunft geschaffen. Namen wurden registriert, besondere Sitze angewiesen, Fotos für die Polizei von San Francisco und die FBI angefertigt. Und innen irn Saal waren wir im Zuschauerraum durch eine kugelsichere Wand, die sich über die ganze Breite des Gerichtssaales erstreckte, vom Schauplatz des Prozesses getrennt. Hinter dem Plexiglas erschien alles wie ein Schauspiel. Ritualistisch, so schien es, marschierten die Figuren zu ihren gewohnten PlätzenVerteidigung, Anklage, die zwölf Geschworenen und vier Ersatzgeschworene; schließlich John und Fleeta, deren Kraft und Schönheit das kugelsichere Glas zu sprengen schien. Wir streckten die Arme nacheinander aus.
Es fiel mir schwer, mich auf den tatsächlichen Ablauf zu konzentrieren, so sehr wurde ich von dem Gedanken gefoltert, daß ich frei war und sie noch in Ketten. Der Kreis hatte sich geschlossen. Vorher, als freie Frau, hatte ich mir gelobt, unermüdlich für ihre Freiheit zu kämpfen. John, Fleeta und George ... Diese neue Freiheit durfte nicht anders sein.
Das hatte ich John während unserer Zusammenkunft sagen wollen, die die Anwälte für die Mittagspause erwirkt hatten. Aber ich hätte mir denken können, daß alles schon zu glatt gegangen war. Oben im Warteraum brachte uns die Chicano-Wache die Nachricht. Leider, sagte er, hätte Richter Vauvaris sich anders entschlossen. Keine Zusammenkunft mit John Cluchette. Meine maßlose Enttäuschung besänftigte sich ein wenig, als ich merkte, daß Johns Zelle von dem Tisch aus sichtbar war, an dem ich stand. Die Wache erhob keinen Einspruch, als ich ihm zurief, er solle aushalten und stark bleiben, es sei nur eine Frage der Zeit.
Unten hatte sich eine riesige Menschenmenge versammelt, und die Presse war auf meine Anwesenheit vorbereitet worden. Es war denkbar, daß der Richter deswegen meinen Besuch beim Soledad-Prozeß als Verletzung der Kautionsbedingungen auslegen könnte. Aber zu diesem Zeitpunkt war das nicht sehr wichtig. Wichtig war, daß ich mein Engagement im Kampf für die Freiheit aller politischen Gefangenen bekräftigte - zuerst und vor allem für die Freiheit der Soledad-Brüder. Es war wichtig nicht nur, weil es mich dahin brachte, wo ich sein wollte - in den Kampf zurück - sondern auch weil das allen Schwestern und Brüdern, die für meine Freiheit gekämpft hatten, erst den rechten Sinn für ihren Einsatz gab. Wenn ich nicht nur mit meiner Freiheit zufrieden sein konnte, dann konnten sie es auch nicht sein.