Die Wasser

Doch werde ich zur ersten Landschaft gehen
der Erschütterungen, Wasser und Geräusche
Federico Garcia Lorca

September 1961

Am Rande von Waltham, Massachusetts, auf einem riesigen Felsblock, der aus einem grasbewachsenen Hügel hervorragt, steht die Bronzestatue des Richters Louis Brandeis. Die Arme sind ausgebreitet wie Flügel, als wolle er sich in die Luft erheben - als gäbe es keine andere Richtung, in die er sich wenden könnte.
Ich war zu der Ansicht gekommen, daß die Irwin-Schule einen Kokon um sich gesponnen hatte, um ihre Unorthodoxie zu schützen. Während jener zwei Jahre in New York konnte ich nie das Gefühl loswerden, daß ich dort fehl am Platz und ein Außenseiter war, der rein zufällig in diesen Kokon eingedrungen war. Dennoch stellte ich mich ihr offen und ehrlich. Und wenn die Atmosphäre zu dumpf, zu drückend wurde, konnte ich immer ein Stück Mauer einreißen und in andere Welten hinausschlüpfen - zu meinen Freundinnen aus der Kinderzeit, Margaret und Claudia, Mary Lou Patterson, Phyllis Strong, zu der politischen Arbeit bei Advance, zu meinen Schwarzen und puertorikanischen Freunden im Jugendzentrum, das von Mrs. Melish in Brooklyn geleitet wurde. Die Brandeis-Universität war anders. Von dort führten keine Wege nach draußen. Ihre physische und geistige Isolation hatte eine wechselseitig festigende Wirkung. In Waltham gab es nichts anderes als eine Uhrenfabrik, und Cambridge und Boston waren für die, die sich kein Auto leisten konnten, unerreichbar.
Ich suchte unter den Scharen der neu eingetretenen Studenten nach anderen, die Schwarz waren. Allein das Wissen, daß es sie gab, hätte mich ein wenig beruhigt. Aber das Stipendium, das Brandeis mir gewährt hatte, war offenbar ein von Schuldgefühlen motivierter Versuch, die aus zwei Personen bestehende Schwarze Bevölkerung des ersten Semesters um eine zu vermehren. Wir drei waren alle weiblich. Ich war froh, daß eine von ihnen, Alice, im selben Stock wohnte wie ich. Obwohl sich Alice und ich sogleich anfreundeten, änderte sich dadurch meine Einstellung zum College nicht wesentlich. Ich fühlte mich fremd, zornig, allein und hätte die Universität verlassen, wenn ich den Mut gehabt und gewußt hätte, wohin ich mich wenden sollte. Da ich nun einmal da war - und wie es schien, für dauernd - lebte ich mit dieser Entfremdung und begann, sie sozusagen romantisch zu kultivieren. Wenn ich mich auch allein fühlte, weigerte ich mich doch, Selbstmitleid zu empfinden, und ich weigerte mich ebenso, die Einsamkeit zu bekämpfen, indem ich von mir aus Freunde suchte; ich war eben allein, abseits, und gab mir den Anschein, als ob es mir so gefiele. Die Lage wurde dadurch nicht besser, daß ich mich in die Schriften der sogenannten Existentialisten vertieft hatte. Cainus, Sartre. Ich zog mich in mich selbst zurück und wies praktisch alles, was draußen war, von mir. Nur in dem künstlichen Milieu eines abgesonderten und praktisch ganz weißen Colleges konnte ich mir erlauben, diese nihilistische Haltung zu zelebrieren. Als ob ich mir die Unwirklichkeit meiner Umgebung dadurch vom Leibe hielte, daß ich mich in einen anderen, gleicherweise wirklichkeitsfremden Lebensstil stürzte. In jenem ersten Semester habe ich nicht viel studiert. Ich sagte mir, daß die Kurse, die obligatorisch waren, sowieso keine Bedeutung hätten. Vom gesellschaftlichen Leben der Hochschule hielt ich mich fern oder ich ging in meinen Blue jeans, die ich die ganze Zeit trug, in eine der formellen Tanzveranstaltungen, nur um mich dadurch zu bestätigen.
Ich nannte mich Kommunistin, ließ mich aber nicht in die kleine Parteigruppe der Universität hineinziehen, weil ich glaubte, daß mich die Politicos mit deutlicher Herablassung dazu aufgefordert hatten. Sie schienen entschlossen, den »armen unglücklichen Negern« zu helfen, ihnen gleich zu werden, und ich fand es einfach nicht lohnend, ihnen zu gleichen. Das einzige, was mich während meines ersten Jahres aufmunterte, war die Nachricht, daß James Baldwin eine Reihe von Vorlesungen über Literatur halten sollte. Seit ich als erstes Buch von ihm »Gehe hin und verkünde es vom Berge« entdeckt hatte, las ich alle Schriften Baldwins, deren ich habhaft werden konnte. Als er nach Brandeis kam, sicherte ich mir einen Platz in der vordersten Reihe. Aber er hatte seine Vortragsreihe kaum begonnen, als bekannt wurde, daß die Welt am Rande eines dritten Weltkriegs stehe. Die Krise um die Raketen auf Kuba war ausgebrochen. James Baldwin erklärte, daß er seine Vorlesungen nicht fortsetzen könne, ohne seinem moralischen Gewissen zuwiderzuhandeln und auf seine politischen Verpflichtungen zu verzichten. In der Zwischenzeit war zu einer Massenversammlung der gesamten Universität aufgerufen worden, die Studenten gingen in stummer Benommenheit umher oder schrien ihre Furcht hinaus, daß die Welt im Begriff stand, im nuklearen Flammenmeer verzehrt zu werden.
Einige stiegen in ihre Autos und fuhren in panischer Angst davon. Sie sagten, sie wollten nach Kanada. An der Reaktion der Studenten auf diese Krise war die kraß egoistische Note so besonders auffallig. Es kümmerte sie nicht, daß die Bevölkerung von Kuba sich in fürchterlicher Gefahr befand, oder daß Millionen unschuldiger Menschen anderswo zugrundegehen könnten, wenn ein nuklearer Krieg ausbrach. Sie kümmerten sich nur um sich selbst, um die Rettung des eigenen Lebens. Mädchen und ihre männlichen Freunde zogen zusammen von dannen, um noch das letzte bißchen Liebe zu genießen. Als schließlich die Versammlung stattfand, war eine große Anzahl Studenten schon weggefahren und konnte die kraftvollen Ansprachen von James Baldwin, Herbert Marcuse (es war das erstemal, daß ich ihn hörte) und mehreren anderen Professoren und Studenten höherer Semester nicht hören. Die Ansprachen stellten die Forderung, keine Angst zu haben, nicht zu verzweifeln, sondern die Regierung unter Druck zu setzen, daß sie ihre Drohung zurückzog.
Es war ein gutes Gefühl, wieder Teil einer Bewegung zu sein und an Versammlungen, Teachins und Demonstrationen teilzunehmen. Als jedoch die Krise vorbei war, kehrte alles in die alten ausgefahrenen Geleise zurück. Während der kurzen Protestperiode fühlte ich mich zu den Leuten hingezogen, mit denen mich die größte Gemeinsamkeit verband - den Studenten aus fremden Ländern. Ich freundete mich mit einem Inder an, einem sehr milden Mann, der scharf erkannte, was um uns herum vorging. Ich glaube, daß meine Freundschaft mit Lalit mir vor allem zu einem konkreten Verständnis verhalf, wie sehr alle Freiheitskämpfe der Menschen auf der ganzen Welt zusammenhingen. Ich war tief bewegt, als er von dem unvorstellbaren Elend seines Volkes in Indien sprach. Während er redete, mußte ich dauernd an mein Volk in Birmingham, mein Volk in Harlem denken. Ebenso freundete ich mich mit Melanie an, einer jungen Frau von den Philippinen, und Mac, einer Südvietnamesin, die deportiert werden sollte, weil sie gegen Diem opponierte. Zur gleichen Zeit schloß ich enge Freundschaft mit Lani, wahrscheinlich weil wir uns von allem, was in Brandeis vorging, so sehr ausgeschlossen fühlten. Flo Mason, eine Freundin von der Irwin-Schule, und ich standen in regelmäßigem Briefwechsel. Ich weiß nicht, wer von uns zuerst auf den Gedanken kam, aber wir beiden beschlossen, im nächsten Sommer an den Achten Weltjugend- und Studentenfestspielen in Helsinki teilzunehmen. Ich brannte darauf, die revolutionäre Jugend aus anderen Teilen der Welt kennenzulernen, aber meine Entscheidung, diese Reise zu unternehmen, wurde auch von dem einfachen Wunsch geleitet, das Land zu verlassen, um mir eine bessere Perspektive aller Vorgänge zu verschaffen. Je weiter ich mich von meiner Heimat, meinen Wurzeln, entfernte, desto beengter schien ich mich zu fühlen, und desto weiter wollte ich fort. Ich arbeitete den Rest des Jahres, um mir das Geld für die Reise zu verdienen. Ich stellte Bücher in der Bibliothek wieder an ihren Platz, katalogisierte Karten in der Abteilung für Biologie und arbeitete in Chomondeley, der Imbißstube auf dem Universitätsgelände. Und ich fand Arbeit in einer einfachen Getränkebude in Waltharn. Da ich auch mein Studium wieder ernst nahm, blieb mir zwischen meinem Broterwerb und der akademischen Arbeit nicht viel Zeit für andere Beschäftigungen. Selbst mein gesellschaftliches Leben - ich verkehrte damals mit einem deutschen Freund namens Manfred Clemenz - beschränkte sich meistens auf einen Kaffee in der Cafeteria nach einem durchstudierten Abend.
Dann war es Juni. Mein Stipendium für die Festspiele verpflichtete mich, im New Yorker Hauptquartier des Festausschusses freiwillige Arbeit zu verrichten: Maschineschreiben, Hektographieren, Postverschickung. Das Charterflugzeug von Brandeis brachte uns nach London, wo ich ein oder zwei Tage allein in der Stadt umherwanderte, bis mein Zug nach Paris abfuhr. Meine Freundin Harriet Jackson sollte mich am Gare du Nord abholen, aber ein Streik brachte alle Fahrpläne durcheinander. Da stand ich nun allein in Paris, wo ich niemanden kannte und keine Ahnung hatte, wie ich Harriet aufstöbern könnte. Nach ein paar Tagen in einem schmutzigen Hotel des Quartier Latin, Tagen, in denen ich die Stadt auskundschaftete und mit Grauen die rassistischen Sprüche las, die überall an die Wände gekritzelt waren und den Algeriern den Tod androhten, traf ich schließlich mit meiner Freundin zusammen. Sie hatte eine Nachricht im Büro der American Express Company hinterlassen, weil sie hoffte, daß mir einfallen würde, dort nachzufragen. Als dann schließlich auch Flo ankam, waren wir bereits in ein winziges Zimmer gezogen, das sich in der obersten Etage eines Wohnhauses im 16. Arrondissement befand, so nahe dem Eiffelturm, daß man vom Fensterchen aus den Fahrstuhl steigen und fallen sah. In diesem Dienstmädchenzimmer wohnte eine Freundin Harriets zur Miete, die in Paris studierte und es uns überließ, während sie verreist war. Es war eines von zehn Zimmern, die nur zu erreichen waren, wenn man über eine rostige Treppe vom Typ einer Feuerleiter sechs Stockwerke hochstieg. Wie alle anderen hatte es kein fließendes Wasser, es gab nur eine schmierige Klosettschüssel und einen Kaltwasserhahn am Ende des Ganges. Es war gerade genug Platz für ein Bett, einen Schrank, einen Tisch sowie auf dem Boden Platz für eine Luftmatratze und ein Klappbett. Flo, Harriet und ich schliefen abwechselnd im Bett, auf der Luftmatratze oder auf dem Fußboden. Wir dachten, daß unser Zimmer überbelegt sei, bis wir die Leute auf der anderen Seite des Ganges kennenlernten eine schmächtige Frau aus Martinique, die mit vier stämmigen Töchtern im Alter von etwa vierzehn bis zwanzig Jahren auf der gleichen Fläche auskommen mußte. Da sie gerade erst von den Karibischen Inseln eingetroffen waren, gingen sie jeden Tag auf Arbeitsuche. Jeden Abend kehrten sie zurück und hatten nichts aufzuweisen als ermüdete Körper, etwas weniger Geld und oft auch Schauergeschichten, weil man sie für Algerierinnen gehalten hatte.
Wir drei sausten in Paris umher, lebten als Touristen und taten das, was am wenigsten kostete und den Studenten am meisten Ermäßigung gewährte: besuchten den Louvre, das Rodin-Museum, sahen Moliére in der Comédie Francaise (die für Studenten einen Franc kostete). Wenn wir in den überfüllten Cafés am Boulevard St. Michel rumlungerten, trafen wir Menschen, die interessante und aufregende Geschichten zu erzählen hatten - besonders, wenn sich darin ihre Abneigung gegen die Franzosen aussprach. Es waren Afrikaner, Haitianer, andere Bewohner der Antillen und Algerier. Wir wurden zu den Speiselokalen algerischer Arbeiter eingeladen, die in dem Gewirr der Hintergassen des Quartier Latin versteckt waren. Wenn man im Jahr 1962 als Algerier in Paris lebte, dann war man ein gejagter Mensch. Während die Algerier die französische Armee in ihren Bergen und in den europäisierten Städten Algiers und in Oran bekämpften, überfielen in der kolonialistischen Hauptstadt paramilitärische Terroristengruppen Männer und Frauen, weil sie Algerier waren oder so aussahen.
In Paris explodierten Bomben in Cafés, die von Nordafrikanern bevorzugt wurden, in dunklen Seitenstraßen fand man blutige Leichen, und anti-algerische Graffiti verunstalteten die Mauern der Gebäude und die Wände der Metrostationen. Ich nahm eines Nachmittags an einer Demonstration für die Algerier auf dem Platz vor der Sorbonne teil. Als die Flics sie sprengten, benahmen sie sich so gemein wie die Rüpel von Polizisten in Birmingham, die die »Freedom Riders« mit Hunden und Wasserschläuchen empfingen. Die neuen Plätze, die neuen Erlebnisse, die ich durch meine Reise zu entdecken hoffte, waren schließlich dieselben alten Plätze, dieselben alten Erlebnisse mit einer einzigen Botschaft: Kampf!
Nachdem Harriet in die Sowjet-Union abgereist war, faßten Flo und ich den spontanen Entschluß, mit dem Zug nach Genf zu fahren, versuchten dann aber doch mit einem Schweizer Studenten, der gerade von der Universität von Wisconsin zurückgekehrt war, zu trampen. Aber wie unser Glück es wollte, es war gerade der 14. Juli - Jahrestag der Erstürmung der Bastille - und deshalb fast unmöglich, in einem Auto mitgenommen zu werden. Wir kamen nur bis zum Flughafen von Orly, knapp außerhalb von Paris, schlugen dort auf freiem Feld ein Zelt auf, das dem Schweizer Studenten gehörte, aßen im Flughafen Zu Abend und legten uns für die Nacht zur Ruhe, während er draußen Wache hielt. Da unser GlÜck am nächsten Tag nicht besser war, fuhren wir mal mit dem Bus, mal mit dem Zug nach Lausanne, wo die Mutter des Studenten uns ein paar Tage beherbergte. Lausanne mit seinen malerischen Häusern, die an Bergabhängen aufwarts gebaut sind, war die sauberste, hübscheste Stadt, die ich bis dahin gesehen hatte. Jetzt verstand ich, warum die Reichen ihre Kinder in die Schweiz schickten. Von Lausanne ging's nach Genf und zurück nach Paris.
Dann auf nach Finnland zu den Festspielen. In Helsinki beherbergte eine öde, eintönige Nachkriegsarchitektur die vibrierende Spannkraft der Jugend, die sich dort aus aller Welt versammelt hatte. In den kurzen zwei Wochen der Festspiele wurden aufsehenerregende kulturelle Programme, politische Massenkundgebungen und zahllose Seminare über den Kampf in Afrika, Lateinamerika, Asien und dem Nahen Osten geboten. Die spannendste Dimension der Festspiele ergab sich jedoch, nach meinem Dafürhalten, aus den bilateralen Zusammenkünften der Delegationen, weil sie eine tiefere Berührung mit der Jugend anderer Länder ermöglichten. Die kulturelle Darbietung der kubanischen Delegation war das eindrucksvollste Ereignis der Festspiele. Nicht daß sie besonders vollendet oder intellektuell gewesen wäre, aber was sie darstellten zeigte einen ungeheuer bannenden revolutionären Geist. Das war die Jugend einer Revolution, die noch keine drei Jahre alt war. Die Delegation der Vereinigten Staaten saß unter den Zuschauern, als die Kubaner die wohlhabenden amerikanischen Kapitalisten lächerlich machten, die in ihr Land eingedrungen waren und sie jeder Spur von Souveränität beraubt hatten. Sie boten ihren Angriff auf die Eindringlinge in Schauspiel, Lied und Tanz dar. Während jener Tage, lange bevor die Women's Lib auf der Bildfläche erschien, sahen wir den kubanischen Milizfrauen zu, die den Sieg ihres Volkes leidenschaftlich verteidigten.
Es ist nicht leicht, die Kraft und Begeisterung der Kubaner zu beschreiben. Ein Ereignis läßt jedoch ihre ansteckende Gewalt und den Einfluß, die sie auf uns alle ausübte, erkennen. Am Ende ihrer Vorstellung ließen die Kubaner nicht einfach den Vorhang fallen. Ihre »Vorstellung« war schließlich viel mehr als ein bloßes Schauspiel gewesen. Sie war Leben und Wirklichkeit. Hätten sie den Vorhang vorgezogen und sich zum Beifall verbeugt, dann hätte es so ausgesehen, als seien sie lediglich der »Kunst« verpflichtet. Die Kubaner tanzten weiter und kamen im temperamentvollen Conga von der Bühne herunter mitten unter die Zuschauer. Wir, die wir von den Kubanern, ihrer Revolution und dem triumphierenden Schlag ihrer Trommeln schon ganz überwältigt waren, erhoben uns spontan von den Sitzen, um uns dem Congazug anzuschließen. Und der Rest - die Furchtsamen, vielleicht sogar die Agenten - wurden von den Kubanern an der Hand gefaßt und in den Tanz hineingezogen. Bevor wir uns dessen bewußt waren, zogen wir mit diesem Tanz - einem Tanz, der von aneinander geketteten Sklaven in die kubanische Kultur eingebracht worden war - durch das ganze Gebäude und auf die Straße. Verwunderte Finnen sahen i ungläubig auf Hunderte von jungen Menschen aller Farben, die des Verkehrs nicht achtend durch die Straßen von Helsinki strömten.
Obwohl Kameradschaft das beherrschende Thema der Festspiele war, bestimmte sie doch nicht das ganze Bild. Getreu dem Diktat des kalten Krieges hatte die CIA ihre Agenten und Spitzel an allen strategischen Stellen der Festspiele eingesetzt, einschließlich der Delegation der Vereinigten Staaten. (Diese Tatsache wurde von der CIA später auch zugegeben.) Es gab zahlreiche Provokationen, und sie nahmen die verschiedensten Formen an. Zum Beispiel wurden Mitglieder der Delegation der Deutschen Demokratischen Republik entführt, Tränengasbomben während der Massenveranstaltungen in der Menge losgelassen und Hell's-Angels-Typen provozierten Delegationen zu Faustkämpfen in den Straßen von Helsinkis Innenstadt.
Nachdem ich mich von meinen neuen Freunden verabschiedet und eine Zeitlang meinen deutschen Freund Manfred besucht hatte, kehrte ich in die Vereinigten Staaten zurück, wo ein Fahndungsbeamter der FBI schon auf mich wartete. »Was hatten Sie diesen Sommer bei den kommunistischen Jugendfestspielen zu suchen?« wollte der Agent wissen. »Kennen Sie nicht unsere Einstellung zum Kommunismus? Wissen Sie nicht, was wir mit Kommunisten machen?« Die Erlebnisse des Sommers waren mir noch lebhaft vor Augen, und ich fühlte mich älter und reifer, als ich mein zweites Jahr in Brandeis begann. Die Begegnung mit Menschen aus aller Welt hatte mich gelehrt, wie wichtig es war, die oberflächlichen Schranken niederzureißen, die uns trennten. Die Sprache war eine solche Schranke, die leicht beseitigt werden konnte. Ich beschloß, Französisch zu meinem Hauptfach zu machen. In jenem Jahr vergrub ich mich völlig in meine Arbeit: Flaubert, Balzac, Baudelaire, Rimbaud und die Tausende von Seiten von Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Mein Interesse für Sartre war noch immer recht wach - in jeder freien Minute arbeitete ich mich durch seine Schriften: Der Ekel, Die schmutzigen Hände, Die Eingeschlossenen von Altona und die übrigen früheren und späteren StÜcke, dazu die Romane des Zyklus Die Wege der Freiheit. Ich las einige seiner philosophischen und politischen Essays und machte mich sogar an Das Sein und das Nichts. Da ich mich mit der Isolation der Universität in irgendeiner Weise auseinandersetzen mußte, beschloß ich, das auf konstruktive Weise zu tun und den größten Teil meiner wachen Stunden in der Bibliothek oder an einem versteckten Platz mit meinen Büchern zu verbringen.
Zuerst teilte ich mein Zimmer mit Lani, aber da wir beide lieber allein sein wollten, zog sie in ein Einzelzimmer, das gerade frei wurde. Tina, ein schwedisches Mädchen, das mit einem Freund außerhalb der Universität leben wollte, tat so, als zöge sie in mein Zimmer und schenkte mir dadurch die Ungestörtheit, die ich mir wünschte. Gwen und Woody, ein Student und eine Studentin höheren Seinesters, führten die Aufsicht über die Studentenheime für Männer. Der Umstand, daß wir Schwarz waren und gemeinsame Freunde in Birrningham hatten, gab uns ein Gefühl der Verbundenheit, noch ehe wir uns kannten. Wenn sie abends oder übers Wochenende ausgehen wollten, konnten sie immer darauf rechnen, daß ich ihren kleinen Jungen betreute, während ich gleichzeitig studierte. Und wenn es mir nach Sprechen zumute war, dann waren sie immer da, um zuzuhören und mir Ratschläge zu geben.
Es war ein ruhiges, gedämpftes Jahr auf der Universität - bis das blasierte Behagen, das dieses liberale College beherrschte, durch das Auftreten von Malcolm X in Scherben ging. im größten Hörsaal der Universität saßen Gwen, Woody und ich im vorderen Drittel, umwogt, wie es schien, von einer Menge weißer Menschen, die atemlos darauf harrten, den Mann zu hören, der der Sprecher des Propheten Elijah Mohammed war. Elijah Mohammed nannte sich den Boten des islamisehen Gottes Allah, er sei erwählt, den Schwarzen Menschen in den Vereinigten Staaten die Botschaft Allahs zu bringen.
Vor Jahren war in der Parker-Schule einer unserer Klassenkameraden verhaftet worden, weil er Zeitungen der »Schwarzen Moslems« verkauft hatte. Er war ein sanfter Junge, der leise sprach und sich meistens zurückhielt. Mehrere Male versuchte ich vergeblich, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Am Tag nach seiner Verhaftung erfuhr ich zum erstenmal, daß es eine die ganze Nation umspannende Organisation der »Schwarzen Moslems« gab, und fand, ohne die gängige Propaganda in Frage zu stellen, daß sie eine seltsame Sekte von Menschen waren, die rasend und schäumend die bevorstehende Vernichtung aller weißen Menschen durch Allah verkündeten - eine Gruppe, die ihrem Wesen nach unfähig war, bei der Lösung des Rassenproblems zu helfen. Lange Zeit beunruhigte es mich, daß dieser Klassenkamerad ein Mitglied der Moslems war. Ich konnte meine schablonenhafte Auffassung von den Moslems nicht mit seiner Empfindsamkeit in Einklang bringen. Ich wartete, bis er aus dem Gefängnis entlassen wurde und zur Schule zurückkehrte, um ihn zu fragen, wer die Moslems wirklich waren. Aber ich habe ihn nie wieder gesehen.
Schließlich kam Malcolm in den Saal, tadellos gekleidet und umgeben von konservativ gekleideten, sorgfältig rasierten Männern und von Frauen in langen, wallenden Gewändern. Aus der Art, wie sie sich trugen, spürte ich den Stolz, der von ihnen ausging. Ruhig nahmen sie ihre Plätze in der ersten Reihe ein. Malcolm, begleitet von einigen seiner Männer, bestieg die Rednertribüne. Malcolm X begann seinen Vortrag mit verhaltener Beredsamkeit, erzählte von der Religion des Islam und ihrer Bedeutung für die Schwarzen Menschen in den Vereinigten Staaten. Ich war fasziniert von seiner Beschreibung, wie die Schwarzen Menschen die rassische Minderwertigkeit, die uns von einer weißen Überlegenheitsgesellschaft auferlegt worden war, in sich verinnerlicht hatten. Gebannt von seinen Worten fühlte ich einen Schock, als ich ihn, unmittelbar zu seinen Zuhörern gewandt, sagen hörte: »Ich spreche von euch! Euch!! Ihr und eure Vorfahren habt jahrhundertelang mein Volk vergewaltigt und gemordet.« Er sprach schließlich zu einem fast ausschließlich weißen Publikum, und ich fragte mich, ob Gwen, Woody und die vier oder fünf anderen Schwarzen unter den Zuhörern sich von diesem Augenblick an ebenso fehl am Platze fühlten wie ich. Malcolm sprach zu den Weißen, beschimpfte sie, hielt ihnen ihre Sünden vor, warnte sie vor dem Armageddon, das bevorstand und in dem sie alle vernichtet würden. Obwohl ich eine Art morbide Befriedigung fühlte, als ich mit anhörte, wie Malcolm die Weißen praktisch zu Nichts zusammenstauchte, war es mir, die ich keine Moslem war, doch nicht möglich, mich mit seiner religiösen Perspektive zu identifizieren. Ich dachte nur immer, daß es ein ungeheures Erlebnis sein müßte, ihn vor Schwarzen Zuhörern sprechen zu hören. Für die Weißen war die Rede Malcolms verwirrend und beunruhigend. Es war interessant, daß die meisten von ihnen sich mit allen Mitteln zu verteidigen und gegen die Sklaventreiber und Rassentrenner der Südstaaten abzugrenzen suchten, daß es aber niemand einfiel, selbst konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um den Rassismus zu bekämpfen. Vor einiger Zeit hatte ich mich um einen Platz im Programm des Hamilton College in Frankreich beworben. Nachdem ich erfahren hatte, daß ich dafür angenommen war, focht ich heftige Kämpfe mit dem Stipendiatenbüro der Brandeis-Universität aus, bis es sich endlich bereitfand, das noch nicht Dagewesene zu tun: nämlich mein normales Stipendium so großzügig anzulegen, daß es auch mein Studienjahr in Frankreich deckte.
Als wir in zwei Omnibusladungen von Paris eintrafen, war das Seebad Biarritz, an der Bucht der Biskaya und nahe der spanischen Grenze, bereits von den wohlhabenden Touristen verlassen. Dort sollten wir unsere vorbereitenden Sprachkurse nehmen. Die verlassenen bunten Strandkasinos erschienen noch dekadenter, als wenn sie von gierigen glücksspielenden Urlaubern bevölkert gewesen wären. Die unzähligen Souvenirläden an den arkadenüberspannten Straßen sahen verwüstet aus, und dieser Eindruck verstärkte sich, weil keine Kunden mehr da waren. Die Ladeninhaber schienen verzweifelt zu überlegen, wie sie ohne das Geld der Touristen die nächsten Monate überstehen könnten, aber auch erleichtert, daß sie den Ansturm des Sommers hatten überleben können. Wenn ich durch die Straßen von Biarritz ging, dann glaubte ich in einem Ort zu wandern, wo ein langes Saufgelage gerade erst zu Ende gegangen war. Die letzten torkelnden Gäste waren schon nach Hause gegangen, aber niemand war bisher dazu gekommen, den hinterlassenen Unrat aufzuräumen. Die Spuren der Sommerorgien machten einen verlegen - wie schmutzige Unterwäsche, die versehentlich liegengeblieben ist - und wütend. Ich sah sie, wie sie Unsurflmen verplemperten, ohne das geringste Mitleid mit denen zu fühlen, deren Sklaverei diesen Wohlstand geschaffen hatte. Nicht lange nach unserer Ankunft begab sich etwas Seltsames in der verlassenen Stadt: und zwar eine plötzliche massenhafte Invasion von Flöhen, wie sie die arbeitende Bevölkerung von Biarritz noch nicht erlebt hatte. Tagelang war es unmöglich, ein einziges Fleckchen Erde oder Luft zu finden, das nicht von Flöhen verseucht war. In unseren Klassen konnten sich die Lehrer bei dem ständigen Kratzen kaum verständlich machen. Die Leute krazten sich in Cafés, Kinos, Buchläden, und sie kratzten sich, wenn sie einfach nur die Straße entlanggingen. Menschen mit empfindlicher Haut sahen schließlich aus wie Aussätzige; ihre Arme und Beine waren mit entzündeten Flohbissen übersät. Mein Bettlaken war, wie das aller anderen, mit kleinen Blutflecken bedeckt. Wenn Ingmar Bergman einen Film über die aufdringlichen, parasitisehen Touristen gedreht hätte, die nach Biarritz kamen, und auch die Flöheinvasion gezeigt hätte, denn hätten die Kritiker geschrieben, daß die Symbolik zu kraß sei. In dieser Stadt, die in vertrackter Weise genötigt war, sich von Touristen und Flöhen zu erholen - in dieser Gruppe typisch amerikanischer Studenten, die ohne meine Gegenwart lilienweiß gewesen wäre - kamen meine alten wohlbekannten Gefühle der Verwirrung wieder auf.
 

16. September 1963

Nach dem Unterricht bat ich drei oder vier Studentinnen, mit denen ich spazierenging, einen Augenblick zu warten, weil ich eine Herald Tribune kaufen wollte. Während meine Aufmerksamkeit zwischen dem Gehen und Zuhören geteilt war, überflog ich die Zeitung und sah eine Überschrift, die von vier Mädchen und einem Bombenanschlag auf eine Kirche berichtete. Zuerst drangen die Worte nur verschwommen in mein Bewußtsein. Dann schlug es ein! Es brach über mich herein. Birmingham. Die Baptistenkirche in der 16th Street. Die Namen. Ich schloß die Augen, kniff die Lider zusammen, als könne ich das, was ich gelesen hatte, aus meinem Kopf herausquetschen. Als ich meine Augen öffnete, waren die Worte noch da, die Namen in dickem schwarzem Druck gezeichnet. »Carole«, sagte ich. »Cynthia. Sie haben sie getötet.« Meine Begleiterinnen sahen mich verwundert an. Unfähig, noch mehr zu sagen, deutete ich auf den Artikel und gab die Zeitung in eine ausgestreckte Hand. »Ich kenne sie. Sie sind meine Freunde...« Ich stotterte. Als wiederholte sie Sprüche, die sie einstudiert hatte, sagte eine von ihnen: »Das tut mir leid. Es ist schlimm, daß das passieren mußte.« Bevor sie sprach, wollte ich alle Gefühle von mir sprudeln lassen, die durch die Nachricht von der Bombe und den vier Schwarzen Mädchen in meiner Heimatstadt, die davon zerrissen worden waren, in mir aufschossen. Aber die Gesichter um mich her waren verschlossen. Sie wußten nichts vom Rassismus, und sie fanden kein anderes Mittel, sich mir mitzuteilen, als mich zu trösten, wie wenn Freunde bei einem Flugzeugunglück umgekommen wären. »Das ist ja schrecklich«, sagte eine von ihnen. Ich ließ sie abrupt stehen, weil ich nicht wollte, daß sie mit meinem Schmerz etwas zu tun hatten. Ich starrte immer wieder auf die Namen. Carole Robertson. Cynthia Wesley. Addie Mae Collins. Denise McNair. Carole - ihre und meine Familie waren miteinander befreundet, solange ich denken konnte. Carole, dicklich mit langen welligen Zöpfen und einem reizenden Gesicht, war eine der besten Freundinnen meiner Schwester. Sie und Fania waren etwa gleichaltrig. Sie hatten zusammen gespielt, waren zusammen zur Tanzstunde gegangen, hatten zusammen kleine Gesellschaften besucht. Caroles ältere Schwester und ich hatten mit unseren jüngeren Schwestern immer Auseinandersetzungen, weil sie mitkommen wollten, wenn wir mit unseren Freundinnen ausgingen. Mutter hat mir später erzählt, daß Mrs. Robertson, als sie von dem Bombenanschlag auf die Kirche hörte, sie angerufen und gebeten hätte, sie in die Stadt zu fahren, um Carole abzuholen. Was wirklich geschehen war, wußte sie erst, als sie die herumliegenden Körperfetzen sah. Die Wesleys gehörten zu den Schwarzen, die auf die Westseite der Center Street gezogen waren. Unser Haus lag am Eleventh Court, das ihre an der Eleventh Avenue. Von unserer Hintertür bis zu ihrer Hintertür waren es nur etwa hundert Meter über eine kiesbestreute Autoeinfahrt, die den Block in zwei Hälften teilte. Die Wesleys hatten keine Kinder, aber wie sie mit uns spielten, zeigte, daß sie Kinder liebten. Ich erinnere mich, wie Cynthia im Alter von ein paar Jahren zuerst zu den Wesleys zog. Cynthias eigene Familie war groß und furchtbar arm. Cynthia blieb eine Zeitlang bei den Wesleys und kehrte dann zu ihrer Familie zurück - und das ging so weiter, bis die Zeiten, die sie bei den Wesleys verbrachte, immer länger, und die zu Hause immer kürzer wurden. Schließlich haben die Wesleys sie, mit der Zustimmung von Cynthias Familie, offiziell adoptiert.
Sie war immer wie aus dem Ei gepellt, ihr Gesicht sah frisch gewaschen aus, ihre Kleider waren stets gestärkt, und ihre kleine Handtasche paßte zu den frisch geputzten Schuhen. Wenn meine Schwester schmutzig und verstrubbelt ins Haus kam, fragte meine Mutter oft, warum sie sich nicht so sauber halten könne wie Cynthia. Sie war ein zartes, sehr empfindsames Kind, und obwohl ich fünf Jahre älter war, hielt ich ihr Verständnis von manchen Dingen für viel reifer als das meine. Wenn sie zu uns ins Haus kam, schien sie sich lieber mit meiner Mutter zu unterhalten als mit Fania zu spielen. Denise McNair. Addie Mae Collins. Meine Mutter hatte Denise unterrichtet, als sie in die erste Klasse ging, und Addie Mae Collins hätte, obwohl wir sie nicht persönlich kannten, jedes Schwarze Mädchen in meiner Nachbarschaft sein können. Als das Leben dieser vier Mädchen so brutal ausgelöscht wurde, empfand ich einen ganz persönlichen tiefen Schmerz. Aber als der erste Stich und die erste Wut sich genügend gelegt hatten, um mich nachdenken zu lassen, war ich von der objektiven Bedeutsamkeit dieser Morde betroffen. Die Tat war keine Verirrung. Es war nicht etwas, was von einigen wahnsinnig gewordenen Extremisten angezettelt worden war. Im Gegenteil, sie war logisch, unvermeidlich. Die Menschen, die die Bombe in die Mädchentoilette der Baptistenkirche in der 16th Street gelegt hatten, waren nicht pathologisch, sie waren durchaus normale Produkte ihres Milieus. Und dieses aufsehenerregende gewaltsame Ereignis, die wüste Zerstückelung von vier kleinen Mädchen, war aus der täglichen, manchmal schon öden Routine der Rassenunterdrückung hervorgebrochen. Aber wie sehr ich auch reden mochte, die Menschen um mich her konnten mich einfach nicht verstehen. Sie konnten nicht verstehen, warum die ganze Gesellschaft dieses Mordes schuldig war - warum ihr geliebter Kennedy auch verantwortlich war, warum die ganze herrschende Schicht ihres Landes, die am Rassismus schuld war, auch an diesem Mord schuldig war. Die bombenwerfenden Rassisten planten natürlich nicht den Tod gerade von Carole, Cynthia, Addie Mae und Denise. Vielleicht hatten sie nicht einmal bewußt damit gerechnet, daß jemand umkommen würde. Sie wollten die Schwarze Bevölkerung Birminghams terrorisieren, die sich aus ihrem Schlaf zur aktiven Mitarbeit am Kampf für die Befreiung der Schwarzen aufgerappelt hatte. Sie wollten diese Bewegung vernichten, bevor sie sich zu tief in unseren Köpfen und in unserem Leben eingewurzelt hatte. Das war es, was sie tun wollten, und es war ihnen egal, ob dabei jemand getötet wurde. So oder so - es kümmerte sie nicht. Die zerschmetterten Körper von Cynthia, Carole, Addie Mae und Denise waren neben der Hauptsache nebensächlich und gerade darum waren die Morde abscheulicher, als wenn sie sie vorsätzlich geplant hätten.
Im November zog unsere Gruppe nach Paris. Ich wurde der Familie Lamotte, 13 Rue Duret, zugeteilt, nicht weit vom Arc de Triomphe. Zwei andere Frauen vom Hamilton-Kurs wohnten dort auch. Jane wohnte im dritten Stock zusammen mit M. und Mme. Lamotte und ihren drei Kindern. Christie und ich teilten uns eins der beiden Schlafzimmer in dem kleinen Appartement im zweiten Stock, das M. Lamottes Mutter gehörte. Jeden Morgen brachte sie uns zwei große Holztabletts mit zwei großen Schalen Café au lait, frisch gebackene Baguettes und zwei Stücken Butter. Am Abend saßen wir oben mit der Familie. Wir gingen über den kopfsteingepflasterten Hof zur Metrostation um die Ecke und fuhren unter der Erdoberfläche in den alten roten Zügen zum Quartier Latin, um an unseren Kursen teilzunehrnen. Die meisten, die ich belegt hatte, fanden in dem Institut de Préparation et de Perfectionnement de Professeurs de Francais à L'Etranger der Sorbonne statt. In der Sorbonne hatte ich immer ein Gefühl, als wäre ich in der Kirche - sie war Jahrhunderte alt, mit riesigen Säulen, die ungemein hohe mit verblichenen alten Malereien geschrnückte Decken trug. Die Heiligkeit, die von dort ausstrahlte, zwang Tausende von Studenten dort Stille zu bewahren. Mein Anliegen schien zu der Umgebung nicht zu stirnt~en. Meine Studien betrafen fast ausschließlich die zeitgenössische Literatur - ein Kurs den zeitgenössischen französischen Roman, ein anderer das Drama, einer Dichtung und einer Ideen. Der einzige andere Kurs, den ich noch nahm, war vom Hamilton-Programm selbst organisiert und verlangte, daß man jede Woche ins Theater ging und die Stücke, die man gesehen hatte, besprach und darüber schrieb. Als mein Jahr zu Ende war, schien mir, als hätte ich fast alles gesehen, was auf der Pariser Bühne interessant war - einschließlich der Oper von Peking und dem »Ballet Africaine« aus Guinea. Als sich die Nachricht in Paris verbreitete, daß Kennedy erschossen worden war, eilte alles zur Amerikanischen Botschaft. Kennedys Ermordung war für mich bestimmt kein Anlaß zur Freude. Obwohl seine Hände keineswegs sauber waren (ich mußte immer wieder an die Schweinebucht denken), konnte die Ermordung keine Probleme lösen. Außerdem würden der Vizepräsident aus Texas und seine Spießgesellen in den Ölmonopelen wahrscheinlich die Lage für mein Volk verschlechtern. Trotzdem fühlte ich mich in der Botschaft, umgeben von Massen von »Amerikanern in Paris«, fehl am Platz, und es war schwer, sich mit ihren Tränen zu identifizieren. Ich fragte mich, wie viele wohl Tränen vergossen - oder wirkliche Trauer empfunden hatten - als sie in der Herald Tribune die Geschichte von dem Mord an Carole, Cynthia, Addie Mae und Denise gelesen hatten. Monate später begleitete ich eine Freundin zur vietnamesischen Tet-Feier, zu der sie eingeladen war. An jenem Abend fanden zwei Neujabrsfeiern statt - eine wurde von den Südvietnarnesen, die Diem treu blieben, veranstaltet und besucht, und die andere von den Nordvietnamesen zusammen mit den sozialistischen und anderen oppositionellen Kräften im Süden. Wir gingen zur nordvietnamesischen Feier. Sie wurde in einem riesigen Stadion im Arbeiterbezirk von Paris veranstaltet und war eine großangelegte siebenstündige Schau, die aus Liedern, Lustspielszenen, akrobatischen Nummern und Sketches bestand, alles durchsetzt von der Kraft ihres Kampfes und erfüllt von einer Botschaft, für die keine Kenntnis der vietnarnesischen Sprache vonnöten war. Wie die Tausende von Vietnamesen, die das Stadion füllten, war auch ich begeistert. Aber ich wurde durch die wiederholten Satiren gegen die amerikanische Regierung und ihre Streitkräfte in die brutale Wirklichkeit ihrer Erlebnisse zurückgeschockt. Der längste und heftigste Applaus und ebensolches Gelächter galten immer dem Auftritt eines Schauspielers, der als amerikanischer G. I. verkleidet war und entweder als Zielscheibe von Witzen diente, oder, in ernsteren Szenen, besiegt wurde.
Obwohl es schon soweit war, daß ich einen akademischen Grad in französischer Literatur bekommen sollte, wollte ich eigentlich Philosophie studieren. Ich interessierte mich für Marx, seine Vorläufer und seine Nachfolger. In den letzten Jahren hatte ich immer, wenn ich etwas Zeit übrig gehabt hatte, nebenher Philosophie gelesen. Ich wußte zwar nicht genau, was ich tat, aber es gab mir ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, wenn ich las, was andere Menschen über so ungeheure Dinge wie das Universum, die Geschichte, die Menschen und das Wissen zu sagen hatten. Während meines zweiten Jahres in Brandeis war mir Eros und Kultur von Herbert Marcuse in die Hände gefallen, und ich hatte mich vom Anfang bis zum Ende damit abgemüht. In jenem Jahr las er an der Sorbonne. Als ich im folgenden Jahr nach Paris kam, war er bereits wieder in Brandeis, aber die Leute schwärmten noch von seinen phantastischen Vorlesungen. Als ich nach Brandeis zurückkehrte, war das erste Semester meines letzten Studienjahres so vollgestopft mit obligatorischen französischen Kursen, daß ich Marcuses Vorlesungsreihe über das politische Denken in Europa seit der Französischen Revolution nicht offiziell belegen konnte. Trotzdem war ich in allen seinen Vorlesungen und beeilte mich immer, um einen Platz im vorderen Teil des Hörsaals zu ergattern. Die Plätze waren wie im Großen Versammlungssaal der Vereinten Nationen amphitheatralisch angelegt. Wenn Marcuse auf das Podium trat, das ganz unten im Saal stand, beherrschte er alles durch seine Gegenwart. Er war so eindrucksvoll, daß schon sein Erscheinen völliges Schweigen und gespannte Aufmerksamkeit verursachte, noch bevor er ein einziges Wort gesagt hatte. Die Studenten erwiesen ihm die höchste Achtung. Ihre Konzentration war nicht nur während der ganzen Stunde, in der er beim Sprechen auf und ab wandelte, vollkommen, auch wenn Marcuse beim Klingelzeichen noch nicht geendet hatte, hörte man kein Papier rascheln, bis er die Vorlesung formell abgeschlossen hatte. Eines Tages, kurz nach Semesterbeginn nahm ich all meinen Mut zusammen und bat um eine Unterredung mit Marcuse. Ich wollte ihn bei der Aufstellung einer Bibliographie der grundlegenden Werke der Philosophie um seine Hilfe bitten. Nachdem ich darauf gefaßt war, Wochen auf diese Unterredung warten zu müssen, war ich überrascht, als man mir sagte, er sei am selben Nachmittag frei. Von fern sah Marcuse unnahbar aus. Ich nehme an, daß das Gesamtbild seiner Erscheinung, das weiße Haar, der starke Akzent, das außerordentliche Selbstvertrauen und sein enormes Wissen ihn zeitlos und zum Inbegriff des Philosophen machten. Aus der Nähe war er ein Mann mit forschenden, fröhlich funkelnden Augen und einem ganz irdischen Lächeln. Ich versuchte, ihm die Gründe für diese Unterredung zu erklären, und sagte ihm, daß ich als mein eigentliches Fach Philosophie studieren wolle, vielleicht sogar an der Universität Frankfurt, daß aber meine selbständige Lektüre in Philosophie ganz unsystematisch gewesen sei ohne Berücksichtigung nationaler oder historischer Zusammenhänge. Worum ich ihn bitten wollte - wenn es nicht zuviel verlangt sei - sei eine Liste von Werken in der Reihenfolge, in der ich sie lesen sollte.
Und wenn er mir die Genehmigung gäbe, wollte ich sein Seminar über Kants Kritik der Reinen Vernunft belegen. »Wollen Sie wirklich Philosophie studieren?« fragte Professor Marcuse langsam und betonte dabei jedes Wort. Er gab dieser Frage den Ton von so viel Ernst und Tiefe - daß sie wie das Aufnahmezeremoniell einer geheimen Gesellschaft klang, die man nie mehr verlassen kann, wenn man ihr einmal beigetreten ist. Ich fürchtete, daß ein bloßes »Ja« hohl und unzureichend geklungen hätte. »Ich will zumindest sehen, ob ich es kann«, war etwa die einzige Antwort, die mir einfiel. »Dann sollten Sie mit den Vor-Sokratikern beginnen, danach Plato und Aristoteles. Kommen Sie nächste Woche wieder, und wir werden uns über die Vor-Sokratiker unterhalten.« Ich hatte keine Ahnung, daß meine kleine Bitte sich zu anregenden wöchentlichen Unterhaltungen über die vorgeschlagenen Philosophen auswachsen würde, Unterhaltungen, die mir ein viel aufregenderes und lebhafteres Bild von der Geschichte der Philosophie vermittelten, als es sich aus einer trockenen Vorlesung zur Einführung in die Philosophie ergeben hätte.
Kurz nachdem die Nazis in Deutschland die Macht ergriffen hatten, war Mareuse in die Vereinigten Staaten ausgewandert, zusammen mit einer Gruppe von Intellektuellen, die das Institut für Sozialforschung gegründet hatten. Zu ihnen gehörten Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Sie hatten ihre Arbeit einige Jahre lang in Amerika fortgesetzt, aber als die Faschisten besiegt waren, hatten sie das Institut als einen Teil der Universität Frankfurt wieder eröffnet. Ich hatte von der Arbeit des Instituts zuerst von Manfred Clemenz gehört, dem deutschen Studenten, den ich in meinem ersten Jahr in Brandeis kennengelernt hatte. Nach meinen Studien in Frankreich hatte ich mehrere Sommerwochen in Frankfurt verbracht, ein paar Vorlesungen Adornos gehört und einige der dortigen Studenten kennengelernt. Damals konnte ich nur sehr wenig Deutsch, aber meine Begleiter übersetzten mir die wesentlichen Punkte der Vorlesungen ins Englische oder Französische. Später habe ich außer Marcuses Schriften alle Werke von Adorno und Horkheimer gelesen, die ins Englische oder Französische übersetzt worden waren. Auf diese Weise machte ich mich mit ihren Gedanken vertraut, die in ihrer Gesamtheit als Kritische Theorie bekannt waren. In meinem letzten Jahr in Brandeis entschloß ich mich, ein Stipendium zu beantragen, um an der Universität Frankfurt Philosophie zu studieren. Marcuse bestärkte mich in der Überzeugung, daß ich bei meinem Interesse für Kant, Hegel und Marx dort am meisten lernen würde. Die verbleibenden Monate des Studienjahres verbrachte ich in intensiver Beschäftigung mit der Philosophie, der deutschen Sprache und den letzten Vorbereitungen für mein Universitätsexamen. Dazu gehörte auch eine ganzjährige Arbeit für ein Prädikatsexamen über die Phänomenologische Haltung, die ich in den Werken des zeitgenössischen französischen Romanschriftstellers Robbe-Grillet entdeckt zu haben glaubte. Der anspruchsvollste und erfreulichste Kurs war Marcuses Oberseminar über die Kritik der Reinen Vernunft. Wenn ich stundenlang über einer scheinbar unverständlichen Stelle grübelte und dann plötzlich ihren Sinn erfaßte, dann fühlte ich eine Befriedigung, wie sie mir noch nie zuteil geworden war.
Meine Eltern waren gar nicht glücklich, daß ich wieder das Land verlassen wollte, besonders da ich mich noch gar nicht entschieden hatte, wie lange ich in Deutschland zu bleiben gedachte. Trotzdem waren sie sehr stolz, bei den Abgangsfeierlichkeiten meinen Namen unter denen der Studenten mit Auszeichnung für hervorragende Leistungen zu hören. Ich gab meiner Mutter die Diplome, die Leistungsurkunden und die Medaillen, wir packten alles, was ich in den letzten vier Jahren angesammelt hatte, zusammen, setzten meine Freundin Celeste in Providence ab und fuhren auf der Autobahn nach Birmingham. Auf dem Weg hielten wir vor einer Weinhandlung, wo mein Vater mehrere Flaschen Bourbon Whisky kaufte, um sie mit nach Hause zu nehmen - in den staatlich kontrollierten Schnapsläden von Alabama konnte man nur die Marken bekommen, die von der Regierung genehmigt waren. (Wir dachten immer, ein Verwandter von Wallace müsse eine Brennerei besitzen, wo all die unbekannten Alkoholmarken fabriziert wurden, die man nirgendwo sonst als in Alabama zu sehen kriegte.) Wir überquerten die Grenze nach Tennessee spät am Abend; und weil wir wußten, daß wir bestimmt kein von Negern betriebenes Motel finden würden, wo wir die Nacht verbringen konnten, beschlossen wir, nach Birmingham durchzufahren. In einer jener kleinen Städte an der Autobahn durch Tennessee hörten wir nachts um zwei plötzlich hinter uns eine Sirene schrillen. Der fette, tabakkauende Polyp, der seinen weißen Tennessee-Singsang aus einem grotesken Lächeln purzeln ließ, sagte zu meinem Vater: »Sie wissen doch, daß Sie zu schnell fahren. Steigen Sie aus.« Dabei spielte er die ganze Zeit mit der Pistolentasche an seinem Gürtel. Mir fielen die Geschichten von Negern oder Weißen aus dem Norden ein, die manchmal wochenlang und manchmal für immer in diesen kleinstädtischen Gefängnissen verschwanden. Der Polyp durchsuchte den Vorderteil des Wagens und befahl dann meinem Vater, den Kofferraum zu öffnen. Als er alle die Handkoffer sah, schien er verblüfft und fragte sofort, wo wir herkämen. Nachdem ihm mein Vater gesagt hatte, daß er gerade den Abschlußfeierlichkeiten seiner Tochter im College beigewohnt hätte, nahm der Polyp eine weniger liederliche Haltung an und wurde offizieller. Aber als er den Whisky sah, begannen seine Augen zu glänzen. »Dies ist hier ein trockener Staat, wie ihr wißt. Nirgends in diesem Rechtsbereich ist Alkohol gestattet.« »Die Flaschen sind ungeöffnet, und wir sind auf der Durchreise«, beharrte mein Vater. »Macht nichts. Das Land ist trocken, und Alkohol ist auf keine Weise gestattet. Ihr könnt alle dreißig Tage dafür ins Gefängnis wandern. Und der Richter ist noch dazu verreist - kommt erst nächste Woche zurück. Sieht so aus, als müßt ihr alle ins Kittchen.« Als mein Vater davon sprach, daß er sich mit seinem Anwalt in Verbindung setzen wolle, sagte der Polyp- »Ich will euch was sagen. Tue euch 'n Gefallen. Behandle euch, wie ich meine Kumpels in der Gegend behandle. Steigt wieder ins Auto und fahrt mir nach.« Er trug den Whisky zum Polizeiauto. Da wir dachten, wir seien auf dem Weg zum Polizeirevier, und wußten, daß es tödlich sein würde, wenn wir zu entkommen suchten, folgten wir dem Polizeiauto durch die dunklen Straßen. Als wir anhielten, war nichts in der Gegend zu entdecken, was auch nur entfernt einem Polizeirevier ähnelte. Wir waren in einer ungepflasterten Einfahrt, und der Polyp öffnete eine Garagentür. Obwohl das nicht das ersternal war, daß wir in eine solche Lage gebracht worden waren, waren wir alle einigermaßen nervös. »Davis«, sagte meine Mutter, »ich glaube, du solltest da nicht reingehen. Man kann nie wissen, was er versuchen will.« Aber mein Vater hatte nicht die geringste Spur von Angst ja, ich habe eigentlich nie erlebt, daß er vor etwas Angst hatte. Er ging rein, während wir wie auf glühenden Kohlen im Auto war-teten. Nach - wie es uns vorkam Stunden kam er mit einem schiefen Lächeln auf seinem Gesicht wieder raus. Er ließ den Motor an und sagte uns kichernd: »Der Mann wollte nichts weiter als zwanzig Dollar und Schnaps.« Es war ein kleines Schiebergeschäft, das er wahrscheinlich immer versuchte, wenn er Schwarze Menschen traf, die durch die Stadt fuhren. Hätte man ihm die zwanzig Dollar nicht gegeben, dann wäre vermutlich die Alternative viel übler gewesen als »dreißig Tage im Gefängnis«.
Als ich das Schiff nach Deutschland bestieg, war Watts in Flammen. Ich fühlte wieder die Spannung des Januskopfes - das Land um diese Zeit zu verlassen, fiel mir schwer. Aber etwas über eine Woche später war ich auf der anderen Seite des Ozeans. Mein Stipendium deckte die Schiffsreise und betrug hundert Dollar im Monat - für Miete, Essen, Straßenbahngebühren zur Universität und zurück, Bücher und alles, was ich sonst noch brauchte. Als ich in der Stadt ein Zimmer suchte, sagten mir die Vermittlungsbüros: »Es tut uns leid, aber wir haben keine Zimmer für Ausländer.« Im Klartext sollte das heißen: »Unsere Zimmer sind nur für gute Arier.« Zwanzig Jahre sind vor der Geschichte nicht sehr viel - die Hälfte der Leute, die ich auf der Straße sah, und praktisch alle Erwachsenen, hatten Hitler miterlebt. Und im Gegensatz zur Deutschen Demokratischen Republik hatte es in Westdeutschland keinen entschlossenen Feldzug gegeben, um die faschistischen und rassistischen Gewohnheiten auszutreiben, die sich so tief eingenistet hatten. Schließlich, nachdem ich tagelang das Kleingedruckte in der Frankfurter Allgemeinen gelesen hatte, fand ich ein kleines Zimmer nicht weit vom Zoo im obersten Stock eines Wohnhauses aus der Nachkriegszeit - ähnlich dem Chambre de bonne, das ich in Paris bewohnt hatte. Die Familie, zu deren Wohnung dieses Zimmer gehörte, schien von der Masse der Westdeutschen eine Ausnahme zu bilden. Sie war neugierig und besorgt über den Zustand der Schwarzen Menschen in den Vereinigten Staaten, und sie versäumte nie, die angemessenen Parallelen zwischen der Verfolgung der Juden durch die Nazis und der Unterdrückung der Neger in den Vereinigten Staaten zu ziehen. Sie luden mich wiederholt zum Essen und zur Diskussion in ihre Wohnung ein. Am Anfang, als mein Deutsch noch nicht sehr geläufig war, halfen mir diese Diskussionen, mich in der Sprache zurechtzufinden.
In den ersten paar Wochen verstand ich kein Wort von dem, was Adorno sagte. Nicht nur waren seine Gedankengänge schwer zu verstehen, sondern er sprach auch seine höchsteigene aphoristische Variation des Deutschen. Es war tröstlich, daß die meisten deutschen Studenten, die zum erstenmal seine Vorlesungen hörten, fast ebenso große Mühe hatten, Adorno zu verstehen wie ich. Ich traf alte Freunde von früheren Reisen nach Europa und schloß auch neue Freundschaften. Es war eine große Erleichterung, daß nicht weit von mir ein junger Schwarzer Mann aus Indiana wohnte, der als G. I. in Frankfurt stationiert gewesen war und sich entschlossen hatte zu bleiben und seine Literaturstudien an der Universität weiterzuf ühren. Wir waren, solange ich in Deutschland blieb, gut befreundet. Ich freundete mich auch mit einer Gruppe haitischer Studenten an, einem Schwarzen Südafrikaner und zwei Ehepaaren, die wie ich aus den Vereinigten Staaten angereist waren, um bei Adorno zu studieren. Ich zahlte für mein Zimmer achtzig Mark im Monat - praktisch ein Viertel von den hundert Dollar, von denen ich leben mußte. Ziemlich regelmäßig war ich am Ende des Monats bei einer Quarkdiät gelandet (Quark ist etwas zwischen Joghurt und weißem Käse) und schrieb an meine Eltern um ein paar Dollar, die mich über die Zeit hinüberretten sollten, bis der nächste Wechsel eintraf.
Ich war sehr erleichtert, als ich ein Zimmer in der Adalbertstraße fand, nahe der Universität, das nur ein paar Mark im Monat kostete. Es lag in einem massigen alten Gebäude aus brökelndem Backstein, einer alten Fabrik, die, wie ich mir vorstelle, der Eigentümer vermietete, um sich die Bezahlung einer Wache zu sparen. Die drei Stockwerke der einen Seite waren von einem Bildhauer belegt, der riesige abstrakte Metallgebilde schuf, die er im Hof aufstellte. Die Seite, in die ich einzog, war von einer Gruppe Studenten übernommen worden, die alle so arm waren wie ich. Die ganze Seite kostete uns 75,- DM im Monat und konnte in den kleinen Räumen, die zur Zeit, als die Fabrik noch lief, als Büros gedient hatten, bequem bis zu fünf Personen beherbergen. Es war ein verwahrlostes altes ausrangiertes Gebäude mit schmutzigen Zernentfußböden, keiner Dusche, nicht einmal heißem Wasser und ohne Zentralheizung, nur dickbäuchige Kohleöfen gab es. Da ich aber monatlich nur fünf Dollar Miete bezahlte, und in den Wintermonaten ein paar Dollar zusätzlich für Kohle, konnte ich mir leisten, ein bißchen besser zu essen - konnte mir sogar an zwei Tagen der Woche Fleisch leisten - und war imstande, mehr Bücher und hin und wieder auch eine Bluse zu kaufen.
Da in ganz Europa die Studenten kulturelle Darbietungen zu sehr ermäßigten Preisen besuchen können, konnte ich für etwa fünfzig Cents einen Film sehen oder ins Theater, in die Oper, zum Ballett oder ins Museum gehen. Im Frühjahr meines ersten Jahres in Frankfurt wurde allen Studenten, die ihre Stipendien vom Austauschprogramm bezogen, eine Reise nach Berlin bezahlt. Da ich gespannt war, das Sozialistische Deutschland kennenzulernen, verbrachte ich den größten Teil der Zeit in Berlin, der Hauptstadt der DDR. Jeden Tag ging ich am Checkpoint Charlie - der übergangsstelle für Leute mit Pässen von kapitalistischen Ländern - auf die andere Seite. Weiße Touristen aus den Vereinigten Staaten standen massenweise Schlange und warteten wahrscheinlich darauf, die Grenze zu überschreiten, um jedermann zu erzählen, sie hätten die andere Seite der »Mauer« gesehen - so konnten sie mit Kennedys kriegsträchtigen Worten sagen: »Ich bin ein Berliner«, das heißt, ich bin bereit, den Kommunismus zu bekämpfen. Die Touristen beschwerten sich immer über die lange Wartezeit. Aber ich hatte nie Schwierigkeiten jedesmal, wenn ich hinüberwollte, erhielt ich schon wenige Augenblicke, nachdem ich meinen Paß gezeigt hatte, das Zeichen, weiterzugehen. Das war ihre Art, Solidarität mit den Schwarzen Menschen zu beweisen. Claudia und Margaret Burnhams Stiefbruder Bob war vor kurzem durch Frankfurt gekommen, hatte einige Tage in der »Fabrik« gewohnt und war dann weitergefahren, um im Brecht-Ensernble-Theater Berliner zu studieren. Durch ihn lernte ich einige Leute in der DDR kennen, die mir die Stadt zeigten. In Bobs Haus lebte eine Gruppe Kubaner - der Direktor des nationalen Balletts und einige seiner Gehilfen. Ich war verblüfft über ihre Jugend - der Direktor war Anfang zwanzig, und die übrigen etwa ebenso alt. Sie sprachen von ihren Versuchen, das afrikanische Element der kubanischen Kultur in größerem Umfang in ihre klassischen Tänze einzubeziehen, und beschrieben ihre Methoden, die alten Yor-ubaTänze wieder aufleben zu lassen, die vor der Revolution nur noch in abgelegenen Teilen des Landes getanzt worden Waren, dort wo die Schwarzen Menschen noch die afrikanischen Bräuche beibehalten hatten. Esther und James Jackson, alte Freunde meiner Eltern aus Birmingham, waren damals in Berlin. Jim war Direktor für Internationale Beziehungen in der Kommunistischen Partei der Vereinigten Staaten und vertrat die Partei bei den Maifeierlichkeiten. Ich verbrachte einen Abend mit ihm. Wir sprachen von den alten Zeiten, als Jim untergetaucht war, und wie verstört ich als Kind gewesen war, als diese unheimlichen weißen Männer uns auf der Suche nach ihm in ganz New York verfolgt hatten; Jim war einer der Glücklichen, deren die FBI niemals habhaft wurde. Wir besprachen die sozialistische Wandlung in der DDR und ihren aktiven Kampf gegen Überreste faschistischer Mentalität in den Köpfen der Bevölkerung.
Den nächsten Tag sah ich mir die Parade an, nahm an den Feiern zum 1. Mai teil und ging dann zurück durch Checkpoint Charlie, um mein Flugzeug nach Frankfurt zu erreichen. Als die westdeutsche Polizei auf dem Flughafen sagte, sie müsse mich festhalten, war ich sicher, daß man mir vorwerfen würde, ich sei zu eng mit der Bevölkerung der DDR befreundet - womit sie natürlich recht gehabt hätte. Aber wie die Beamten es darstellten, wollten sie mich nicht in mein Flugzeug lassen, weil ich mich bei der Frankfurter Polizei nicht abgemeldet hatte, als ich vor Monaten aus dem Zimmer in der Nähe des Zoo ausgezogen war, und weil ich mich in dem Polizeirevier, zu dem die Fabrik gehörte, nicht angemeldet hatte. Ich habe mich nie an die unglaubliche Bürokratie gewöhnen können, in die man verwickelt wird, wenn man nichts weiter will, als ein gewöhnliches Leben führen. Jeder, Staatsbürger oder Ausländer, der nicht beim nächsten Polizeirevier gemeldet war - und an solchen gab es keinen Mangel - war technisch mit Verhaftung bedroht - auch wenn er nur ein paar Tage bei Freunden zu Besuch war. Obwohl ich mich gemeldet hatte, als ich in mein erstes Zimmer zog, war es mir nicht eingefallen, der Polizei mitzuteilen, daß ich auszog (das nennt man Abmeldung) und dann eine neue Anmeldung im Polizeirevier der Adalbertstraße vorzunehmen. Der Westberliner Polizei war es ernst: sie sprachen davon, mich auszuweisen. Es dauerte einige Stunden, bis ich ihnen beibringen konnte, daß meine Unterlassung ganz unschuldig sei. Nachdem alles vorüber war und sie die Ausweisungsdrohung über mir schweben ließen, bis ich am nächsten Tag bei der Frankfurter Polizei alles ins reine gebracht hätte, war ich doch immer noch sicher, daß dieser Schreckschuß eine kleine Vergeltungsaktion für meinen Ausflug in die DDR gewesen war.
Frankfurt war ein sehr intensives Lernerlebnis. Anregende Vorlesungen und Seminare bei Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas, Professor Haag, Alfred Schmidt und Oskar Negt. Dabei behandelten wir gewaltige Werke wie zum Beispiel alle drei Kritiken von Kant, und außerdem noch die Werke von Hegel und Marx (in einem Seminar ging das ganze Semester mit der Analyse von etwa zwanzig Seiten in Hegels Logik drauf). Die meisten Studenten in der Fabrik studierten entweder Philosophie oder Soziologie. Viele waren Mitglieder des SDS -- Sozialistischer Deutscher Studentenbund. Und sie bemühten sich sehr ernsthaft, irgendeine Form des praktischen Widerstands zu entwickeln, der letzten Endes das feindliche System stürzen könnte. Abgesehen davon, daß sie sich mit den sozialen Widersprüchen im eigenen Land auseinandersetzten, versuchten sie beharrlich, bei ihren Mitgliedern ein internationales Bewußtsein zu wecken. Ich nahm an Versammlungen und Demonstrationen gegen die amerikanische Aggression in Vietnam teil. Diejenigen von uns, die keine deutschen Staatsbürger waren, mußten besonders auf der Hut sein, weil eine Verhaftung bestimmt die Ausweisung zur Folge gehabt hätte. Eine Demonstration, die vor der amerikanischen Botschaft stattfand, war besonders gefährlich. Als die Sprechchöre der Demonstranten riefen »U. S. raus, U. S. raus, U. S. raus aus Vietnam« und »Ho, Ho, Ho Chi Minh« wurden sie fast sofort von berittener Polizei angegriffen. Eine junge Frau geriet unter die Hufe der Pferde. Da es vorher abgesprochen war, daß wir uns dem erwarteten Angriff widersetzen wollten, wurde die verwirrende Taktik von Angriff und Rückzug angewandt. Es war so gedacht, daß man die Hauptstraße, die zum Zentrum der Stadt führte, entlangzog und damit den Straßenbahnverkehr lahmlegte. Während die Masse der Dernonstranten auf beiden Seiten der Straße auf dem Bürgersteig ging, trennten sich einige in regelmäßigen Abständen von ihrer Gruppe und setzten sich auf die Straßenbahnschienen. Wenn sie die Polizei kommen sahen, warteten sie bis zum letzten Augenblick und nahmen dann wieder in der Masse ihre Zuflucht. Das gelang nicht allen. Als ich an der Reihe war, mich zu setzen und dann zu rennen, mußte ich mich sehr sputen, um wieder schnell genug in der Masse unterzutauchen, denn ich wollte nicht in Westdeutschland vor Gericht gestellt werden. Nach mehreren Stunden Sitzen und Rennen und einer beträchtlichen Anzahl von Verhaftungen gelangten wir zur Hauptwache, dem Mittelpunkt der Stadt, und hörten eine zündende Ansprache von Rudi Dutschke an, dem Führer des SDS, der später von einem durch die Ermordung Martin Luther Kings inspirierten Attentäter in den Kopf geschossen wurde.
Gegen Ende meines zweiten Jahres wurde eine studentische Massenkundgebung gegen den Besuch des Schahs von Persien von den Sicherheitsgarden des Schahs, unter Beihilfe der Westberliner Polizei, mit SOIcher Gewalt angegriffen, daß sie zum Tod eines Studenten führte Benno Ohnesorge, der zum erstennial an einer politischen Protestkundgebung teilgenommen hatte. Die Reaktion in ganz Deutschland war rasch und stark. In Frankfurt gab es Massenkundgebungen, Demonstrationen und Teach-ins. Von dem wachen Bewußtsein der Studentenbewegung war ich am meisten beeindruckt, als ich von der vom SDS geleiteten Berliner Kampagne gegen den Film Africa Addio hörte, der unter der Regie von zwei römischen Playboy-Typen schilderte, wie die Kolonialisten aus Afrika vertrieben wurden. Der Film war nicht nur durch und durch rassistisch, indem er die afrikanischen Freiheitskämpfer als Angreifer auf die reinen, gebildeten und kultivierten Weißen darstellte, sondern die Regisseure gingen so weit, tatsächliche Mordzüge zu inszenieren, um so an Ort und Stelle ein dokumentarisches Bild von Afrika zu gewinnen. SDS-Mitglieder in Berlin verwüsteten ein Filmtheater, das sich weigerte, den Film zu boykottieren. Massenweise wurden in Deutschland Studenten und Arbeiter in die Arena des politischen Protestes hineingezogen. Zu gleicher Zeit ereigneten sich große Erschütterungen in den Vereinigten Staaten. Die Entscheidung, in Frankfurt zu studieren, hatte ich im Jahr 1964 getroffen, als in den Staaten verhältnismäßige Ruhe herrschte. Aber als ich im Jahr 1965 von dort abfuhr, schrien Tausende von Brüdern und Schwestern in Los Angeles, daß sie die Spielregeln lange genug, ja zu lange, eingehalten hätten. Watts explodierte und brannte in hellen Flammen. Und aus der Asche von Watts wurde wie ein Phönix ein neuer Schwarzer Kampfgeist geboren.
Während ich fern in Deutschland war, machte die Schwarze Freiheitsbewegung entscheidende Wandlungen durch. Der Wahlspruch »Black Power« wurde bei einem Marsch in Mississippi geboren. Ganze Organisationen änderten ihr Gesicht - der Studentenausschuß für gewaltlose Gleichordnung, eine führende Organisation zur Durchsetzung der Bürgerrechte, wurde zum lautesten Fürsprecher der »Black Power«. Der Kongreß für die Gleichheit der Rassen machte ähnliche Wandlungen durch. In Newark hatte sich eine Nationale BlackPowerKonferenz organisiert. In politischen Gruppen, Gewerkschaften, Kirchen und anderen Organisationen bildeten sich Zellen der Black Power, um die besonderen Interessen der Schwarzen zu verteidigen. überall gab es Aufruhr. Während ich in Frankfurt Philosophie las und im Umkreis des SDS tätig war, gab es junge Schwarze Männer in Oakland, Kalifomien, die beschlossen hatten, Waff en zu gebrauchen, um die Bewohner der Negerstadt in Oakland gegen die wahllose Brutalität der Polizei zu schützen, die in dem Viertel hauste wie die Vandalen. Huey Newton, Bobby Seale, Ii'l Bobby Hutton - das waren einige der Namen, die zu mir drangen. Eines Tages las ich in Frankfurt, daß sie bewaffnet in das kalifornische Parlamentsgebäude in Sacramento eingedrungen seien, um ihr Recht, Waffen als Werkzeug der Selbstverteidigung zu tragen (ein Recht, das allen Weißen zustand), zu demonstrieren.
Der Name dieser Organisation war die »Schwarze-Panther-Partei für Selbstverteidigung«. Je mehr die Kämpfe in der Heimat sich häuften, desto frustrierter fühlte ich mich, da ich dies alles nur stellvertretend miterlebte. Ich trieb meine Studien voran, vertiefte mein Verständnis für Philosophie, aber ich fühlte mich immer mehr vereinsamt. Ich war so weit weg von dem Kampfgebiet, daß ich nicht einmal die einzelnen Phasen des Kampfes analysieren konnte. Ich hatte weder genug Wissen noch genug Einsicht, um beurteilen zu können, welche Strömungen der Bewegung fortschrittlich und echt waren und welche nicht. Es war ein schwieriges Gleichgewicht, das ich zu halten suchte, und es wurde für mich immer schwerer, mich als Teil der kollektiven Bewußtwerdung meines Volkes zu empfinden. Ich bin sicher, daß meine Gefühle nur eine Abwandlung und Spiegelung von Gefühlen waren, die immer größere Mengen von Schwarzen Menschen im Ausland überkamen. Auch für viele andere von uns, die davon lasen, daß in der Heimat eine neue Krise im Kampf ausgebrochen war, muß es ebenso schmerzlich gewesen sein, nur aus zweiter Hand davon zu erfahren. Mir kam es so vor, als sei mein Dilemma nicht mehr zu überbieten: der Kampf in der Heimat einerseits und andererseits die Notwendigkeit, bis zum Doktorexamen in Frankfurt zu bleiben, denn sicher war Frankfurt am besten für das Philosophische Studium geeignet.
Aber von Tag zu Tag wurde mir klarer, daß meine Fähigkeit, etwas zu leisten, unmittelbar von meiner Fähigkeit abhing, etwas Konkretes zum Kampf beizutragen. Adorno hatte sich gern bereit erklärt, mir die Richtlinien für meine Doktorarbeit zu geben. Aber jetzt merkte ich, daß es mir nicht mehr möglich war, in Deutschland zu bleiben. Ich bat um eine Unterredung mit Adorno im Institut und erklärte ihm, daß ich nach Hause müsse. Mareuse hatte sich bereits brieflich verpflichtet, mit mir an der Universität von Kalifornien in San Diego zu arbeiten, wo er einen Lehrstuhl angenommen hatte, nachdem man ihn aus politischen Gründen praktisch von Brandeis fortgeekelt hatte. Ich wollte meine akademische Arbeit fortsetzen, wußte aber, daß ich das nur konnte, wenn ich politisch engagiert war. Der Kampf war ein Lebensnerv; die einzige Hoffnung für unser Fortbestehen. Ich hatte mich entschieden. Die Reise stand bevor.