Felsen

ich hab eine Heimstatt in jenem Felsen
siehst du's nicht

Das große weiße Haus oben auf dem Hügel lag nicht weit von unserer alten Wohngegend, aber dieser Abstand ließ sich nicht in Straßenzügen messen. Die von der Regierung gebaute Siedlung an der Eighth Avenue, wo wir bisher gewohnt hatten, war eine Straße mit kleinen roten Backsteingebäuden - keins unterschied sich von den anderen. Nur selten gab es Lücken in dem Zement, mit dem diese Backsteinhütten rings umgeben waren, man sah kaum Flecken von Grün. Raum und Erde fehlten, so konnte man nichts pflanzen, was Frucht oder Blüten trug. Aber Freunde hatte es da gegeben - und Freundlichkeit. Im Jahre 1948 zogen wir aus dieser Siedlung in Birmingham, Alabama, in das große Holzhaus in der Center Street. Meine Eltern wohnen immer noch dort. Seine Türmchen und Giebel und die abblätternde Farbe hatten dem Haus den Ruf eingetragen, daß es darin spuke. Hinter ihm war ein wildes Gehölz mit Feigenbäumen, Brombeersträuchern und großen wilden Kirschbäumen. Auf der einen Seite des Hauses stand ein riesiger Zigarrenbaum. Dort gab es massenhaft Platz und keinen Zement. Die Straße selbst war ein Streifen von dem für Alabama typischen orangeroten Lehm. Es war das ausgefallenste Haus der Gegend - nicht nur wegen seiner seltsamen Architektur, sondern weil es weit und breit das einzige Haus war, das nicht von den Feindschaften der Weißen erfüllt war. Wir waren die erste Negerfamilie, die in diesen Bezirk einzog, und die Weißen glaubten, daß wir die Vorhut einer Masseninvasion seien. Schon im Alter von vier Jahren merkte ich, daß die Leute auf der anderen Straßenseite anders waren - ohne ihr fremdes Wesen mit ihrer Hautfarbe in Verbindung bringen zu können. Was sie von unseren Nachbarn in der Siedlung unterschied, war der Mißmut in ihren Gesichtern, die Art, wie sie etwa dreißig Meter entfernt dastanden und wütend zu uns herübersahen, ihre Weigerung zu antworten, wenn wir ihnen »guten Tag« sagten. Ein älteres Ehepaar auf der gegenüberliegenden Straßenseite, die Montees, saßen die ganze Zeit auf ihrer Porch, und ihre Augen waren schwer von Feindschaft. Fast unmittelbar nach unserem Einzug taten sich die Weißen zusammen und vereinbarten eine Grenzlinie zwischen sich und uns. Die Center Street wurde diese Grenzlinie. Wenn wir auf »unserer« Seite der Linie blieben (der Ostseite), dann, so teilten sie uns mit, würden sie uns in Frieden lassen. Falls wir jedoch jemals auf ihre Seite hinüberwechseln sollten, würde Krieg zwischen uns herrschen. In unserem Haus waren Waffen versteckt, und wir waren dauernd auf unsrer Hut.
{{159-3-1}}Etwa zwanzig Meter von diesem Haß entfernt führten wir unser tägliches Leben. Meine Mutter, die sich von ihrer Lehrtätigkeit hatte beurlauben lassen, kümmerte sich um meinen jüngeren Bruder Benny, während sie der Entbindung von einem anderen Kind, meiner Schwester Fania, entgegensah. Mein Vater fuhr seinen alten orangefarbenen Lieferwagen jeden Morgen zur Tankstelle, nachdem er mich im Kindergarten abgesetzt hatte. Dieser lag unmittelbar neben der Kinderklinik - einem alten Holzbau, in dem ich geboren worden war, und in dem man mir im Alter von zwei Jahren die Mandeln entfernt hatte. Ich war von den weißgekleideten Menschen fasziniert und versuchte, mehr Zeit in der Klinik als im Kindergarten zuzubringen. Ich war fest entschlossen, Ärztin zu werden Kinderärztin.
Kurz nachdem wir auf den Hügel gezogen waren, begannen die Weißen aus dem Bezirk auszuziehen, während Negerfamilien einzogen, alte Häuser kauften und neue bauten. Ein Schwarzer Pfarrer und seine Frau, die Deyaberts, überquerten die Trennungslinie ins weiße Territorium und kauften das Haus gleich neben den Montees, den Leuten mit den haßerfüllten Augen. Es war ein Abend im Frühjahr 1949. Ich war im Badezimmer und wusch meine weißen Schnürsenkel für die Sonntagsschule am nächsten Morgen, als eine Explosion, hundertmal lauter als der lauteste, schrecklichste Donnerschlag, den ich je gehört hatte, unser Haus erschütterte. Medizinflaschen fielen von den Regalen und zerbrachen rings um mich her. Der Fußboden schien unter meinen Füßen zu weichen, als ich in die Küche und in die Arme meiner verängstigten Mutter rannte. Scharen von zornigen Schwarzen Menschen kamen den Hügel herauf, stellten sich auf »unsere« Seite und starrten auf die Ruinen des bombenzerstörten Deyabert-Hauses. Bis spät in die Nacht sprachen sie vom Tod, vom Haß der Weißen, vom Tod, von weißen Menschen und wiederum vom Tod. Aber von ihrer eigenen Furcht sagten sie nichts. Anscheinend gab es sie nicht, denn Schwarze Familien zogen weiter in unserer Nähe ein. Die Bombenanschläge wurden eine so übliche Reaktion, daß unsere Gegend bald den Spitznamen »Dynamit-Hügel« erhielt.
Je mehr unsere Wohngegend der Gewalt anheimfiel, desto entschlossener versuchten meine Eltern, mir beizubringen, daß der Kampf weiß gegen Schwarz kein Naturgesetz sei. Im Gegenteil, sagte meine Mutter immer, das Gottesgebot sei Liebe. Der Haß der Weißen gegen uns sei weder natürlich noch ewig. Sie wußte, wenn ich ans Telefon ging und ihr zurief: »Mammi, eine weiße Dame möchte mit dir sprechen«, dann beschrieb ich nicht nur die sonderbar gedehnte Sprechweise. Immer wenn ich »weiße Dame« oder »weißer Mann« sagte, klang Zorn in meinen Worten. Meine Mutter versuchte, den Zorn durch Vernunft, zu tilgen. In ihrem Leben war sie mit weißen Menschen zusammengetroffen, die sich ernsthaft bemühten, die Beziehungen der Rassen zueinander zu verbessern. Obwohl sie in Alabama auf dem Land aufgewachsen war, hatte sie als Studentin in antirassistischen Bewegungen mitgewirkt. Sie hatte darum gekämpft, die Jungen von Scottsboro zu befreien, und an diesem Kampf hatten sich auch Weiße - darunter einige Kommunisten - beteiligt. Durch ihre eigene politische Tätigkeit hatte sie gelernt, daß es weißen Menschen möglich war, aus ihrer Haut »auszusteigen« und mit der Integrität menschlicher Wesen zu reagieren. Sie gab sich alle Mühe, daß ihr kleines Mädchen - das so voller Haß und Verwirrung war - die Weißen nicht so sehr als das sah, was sie waren, sondern was sie sein konnten. Sie wollte nicht, daß ich nur an die Waffen dachte, die in den Schubladen versteckt waren, oder an die weinenden Schwarzen Frauen, die um Hilfe schreiend an unsere Tür kamen, sondern auch an eine künftige Welt voller Harmonie und Gleichheit. Ich wußte nicht, wovon sie redete. Als so viele Negerfamilien auf den Hügel gezogen waren, daß ich eine Gruppe von Freunden hatte, entwickelten wir unsere eigene Methode, um unser Selbstgefühl zu verteidigen. Unsere Waffe war das Wort. Wir versammelten uns auf dem Rasen vor meinem Haus, warteten, bis ein Auto mit Weißen vorbeifuhr und schrien die schlimmsten Beschimpfungen für Weiße, die wir kannten: Hungerleider, Landjokel. Dann lachten wir hysterisch über die erstaunten Gesichter. Diesen Zeitvertreib verheimlichte ich meinen Eltern. Sie konnten nicht wissen, wie wichtig es für mich und für uns alle war, die wir den Rassismus gerade entdeckt hatten, Mittel zu finden, um unsere Würde zu wahren.
Seit unserer frühen Jugend gingen wir Kinder zur alten Familienfarm in Marengo County. Unsere Großeltern väterlicherseits und die Familie meines Onkels Henry lebten auf demselben Stück Land in einer alten verwitterten, ungestrichenen Hütte, ähnlich der, in welcher mein Vater und alle seine Geschwister geboren worden waren. Ein Besuch auf dem Land war wie eine Reise rückwärts in die Geschichte; es war eine Rückkehr zu unseren Anfängen. Hätte ein Herrenhaus in der Nähe gestanden, dann hätte ihre Hütte ohne weiteres ein Sklavenschuppen von vor hundert Jahren sein können. Das Häuschen hatte zwei kleine Schlafzimmer, eine Küche im hinteren Teil und einen Gemeinschaftsraum, wo wir Kinder auf Decken schliefen, die auf dem Boden ausgebreitet wurden. Statt elektrischem Licht gab es Petroleumlampen für die wenigen Stunden der Dunkelheit, ehe wir zu Bett gingen. Statt einer Wasserleitung gab es draußen einen Brunnen, wo wir unser Trinkwasser und das Wasser holten, das wir über einem offenen Feuer für unser wöchentliches Bad in riesigen Metallwannen heiß machten. Vor dem Aborthaus hatte ich, als ich noch sehr klein war, Angst, deshalb erledigte ich mein kleines Geschäft in einen weißen Emailletopf und ging für das große Geschäft lieber ins Gebüsch, als daß ich das übelriechende Häuschen mit dem Loch im Holzbrett betrat, wo man unten den ganzen Kot schwimmen sah.
Die Familie aß gut; ich begriff damals noch nicht, daß das wahrscheinlich eine der wenigen Freuden in einem Leben war, das von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang aus Arbeit bestand. Danach war man dann so erschöpft, daß man nur daran denken konnte, für die Arbeit des nächsten Tages neue Kräfte zu sammeln. Als Kind auf der Farm konnte ich zwischen Arbeit und Spiel nicht unterscheiden, weil die dortige Arbeit mir neu und ich nicht gezwungen war, sie die ganze Zeit zu verrichten. Wenn ich die Hühner fütterte, mußte ich darüber lachen, wie sie nach dem Futter rannten und es herunterschlangen. Wenn ich die Eier einsammelte, den Schweinen ihren Fraß vorsetzte, die Kühe melkte und die Arbeitspferde zur Schwemme führte, dann machte mir das Spaß. Die Fahrt aufs Land, zu den grünen, offenen Weiten der Baumwoll- und Tabakfelder war wie eine Fahrt zu meiner Vision des Paradieses. Ich liebte es, barfuß hinter den Hühnern herzulaufen, ohne Sattel auf den Arbeitspferden zu reiten und in den frühen Morgenstunden die paar Kühe auf die Weide zu treiben. Die einzigen Vergnügen, die mit der Landarbeit überhaupt nichts zu tun hatten, waren das erfrischende Bad im nahegelegenen Bach und die aufregenden Ausflüge ins Sumpfland, um diese wunderbare, von bizarren, kriechenden, schleimigen Kreaturen bewohnte Welt zu erkunden. Jeden Sonntag, wenn wir aus der kleinen hölzernen Kirche, die einige Meilen entfernt an derselben Straße lag, zurückkehrten, gab es Brathühner und im Holzofen gebackene, mit handgemachter Butter bestrichene Biskuits, dazu Kohl und Süßkartoffeln vom Feld und frische süße Milch von den Kühen im Stall. Als ich etwa zwölf Jahre alt war, starb meine Großmutter. Sie hatte eine Zeit lang bei uns in Birmingham gewohnt, war dann aber nach Kalifornien gezogen, um umschichtig bei den Geschwistern meines Vaters zu wohnen, die zur Westküste gewandert waren, um nach dem sagenhaften Glück zu suchen, das dort die Neger erwartete. Ihre Leiche wurde nach Marengo County in Alabama überführt, um in ihrem kleinen Heimatort Linden eingesegnet und beigesetzt zu werden. Ihr Tod war für mich ein fürchterlicher Schlag, denn sie war mir immer als Symbol der Kraft, des Alters, der Weisheit und des Leidens erschienen. Wir hatten von ihr gelernt, was die Sklaverei gewesen war. Sie war nur wenige Jahre nach der Proklamation der Sklavenbefreiung geboren, und ihre Eltern waren noch Sklaven gewesen. Sie wollte, daß wir das nicht vergaßen. Als man uns in der Schule von Harriet Tubman und der sogenannten »Unterirdischen Eisenbahn« erzählte, war es immer das Bild meiner Großmutter, das mir in den Sinn kam. Ich hatte mir die Endgültigkeit des Todes noch nicht zu eigen gemacht, und so schwebte mir nebelhaft der Gedanke an ein Leben nach dem Tode vor. Daher hatte ich inmitten des verzweifelten Weinens und Jammerns beim Begräbnis Visionen von meiner Großmutter, die mit Harriet Tubman eins wurde, um von dort oben friedfertig auf die Geschehnisse in dieser Welt herabzublicken. Wurde sie nicht dort in den Boden gesenkt, wo unsere Vorfahren für die Freiheit gekämpft hatten? Nach ihrem Begräbnis erhielt das alte Farmland für mich eine unaussprechliche, ehrfurchtgebietende Dimension: es wurde zur Bühne, auf der die Geschichte meines Volkes ausgetragen worden war. Und meine Großmutter wurde im Tode heroischer. Ich fühlte mich in dieser neuen Welt, in die sie eingegangen war, mit ihr in seltsamer, irgendwie religiöser Weise unlösbar verbunden.
{{159-3-2}}In dem Sommer, bevor ich zur Schule ging, verbrachte ich mehrere Monate bei der Familie Margaret Burnhams in New York. Verglichen mit Birmingham war New York Camelot. Es war ein verzauberter Sommer, ich besuchte Zoos, Parks, den Meeresstrand, spielte mit Margaret, ihrer älteren Schwester Claudia und ihren Freundinnen, die Neger, Puertorikaner und Weiße waren. Mit meiner Tante Elisabeth fuhr ich im Bus und saß auf dem Platz unmittelbar hinter dem Fahrer. Dieser Sommer in New York brachte mir die Rassentrennung, der ich zu Hause ausgesetzt war, deutlicher zum Bewußtsein. Wieder zu Hause in Birmingham machte ich mich bei meiner ersten Busfahrt von meiner Teenager-Kusine Snookie los und rannte zu meinem Lieblingssitz direkt hinter dem Fahrer. Zuerst versuchte sie mich von dort wegzulotsen, indem sie mir fröhlich vorschlug, mit ihr einen Platz im hinteren Teil des Busses einzunehmen. Aber ich wußte, wo ich sitzen wollte. Als sie darauf bestand, daß ich aufstehen müßte, wollte ich wissen warum. Sie wußte nicht, wie sie's erklären sollte. Ich nehme an, daß sich die Weißen über ihr Dilemma amüsierten; und die Schwarzen waren vielleicht ein wenig verlegen, daß sie sich selber fügten. Meine Kusine war bestürzt; sie war der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und hatte keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollte. In ihrer Verzweiflung flüsterte sie mir ins Ohr, daß sich hinten eine Toilette befände, und wenn wir uns nicht beeilten, könnte ihr etwas Schlimmes passieren. Als wir zum hinteren Teil gelangten und ich sah, daß sich dort keine Toilette befand, war ich zornig, nicht nur weil man mich betrogen und ich meinen Platz verloren hatte, sondern auch, weil ich nicht wußte, wer oder was daran schuld war.
Nahe der Tankstelle meines Vaters in der Stadt war ein Kino namens »Alabama«. Es erinnerte mich an die Kinos in New York. Tag und Nacht glitzerte die Fassade des Gebäudes von hellen Neonlichtern. Ein üppiger roter Teppich erstreckte sich bis auf den Bürgersteig. Samstags und sonntags standen auf dem Baldachin immer die Titel der neuesten Kinderfilme. Wenn wir vorbeigingen, drängten sich dann blondhaarige Kinder mit ihren böse aussehenden Müttern um die Kinokasse. Wir waren im »Alabama« nicht zugelassen - unsere Filmtheater waren das »Carver« und das in der Eighth Avenue, und das beste, was wir in ihren von Kakerlaken verseuchten Zuschauerräumen erwarten konnten, waren Wiederholungen von Tarzanfilmen. »Wenn wir doch nur in New York lebten...«, war mein steter Gedanke. Wenn wir am Vergnügungspark auf dem Ausstellungsgelände von Birmingham vorbeifuhren, wo nur weiße Kinder Zutritt hatten, dachte ich an den Spaß, den wir in Coney Island bei New York gehabt hatten. Wenn uns im Stadtbezirk von Birmingham der Hunger überfiel, mußten wir warten, bis wir ein Negerviertel erreicht hatten, weil die Restaurants und Imbißstuben den Weißen vorbehalten waren. In New York konnten wir uns überall ein heißes Würstchen kaufen. Wenn wir in Birmingham auf die Toilette mußten oder Wasser trinken wollten, mußten wir ein Schild mit der Aufschrift »Farbige« suchen. Im Süden lernten die Negerkinder meiner Generation die Wörter »Farbige« und »Weiße« viel eher lesen als etwa »Schau, Dick, schau«. Ich hatte mir angewöhnt, New York als eine Verschmelzung der beiden Reiche anzusehen, einen Ort, wo die Neger von den Beschränkungen des südlichen Rassismus verhältnismäßig frei waren. Aber bei späteren Besuchen erhielt das Bild der rassischen Harmonie durch mehrere Vorfälle häßliche Flecken. Zwischen meinem siebten und zehnten Lebensjahr verbrachte ich meistens einen Teil des Sommers in der Stadt. Meine Mutter, die sich auf das pädagogische Magisterexamen vorbereitete, studierte während des Sommers an der Universität von New York. Ihre Kinder nahm sie immer mit. Zum Freundeskreis meiner Mutter gehörte ein Ehepaar, das durch seine vergeblichen Bemühungen, eine Wohnung zu finden, sich und seine Freunde zur Verzweiflung brachte. Nachdem ich mir mehrere unklare Erklärungen zu diesem Thema angehört hatte, gelang es mir schließlich, den Erwachsenen den wahren Grund für dieses Dilemma abzuluchsen: Sie war Schwarz, und er war weiß.
Eine andere Situation in New York stand in noch krasserem Widerspruch zum Mythos von der sozialen Harmonie und Gerechtigkeit. Als ich etwa acht Jahre alt war, hatte die Macht McCarthys ihren Höhepunkt erreicht. Zu den Kommunisten, die gezwungen waren, unterzutauchen, gehörte auch James Jackson, den meine Eltern noch von damals kannten, als er und seine Familie in Birmingham lebten. Ich begriff nicht wirklich, was sich zu jener Zeit abspielte, ich wußte nur, daß die. Polizei hinter dem Vater meiner Freundin Harriet her war. Immer wenn ich mit den Jackson-Kindern zusammentraf, zeigten sie mir die Männer, die ihnen folgten und niemals weiter als einen halben Straßenblock weg waren. Es waren streng aussehende weiße Männer, die selbst beim heißesten Wetter Anzüge trugen. Sie begannen sogar, unserer Familie zu folgen, und unterzogen nachher alle, die wir während des Tages besucht hatten, einem Verhör. Warum fahndeten sie nach dem Vater meiner Freundin? Er hatte nichts Unrechtes getan, er hatte kein Verbrechen begangen - aber er war Neger, und er war Kommunist. Da ich zu jung war, um zu wissen, was ein Kommunist ist, begriff ich auch nicht die Bedeutung von McCarthys Hexenjagd. Folglich verstand ich nur, was meine Augen sahen: böse weiße Männer, erpicht, einen unschuldigen Schwarzen Mann zu fangen. Und zwar nicht im Süden, sondern in New York, dem Musterbeispiel rassischer Brüderlichkeit.
Wie New York galt auch Kalifornien als viel fortschrittlicher als der Süden. Während meiner Kindheit hörte ich zahlreiche Geschichten über die goldenen Möglichkeiten, die den Negern an der Westküste offenstanden. In großen Pilgerzügen strömten die Armen und Arbeitslosen nach dem Westen. Ein Bruder meines Vaters und zwei seiner Schwestern hatten sich der Schwarzen Emigration nach dem Westen angeschlossen. Wir besuchten sie gelegentlich in Los Angeles.
Mehrere Verwandte von uns hatten sich einigen Wohlstand geschaffen. Eine meiner Tanten, die ins Grundstücksgeschäft eingestiegen war, kaufte sogar Land in den Bergen von Hollywood. Aber ein anderer Teil der Familie war in einer so verzweifelten Lage, daß er von der Wohlfahrt lebte. Es machte mich traurig, meine Vettern und Kusinen zu besuchen und zu entdecken, daß sie nie genügend Lebensmittel für eine einzige ausreichende Mahlzeit im Haus hatten - und daß ihrer sechs oder sieben in einer Wohnung mit einem einzigen Schlafzimmer hausten. Ich erinnere mich, daß sie meinen Vater wiederholt um etwas Geld baten, damit sie wenigstens einige Lebensmittel im Kühlschrank hätten.
Die Freunde meiner Kindheit und ich mußten zwangsweise eine zweischneidige Einstellung zur weißen Welt entwickeln. Einerseits hegten wir eine instinktive Abneigung gegen die, die uns hinderten, unsere größten wie auch trivialsten Wünsche zu erfüllen. Andererseits fühlten wir ebenso instinktiv den Neid, der aus der Erkenntnis stammte, daß sie zu allen freudespendenden Dingen Zutritt hatten, nach denen wir uns sehnten. Als ich heranwuchs, konnte ich eine gewisse Eifersucht nicht vermeiden. Und doch habe ich eine sehr lebhafte Erinnerung an die sehr frühe Entscheidung, daß ich niemals - und darin war ich unerbittlich, niemals den Wunsch hegen oder aussprechen würde, weiß zu sein. Dieses Versprechen, das ich mir machte, war jedoch keineswegs dazu angetan, die Wunschträume zu vertreiben, die meine Gedanken beherrschten, wenn mein Verlangen auf ein Tabu stieß. Daher schuf ich mir, damit meine Tagträume nicht meinen Grundsätzen widersprachen, in der Phantasie ein weißes Gesicht, das ich aufsetzte und mit dem ich dann ungehindert ins Theater ging, in den Vergnügungspark oder wohin ich sonst gehen wollte. Wenn ich dann den Besuch gründlich genossen hatte, inszenierte ich einen dramatischen, weithin sichtbaren Auftritt vor den weißen Rassisten, riß mir mit großer Geste das weiße Gesicht ab, lachte wild und nannte sie alle Idioten. Jahre später, als ich ein Teenager war, erinnerte ich mich an diesen kindlichen Tagtraum und beschloß, ihn in gewisser Weise zu verwirklichen. Meine Schwester Fania und ich gingen im Geschäftsviertel von Birmingham spazieren, als ich aus einer plötzlichen Eingebung heraus ihr einen Plan vorschlug; wir wollten so tun, als seien wir Ausländer, wollten miteinander Französisch sprechen, in das Schuhgeschäft in der 19th Street gehen und mit einem dicken Akzent darum bitten, ein paar Schuhe zu sehen. Als die Angestellten im Laden zwei junge Negerfrauen sahen, die sich in einer Fremdsprache unterhielten, stürzten sie auf uns zu, um uns zu bedienen. Der Zauber des Exotischen reichte aus, um ihnen völlig - wenn natürlich auch nur zeitweise - die gewohnte Verachtung der Neger auszutreiben. Fania und ich wurden deshalb nicht in das Hinterzimmer des Ladens geführt, wo der eine Schwarze Angestellte uns normalerweise außer Sichtweite der »achtbaren« weißen Kunden bedient hätte. Wir wurden aufgefordert, ganz vorne in diesem Jim-Crow-Laden Platz zu nehmen. Ich tat so, als könne ich überhaupt kein Englisch, und Fanias gebrochenes Englisch war äußerst schwer zu verstehen. Die Angestellten mühten sich zu begreifen, welche Schuhe wir anprobieren wollten. Entzückt von dem Gedanken, mit Ausländern zu sprechen - selbst wenn sie Schwarz waren - aber von der schwierigen Verständigung frustriert, ließen die Angestellten den Geschäftsleiter rufen. Dieser zeigte die gleiche Einstellung.
Mit einem riesigen Lächeln kam er aus seinem Büro hinter den Regalen hervor und fragte: »Nun, was kann ich für Sie tun, meine hübschen jungen Damen?« Aber bevor er meine Schwester die Schuhe beschreiben ließ, die wir suchten, fragte er uns nach unseren Lebensumständen - wo wir herkämen, was wir in den Staaten täten und was in aller Welt uns in eine Stadt wie Birmingham in Alabama geführt hätte. »Es geschieht sehr selten, daß wir Menschen wie Ihnen begegnen, verstehen Sie?« Meiner Schwester mit ihrem mehr als kümmerlichen Englisch fiel es sehr schwer, unsere improvisierte Geschichte verständlich zu machen. Nach wiederholten Versuchen begriff jedoch der Geschäftsleiter endlich, daß wir aus Martinique kamen und Birmingham auf einer Rundreise durch die Vereinigten Staaten besuchten. Jedesmal, wenn dieser Mann endlich etwas kapierte, leuchteten seine Augen auf, und sein Mund öffnete sich zu einem breiten »Oh!«. Er war völlig gebannt, wenn Fania sich mir zuwandte, um seine Worte zu übersetzen. Die weißen Leute im Laden waren zuerst verwirrt, als sie zwei Neger in der Abteilung »Nur für Weiße« sitzen sahen, aber als sie unseren Akzent und unsere französische Unterhaltung hörten, schienen sie erfreut und erregt darüber, zwei Schwarze Leute zu sehen, die von so weit herkamen, daß sie bestimmt nicht gefährlich werden konnten. Schließlich gab ich Fania ein Zeichen, daß es an der Zeit war, das Spiel zu beenden. Wir sahen ihn an: Sein dummes Gesicht und sein devotes Grinsen, ein Augenzwinkern entfernt von der Verachtung, mit der er so automatisch wie ein abgerichteter Hamster reagiert hätte, hätte er gewußt, daß wir Bewohner derselben Stadt waren. Wir brachen in Gelächter aus. Er fing an, mit uns zu lachen, halbherzig, so wie Leute lachen, wenn sie argwöhnen, daß sie die Zielscheibe eines Witzes sind.»Ist etwas komisch?« flüsterte er. Plötzlich konnte ich Englisch und sagte ihm, was so komisch war. »Alle Schwarzen Leute brauchen nur so zu tun, als ob sie aus einem anderen Land kämen, und Sie behandeln uns wie Würdenträger.« Immer noch lachend standen meine Schwester und ich auf und gingen aus dem Laden. Ich hatte beinahe bis aufs I-Tüpfelchen die Szene aus dem Tagtraum meiner Kindheit nachgespielt.
Im September 1949 war Fania gerade ein Jahr alt geworden, mein Bruder Benny war fast vier. Drei Jahre lang hatte ich im Kindergarten immer die gleichen Spiele gespielt und die Klinik nebenan besucht, nun wollte ich etwas anderes tun und hatte darum gebeten, vorzeitig die Grundschule besuchen zu dürfen. Am Montag nach Labor Day sprang ich in meinem steifen, neuen, roten Plisseekleid in den Kleinlaster meines Vaters, um voller Eifer meinen ersten Tag in der »großen« Schule zu beginnen.
Der Weg in die Schule führte uns nach Eleventh Court über die Eisenbahnbrücke und durch die Straße, die den Jüdischen Friedhof in zwei Teile teilte; danach noch drei Straßenblocks den letzten Hügel hinauf. Die Carrie-A.-Tuggle-Schule war ein Haufen alter Holzhäuser, die so baufällig waren, daß sie längst für unbewohnbar erklärt worden wären, hätten sie nicht in einem Negerviertel gestanden. Man hätte sie nur für eine Ansammlung schäbiger Häuser auf dem Abhang eines graslosen Hügels halten können, wären nicht die Kinder um das eingezäunte Grab herumgesprungen, dessen Aufschrift besagte, daß Carrie A. Tuggle, die Gründerin der Schule, hier begraben war. Einige der Häuser waren mit schmutzigem Weiß getüncht. Andere waren mit einer häßlichen bräunlich-schwarzen Asphaltmasse überzogen. Daß sich die Häuser über eine Fläche von etwa drei Straßenblocks hinzogen, schien typisch für die Methode, wie die weiße Bürokratie eine »Schule« für Negerkinder einrichtete. Offensichtlich hatten sie eine Gruppe von verwohnten Häusern ausgesucht, die Bewohner auf die Straße gesetzt, und das Ganze zur Schule erklärt. Diese Häuser standen alle an einem steilen Abhang; am Fuße des Hügels befand sich eine große rundliche Mulde in der Erde, die mit dem für Alabama typischen roten Lehm gefüllt war. Diese runde Mulde hatte man zum Spielplatz bestimmt. Häuser von gleichem Aussehen wie die Schulgebäude standen auf der anderen Seite der Mulde, Häuser die von außen und innen einzustürzen drohten. Meine Mutter, die selbst Grundschullehrerin war, hatte mir bereits das Lesen, das Schreiben und das einfache Rechnen beigebracht. Was ich in der ersten Klasse lernte, war jedoch viel grundlegender als die Schulfächer. Ich lernte, daß man nicht das Recht auf eine gute Mahlzeit hat, bloß weil man hungrig ist, nicht auf warme Kleidung, bloß weil man friert, nicht auf ärztliche Behandlung, bloß weil man krank ist. Viele Kinder konnten es sich nicht einmal leisten, zum Lunch eine Tüte Kartoffelchips zu kaufen. Es war mir eine Qual, wenn einige meiner engsten Freunde stumm vor dem Speisesaal warteten und den anderen Kindern beim Essen zusahen. Lange Zeit dachte ich über die nach, die aßen, und die, die zusahen. Dann entschloß ich mich, etwas zu tun. Da ich wußte, daß mein Vater jeden Abend von der Tankstelle mit einem Beutel voller Geldmünzen zurückkehrte, die er über Nacht im Küchenschrank aufbewahrte, blieb ich eines Abends wach, bis das ganze Haus eingeschlafen war. Dann versuchte ich, meine eingefleischte Furcht vor der Dunkelheit zu überwinden, schlüpfte in die Küche und stahl einige der Münzen. Am nächsten Tag gab ich das Geld meinen hungrigen Freunden. Die Bisse ihres Hungers waren zwingender als die Bisse meines Gewissens. Ich brauchte nur unter dem Bewußtsein zu leiden, daß ich das Geld meines Vaters gestohlen hatte. Zur Beschwichtigung meiner Schuldgefühle konnte ich mir auch vorhalten, daß meine Mutter immer etwas für die Kinder in ihrer Klasse mitnahm. Sie nahm unsere Kleider und Schuhe manchmal sogar bevor wir ihnen entwachsen waren - und gab sie denen, die sie brauchten. Wie meine Mutter tat ich, was ich tat, still und ohne viel Aufhebens. Es schien mir, es müsse etwas unrecht sein, wenn es hungrige Kinder gab, und wenn ich nichts zur Abhilfe unternahm, dann hatte auch ich unrecht. Das war für mich die erste Einführung in die Klassenunterschiede innerhalb meines eigenen Volkes. Wir waren die Nicht-so-Armen. Bis mir die Schule die Augen öffnete, glaubte ich, daß alle so lebten wie wir. Wir hatten immer drei gute Mahlzeiten am Tag. Ich hatte Sommerkleider und Winterkleider, tägliche Kleider und ein paar »Sonntags«-Kleider. Wenn ich die Sohlen meiner Schuhe durchgelaufen hatte, dann behalfen wir uns vielleicht noch eine kurze Zeit mit Pappe, gingen aber schließlich doch in die Stadt, um ein neues Paar auszusuchen.
Das Familieneinkommen stammte von beiden, Mutter und Vater.
Bevor ich geboren wurde, hatte mein Vater sich auf Grund seines mit Schwierigkeiten erworbenen Universitätsstudiums auf St. Augustine in Raleigh, North Carolina, die Stellung eines Geschichtslehrers an der Parker Oberschule ergattert. Aber das Leben war in jenen Jahren besonders schwierig; sein Gehalt war dem Nullpunkt so nahe, wie Geld nur sein kann. Daher begann er mit seinen mageren Ersparnissen sich im Negerviertel der Innenstadt von Birmingham eine Tankstelle zu kaufen. Meine Mutter, die wie mein Vater aus sehr ärmlichen Verhältnissen stammte, erarbeitete sich ebenfalls das Geld für ein abgeschlossenes Studium und erhielt eine Stellung als Lehrerin an der Grundschule von Birmingham. Was sie zusammen verdienten, bot keinen Anlaß zum Prahlen, aber es genügte, um davon zu leben und überstieg bei weitem die Verdienste der typischen Negerfamilie im Süden. Es war ihnen gelungen, genügend beiseite zu legen, um das alte Haus auf dem Hügel zu kaufen, aber sie mußten jahrelang den oberen Stock vermieten, um die Hypothek abzuzahlen. Bis ich zur Schule ging, wußte ich nicht, daß das eine erstaunliche Leistung war. Die gängige Legende, damals wie heute, besagt, daß Armut die Strafe für Faulheit und Willensschwäche sei. Wenn man nichts aufzuweisen hatte, bedeutete das, daß man nicht schwer genug gearbeitet hatte. Ich wußte, daß meine Mutter und mein Vater schwer gearbeitet hatten mein Vater erzählte mir, daß er täglich fünfzehn Kilometer Schulweg zu Fuß zurücklegen mußte, und meine Mutter hatte eine Sammlung von Anekdoten über das schwierige Leben, das sie als Kind in der kleinen Stadt Sylacauga geführt hatte. Aber ich wußte auch, daß ihnen das Glück manchmal gelächelt hatte. Meine Anteilnahme an der Armut und dem Elend, die ich um mich herum sah, wäre nicht so tief gewesen, hätte ich nicht den Vergleich mit dem relativen Reichtum der weißen Welt gehabt. Tuggle sah noch schäbiger aus, wenn wir sie mit der nahe gelegenen weißen Schule verglichen. Oben von unserem Hügel aus konnten wir eine Grundschule für weiße Kinder sehen. Sie war aus rotem Backstein gebaut, und das Gebäude war von tiefgrünem Rasen umgeben. In unserer Schule mußten wir uns im Winter auf dickbäuchige Kohleöfen verlassen, und wenn es draußen regnete, regnete es auch drinnen. Als ein neuer Bau errichtet wurde, um einen alten, der zusammengebrochen war, zu ersetzen, war ich zu alt, um mehr als ein Jahr in seinen Räumen zu verbringen, die bis dahin für die unteren Klassen reserviert waren.
Wir hatten niemals genügend Schulbücher für alle, und die vorhandenen waren alt und zerrissen, wobei oft die wichtigsten Seiten fehlten. Es gab keine Turnhalle für die Sportstunden - nur die »Mulde«. An Regentagen, an denen der rote Lehm der Mulde zu Schlamm geworden war, wurden wir in einen der Schuppen gepfercht. Tuggle wurde als Abteilung der »Negerschulen von Birmingham« von einer Erziehungsbehörde verwaltet und beaufsichtigt, die ausschließlich aus Weißen bestand. Nur bei besonderen Anlässen sahen wir ihre Mitglieder von Angesicht zu Angesicht - bei Besichtigungen oder wenn sie ihre »Negerschulen« einem auswärtigen Besucher vorführten. Der tägliche Betrieb wurde von Schwarzen geleitet. Vielleicht waren es gerade diese Zustände, die uns eine starke positive Identifikation mit unserem Volk und unserer Geschichte vermittelten. Wir lernten von einigen unserer Lehrer all die traditionellen Ereignisse der »Negergeschichte«. Von der ersten Klasse an sangen wir in den Versammlungen alle die »Nationalhymne der Neger« von James Weldon Johnson manchmal zusammen mit der amerikanischen Nationalhymne oder einem anderen nationalen Lied, und manchmal an deren Stelle. Ich erinnere mich, daß ich von dem Unterschied zwischen den offiziellen Hymnen, die verkündeten, daß die Freiheit für jeden Bewohner des Landes eine Tatsache sei, und der »Nationalhymne der Neger«, deren Worte zum Widerstand aufriefen, sehr beeindruckt wurde. Und obwohl ich meine Stimme in der Öffentlichkeit lieber nicht hören lassen wollte, sang ich die letzten Zeilen immer aus voller Brust: »Angesichts des Morgenlichts, bis ein neuer Tag begonnen, schreiten wir mit festem Schritt, bis der Sieg für uns gewonnen!« Während wir über George Washington, Thomas Jefferson und Abraham Lincoln unterrichtet wurden, wurden wir auch mit historischen Figuren der Neger bekanntgemacht. Die Erziehungsbehörde gestattete unseren Lehrern allerdings nicht, uns die Taten von Nat Turner und Denmark Vesey zu offenbaren. Aber man erzählte uns von Frederick Douglass, Sojourner Truth und Harriet Tubman. Eins der wichtigsten Schulereignisse im Jahr war die Woche der Negergeschichte. Besondere Vorführungen wurden für die Versammlung geplant, und in allen Klassen mußte jedes Kind über irgendeine historische oder zeitgenössische Persönlichkeit der Neger Bescheid wissen. In all diesen Jahren lernte ich etwas über jede Schwarze Persönlichkeit, die »achtbar« genug war, um einen Platz in den Geschichtsbüchern zu finden - oder wenn es sich um Zeitgenossen handelte, um in »Wer ist Wer im Schwarzen Amerika?« oder in die Zeitschrift »Ebony« aufgenommen zu werden. Jedes Jahr war ich an dem Wochenende vor der Historischen Woche der Neger schwer beschäftigt - entwarf mein Plakat, bat die Eltern um ihre Hilfe, schnitt Bilder aus, formulierte Unterschriften und Berichte. Ohne Zweifel hatten die Kinder, die in die de jure getrennten Schulen des Südens gingen, einen Vorteil vor denen, die die de facto getrennten Schulen des Nordens besuchten. Während meiner Sommerreisen nach New York fand ich, daß viele Schwarze Kinder dort niemals von Frederick Douglass oder Harriet Tubman gehört hatten. In der Tuggle-Schule wurde uns die Schwarze Identität durch die Tatsachen der Unterdrückung aufgezwungen. Wir waren in ein völlig Schwarzes Universum gestoßen worden; wir waren gezwungen, uns unsere geistige Nahrung selbst zu verschaffen. Wenn jedoch die Negerschulen des Südens diese Aspekte unzweifelhaft begünstigten, sollte man sie doch nicht idealisieren. Wenn ich zurückblicke, erinnere ich mich an eine alles durchwaltende Zwiespältigkeit in der Schule, eine Zwiespältigkeit, der ich in praktisch jedem Klassenzimmer und jedem auf die Schule bezogenen Ereignis begegnete. Einerseits gab es eine starke Tendenz, unsere Identität als Schwarze Menschen zu betonen, die sich allen Schulaktivitäten mitteilte. Aber andererseits neigten viele Lehrer dazu, uns die offizielle, rassistische Erklärung für unser Elend einzuhämmern. Sie befürworteten eine individualistische, auf Wettbewerb beruhende Befreiung von dieser Qual. Man sagte uns, das höchste Ziel. unserer Erziehung liege darin, uns Fähigkeiten und Wissen zu vermitteln, so daß wir uns einzeln und jeder für sich aus dem Schlamm und Schleim der Armut an »unserem eigenen Zopf« herausziehen könnten.
 Dieses Kind würde ein Arzt, jenes ein Anwalt werden, es würde Lehrer, Ingenieure, Bauunternehmer, Wirtschaftsprüfer, Geschäftsleute geben - und wenn man außergewöhnliche Mühen auf sich nahm, dann konnte man vielleicht dem Erfolg eines A. G. Gaston, des Negermillionärs unserer Stadt, nahekommen. Mit diesem von Booker T. Washington geschaffenen Syndrom war jeder Aspekt der Erziehung durchsetzt, die ich in Birmingham empfing. Arbeite schwer, und es wird dir gelohnt werden. Daß der Weg für die Schwarzen Menschen härter und steiniger als für ihre weißen Gegenspieler sein würde, gehörte zu diesem Prinzip. Unsere Lehrer mahnten uns, daß wir uns für Schwerarbeit und mehr Schwerarbeit, für Opfer über Opfer stählen müßten. Nur das würde beweisen, daß,es uns ernst damit sei, alle vor uns liegenden Hindernisse zu bewältigen. Oft schienen sie von diesen Hindernissen zu sprechen, als müßte es sie immer geben, als seien sie die naturgegebene Ordnung der Dinge und nicht vielmehr als Produkt eines rassistischen Systems, das wir eines Tages stürzen könnten.
Ich hatte weiterhin meine Zweifel an der Richtigkeit des »Arbeitet, und es soll euch gelohnt werden«. Aber ich will zugeben, daß meine Reaktion nicht ganz lupenrein war. Einerseits konnte ich den Spruch nicht recht glauben. Es schien mir nicht sinnvoll, daß alle die, die es nicht »geschafft« hatten, für ihr mangelndes Verlangen und ihren unzureichenden Willen, sich ein besseres Leben zu bereiten, leiden mußten. Wenn das stimmte, dann war eine große Anzahl unseres Volkes - vielleicht die Mehrzahl - wirklich faul und unzuverlässig gewesen, wie es ihnen die Weißen immer nachsagten. Andererseits schien es jedoch, als ob ich meinen eigenen Ehrgeiz genau nach dem Grundsatz des »Arbeitens und Belohntwerdens« ausrichtete. Ich hatte mich entschlossen, der Welt zu beweisen, daß ich genauso gut, genauso intelligent, genauso fähig war, etwas zu erreichen wie jeder Weiße. Zu jener Zeit - und bis ich in New York auf die Oberschule ging - wollte ich Kinderärztin werden. Keinen Augenblick habe ich bezweifelt, daß ich imstande sein würde, meine Pläne durchzusetzen - nach der Grundschule die Oberschule, dann die Universität und die medizinische Hochschule. Aber ich hatte einen entscheidenden Vorteil: Meine Eltern würden dafür sorgen, daß ich studierte und würden mir die notwendige Hilfe zum Leben geben, bis ich auf eigenen Füßen stand. Das jedoch konnte die große Mehrheit meiner Schulkameraden nicht für sich erwarten.
Dieses Arbeiten-und-Belohntwerden-Syndrom war nicht das einzige, was unserem Selbstbewußtsein ins Gesicht sprang. Wir wußten zum Beispiel, daß wir »uns manierlich aufführen mußten«, wie es unsere Lehrer nannten, wenn Weiße unsere Schule besuchten. Ich konnte nicht einsehen, warum wir uns für sie besser benehmen sollten als für uns selbst, es sei denn, daß wir wirklich glaubten, sie seien uns überlegen. Die Besucher von der Erziehungsbehörde kamen immer in Gruppen von drei oder vier weißen Männern, die sich aufspielten, als gehöre ihnen die Schule. Aufseher. Manchmal, wenn der Führer der Gruppe seine Autorität ins rechte Licht rücken wollte, ließ er sein Auge über uns schweifen wie über eine Rinderherde und sagte zur Lehrerin: »Susie, das ist eine nette Klasse, die Sie hier haben.« Wenn eine weiße Person eine erwachsene Negerin bei ihrem Vornamen nannte, dann war das eine beschönigende Wendung für »Nigger, bleib da, wo du hingehörst«.
Das wußten wir alle. Wenn so eine weiße Rempelei sich ereignete, versuchte ich, die Gefühle im Gesicht der Lehrerin zu enträtseln: Hinnahme, Unterwürfigkeit, Trotz oder die schmerzhafte Erkenntnis, daß sie totsicher ihre Stellung verlieren würde, wenn sie sich wehrte. Einmal hat sich ein Schwarzer Lehrer gewehrt. Als der weiße Mann ihn vor der Klasse »Jesse« nannte, erwiderte er mit tiefer aber kalter Stimme: »Falls Sie's vergessen haben sollten, mein Name ist Mr. Champion.« Er wußte, als die Worte von seinen Lippen fielen, daß er in diesem Augenblick auf seine Stellung verzichtet hatte. Jesse Champion war ein persönlicher Freund meiner Eltern, und ich war entsetzt von dem Schweigen, das nach seiner Tat in der Schwarzen Gemeinde herrschte. Es war wahrscheinlich die Folge des kollektiven Schuldbewußtseins, daß sein Trotz die Ausnahme und nicht die Regel war. Nichts in der Welt machte mich zorniger als Tatenlosigkeit, als Schweigen. Daß man sich weigerte oder nicht imstande war, etwas zu tun oder zu sagen, wenn etwas getan oder gesagt werden mußte, war unerträglich. Die nur zuschauten, den Kopf schüttelten oder den Rücken kehrten, machten mir die Haut jucken. ich erinnere mich, daß ich einmal, als ich sieben oder acht Jahre alt war, mit meiner Freundin Annie Laurie und ihrer Familie zu einem Ausflug aufs Land fuhr. Auf dem Anwesen, das wir besuchten, lief ein Hund im Hof herum. Bald darauf erschien ein anderer Hund. Unvermittelt hatten die beiden Tiere einander bei der Kehle gepackt. Schaum flog, und das Blut schoß aus den Wunden. Alles stand herum, sah zu, aber tat nichts. Es schien, als wollten wir den ganzen Tag da stehen und zusehen, wie die heiße Sonne von Alabama auf diesen dummen, sinnlosen Kampf zweier Hunde herunterbrannte, die sich gegenseitig die Gedärme und Augen ausrissen. Ich konnte es nicht länger ertragen; ich rannte hin und versuchte, die Hunde auseinanderzuzerren. Erst nachdem mich die schreienden Erwachsenen weggezogen hatten, dachte ich an die Gefahr. Aber die war schon nicht mehr wichtig; der Kampf war beendet worden. Der Drang, den ich damals fühlte, überfiel mich auch bei anderen Kämpfen. Gekämpft zwar nicht zwischen Tieren, sondern zwischen Menschen, aber ebenso vergeblich und sinnlos. Während der ganzen Schulzeit gab es absurde Schlachten - einige kurz, aber manche lang und tödlich. Oft konnte ich mich nicht zügeln und trat dazwischen. Die Kinder kämpften wegen nichts - weil man sie anrempelte oder ihnen auf die Zehen trat oder ihnen einen Schimpfnamen gegeben hatte oder weil sie die Zielscheibe einer wahren oder erfundenen Klatschgeschichte waren. Sie kämpften wegen jedem Dreck - kaputtenen Schuhen und zementierten Höfen, dünnen Mänteln und Tagen ohne Essen. Sie kämpften gegen die Gemeinheit von Birmingham, wenn sie die Luft mit Messern schlitzten und in Schwarze Gesichter schlugen, weil sie die weißen nicht erreichen konnten. Das tat mir weh. Der Kampf, bei dem meine Freundin Olivia mit dem Messer gestochen wurde. Es tat weh, eine andere Freundin, Chaney - die wütend war, weil ein Lehrer sie vor der Klasse kritisierte - aufstehen, den nächsten Stuhl ergreifen und mit ihm auf den Lehrer losgehen zu sehen. Die ganze Klasse wurde zu einem großen Getümmel, in dem einige Chaney halfen, andere versuchten, den Lehrer zu retten, und der Rest von uns sich mühte, dem Scharmützel ein Ende zu machen. Es tat weh zu sehen, wie wir uns in uns verkrochen, uns gewissermaßen zum Schandpfahl machten, weil wir noch nicht wußten, wie man sich gegen die wahren Ursachen unseres Elends zur Wehr setzen konnte. Die Zeit hatte den Groll der weißen Leute, die noch auf dem Hügel lebten, nicht besänftigt. Sie weigerten sich, ihr Leben durch unsere Anwesenheit beeinflussen zu lassen. Immer wieder zog eine mutige Negerfamilie auf die weiße Seite der Center Street oder baute dort, und der schwelende Haß machte sich Luft mit Explosionen und Feuer. Manchmal verkündete der Polizeichef Bull Conner übers Radio, daß eine »Niggerfamilie« auf die weiße Seite der Straße gezogen sei. Seine Prophezeiung »Heute nacht wird Blut fließen« hatte dann einen Bombenanschlag zur Folge. Die Explosionen auf dem Dynamithügel ereigneten sich so häufig, daß sie viel von ihrem Schrecken verloren.
Auf unserer Seite wurden die alten Häuser, die von ihren weißen Bewohnern aufgegeben worden waren, allmählich aufgekauft, und das Gehölz, wo wir Brombeeren gepflückt hatten, wich neuen Backsteinhäusern. Als ich acht oder neun Jahre alt war, hatten wir eine große Nachbarschaft von Schwarzen Menschen. Wenn es draußen warm war, kamen alle Kinder nach Einbruch der Dunkelheit aus den Häusern, um Versteck zu spielen. Es gab viele Verstecke in unserem Bezirk, der nicht weniger als ein oder zwei Straßenblocks umfaßte. Die Nacht machte das Spiel aufregender, und wir konnten so tun, als übertölpelten wir die Weißen. Manchmal wagten wir tatsächlich, auf ihr Gelände vorzudringen. »Ich wette, du wagst dich nicht auf die Porch der Montees«, sagte einer von uns. Wenn ihn einer beim Wort nahm, ließ er uns auf unserer Straßenseite stehen, und ging zögernd ins Feindesland hinüber, auf Zehenspitzen stieg er die Steinstufen der Montees hinauf, berühr-te die hölzerne Porch mit einem Schuh, als erprobe er einen heißen Ofen, um gleich wieder zu uns zurückzurennen. Als ich dran war, konnte ich im Geiste schon die explodierenden Bomben hören, während ich die Treppe hinaufrannte und die Porch der Montees zum erstenmal in meinem Leben berührte. Als dieses Spiel den Reiz der Gefahr zu verlieren begann, verbanden wir es mit einer Herausforderung. Statt nur die Porch zu berühren, mußten wir zur Tür laufen, auf die Klingel drücken und uns im Gebüsch neben dem Haus verstecken, während die alte Frau oder der alte Mann herauskamen und festzustellen suchten, was los war. Als sie schließlich unser Spiel entdeckten, obwohl sie uns nur selten finden konnten, stellten sie sich auf die Porch und schrien: »Ihr kleinen Nigger, laßt uns gefälligst in Frieden!« Indessen lernten meine Spielgefährten und Schulfreunde, sich gegenseitig »Nigger« oder, was damals leider ebenso schlimm war, »Schwarze« oder »Afrikaner« nennen, was beides als gleichbedeutend mit »Wilde« galt. Meine Mutter erlaubte niemandem, das Wort »Nigger« im Haus zu gebrauchen. (Es durften aber auch keine »schlimmen« Wörter wie »Scheiße«, »verdammt«, ja nicht einmal »Hölle« in ihrer Gegenwart ausgesprochen werden.) Wenn wir einen Streit schildern wollten, den wir mit jemand hatten, dann mußten wir sagen »Bill hat mich dieses schlimme Wort genannt, das mit einem >N< anfängt«. Schließlich weigerte sich mein Mund einfach, diese Wörter auszusprechen, so gern ich sie zuweilen auch gesagt hätte. Wenn ich in einem Wortwechsel mit einem meiner Freunde »Nigger« oder »Schwarze« genannt wurde, dann machte mir das nicht halb so viel aus, wie wenn jemand sagte. »Bloß weil du klug bist und schönes Haar hast, glaubst du, du kannst dich aufführen wie 'ne Weiße.« Das war ein typischer Vorwurf gegen Kinder mit heller Haut. Manchmal grollte ich sogar insgeheim meinen Eltern, weil sie mir eine helle statt einer dunklen Haut und welliges statt krauses Haar gegeben hatten. Ich bestürmte meine Mutter, es mir glätten zu lassen, wie es meine Freundinnen taten. Aber sie fuhr fort, es mit Wasser zu bürsten und mit Vaseline einzureiben, so daß es mir straff am Kopf lag und sie die beiden großen welligen Zöpfe flechten konnte, die mir über den Rücken herunterhingen. Bei besonderen Anlässen rollte sie es über Lockenwickler aus braunem Papier, um mir Korkenzieherlocken zu drehen. Als wir eines Sommers in unserem Ferienlager von der Kantine zu unseren Hütten gingen, fing es an zu regnen. Die Hände der Mädchen fuhren sofort an die Köpfe. Für mein ungeglättetes Haar war das Wasser keine Gefahr, deshalb kümmerte ich mich nicht um den Regen. Eins der Mädchen sagte vorwurfsvoll: »Angela hat gutes Haar. Die kann bis zum Jüngsten Tag im Regen rumlaufen.« Ich weiß, daß sie mich nicht absichtlich kränken wollte, aber ich fühlte mich vernichtet. Ich rannte zurück in meine Hütte und warf mich weinend auf mein Bett.
Meine Kusinen Snookie, Betty Jean und ihre Mutter Doll wohnten in Ketona, Alabama. Ich verbrachte mit Vorliebe das Wochenende bei ihnen, weil ich wußte, daß sie den heißen Kamm über das Holzfeuer halten und ihn mir dann durchs Haar ziehen würden, bis es glatt war wie eine Nadel. Wenn ich bei meiner Mutter lange genug bettelte, ließ sie mich's ein paar Tage so zur Schule tragen, bevor ich's wieder auswaschen mußte. In der Innenstadt von Birmingham, nahe dem Postamt, war die Stadtbibliothek. Sie war nur für Weiße geöffnet, aber in einem versteckten Zimmer des Gebäudes, das man nur durch einen geheimen Hintereingang erreichen konnte, hatte eine Schwarze Bibliothekarin ihr Büro. Die Neger konnten ihr Listen für Bücher übergeben, die sie versuchte sich aus der Bibliothek zu beschaffen. Durch Zureden und Drängen meiner Mutter wurden Bücher für mich zur angenehmen Ablenkung. Meine Mutter hatte mir das Lesen beigebracht, als ich kaum vier Jahre alt war, und später, als ich etwas älter war, haben wir gemeinsam ein »Soll« für die Bücher festgesetzt, die ich pro Woche lesen sollte. Meine Mutter oder mein Vater holten die Bücher in der Stadt ab, oder die Schwarze Bibliothekarin, Miß Bell, brachte sie bei uns vorbei. Später wurde eine neue Negerbibliothek am Fuß des Hügels gebaut, an der Ecke von Center Street und Eighth Avenue. Die neue Backsteinbibliothek mit ihrem schimmernden Linoleumfußboden und den polierten Tischen wurde mein Lieblingsaufenthalt. Stundenlang, unersättlich las ich dort - alles von Heidi bis zu Victor Hugos Les Misérables, von Booker T. Washingtons Aufwärts von der Sklaverei bis zu Frank Yerbys gespenstischen Romanen. Das Lesen befriedigte mich viel mehr als meine wöchentlichen Klavierstunden und die Tanzstunden am Samstagmorgen. Zu meinem fünften Weihnachtsfest hatten meine Eltern genügend Geld zusammengekratzt, um mir ein ausgewachsenes Klavier zu schenken. Einmal die Woche stapfte ich hinüber zu Mrs. Chambliss, spielte pflichtschuldigst meine Tonleitern und Stücke, und fühlte mich erniedrigt, wenn ich angebrüllt wurde, weil ich einen Fehler gemacht hatte. Wenn die Stunde vorüber war, zahlte ich ihr 75 Cents, und wenn es dunkel war, wartete ich auf Mutter oder Vater, die mich abholten, damit ich nicht allein am Friedhof vorbeigehen mußte. An den anderen sechs Tagen mußte ich üben, bevor ich zu meinen Freunden auf die Straße durfte. Gegen Ende Mai eines jeden Jahres ließ Mrs. Chambliss entweder in der Methodistenkirche St. Pauls oder in der Baptistenkirche der 16th Street, zwei Blocks von der Tankstelle meines Vaters entfernt, ihre Schüler vorspielen. Mit gelocktem Haar und einem rüschenbesetzten Organdy-Kleid, steif vor Nervosität, klimperte ich das Stück, das ich monatelang geübt hatte. Der Lohn für diese Tortur waren drei volle Monate ohne den Druck der Klavierstunden. Samstag morgens vereinigte ich mich mit großen Scharen von Mädchen in ärmellosen Trikots im Gemeinschaftsgebäude der Siedlung, in der wir gewohnt hatten. Dort sorgten Mrs. Wood und ihre Gehilfinnen dafür, daß wir unsere  Arabesken ausführten. Ballett im ersten Teil der Stunde, dann Stepptanzen mit weichem Schuh. Meine angeborene Ungeschicklichkeit trotzte den zierlichen Ballettschritten, und ich versuchte daher immer, mich in den hinteren Reihen zu verstecken. Eine Zeitlang kam auch mein kleiner Bruder Benny mit, so daß ich die zusätzliche Verantwortung hatte, auf ihn aufzupassen. Als wir eines Morgens die Center Street entlanggingen, rannte er auf einmal vor mir davon - quer über die Ninth Avenue. Ein Bus, der ihn beinahe überfahren hätte, kam kreischend zum Stehen. Heftig zitternd rannte ich hin, um Benny zu retten. Er hatte überhaupt nicht gemerkt, daß er beinahe getötet worden wäre. Als wir dann unsere Lockerungsübungen machten, zitterte ich noch. Plötzlich fühlte ich etwas Warmes an meinen Beinen runterlaufen. Ich setzte mich auf den Boden, mitten in meine Urinpfütze und war so beschämt, daß ich nicht in die starrenden Gesichter der anderen Schülerinnen aufsehen konnte. Ein Mädchen namens Emma kam zu mir und legte mir die Arme um die Schulter. Mit den Worten »Angela, mach dir nichts draus. Komm, wir wollen rausgehen«, führte sie mich fort. Sie konnte nicht wissen, was ihre Geste für mich bedeutete. Aber daß ich jeden Samstag mit derselben Gruppe zusammensein mußte, erfüllte mich mit Scham.
Noch vor wenigen Jahren hatten Schwarze Besucher in Birmingham die Auswahl zwischen drei Ansichtspostkarten, wenn sie ein Souvenir des Negerviertels wünschten. Die Baptistenkirche in der 16th Street, die Parker-Schule und das Bestattungsinstitut von A. G. Gaston. Vielleicht hatten die Weißen, die die Bilder angefertigt und grellrot und gelb gefärbt hatten, sich gedacht, daß sich unser Leben durch Kirche, Schule und Beerdigung zusammenfassend darstellen ließ. Wenn wir einmal geboren waren, kriegten wir Religion und ein paar Tupfer Wissen; danach blieb dann nur noch das Sterben. Sie wollten den Anschein erwecken, als ob diese Tropfen Erziehung von der eindrucksvollsten Bildungsanstalt der Umgegend vermittelt wurden. Auf der Ansichtskarte sah Parker nagelneu aus, weißer noch, als wenn es gerade am Vortag getüncht worden wäre; davor, wo der trockene Staub sich weigerte, auch nur Unkraut wachsen zu lassen, hatte man hellgrünes Gras hingemalt. über dem Bild standen in kühnem schwarzem Druck die Worte: »A.-H. Parker-Oberschule, größte der Welt für Farbige Schüler« - als müßten nun aus allen Teilen der Welt Touristen herbeiströmen, um dieses Wunder anzustaunen. Vielleicht war diese Behauptung sogar buchstäblich wahr - ich glaube nicht, daß jemand nachgeforscht hat, um die Wahrheit oder Unwahrheit festzustellen. Aber der Wahrheitsgehalt, der ihr eigen sein mochte, war ausschließlich durch die jämmerlichen Verhältnisse der Schwarzen Menschen begründet. Wenn Parker die »größte Oberschule für Farbige Schüler« war, dann hieß das, daß es nicht eine einzige öffentliche Oberschule in Harlem gab oder daß die Erziehung der Neger in Südafrika nicht die geringste Beachtung lohnte. Als meine Mutter im Oberschulalter war, hieß die »größte der Welt« noch Industrielle Oberschule und war im Umkreis von Hunderten von Kilometern die einzige Oberschule für Neger. Sie lebte in der kleinen Stadt Sylacauga, mindestens 120 Kilometer von Birmingham entfernt. Wenn sie ihren Bildungsweg über die achte Klasse hinaus fortsetzen wollte, dann hatte sie nur die Möglichkeit, ihre Familie zu verlassen und nach Birmingham zu ziehen. Meine Freunde und ich waren nicht gerade darauf erpicht, die Oberschule zu besuchen. Als wir von der Grundschule abgingen, mußten wir erst in den Parker-Bau einziehen, der einige Blocks vom Hauptkomplex entfernt lag. Der war eine Ansammlung verkommener Holzhütten, die sich von dem, was wir gerade hinter uns hatten, nicht wesentlich unterschied.
{{159-3-3}}Als wir am ersten Tag dort ankamen, entdeckten wir, daß diese Bauten im Inneren noch verfallener waren als an den Außenseiten. Ungestrichene Holzfußböden, alte Wände, mit Graffiti bedeckt, die nie jemand zu entfernen suchte. Wir stellten fest, daß wir auf den alten dickbauchigen Ofen in der Ecke einer jeden Hütte angewiesen waren, wenn der Sommer zu Ende ging - wir nannten die Gebäude Schuppen 1, Schuppen 2 usw.
Sehr wenige meiner Unterrichtsstunden waren anregend - Biologie, Chemie, Mathematik waren die Fächer, die mich am meisten interessierten. Der Geschichtsunterricht war eine Farce. Nicht so sehr eine Farce wegen der Wissenslücken der Lehrer, sondern wegen der Lücken in den Geschichtsbüchern, die uns von der Erziehungsbehörde zugeteilt wurden. In unserem Buch für Amerikanische Geschichte entdeckte ich, daß der Bürgerkrieg der »Krieg für die Unabhängigkeit des Südens« gewesen war, und daß die Schwarze Bevölkerung bei weitem lieber Sklaven als Freie sein wollte. Schließlich, so erklärte das Buch, lag der Beweis, daß unsere Vorfahren ihr Schicksal fröhlich bejahten, in den wöchentlichen Sing- und Tanzfesten am Samstagabend. Schon in der Grundschule hatte man uns beigebracht, daß viele der von den Sklaven gesungenen Lieder einen Sinn hatten, den nur sie verstanden. »Swing Low, Sweet Chariot« zum Beispiel bezog die Reise in die Freiheit auch auf dieses Leben. Aber davon stand nichts in den Büchern der Oberschule. Die Lehrer hatten entweder zu viel damit zu tun, ihre Klassen bei der Stange zu halten, oder es lag ihnen weniger als unseren Grundschullehrern daran, uns ein genaues Bild der Schwarzen Geschichte zu bieten. Der innen-geleitete Trieb zur Gewalttätigkeit, der schon in Tuggle eine so große Rolle in unserem Leben gespielt hatte, verstärkte sich in Parker so sehr, daß es schon an Brudermord grenzte. Kaum ein Tag verging ohne Kampf - in der Klasse oder draußen. Und an einem warmen, windigen Tag - und mitten auf dem Schulgelände - gelang es einem meiner Schulkameraden, einen anderen totzustechen. Wir schienen in einem Mahlstrom von Gewalt und Blut gefangen, aus dem keiner von uns davonschwimmen konnte. Etwa um die Zeit, als ich mit der Oberschule anfing, begann die Bürgerrechts-Bewegung einige Neger Alabamas aus ihrem tiefen, wenn auch unruhigen Schlaf aufzuwecken. Nach der allgemeinen Tatenlosigkeit in der Parker-Schule zu urteilen, hätte man jedoch nie erfahren, daß am 4. Dezember 1955 sich Rosa Parks in Montgomery geweigert hatte, in den hinteren Teil des Busses zu gehen, oder daß Martin Luther King dort, nur etwa 150 Kilometer entfernt, einen vollständigen Boykott der Busse angeführt hatte oder daß es tatsächlich, auch in Birrningham, erste Anzeichen einer Bus-Bewegung zu geben schien. Einige von uns waren allerdings durch den Boykott in Mitleidenschaft gezogen. In mehreren Fällen hatte sich eine kleine Gruppe meiner Schulkameraden und ich spontan entschlossen, vorn im Bus Platz zu nehmen, um die Solidarität mit unseren Schwestern und Brüdern zu bekunden. Natürlich entwickelte sich darauf eine lautstarke Auseinandersetzung zwischen uns und dem Fahrer. Die Neger im Bus waren gezwungen, Partei zu ergreifen. Weil es damals in Birmingham noch keine umfassend organisierte Bewegung gab, waren manche von ihnen durch unsere Kühnheit verängstigt und flehten uns an zu tun, was der weiße Mann sagte.
Etwa um diese Zeit wurde die NAACP, die Nationale Vereinigung zur Förderung Farbiger Menschen, in Alabama für gesetzwidrig erklärt und ihre Mitglieder mit Gefängnis bedroht. Meine Eltern waren beide Mitglieder und waren beide entschlossen, sich nicht von Bull Conner und Genossen ins Bockshorn und damit in die Unterwerfung jagen zu lassen. Wie andere, die an der Bewegung beteiligt waren, wurden auch meine Eltern mit Bomben bedroht, aber sie fuhren fort, ihre Beiträge an die NAACP zu zahlen, bis diese offiziell aufgelöst wurde, und die ACMHR, die Christliche Bewegung für Menschenrechte in Alabama, unter der Leitung von Pastor Fred Shuttlesworth an ihre Stelle trat. Am zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1956 sollte der Busprotest in Birmingham von der ACMHR gestartet werden. Ermutigt von Bull Conner hatten die Rassisten beschlossen, ihn zu unterdrücken, bevor er sich entfalten konnte, und aus ihren Schränken die alten bewährten Waffen geholt: die Dynamitladungen, die uns so gut bekannt waren. In der Weihnachtsnacht zerriß eine dröhnende Explosion das Haus von Pastor Shuttlesworth. Man hatte die Bombe unter dem Haus angebracht, unmittelbar unter dem Bett, in dem der Pastor schlief. Die Leute behaupteten, es sei ein Wunder Gottes, daß alles um ihn her in Stücke zerfetzt wurde, der Pastor selbst jedoch ohne eine Schramme davonkam. Wir erfuhren am nächsten Tag, daß er einen Nachbarn, der bei der Explosion verletzt wurde, ins Krankenhaus gefahren und bei der Rückfahrt vorn im Bus Platz genommen hätte. Dieses Beispiel wurde später am selben Tag von einer größeren Anzahl Menschen nachgeahmt, die daraufhin verhaftet wurden. Ich war während dieser Tage in großer Erregung. Es bahnte sich etwas an, was unser Leben verändern konnte. Aber ich war zu jung, sagte man mir (ich war zwölf), und dazu noch ein Mädchen, um mich den Schlagstöcken und der Brutalität der Polizei auszusetzen. Als jedoch im Laufe der Jahre die Bedürfnisse der Bewegung zunahmen, wurde es nötig, jeden Mann, jede Frau und jedes Kind, die den Willen dazu hatten, in alle Bereiche der Protestaktion einzubeziehen. Tatsächlich begannen auch kurz danach die Kinder von Shuttlesworth eine führende Rolle in der Arbeit der ACMHR zu spielen.
Während diese Zeichen des Aufruhrs in den Straßen von Birmingham losbrachen, gelangte wenig davon aufs Schulgelände von Parker. In den nächsten drei Jahren erreichte die Bewegung mehrere Höhepunkte und ließ dann nach. Der tägliche Trott der Klassen, ergänzt durch Football und Basketball, ging weiter. Das gesellschaftliche Leben der Schwarzen Mittelklasse außerhalb der Schule blieb ungestört - bis auf die gewohnten, bereits zur Routine gewordenen Rassenkrawalle.
Eines Sonntags zum Beispiel fuhren ein paar Freunde und ich vom Kino nach Hause. Im Auto befand sich unter anderen auch Peggy, ein Mädchen, das in unserer Straße wohnte. Sie hatte eine sehr helle Haut, blondes Haar und grüne Augen. Ihre Erscheinung lenkte meistens erstaunte oder auch feindliche Blicke auf sich, weil die Weißen sie immer irrtümlich für eine Weiße hielten. Diesmal war es ein Polizist, der glaubte, daß sie eine Weiße inmitten von Negern sei. Als meine Freunde mich vor meinem Haus aussteigen ließen, drängte er uns zur Seite und verlangte zu wissen, was wir Nigger mit einem weißen Mädchen vorhätten. Er befahl uns, aus dem Auto auszusteigen und durchsuchte uns alle, außer Peggy, die er von der Gruppe getrennt hatte. In Alabama gab es zu jener Zeit eine Staatsverordnung, die jeden Verkehr - außer dem wirtschaftlichen - zwischen schwarzen und Weißen verbot. Der Polizist drohte, uns alle ins Gefängnis zu werfen, einschließlich Peggy, die er eine »Niggerdirne« nannte. Als Peggy zornig erklärte, daß sie Schwarz sei wie wir alle, war der Polizist offensichtlich verlegen. Er ließ seine Verlegenheit an uns aus, indem er uns mit wüsten Schimpfwörtern belegte, einige der Jungen schlug und jeden Zoll des Wagens durchsuchte, um etwas zu finden, wofür er uns abführen konnte. Dies war nur ein Routine-Zwischenfall, vielleicht sogar milder als die meisten, aber er machte uns nicht weniger wütend, weil er typisch war. Mit vierzehn Jahren, in der elften Klasse, fühlte ich mich ruhelos und fürchterlich beengt. Der Provinzialismus von Birmingharn setzte mir zu; ich war noch nicht so in die Bürgerrechtsbewegung einbezogen, daß ich mir daraus eine handfeste Daseinsberechtigung herleiten konnte. Ich konnte die Unzufriedenheit, die ich fühlte, nicht definieren oder in Worte fassen. Ich hatte einfach die Empfindung, daß ich von allen Seiten eingeschlossen war und ich wollte ausbrechen. Der Zeitpunkt rückte rasch näher, in dem Mädchen meines Alters in den Kreisen der Mittelklasse eine aktive Rolle im eingefahrenen gesellschaftlichen Leben der Schwarzen Gemeinde spielen mußten, wenn sie nicht Außenseiter werden wollten. Ich haßte die großen offiziellen Tanzvergnügen und fühlte mich bei zwei derartigen Veranstaltungen, denen ich beiwohnte, sehr unbehaglich und fehl am Platz. Ich mußte raus. So oder so, ich wollte Birmingham verlassen. Ich entdeckte zwei Möglichkeiten des Entrinnens: das Aufnahmeprogramm der Fisk-Universität in Nashville für Schüler, die die Schule noch nicht abgeschlossen hatten, und ein experimentelles Programm, das vom Dienstleistungsausschuß der Amerikanischen Quäker aufgestellt war. Es ermöglichte Schwarzen Schülern aus dem Süden, Oberschulen im Norden zu besuchen, in denen es eine Rassentrennung nicht gab. Ich bewarb mich bei beiden und erfuhr nach einigen Monaten, daß ich von beiden angenommen war. Da mir ein Medizinstudium vorschwebte, fühlte ich mich zuerst zu dem Angebot von Fisk mächtig hingezogen. In Fisk würde ich nicht nur dem Provinzialismus entrinnen, den ich verabscheute, sondern ich würde dort auch imstande sein, meinen Plan, Kinderärztin zu werden, leichter zu verwirklichen. Die Medizinische Hochschule befand sich direkt auf dem Universitätsgelände. Und Fisk war zudem die Neger-Universität, die das höchste akademische Ansehen im Lande genoß. Es war das Fisk von W.E.B. Dubois. Aber es war auch die Universität der Schwarzen Bourgeoisie par excellence, und ich konnte voraussagen, daß meine Abneigung, mich an rein gesellschaftlichen Ereignissen zu beteiligen, riesige persönliche Probleme aufwerfen würde. Wenn ich mich nicht einer studentischen Schwesternschaft anschloß, würde ich ein Außenseiter bleiben.
Was das Programm der amerikanischen Quäker betraf, so hatte ich mich nur sehr lückenhaft informieren können. Ich wußte, daß die Schule, die ich besuchen sollte, die Elisabeth-Irwin-Oberschule in New York war und daß ich bei einer weißen Familie in Brooklyn leben würde. Obwohl ich nichts von der Schule wußte, war ich damals noch von New York fasziniert. Ich dachte an all die Dinge, die ich in den ersten fünfzehn Jahren meines Lebens nicht hatte tun können. In New York konnte ich sie tun. Mein Verständnis für Musik und Theater war noch ganz unentwickelt, und ich konnte mich darauf freuen, ein ganzes neues Kulturuniversum für mich zu erschließen. Bereit und willens, die Herausforderung des Unbekannten anzunehmen, spürte ich nur wenig Angst. Meine Mutter dagegen dachte mehr über die Gefahren nach, denen ich ausgesetzt sein könnte, und obwohl sie mir eine höhere Bildung wünschte, war sie unglücklich darüber, daß ich die Heimat verlassen sollte. Ich war erst fünfzehn, und sie fürchtete, daß ein Jahr auf einer Universität, umgeben von Männern und Frauen, die viel älter waren als ich, mir den Rest meiner Kindheit nehmen und mich vor meiner Zeit würde reifen lassen. Ich glaube, sie hat nicht recht erkannt, daß jedes Negerkind, das im Süden aufwächst, ohnedies gezwungen ist, »vor seiner Zeit« zu reifen. Wenn sie jedoch an New York dachte, vermochte sie nichts anderes zu sehen als ein riesiges Haus des Schreckens. Die Irwin-Schule lag in Greenwich Village, das für sie die Freistatt finsterer Beatniks war.
{{159-3-4}}Ich selbst gab der Schule in New York City, wo ich im Haus von W. H. Melish wohnen sollte, den Vorzug. Wegen der Bedenken meiner Mutter war ich jedoch auch bereit, mich mit Fisk zu begnügen. Wir riefen die Melishes in New York an und setzten sie mit Bedauern von unserer Entscheidung in Kenntnis. Ich versuchte mir die gute Seite von Fisk auszumalen: In vier Jahren wäre ich neunzehn und könnte die Medizinische Hochschule besuchen; ein paar Jahre später würde ich schon Kinder heilen. Mit gepackten Koffern und versiegeltem Hirn war ich bereit zu reisen (obwohl ich noch nicht alle Kleider, die auf einer Liste vorgeschlagen waren, gekauft hatte, wie zum Beispiel die formellen Kleider für die verschiedenen Veranstaltungen). Ein oder zwei Tage vor meiner Abreise brach mein Vater, mein lieber Vater, sein gewohntes Schweigen und bat mich, ihm ehrlich zu sagen, was ich am liebsten täte. Aber bevor ich antworten konnte, sagte er, er wolle mir von seinen eigenen Erfahrungen während seines kurzen Aufenthalts in Fisk erzählen. (Er hatte das St. Augustin College in Raleigh, North Carolina, absolviert, aber sein Fachstudium in Fisk betrieben.) Es sei eine sehr gute Universität, sagte er. Aber um dort vorwärtszukommen, müsse man eine unbeirrbare Vorstellung von dem haben, was man dort erreichen wolle. Ich müßte beide Seiten von Fisk sehen, sagte er, seine historische Bedeutung für die Negerbevölkerung - aber auch seine Probleme. Als wir schließlich unser Gespräch beendet hatten, wußte ich, daß ich nicht nach Fisk gehen würde, wenigstens nicht in diesem Jahr. Ich müßte nur meine Mutter überzeugen, daß ich imstande war, mich gegen alle Gefahren zu wehren, die vielleicht in den Straßen von New York auf mich lauerten.
Komme nun, was wolle: ich bestieg den Zug nach New York. Die Reise selbst war symbolisch. Als ich in den Negerwaggon des Zuges einstieg, war ich von Freunden und Bekannten aus Birmingham umgeben, deren Schulen und Universitäten an der Strecke nach New York lagen. Als der Jim-Crow-Zug durch Alabama, Georgia und dann durch Washington fuhr, verließen meine Freunde in kleinen Gruppen den Zug. Manche fuhren nach Morehouse, Spellman oder Clark in Atlanta, die letzte Gruppe stieg in Washington aus, um an der Howard-Universität zu studieren. An jeder größeren Eisenbahnstation verlor die Umgebung ein bißchen von ihrer Vertrautheit. Als der Zug schließlich aus Washington abfuhr, war ich der Gesellschaft von Fremden überlassen und der Fremdheit weißer Menschen, die sich in den Waggon setzten, der in den Südstaaten »Für Farbige« gewesen waren.
Die Aussichten, die sich daraus ergaben, erregten und bedrückten mich. Ich hatte bereits die Verpflichtung übernommen, in den nächsten zwei Jahren mit Weißen zu leben und zu lernen, aber konnte ich mich daran gewöhnen, die ganze Zeit mit ihnen zusammen zu sein? Trotz der Tatsache, daß, zumindest theoretisch, die Weißen, mit denen ich zu Hause und in der Schule verkehren würde, entschlossen waren, auf irgendeiner Ebene für die Gleichheit meiner Rasse zu kämpfen, so war ich durch den Rassismus doch so stark geprägt, daß ich wußte, welche große Mühe es mich kosten würde, mich in eine weiße Welt zu fügen. Ich mußte zugleich offen und auf der Hut sein. Ich mußte wachsam sein - gerüstet für jedes frühe Zeichen einer Kränkung oder Feindseligkeit. (Ich wußte noch nicht, daß ich auch der Tendenz weißer Liberaler begegnen würde, ihre wenigen Schwarzen Bekannten mit allzu viel Rücksicht zu behandeln.) Aber ich wollte mich sehr bemühen, entspannt zu sein und empfänglich für alle menschliche Güte, die man mir erzeigen mochte. Ich fühlte eine fast unerträgliche Spannung - es war, als sei ich zwei Personen, zwei Gesichter eines Januskopfes. Das eine Gesicht starrte trostlos in die Vergangenheit - die ruhelose, gewalttätige, beengende Vergangenheit, die nur durch gelegentliche bedeutende Augenblicke und durch meine Liebe zu meiner Familie besonnt wurde. Das andere blickte mit Sehnsucht und Bangen in die Zukunft - eine Zukunft mit glühender Herausforderung, aber auch der Möglichkeit des Versagens. Pastor Melish und seine Frau erwarteten mich in der Pennsylvania Station, als der Zug einlief. Als ich zum erstenmal von ihnen und den Opfern hörte, die sie für die fortschrittliche Bewegung gebracht hatten, flößten mir beide großen Respekt ein. Auf dem Höhepunkt der McCarthy-Ära hatte Pastor Melish (der zusammen mit seinem Vater der Pfarrer der größten anglikanischen Kirche in Brooklyn war) von der Kanzel die Opfer der irren Hexenjagd McCarthys verteidigt. Er hatte darüber gepredigt, wie sehr es Pflicht der echten Christen sei, alle Formen der Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu bekämpfen. Außerdem war er zu jener Zeit ein Mitglied der Gesellschaft für amerikanisch-sowjetische Freundschaft; und in jenen Tagen sahen McCarthy und Genossen keinen Unterschied, ob jemand das Recht eines Menschen, Kommunist zu sein, verteidigte oder selbst einer war. Die Melishes hatten dann eine Zeitlang einen heftigen und stürmischen Kampf mit der Hierarchie der anglikanischen Kirche ausgefochten; sie waren durch die öffentlichen Medien verleumdet, dann vor ein geistliches Gericht zitiert worden und hatten schließlich die Kirche verloren. Aber sie waren durch ihre Leiden nur stärker und entschlossener geworden. Es gab drei Söhne in der Familie Melish: zwei älter als ich und einer jünger. Einer war in der zwölften und ein anderer in der siebenten Klasse der Irwin-Schule. Ich fühlte mich bei dem Gedanken ein wenig beruhigt, daß mir jemand helfen würde, mich in dieser Schule zurechtzufinden, die sich nach allem, was ich gehört hatte, von den mir bekannten unterschied. Ich wurde in der Familie heimisch und versuchte, die nähere Umgebung kennenzulernen. Ich fand es tröstlich, daß das Haus mitten im Herzen der Schwarzen Gemeinschaft lag - in Bedford Stuyvesant, an der Ecke von Kingston und St. Marks Street. Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, daß auch die Negerbevölkerung vom Wesen New Yorks beeinflußt war. Man ging nicht auf die Straße, vor allem als Frau, und fing mit einem vorübergehenden Bruder ein Gespräch an. In Birmingham wäre es der Gipfel der Hochnäsigkeit gewesen, an jemandem von der eigenen Rasse ohne einen Gruß wie »Guten Abend« vorbeizugehen. Wenn man hier jedoch einen Fremden auf der Straße ansprach, wurde man angesehen, als hätte man den Verstand verloren.
Vor dem eigentlichen Semesterbeginn machte ich mit Mrs. Melish einen Besuch in der Schule und lernte dabei einige der Lehrer kennen. Die Irwin-Schule am Rande von Greenwich Village war ein so kleines Gebäude inmitten eines Blocks von zweistöckigen Wohnhäusern, daß man es nie für eine Schule gehalten hätte, falls man nicht zufällig am Morgen daran vorbeiging, wenn die Schule anfing, oder am Abend, wenn sie zu Ende war. Die Geschichte der Schule beeindruckte mich. Man hatte sie vor einigen Jahrzehnten innerhalb des öffentlichen Erziehungssystems als Experiment der progressiven Erziehung geplant. Als die Kammer für Bildung und Erziehung in New York verfügte, mit dem Experiment Schluß zu machen, faßten die Lehrer den Entschluß, die Schule selbst zu übernehmen und die Fortsetzung ihrer Existenz zu garantieren. Sie verwandelten sie in eine Privatschule, verlangten Schulgeld von ihren Schülern und machten sich zu Kollektiveigentümern der Anstalt. Neben der Oberschule gab es auch eine Grundschule und einen Kindergarten in einem roten Backsteinhaus in der Bleecker Street, das den treffenden Namen »Das kleine rote Schulhaus« trug. Für jeden Jahrgang, vom fünften Lebensjahr bis zur Oberprima, gab es je eine Klasse von 25 bis 30 Schülern. Diese erste Begegnung mit dieser Schule zerstörte gründlich meine Vorstellungen, wie eine Schule eigentlich aussehen sollte. Alle Lehrer, die ich bisher gekannt hatte, waren konservativ in ihrer Erscheinung gewesen: Die Männer trugen Anzug und Schlips, die Frauen einfache, aber schicke Kleider. Einer der ersten Lehrer, denen ich nun vorgestellt wurde, trug verbeulte Jeans, ein grellbuntes Hemd mit kurzen Ärmeln, Tennisschuhe, und sein Gesicht war größtenteils hinter einem Bart versteckt. Außerdem war ich sprachlos, daß ich die Lehrer bei ihrem Vornamen kennenlernte. Selbst der Direktor der Schule, ein sympathischer, weißhaariger, würdiger Herr aus New England - selbst er wurde mir mit dem Vornamen vorgestellt. Weil es eine kleine Schule war und eine beträchtliche Anzahl der Schüler dort mit vier Jahren eingetreten war und bis zum Abschlußexamen blieb, herrschte eine unvermeidliche Tendenz zur Cliquenbildung. Ich spürte sofort diese familienähnliche Atmosphäre und war mir nicht sicher, ob es mir gelingen würde, mich richtig einzufügen. Als ich in Gesprächen mit den Melishes und anderen, die Bescheid wußten, versuchte, ein vollständigeres Bild von der Schule zu erhalten, erfuhr ich, daß viele der gegenwärtigen Lehrer von der Kammer für Bildung und Erziehung auf die schwarze Liste (weiße Liste?) gesetzt worden waren und deshalb in öffentlichen Schulen nicht unterrichten durften. Ihre politischen Anschauungen reichten von liberal bis radikal, einschließlich kommunistischer Sympathien - oder ich glaubte es wenigstens. Wenn ich versuchte, mir das alles zusammenzureimen, war mir, als schwämme ich in unerforschten Gewässern. Ich kannte die Unterströmungen nicht, konnte nie wissen, ob ich mich in tiefem oder seichtem Wasser befand oder vielleicht in einem Sumpf oder auf Schwemmsand. Und ich hatte keinen Führer, der meine Stärken und Schwächen verstand die Stärken und Hemmungen einer jungen Schwarzen Frau aus dem rassistischen Süden. Während ich die Hürden nahm, die mir meine neue Umgebung bot, begann ich mich im neuen Zuhause und in der Schule behaglicher zu fühlen. Als der Sozialismus in meinen Geschichtsstunden behandelt wurde, öffnete sich vor meinen Augen eine ganze neue Welt. Zum erstenmal wurde mir der Gedanke nahegebracht, daß es eine ideale sozio-ökonomische Einrichtung geben könnte: daß jeder Mensch nach seiner Fähigkeit und seinen Gaben etwas zur Gesellschaft beitragen und dafür nach seinen Bedürfnissen materielle und spirituelle Hilfe erhalten konnte. Ich verstand noch nicht den wissenschaftlichen Sozialismus, versuchte aber, die utopischen sozialistischen Experimente zu begreifen, die wir in unseren Geschichtsstunden besprachen. Ich war von jenen Menschengruppen fasziniert, die entschlossen waren, sich völlig zu isolieren und eine neue kleine sozialistische und menschliche Gemeinschaft aufzubauen. Ich begnügte mich nicht mit dem Material, von dem wir in unseren Geschichtsbüchern lasen. Ich ging zur Bibliothek und las alles, was ich über Robert Owens und die anderen Führer der Bewegung finden konnte. Vielleicht war es meine romantische Strähne, die mich zu den utopischen Sozialisten hinzog. Als ich mir nämlich die reale Möglichkeit überlegte, die Probleme meines Volkes, und ebenso die Probleme der ausgebeuteten weißen Menschen, zu lösen, konnte ich den Übergang von der realen Welt der Unterdrückung, des Rassismus und der Ungerechtigkeit zur idealen Welt des Kommunismus nicht finden. Vielleicht mochten ein paar Leute hier und da ihre Seelen vor der Korruption des Kapitalismus bewahren, aber kleine, kollektive, kommunistische landwirtschaftliche Gesellschaften waren unzweifelhaft nicht das Mittel, Millionen und Abermillionen von Menschen zu befreien.
Das »Kommunistische Manifest« traf mich wie ein Donnerkeil. Ich las es gierig und fand darin Antworten auf viele der scheinbar unlösbaren Widersprüche, die mich gequält hatten. Ich las es wieder und wieder, ohne sogleich jeden Absatz und jeden Gedanken zu verstehen, aber trotzdem von der Vorstellung gebannt, daß eine kommunistische Revolution hier möglich war. Ich begann die Probleme der Neger im Zusammenhang mit einer großen Arbeiterbewegung zu sehen. Die Befreiung der Schwarzen hatte in meinem Kopf noch keine klare Form angenommen, und ich konnte nicht die richtigen Begriffe finden, um sie zu artikulieren, aber dennoch begann mir vorzuschweben, wie der Kapitalismus abgeschafft werden konnte. Ich war besonders beeindruckt von einer Stelle im »Manifest«, die das Proletariat als den Retter aller unterdrückten Menschen darstellte:

»Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl, im Interesse der ungeheuren Mehrzahl. Das Proletariat, die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft, kann sich nicht erheben, nicht aufrichten, ohne daß der ganze Überbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft bilden, in die Luft gesprengt wird.«

Was mich so tief bewegte, war der Gedanke, daß, wenn die Emanzipation des Proletariats zur Wirklichkeit wurde, dann auch der Grund für die Emanzipation aller unterdrückten Gruppen in der Gesellschaft gelegt wurde. Bilder von Schwarzen Arbeitern in Birmingham, die jeden Morgen in die Stahlwerke schlurften oder in die Schächte einfuhren, tauchten vor meinem geistigen Auge auf. Dieses Dokument entfernte wie ein geschickter Chirurg den Star aus meinen Augen. Die haßbeschwerten Augen auf dem Dynamit-Hügel, das Dröhnen von Explosionen, die Furcht, die versteckten Waffen, die weinenden Schwarzen Frauen an unserer Tür, die Kinder ohne Lunch, das Blutvergießen auf dem Schulhof, die Gesellschaftsspiele der Schwarzen Mittelklasse, Schuppen 1, Schuppen 2, der hintere Teil der Busse, Polizeirazzien - alles fand jetzt seinen Platz. Was wie persönlicher Haß auf mich ausgesehen hatte, die unerklärliche Weigerung der Weißen im Süden, sich ihren eigenen Gefühlen zu stellen, und eine dumpfe Bereitwilligkeit der Schwarzen, sich zu fügen, wurde zur unausweichlichen Folge eines grausamen Systems, das sich dadurch am Leben und bei Gesundheit erhielt, daß es Schikane, Konkurrenz und die Unterdrückung einer Gruppe durch die andere förderte. Profit war das Wort: das kalte und allgegenwärtige Motiv für das Verhalten, die Verachtung und die Verzweiflung, die ich gesehen hatte. Jetzt merkte ich, daß ich einige meiner Ideen über die Befreiung ändern mußte. Ich erkannte, daß ich mich trotz meiner oberflächlichen Vorbehalte gegen gewisse gesellschaftliche Aktivitäten der Schwarzen Mittelklasse darauf verlassen hatte, daß sie die Arbeiter, die Arbeitslosen und die Armen unter uns zur Freiheit führen würde. Natürlich lag die mächtigste Wirkung, die das »Manifest« auf mich hatte - das, was mich am meisten bewegte - in der Vision einer neuen Gesellschaft ohne Ausbeuter und ohne Ausgebeutete, einer Gesellschaft ohne Klassen, einer Gesellschaft, wo niemand so viel besitzen durfte, daß er seinen Besitz zur Ausbeutung anderer Menschen einsetzen konnte. Nach der kommunistischen Revolution werden wir »eine Assoziation haben, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«. Die Schlußworte des »Manifests« erweckten in mir das überwältigende Verlangen, mich der kommunistischen Bewegung in die Arme zu werfen:

»Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnungen. Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«

Ganz zufällig wurde ich etwa zu der Zeit, als ich das »Kommunistische Manifest« las, von einer Freundin eingeladen, an den Versammlungen einer Jugendorganisation teilzunehmen, die sich Advance (Vorwärts) nannte. Sie war die Tochter eines Mitglieds der Kommunistischen Partei, und Advance war eine marxistisch-leninistische Jugendorganisation, die der Partei brüderlich verbunden war. Viele der Versammlungen fanden im Haus von Herbert Aptheker statt - dem hochangesehenen kommunistischen Historiker - und seine Tochter Bettina Aptheker spielte eine bedeutende Rolle in der Organisation.
Eugene Dennis, der Sohn des kommunistischen Führers gleichen Namens, gehörte ebenfalls zu der Gruppe, sowie Mary Lou Patterson, die Tochter des furchteinflößenden Schwarzen Kommunistischen Anwalts William Patterson. Es war Patterson, der im Jahr 1954 den Vereinten Nationen die Bittschrift vorlegte, in der gegen den Völkermord am Schwarzen Volk protestiert wurde. Mit Harriet, der Tochter von James Jackson, Mary Lou, Margaret und Claudia Burnham war ich schon eng befreundet; jetzt wurden wir durch unsere Arbeit in Advance wahrhaft »Waffengenossinnen«.
Herbert Aptheker hielt im Amerikanischen Institut für Marxistische Studien eine Vorlesung über die Grundlagen des Marxismus. Zusammen mit anderen Mitgliedern von Advance nahm ich an seiner Vorlesung teil, die mir dazu verhalf, die Geheimnisse des »Manifests« zu durchdringen. Advance nahm an allen Friedensdemonstrationen teil, die damals von SANE organisiert wurden, dem Ausschuß für eine vernünftige (sane) Nuklearpolitik und, in Solidarität mit der Bewegung des Südens, an Demonstrationen für die Bürgerrechte. Die ersten Sit-ins waren am 1. Februar 1960 in Greensboro, North-Carolina, durchgeführt worden und hatten sich über den ganzen Süden verbreitet. Nachdem man F. W. Woolworth aufgefordert hatte, in seinem Betrieb Schwarze Verkäufer anzustellen, trugen wir jeden Samstag morgen unsere Streikschilder und die Aufrufe zum Woolworth-Laden in der 42nd Street, organisierten eine Streiklinie und versuchten, die New Yorker zu überreden, nicht in dem Laden zu kaufen, bis er sich bereitfand, im Süden Schwarze Verkäufer anzustellen. Obwohl ich auf diese Weise in der Bewegung engagiert war, fühlte ich mich betrogen: Genau in dem Moment, in dem ich mich entschlossen hatte, den Süden zu verlassen, schoß dort pilzartig eine Bewegung aus dem Boden. Im Jahr 1961, als der Bus mit den »Freedom Riders« im Omnibusbahnhof von Birmingham ankam, rief ich meine Eltern an, um ihnen zu sagen, daß ich nach Hause wollte - und sie zu bitten, mir das Geld für die Reise zu schicken. Als sie mir erwiderten, ich solle lieber in New York bleiben und dort mein letztes Schuljahr beenden, war ich zu traurig und frustriert, um mich auf meine Schularbeit zu konzentrieren. Jedesmal, wenn ich auf Bildern oder im Fernsehen Polizei sah, die Wasserwerfer gegen Demonstranten einsetzte oder Hunde auf kleine Kinder hetzte, schloß ich die Tür zu meinem Zimmer, weil die Melishes nicht merken sollten, daß ich weinte.
Das waren aufregende Jahre - und ich habe nie meinen Entschluß bereut, sie in New York zu verbringen. Aber es waren Jahre der Spannung. Der Januskopf war noch wie früher - ein Auge voller Sehnsucht, im brodelnden Birmingham dabeizusein, das andere die eigene Zukunft erwägend. Es würde noch lange dauern, bis die beiden Gesichter zusammenkamen und ich die Richtung von beiden, Vergangenheit und Zukunft, kannte.