Netze

Das Netz wird zerrissen werden
vom Horn eines springenden Kalbes

9. August 1970

Ich glaube, daß ich ihr gedankt habe, aber ich bin nicht sicher. Vielleicht sah ich nur zu, wie sie in die Einkaufstasche langte, und nahm die Perücke, die sie mir hinhielt, schweigend entgegen. Sie lag wie ein kleines verängstigtes Tier in meiner Hand. Ich war allein mit Helen, auf der Flucht vor der Polizei und in Trauer um einen, den ich geliebt hatte. Zwei Tage zuvor hatte ich in ihrem Haus, das auf einem Hügel im Echo Park von Los Angeles steht, von der Revolte im Gerichtsgebäude von Marin County erfahren, und vom Tod meines Freundes Jonathan Jackson. Bis vor zwei Tagen hatte ich von Ruchell Magee, James McClain und William Christmas - den drei Strafgefangenen in San Quentin, die zusammen mit Jonathan an der Revolte teilgenommen hatten, - noch nie etwas gehört. Jetzt waren Jonathan, McClain und William Christmas tot. Aber an jenem Abend schien es mir, als hätte ich sie seit langem gekannt. Ich ging ins Badezimmer, stand vor dem Spiegel und versuchte, meine Haare unter das enge Gummiband zu stecken. Wie gebrochene Flügel taumelten die Hände um meinen Kopf; meine Gedanken hatten mit ihren Bewegungen nichts zu tun. Als ich schließlich in den Spiegel blickte, ob noch Haare unter der Perücke hervorguckten, sah ich ein Gesicht, das so sehr von Qual, Spannung und Ungewißheit erfüllt war, daß ich, es nicht als das meine erkannte. Mit den falschen schwarzen Locken, die über eine gefurchte Stirn in rotgeschwollene Augen fielen, sah ich absurd aus, grotesk. Ich riß mir die Perücke vom Kopf, warf sie auf den Boden und schlug mit der Faust auf das Waschbecken. Es blieb kalt, weiß und unerschüttert. Ich zwang die Perücke wieder über den Kopf. Ich mußte normal aussehen. Ich durfte den Argwohn des Tankwarts nicht erregen, bei dem wir unseren Wagen volltanken wollten. Ich wollte nicht die Aufmerksamkeit eines Menschen auf mich lenken, der vielleicht neben uns auffuhr, wenn wir an einer Straßenkreuzung auf grünes Licht warteten. Ich mußte so unauffällig aussehen wie irgendwer in Los Angeles.
Ich sagte Helen, daß wir gleich bei Einbruch der Dunkelheit aufbrechen wollten. Aber die Nacht wollte den Tag nicht abschütteln, der sich an ihren Rändern festklammerte. Wir warteten. Stumm. Hinter zugezogenen Vorhängen versteckt lauschten wir auf die Straßengeräusche, die durch das einen Spalt geöffnete Balkonfenster zu uns drangen. Jedesmal wenn ein Auto seine Fahrt verlangsamte oder stoppte, jedesmal wenn draußen auf dem Pflaster Schritte ertönten, hielt ich den Atem an - fragte mich, ob wir vielleicht zu lange gezögert hatten. Helen war nicht sehr gesprächig. Es war auch besser so. Ich war froh, daß sie in diesen letzten Tagen bei mir ausgeharrt hatte. Sie war ruhig und versuchte nicht, die schwierige Lage mit einem Haufen von sinnlosem Geschwätz zuzudecken. Ich weiß nicht, wie lange wir in dem spärlich beleuchteten Zimmer gesessen hatten, als Helen das Schweigen brach und sagte, daß es draußen wahrscheinlich nicht mehr dunkler werden würde. Es sei an der Zeit zu gehen. Zum erstenmal, seit wir festgestellt hatten, daß die Polizei hinter mir her war, trat ich ins Freie. Es war viel dunkler, als ich gedacht hatte, aber ich fühlte mich trotz der Dunkelheit ungeschützt und wehrlos.
Draußen im Freien spürte ich inmitten von Kummer und Zorn auch Angst. Schlicht und einfach Angst, so überwältigend und so erschütternd, daß ich sie nur mit dem abgründigen Gefühl vergleichen konnte, das mich als Kind befallen hatte, wenn ich im Dunkeln alleingelassen worden war. Dann war mir etwas Unbeschreibliches, Ungeheuerliches im Rücken gestanden, das mich zwar nicht berührte, aber doch immer bereit war, sich auf mich zu stürzen. Wenn mich meine Mutter oder mein Vater fragten, was mir denn solche Angst machte, dann klangen die Worte, mit denen ich dieses Ding beschreiben wollte, lächerlich und dumm. Jetzt konnte ich bei jedem Schritt etwas fühlen, das da war und das ich leicht beschreiben konnte. Bilder von Überfällen fuhren mir durch den Kopf, aber sie waren nicht abstrakt - es waren deutliche Vorstellungen von Maschinengewehren, die aus dem Dunkel hervorbrachen, Helen und mich umzingelten, das Feuer eröffneten...
Jonathans Leiche hatte vor dem Amtsgebäude von Marin County auf dem heißen Asphalt des Parkplatzes gelegen. Ich sah auf dem Fernsehschirm, wie sie ihn an einem Seil, das sie ihm um den Leib gebunden hatten, aus dem Polizeiwagen zogen... Mit seinen siebzehn Jahren hatte Jon mehr Brutalität erlebt als die meisten Menschen zeit ihres Lebens. Seit seinem achten Lebensjahr war er durch Gefängnisgitter und feindliche Wachmannschaften von seinem älteren Bruder George getrennt gewesen. Und ich hatte ihn einmal blöde gefragt, warum er so selten lächelte.
Der Weg vom Echo Park zum Negerviertel in der Gegend von West Adams war mir sehr wohl bekannt. Ich war ihn oft gefahren. Aber an diesem Abend kam er mir fremd vor, denn überall lauerten die unbekannten Gefahren, die dem Flüchtling drohten. Und davor gab es kein Entrinnen - mein Leben war jetzt das eines Flüchtlings, und Flüchtlinge sind stündlich von Verfolgungsangst umschlossen. Jede fremde Person, die ich sah, konnte ein verkleideter Agent sein, dessen Bluthunde im Gebüsch auf den Befehl ihres Herrn warteten. Als Flüchtling leben bedeutet, der Hysterie Widerstand leisten, zwischen Schöpfungen einer furchtgeladenen Phantasie und den echten Anzeichen für die Nähe des Feindes unterscheiden. Ich mußte lernen, mich ihm zu entziehen, ihn zu überlisten. Das würde schwer sein, aber nicht unmöglich. Tausende meiner Vorfahren hatten wie ich auf den Einbruch der Nacht gewartet, um ihre Spuren zu verwischen, hatten sich auf die Hilfe eines treuen Freundes verlassen und hatten, wie ich, schon die Zähne der Hunde an ihren Hacken gespürt. Es war einfach. Ich mußte ihrer würdig sein.
Die Umstände, die zu meiner Verfolgung geführt hatten, waren vielleicht ein bißchen komplizierter, aber gar nicht so sehr verschieden. Vor zwei Jahren hatte das SNCC (Student Non-Violent Coordinating Committee = Studentenausschuß für gewaltlose Koordination) eine Cocktail-Party veranstaltet, um Geld zu sammeln. Nach der Party hatte die Polizei in der Bronson Street eine Razzia auf die Wohnung von Franklin und Kendra Alexander veranstaltet, die Mitglieder der Kommunistischen Partei und zwei meiner engsten Freunde waren. Ein paar Anhänger des Ausschusses hatten sich dort versammelt. Geld und Waffen wurden konfisziert, und alle Anwesenden wurden unter dem Verdacht des bewaffneten Raubüberfalls verhaftet. Sobald die Polizei entdeckte, daß eine der Waffen - eine 380 Automatik - auf meinen Namen registriert war, wurde ich zum Verhör vorgeladen. Die Beschuldigungen ließen sich vor Gericht jedoch nicht aufrechterhalten, und nach einigen Nächten im Gefängnis wurden die Schwestern und Brüder freigelassen und die Waffen ihren Eigentümern zurückgegeben. Dieselbe 380 Automatik, die mir die Polizei von Los Angeles so widerstrebend zurückgegeben hatte, befand sich nun im Besitz der Bezirksregierung von Marin County, da sie bei der Revolte im Gerichtssaal benutzt worden war. Der Richter, der die Verhandlung gegen James McClain geführt hatte, war getötet und der Staatsanwalt, der die Anklage vertreten hatte, verwundet worden. Noch bevor mir Franklin erzählte, daß die Polizei um mein Haus schlich, wußte ich, daß sie hinter mir her sein würde. In den letzten Monaten hatte ich praktisch meine ganze Zeit darauf verwendet, eine Massenkundgebung für die Befreiung der Soledad-Brüder - Jonathans Bruder George, John Cluchette und Fleeta Drumgo - vorzubereiten, die unter falschem Mordverdacht im Soledad-Gefängnis saßen und auf ihren Prozeß warteten. Ich war gerade vom kalifornischen Gouverneur Ronald Reagan und dem Verwaltungsrat der Universität aus meinem Lehramt an der Universität von Kalifornien gefeuert worden, weil ich ein Mitglied der Kommunistischen Partei war. Natürlich würde man den Umstand, daß meine Waffe in Marin County gebraucht worden war, zu einem neuen Schlag gegen mich ausnutzen. Das war mir klar.
Am 9. August umschwärmten Agenten (Polizei von Los Angeles oder FBI?) wie zornige Wespen Kendra, Franklin und meine Zimmergenossin Tamu. Andere Mitglieder des Che-Lumumba-Clubs - unseres Parteikollektivs - und des Verteidigungsausschusses für die Soledad-Brüder hatten Franklin erzählt, daß auch sie unter Beobachtung stünden. Als Franklin am gleichen Tag Helen und Tim in ihrer Wohnung im Echo Park besuchen wollte, hatte er mehrere Stunden gebraucht, um die ihn verfolgenden Polizisten abzuschütteln - mehrere Stunden des Irreführens und Versteckens, des Autowechsels in leeren Seitengassen, des Eintretens durch Vordertüren in Häuser, die man durch die Hintertür wieder verließ. Er hatte Angst, sich noch einmal auf die Straße zu wagen, um sich mit mir in Verbindung zu setzen. Es könnte diesmal schiefgehen. Wenn eine Großfahndung eingeleitet würde, dann wäre auch die Wohnung von Helen und Tim nicht mehr sicher. Ich kannte sie schon seit einer Reihe von Jahren, und obwohl sie keiner Organisation der Bewegung als Mitglieder angehörten, hatten sie sich durch radikale politische Aktivität hervorgetan. Früher oder später würden ihre Namen im Notizbuch eines Polizisten auftauchen. Wir mußten einen schnellen getarnten Umzug durchführen.
Die Adresse, die man mir und Helen gegeben hatte, befand sich in einer ruhigen gepflegten Straße von West Adams. Das Haus war ein älteres Zweifamilienhaus, umgeben von hübsch angelegten Hecken und blühenden Blumen. Nachdem ich mich verlegen von Helen verabschiedet hatte, stieg ich aus dem Auto und drückte ängstlich auf die Türklingel. Wenn wir nun die Hausnummer falsch verstanden hatten und dies nicht das richtige Haus war? Während ich unruhig wartete, daß sich die Tür öffnete, überlegte ich mir, was für Leute das wohl waren, wie sie aussahen und wie sie auf mich reagieren würden. Ich wußte nichts weiter als daß Frau Hattie und ihr Mann John Schwarze waren, die mit der Bewegung sympathisierten. Sie stellten keine Fragen, als ich ankam, und verzichteten auf die üblichen Formalitäten. Sie ließen mich einfach ein, nahmen mich auf - vorbehaltlos und mit einer Zuneigung und Ergebenheit, wie sie sonst nur der eigenen Familie vorbehalten ist. Sie ließen es zu, daß ihr Leben durch meine Gegenwart gestört wurde. Zu meinem Schutz stellten sie ihre Lebensgewohnheiten so um, daß zu jeder Zeit einer von ihnen im Hause war. Ihren Freunden gegenüber, die sie regelmäßig besuchten, gebrauchten sie Ausflüchte, so daß niemand von meiner Anwesenheit in ihrem Haus erfuhr.
Nach ein paar Tagen begann ich mich so geborgen und behaglich zu fühlen, wie es unter solchen Umständen möglich war. Es schien, als könnte ich wieder lernen, meine Augen in der Nacht einige Stunden zu schließen, ohne die Geschehnisse von Marin County in einem fürchterlichen Alptraum vor mir zu sehen. Ich fing sogar schon an, mich an das alte eiserne Bett zu gewöhnen, das im Speisezimmer aus der Wand geklappt wurde. Und ich konnte mich fast auf die Anekdoten konzentrieren, die mir Hattie von ihrer Laufbahn als Unterhaltungskünstlerin erzählte, wie sie sich mühsam trotz aller Diskriminierungen ihren Weg gebahnt hatte, um sich als die Tänzerin durchzusetzen, die sie sein wollte. Ich war bereit, mich dort auf ewig zu verkriechen, das heißt, bis wieder bessere Zeiten kamen. Aber die Fahndung nach mir hatte sich verstärkt (der konservative Nachrichtensprecher George Putnam hatte in seinem Fernsehprogramm von Los Angeles erklärt, daß sie sogar bis nach Kanada reichte). Unzweifelhaft war es das beste, eine Zeitlang aus Kalifornien zu verschwinden.
Was ich tat, war mir absolut zuwider; die nächtlichen Umzüge, das Verschleiern der Augen, die ganze Atmosphäre von Dunkel und Heimlichkeit. Obwohl ich wahrhaftig schon lange überzeugt war, daß eines Tages viele von uns würden untertauchen müssen, haßte ich diese lichtscheue Nacht-und-Nebel-Existenz nicht weniger, nachdem sich meine Befürchtungen bewahrheitet hatten. Ein Freund, David Poindexter, lebte in Chicago. Ich hatte ihn lange nicht gesehen, war aber sicher, daß er alles stehen- und liegenlassen würde, um mir zu helfen. Ich war darauf gefaßt, die Reise allein zu machen, und hatte nicht erwartet, daß Hattie unter allen Umständen bei mir bleiben wollte, bis ich David gefunden hatte. Ich fragte mich, wo sie ihre Kraft hernahm. Es war, als müsse sie so handeln, ungeachtet der Gefahr, der sie ihr eigenes Leben aussetzte.
Nachdem alles bereit war, fuhren wir die ganze Nacht hindurch nach Las Vegas, Meine Freunde hatten einen älteren Schwarzen Mann - dem ich in jener Nacht zum erstenmal begegnete - gebeten, uns auf diesem Teil der Reise zu begleiten. Schön herausgeputzt sah Hattie ganz wie die Tänzerin, aus, die sie in jüngeren Jahren gewesen war. Mit der Anmut und Würde einer Josephine Baker lenkte sie, wo immer sie ging, die Blicke auf sich. Auf dem Flughafen von Las Vegas mischte ich mich zum erstenmal, seit ich untergetaucht war, wieder unter Menschen; und jedesmal, wenn uns ein weißer Mann eingehender musterte, als ich es für angezeigt hielt, wurde er von meinem hämmernden Herzen als Polizeiagent identifiziert. Es war allgemein bekannt, daß der O'Hare-Flughafen in Chicago ein Zentrum der Intrige war und unter strenger Kontrolle der CIA-FBI stand. Wir schlängelten uns durch die Menschenmassen und suchten verzweifelt nach David, der uns am Flugsteig nicht erwartet hatte. Ich murmelte Verwünschungen gegen ihn, obwohl ich wußte, daß er wahrscheinlich nicht schuld war. Es stellte sich heraus, daß die Nachricht, die man ihm geschickt hatte, zu verschlüsselt gewesen war und er geglaubt hatte, ich würde unmittelbar zu seiner Wohnung kommen. Wir nahmen uns schließlich ein Taxi.
Hattie verabschiedete sich von mir, nachdem sie mich sicher in Davids Wohnung abgeliefert hatte, die die ruhigen Gewässer des Lake Michigan überblickte. Obwohl ich froh war, ihn zu sehen, hatte ich mich so mit Hattie angefreundet, daß mir der Abschied weh tat. Als wir uns umarmten, konnte ich kein Dankeschön hervorbringen - diese Worte waren viel zu klein für jemand, der das eigene Leben riskiert hatte, um das meine zu retten. David war gerade dabei, seine Wohnung neu einzurichten, und fast alles war in fürchterlicher Unordnung. Tapeten halb an die Wand gekleistert, Möbel in der Mitte des Wohnzimmers aufeinander gestapelt, Bilder, kleine Skulpturen und andere Gegenstände, wie es gerade kam, über die Couch verstreut.
Ich hatte vergessen, wie gern David redete. Ob er ein politisches Problem besprach oder einem sagte, daß man einen Fleck auf der Bluse hatte, seine Rede floß ununterbrochen. In den ersten fünf Minuten warf er mir so viele Dinge an den Kopf, daß ich ihn bitten mußte, etwas zu bremsen und einiges zu wiederholen. Nachdem ich mein Gepäck abgestellt und mir das Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen hatte, gingen wir in sein Arbeitszimmer und setzten uns auf den dicken blauen Teppich inmitten der über das ganze Zimmer verstreuten Bücher. Er könne die Reise nach dem Westen, die für den nächsten Tag angesetzt war, nicht absagen, behauptete er, aber er würde sie abkürzen, um in wenigen Tagen wieder zurück zu sein. Die Aussicht, die nächsten Tage allein zu verbringen, war verlockend. Ich konnte die Zeit gebrauchen, um mich zu orientieren, über die kommenden Wochen nachzudenken und mich zusammenzureißen. Die Einsamkeit würde mir guttun.
Später machte mich David mit Robert Lohman bekannt, der im selben Gebäude wohnte. Als er mir vorgestellt wurde, war Robert Lohman Davids »sehr guter Freund«, einer, dem man vertrauen konnte, der mir in den nächsten Tagen jederzeit zur Verfügung stehen würde, wenn ich jemand brauchte, der sich um mich kümmerte, dafür sorgte, daß Lebensmittel im Kühlschrank waren,. und mir Gesellschaft leistete, wenn ich es wünschte.
Es war Nachmittag, als ich Robert kennenlernte. Gegen Abend waren er und David sich fürchterlich über das Auto in die Haare geraten, das ihnen gemeinsam gehörte. (Nehmen wir mal an, David würde erwischt, wenn er mich in einem Auto fuhr, das auf Roberts Namen zugelassen war...) Als der verbale Schlagabtausch vorbei war, lag ihre Freundschaft in Trümmern, und Robert war in unseren Augen ein potentieller Verräter. Das zwang uns, alle unsere Pläne neu zu überdenken. David und ich fuhren in einem anderen Auto durch den heftigen Nachtregen zu dem Haus, in dem er und seine Frau vor deren Tod gewohnt hatten. Als ich mich zu entschuldigen suchte, daß ich einen Keil in sein Leben getrieben, seine Freundschaften ruiniert und ihn letzten Endes gezwungen hatte, seine wichtige Reise nach dem Westen aufzugeben, wollte er mich nicht anhören. Alle diese Dinge seien jetzt bedeutungslos, sagte er.
Bevor David einschlief (ich saß die ganze Nacht wach), beschlossen wir, am nächsten Tag die Stadt zu verlassen. Meine Vermummung hatte. für den ersten Teil der Reise ausgereicht. Aber für eine Lage, die sich immer mehr zuspitzen mußte, war sie nicht gut genug. Die gelockte Perücke, die meiner Afro-Frisur zu ähnlich war, veränderte das Aussehen meines Gesichts nicht genügend. Bevor wir Chicago verließen, gab mir eine junge Schwarze Frau, der ich mich als Davids von Gefahr bedrohte Kusine vorstellte, eine andere Perücke, die straff und steif war mit langen Ponies und kunstvollen Spucklocken. Sie zupfte mir die halben Augenbrauen aus, klebte falsche Wimpern an meine Lider, bedeckte mein Gesicht mit allerhand Creme und Pudern und brachte einen kleinen schwarzen Fleck direkt über meinem Mundwinkel an. Ich fühlte mich unbehaglich und zu bunt zurechtgemacht, aber ich bezweifelte, daß meine eigene Mutter mich erkannt hätte. Wir hatten uns entschlossen, nach Miami zu reisen. Da die Flughäfen am strengsten bewacht waren, planten wir eine Reise auf dem Boden - mit dem Auto nach New York und von dort mit dem Zug nach Miami. Nachdem wir das Auto gemietet und David seine Sachen gepackt hatte, begaben wir uns auf diese wilde Odyssee, deren Einzelheiten wir unterwegs improvisieren mußten. In einem Motel außerhalb von Detroit stellte ich das Fernsehen an, um mir die Nachrichten anzusehen. »Heute wurde Angela Davis, die unter dem Verdacht des Mordes, der Entführung und der Verschwörung in Verbindung mit der Schießerei vor dem Gerichtsgebäude von Marin County gesucht wird, beim Verlassen ihres Elternhauses in Birmingham, Alabama, beobachtet. Es ist bekannt, daß sie an einer Versammlung der Ortsgruppe der Schwarzen-Panther-Partei teilgenommen hat. Als Beamte von Birmingham sie verhaften wollten, gelang es ihr, in ihrem blauen Rambler, Baujahr 1959, zu entkommen...«
Meinten sie meine Schwester? Aber die müßte doch in Kuba sein. Und als ich meinen Wagen zum letztenmal gesehen hatte, war er vor Kendras und Franklins Wohnung in der 50th Street von Los Angeles geparkt. Ich hatte Angst um meine Eltern. Die FBI und die Ortspolizei müssen wie die Bussarde um das Haus gekreist sein. Da ich wußte, daß die Telefonleitungen angezapft wurden, hatte ich nicht gewagt, sie anzurufen. Ich konnte nur hoffen, daß Franklin ihnen irgendwie mitgeteilt hatte, daß ich in Sicherheit war.
In Detroit tauchten wir in der Menge unter, als wir einen Optiker suchten, der mir schnellstens eine Brille anfertigen konnte. Seit der Nachricht von der Revolte war ich nicht mehr zu Hause gewesen und hatte kein Gepäck. Ich mußte mir Kleider kaufen, um aus den Sachen herauszukommen, die ich in den letzten paar Tagen getragen hatte.
Von Detroit fuhren wir nach New York, wo wir in einen Zug stiegen, der fast zwei Tage bis nach Miami brauchte. Dort verbarrikadierte ich mich unter der blendend hellen Sonne des Spätsommers in einer unmöblierten Wohnung, die David mietete, und wartete auf bessere Zeiten. Ich fühlte mich fast genauso als Gefangene, als wenn ich im Gefängnis eingesperrt gewesen wäre, und war oft auf David neidisch, weil er gehen konnte, wohin er wollte - einmal ist er sogar nach Chicago zurückgefahren. Ich blieb in der Wohnung, las und sah mir die Nachrichten im Fernsehen an: die drakonische Unterdrückung der Palästinenser durch König Hussein von Jordanien; den ersten der großen Gefängnisaufstände in den »Tombs« von New York. George erschien niemals in den Nachrichten. George, John, Fleeta, Ruchell, San Quentin...
Gegen Ende September gab es Anzeichen einer heißen und tödlichen Verfolgungsjagd. Davids Mutter, die in der Nähe von Miami wohnte, erzählte ihm, daß zwei Männer in ihr Haus gekommen seien und sich nach seinem Verbleib erkundigt hätten. Die alten Ängste meldeten sich wieder, und ich begann ernstlich zu bezweifeln, ob ich der Polizei entrinnen könnte, ohne das Land gänzlich zu verlassen. Aber immer wenn ich mir überlegte, außer Landes zu gehen, war mir der Gedanke, auf unbestimmte Zeit in einem anderen Land zu leben, noch grauenhafter als die Vorstellung, im Gefängnis eingesperrt zu sein. Im Gefängnis war ich wenigstens näher bei meinem Volk, näher bei der Bewegung.
Nein. Ich wollte das Land nicht verlassen, aber vielleicht konnte ich der FBI vorspiegeln, daß ich ins Ausland entkommen war. Als letztes setzte ich in der kahlen Wohnung in Miami eine Erklärung auf, die jemand übergeben werden sollte, der sie der Presse zuspielen konnte. Ich schrieb über Jonathans jugendlichen, ja romantischen Beschluß, die Ungerechtigkeit des Strafvollzugs bloßzustellen, und über den fürchterlichen Verlust, den wir erlitten hatten, als er am 7. August in Marin County getötet wurde. Ich beteuerte meine Unschuld und versprach - wodurch ich andeutete, daß ich bereits außer Landes war - daß ich zurückkommen würde, wenn die Hysterie im politischen Klima Kaliforniens nachgelassen hätte, um mich vor Gericht von aller Schuld zu reinigen. In der Zwischenzeit, schrieb ich, ginge der Kampf weiter.

13. Oktober 1970

Wir waren wieder in New York. Ich war nun schon seit zwei Monaten untergetaucht. Mit dem sattsam bekannten Druck in meiner Magengrube und dem nunmehr gewohnten Kloß im Hals wachte ich auf, zog mich an und mühte mich mit meiner Maske ab. In weiteren öden zwanzig Minuten versuchte ich, meinem Augen-Make-up ein annehmbares Aussehen zu geben. Noch etwas ungeduldiges Zupfen an der Perücke und der Versuch, die Unbehaglichkeit des eng schließenden Gummibandes zu mildern. Ich suchte zu vergessen, daß heute, vielleicht morgen, vielleicht jeder in einer langen Kette von künftigen Tagen der Tag meiner Verhaftung sein konnte.
Als David Poindexter und ich an jenem späten Oktobermorgen die Howard Johnson Motor Lodge verließen, war die Lage bereits verzweifelt. Unser Geld ging schnell zur Neige, und alle, die wir kannten, wurden beschattet. Als wir in Manhattan in der Nähe des Hotels umherwanderten, erwogen wir unseren nächsten Schritt. Auf der Eighth Avenue, inmitten der vielen New Yorker, die sich um das, was um sie herum geschah, überhaupt nicht kümmerten, fühlte ich mich wohler als im Motel. Wir beschlossen, den Nachmittag im Kino zu verbringen, weil wir hofften, dadurch unsere Nerven zu beruhigen. Bis auf den heutigen Tag kann ich mich nicht erinnern, welchen Film wir sahen. Ich war unentrinnbar damit beschäftigt, wie ich der Polizei entgehen konnte, und fragte mich, wie lange ich noch imstande wäre, die Vereinsamung zu ertragen - wenngleich ich wußte, daß es Selbstmord wäre, mit jemand Kontakt aufzunehmen.
Der Film war kurz vor sechs zu Ende. David und ich sprachen sehr wenig, als wir zu unserem Motel zurückkehrten. Wir gingen an den verkommenen Läden der Eighth Avenue vorbei, überquerten die Straße zum Motel, als ich plötzlich rings um mich her Zivilpolizei zu sehen glaubte. Gewiß war das nichts als ein Anfall von Verfolgungswahn, dem ich immer wieder erlag. Als wir jedoch durch die Glastür des Motels gingen, fühlte ich plötzlich den Drang, mich umzudrehen und in die anonyme Menge zurückzurennen, aus der ich gerade kam. Wenn jedoch mein Instinkt recht hatte, und alle diese gesichtslosen weißen Männer tatsächlich Polizisten waren, dann würde die kleinste hastige Bewegung ihnen den gewünschten Anlaß geben, uns auf der Stelle niederzuschießen. Ich erinnerte mich, wie sie li'l Bobby Hutton ermordet hatten: wie sie ihn in den Rücken schossen, nachdem sie ihm befohlen hatten, davonzulaufen. Wenn andererseits mein Instinkt mich trog, dann würde ich durch mein Rennen nur Argwohn erregen. Ich hatte keine andere Wahl als weiterzugehen.
In der Hotelhalle schien jeder der korrekt aussehenden weißen Männer, die herumstanden, meine Ängste zu bestätigen. Ich hätte schwören können, daß alle diese Männer Agenten waren, die in einer vorher vereinbarten Gruppierung aufgestellt waren und sich zum Angriff rüsteten. Aber nichts geschah. Wie auch im Motel von Detroit nichts geschehen war, als ich ebenfalls hätte schwören mögen, daß die Verhaftung unmittelbar bevorstand. Wie nichts bei zahllosen anderen Malen geschehen war, als meine unnatürlich hohe Spannung ganz alltägliche Ereignisse in Szenen der drohenden Verhaftung verwandelt hatte. Was David wohl dachte? Es schien so lange her, seit wir miteinander gesprochen hatten. Er konnte in schwierigen Lagen seine Nervosität verbergen, und außerdem sprachen wir selten von den Momenten, in denen wir beide geargwöhnt haben mußten, daß die Polizei uns schon beim Wickel hatte. Als wir am Empfangstisch vorbeigingen, stieß ich einen Seufzer der Erleichterung aus. Nichts hatte sich ereignet. Dies war wahrscheinlich ein ganz normaler Tag im Dasein dieses typischen New Yorker Motels.
Ich wollte mich schon beruhigen, als ein stämmiger, rotgesichtiger Mann mit einem Haarschnitt, der der übliche Schnitt eines Polizisten sein konnte, mit uns in den Fahrstuhl trat. Meine Furcht flackerte wieder auf. Abermals hielt ich mein rituelles Selbstgespräch: Er war wahrscheinlich ein leitender Angestellter; wenn man verfolgt wurde, sahen schließlich alle weißen Männer mit kurzem Haar und korrektem Anzug wie Polizisten aus. Und wenn sie uns wirklich gestellt hatten, wäre es dann nicht logischer gewesen, uns unten zu verhaften?
Seitdem ich mich versteckt hielt, hatte ich mir angewöhnt, mehrere Meter hinter David zurückzubleiben, damit er vor mir das Zimmer in Augenschein nehmen konnte. Als er den Schlüssel im Schloß umdrehte, was ungewöhnlich schwierig zu sein schien, öffnete jemand auf der anderen Seite des Ganges eine Tür. Ein Mann von schmächtiger Gestalt blickte heraus, und obwohl er nicht aussah wie ein Polizist, warf mich seine plötzliche Erscheinung wieder zurück in meine angstgeladenen Phantasien. Natürlich konnte dieser kleine blasse Mann auch einfach ein Motelgast sein, der zum Abendessen ging. Aber etwas sagte mir, daß das Szenario der Verhaftung begonnen hatte, und daß dieser Mann in der Besetzung die Hauptrolle spielte. Ich glaubte, jemanden hinter mir zu spüren. Der Mann im Fahrstuhl. Jetzt war die letzte Spur von Ungewißheit dahin. Es war soweit. Just in dem Augenblick, in dem die ganze Panik in meinem Innern hätte losbrechen sollen, fühlte ich mich ruhiger und gefaßter als seit langem. Ich hob den Kopf höher und schritt zuversichtlich auf mein Zimmer zu. Als ich an der offenen Tür vorbeiging, die meinem Zimmer gegenüberlag, streckte der schmächtige Mann die Hand aus und packte mich am Arm. Er sagte nichts. Andere Beamte kamen hinter ihm zum Vorschein und noch andere drängten sich aus einem Zimmer auf der anderen Seite des Ganges. »Angela Davis?« - »Sind Sie Angela Davis?« Die Fragen kamen von allen Seiten. Ich starrte sie wütend an. Während der zehn oder zwölf Sekunden, die zwischen dem Fahrstuhl und diesem Ort der Konfrontation vergingen, fuhren mir allerlei Gedanken durch den Kopf.
Ich erinnerte mich an das Fernseh-Programm, das ich mir in Miami angesehen hatte: Die FBI - ein typisches dummes Fernseh-Melodrama von Kommissaren, die Flüchtlinge verfolgten, bis beim endgültigen blutigen Zusammenstoß die Verfolgten mit Kugeln im Kopf liegenblieben und die FBI-Kommissare als Helden gezeigt wurden. Als ich aufstand, um das Programm abzustellen, erschien eine Fotografie von mir auf dem Bildschirm, als sei ich an dieser epischen FBI-Verfolgung beteiligt gewesen. »Angela Davis«, sagte eine tiefe Stimme, »gehört zu den zehn Verbrechern, auf deren Ergreifung die FBI den größten Wert legt. Sie wird gesucht wegen Mord, Entführung und Verschwörung. Sie ist wahrscheinlich bewaffnet. Wer sie sichtet, sollte sich nicht mit ihr einlassen, sondern sich umgehend mit der Ortsstelle der FBI in Verbindung setzen.« Mit anderen Worten, laßt der »wahrscheinlich bewaffneten« FBI die Ehre, sie niederzuschießen.
David und ich waren unbewaffnet. Wenn sie jetzt ihre Waffen zogen, dann war es aus mit uns. Als der schmächtige Mann nach mir langte, sah ich auch die Pistolen zum Vorschein kommen. Ich hörte schon im Geiste das ohrenbetäubende Knallen von Schüssen und sah unsere Leichen auf dem Gang des Howard-Johnson-Motels in ihrem Blut liegen. Sie schoben David in ein Zimmer auf der rechten Seite des Ganges und schubsten mich in eines auf der linken Seite. Dort rissen sie mir die Perücke vom Kopf, fesselten mir die Hände auf dem Rücken und nahmen auf der Stelle Fingerabdrücke von mir. Währenddessen warfen sie mir die ganze Zeit dieselbe Frage an den Kopf: »Sind Sie Angela Davis?« - »Angela Davis?« - »Angela Davis?« Ich sagte nichts. Offenbar hatten sie schon oft ähnliche Szenen durchgespielt. Sie hatten diesen Augenblick mit der falschen Verhaftung von Dutzenden, ja vielleicht Hunderten von großen Schwarzen Frauen mit heller Haut und Afro-Frisur geprobt. Nur die Fingerabdrücke konnten ihnen verraten, ob sie diesmal die Richtige gefangen hatten. Die Abdrücke wurden verglichen. Die Panik auf dem Gesicht des Chefs wich dem Ausdruck der Erleichterung. Seine Unterlinge plünderten meine Handtasche wie die Banditen. Als ich dort stand, entschlossen, meine Würde zu wahren, wurden umfangreiche Vorbereitungen getroffen, um mich fortzuschaffen. Ich hörte, wie sie andere Kommissare alarmierten, die an verschiedenen Stellen innerhalb und außerhalb des Motels aufgestellt sein mußten. Alle diese »Vorsichtsmaßregeln«, alle diese Dutzende von Beamten paßten vollkommen zu dem Bild, das sie sich von mir als einer »der zehn gefährlichsten Verbrecher« des Landes zurechtgezimmert hatten: der Große Böse Schwarze Kommunistische Feind. Etwa zehn Beamte schoben mich durch die Menge, die sich schon unten in der Halle und auf dem Bürgersteig angesammelt hatte. Eine lange Kolonne von unbeschrifteten Autos wartete. Als wir die Straßen entlangrasten, erhaschte ich einen Blick auf eine zweite Kolonne, die David zu einem unbekannten Bestimmungsort brachte.
Meine Hände waren so eng auf meinem Rücken zusammengeschlossen, daß die Blutzufuhr gestockt hätte, wenn ich meinen Körper nicht auf dem vordersten Rand des Rücksitzes balanciert hätte. Der Kommissar auf dem Vordersitz drehte sich um und sagte lächelnd: »Miß Davis, wollen Sie eine Zigarette?« Ich sprach zum erstenmal seit meiner Verhaftung: »Nicht von Ihnen.«
Im Hauptquartier der FBI, wo die Autokolonne zum Halten kam, trat mir eine Wasserstoffblondine entgegen, die eher wie die Kellnerin in einer Kneipe für Lastwagenfahrer aussah als wie die Polizeibeamtin, die sie war. Sie durchsuchte mich in einem kleinen Raum, der wie das Sprechzimmer eines Frauenarztes aussah, obwohl in meinem kurzen gestrickten Rock und der dünnen Baumwollbluse keine Waffen irgendwelcher Art versteckt sein konnten. Später in einem Zimmer mit Leuchtstofflampen, die grellrote Kunststoffsofas bestrahlten, kamen einige Beamte geschritten, die ganze Aktenstöße in den Händen trugen. Sie setzten sich mir unmittelbar gegenüber und bereiteten zuversichtlich ihre Papiere aus, um ein langes eingehendes Verhör mit mir anzustellen. Bevor sie die erste Frage formulieren konnten, sagte ich ihnen, ich hätte der FBI nichts mitzuteilen.
Ich wußte, daß sie mich nicht lange festhalten konnten, ohne mir zu erlauben, daß ich mich mit einem Anwalt in Verbindung setzte. Aber immer, wenn ich verlangte zu telefonieren, überhörten sie es. Schließlich sagten sie, daß ein Anwalt namens Gerald Lefcourt am Telefon sei und ich mit ihm sprechen dürfte. Ich kannte Lefcourt nicht persönlich, aber sein Name war mir bekannt, weil er die elf Mitglieder der Schwarzen-Panther-Partei verteidigt hatte, die in New York vor Gericht gestanden hatten.
In einem riesigen Saal stand auf einem der unzähligen Schreibtische ein Telefon, dessen Hörer abgenommen war. Aber Lefcourt war nicht am anderen Ende der Leitung, nur Schweigen. Als ich mich im Zimmer umsah, bemerkte ich, daß auf einigen Tischen nur wenige Meter von dem Platz, auf dem ich saß, meine Habseligkeiten ausgebreitet waren. Davids Sachen waren über eine andere Reihe von Tischen verstreut. Polizisten waren über unsere Sachen gebeugt und untersuchten sie eingehend.
Die Beamten, die mir für die Durchsuchung, die Fotoaufnahmen und die Fingerabdrücke die Handschellen abgenommen hatten, legten sie mir von neuem an. Es kam mir komisch vor, daß diesmal meine Hände vorn zusammengeschlossen wurden. Als ich im Fahrstuhl abwärts fuhr, war ich mit meinen Gedanken in weiter Ferne. Ich überlegte mir, wie ich einen Genossen oder Freund erreichen könnte. Als die Türen aufglitten, wurde ich durch grelle Lichtblitze aus meinen Gedanken gerissen. Deshalb hatte man mir also die Hände vorn zusammengeschlossen. Soweit ich sehen konnte, standen Reporter und Fotografen dicht gedrängt in der Halle.
Ich versuchte mit aller Macht, meine Überraschung nicht merken zu lassen, hob meinen Kopf, richtete mich auf und legte zwischen zwei Beamten den langen Weg durch die Lichtblitze und die abgehackten Fragen bis zur Autokolonne zurück, die draußen wartete. Als das Jaulen der Sirenen nachließ und die Kolonne die Fahrt verlangsamte, merkte ich, daß ich mich irgendwo in Greenwich Village befand. Während das Auto in die dunkle Einfahrt bog, begann sich ein Tor aus gewelltem Aluminium zu heben, und zum zweitenmal sprangen Scharen von Fotografen mit Blitzlichtern aus den Schatten. Die rote Backsteinmauer, die das hohe, altmodische Gebäude umgab, kam mir sehr bekannt vor, aber es dauerte einige Sekunden, bevor ich sie in meiner Erinnerung orten konnte. Natürlich: es war das geheimnisvolle Haus, das ich so oft gesehen hatte, als ich noch in die Irwin-Schule ging. Sie lag nicht weit von hier. Es war die New Yorker Haftanstalt für Frauen, an der Ecke von Greenwich und Sixth Avenue, der Hauptkreuzung des Village.
Während das Auto in den Eingang für Gefangene rollte, drängte sich mir ein ganzer Schwarm von Erinnerungen auf. Wenn ich nach der Schule zur Untergrundbahn ging, blickte ich fast jeden Tag zu diesem Gebäude auf und versuchte, nicht auf die fürchterlichen Laute zu hören, die aus den Fenstern tönten. Sie stammten von den Frauen, die hinter Gittern eingesperrt waren und auf die auf der Straße Vorübergehenden hinunterblickten, um ihnen unverständliche Wörter zuzuschreien.
Im Alter von fünfzehn Jahren glaubte ich einige der Märchen, die um die Gefangenen gesponnen wurden. Ich sah sie nicht ganz als die Verbrecher, als die sie die Gesellschaft darstellte, aber sie schienen Fremde in der Welt, die ich bewohnte. Ich wußte nie, wie ich mich verhalten sollte, wenn ich Umrisse von Frauenköpfen hinter den fast undurchsichtigen Gefängnisfenstern erblickte. Ich konnte nie verstehen, was sie sagten - ob sie um Hilfe schrien, ob sie jemand Bestimmten riefen oder ob sie einfach mit jemand sprechen wollten, der »frei« war. Jetzt war mein Kopf voll von den Schemen jener gesichtslosen Frauen, denen ich nicht geantwortet hatte. Würde ich den Leuten zuschreien, die auf der Straße vorbeigingen, nur damit sie so taten, als hörten sie mich nicht, wie ich einst so getan hatte, als hörte ich diese Frauen nicht?
Das Innere dieser Haftanstalt stand in krassem Gegensatz zu dem Gebäude, aus dem ich gerade kam. Das Hauptquartier der FBI war modern, antiseptisch sauber und seine Wandflächen aus Kunststoff waren von Leuchtstäben erhellt. Die Haftanstalt für Frauen war alt, muffig, trostlos und schlecht beleuchtet. Der Fußboden des Empfangsraumes war aus ungestrichenem Zement, und der Schmutz von den Schuhen Tausender von Gefangenen, Polizisten und Wärterinnen hatte sich in seine Oberfläche eingefressen. In dem Raum befand sich ein einziger Schreibtisch, auf dem allem Anschein nach die gesamte Schreibarbeit erledigt wurde, und Reihen langer Bänke, die so aussahen, als seien sie früher das Gestühl einer Kirche mit Ladenfassade gewesen.
Ich wurde aufgefordert, auf der vordersten Bank rechts Platz zu nehmen. Ein paar andere Frauen wurden unsystematisch über alle Bänke verteilt. Einige waren gerade erst registriert worden, wie ich erfuhr, andere kamen vom Gericht zurück. Man brachte uns etwas zu essen, aber ich hatte keinen Appetit auf die verschrumpelten heißen Würstchen und die kalten Kartoffeln. Plötzlich hörte man vor dem Tor lautes Rumpeln. Dutzende von Frauen gingen auf den Eingang zu und warteten, bis sich das eiserne Tor öffnete. Ich fragte mich, wodurch eine solche Massenverhaftung verursacht worden sein könnte, aber eine der Schwestern erklärte mir, das seien die Frauen, die mit dem letzten Bus aus dem Gerichtsgebäude zurückkehrten.
Alle Frauen, die ich sehen konnte, waren entweder Schwarze oder Puertorikanerinnen. Weiße Gefangene waren nicht in der Gruppe. Eine der puertorikanischen Schwestern rief aus: »Bist du spanisch?« Zuerst glaubte ich nicht, daß sie mich meinen könnte, aber dann fiel mir ein, daß wahrscheinlich mein Haar glatt war und eng am Kopf anlag, nachdem mir die Polizisten die Perücke abgerissen hatten. Ich sagte mit möglichst herzlicher Stimme »nein« und wollte damit zu verstehen geben, daß es wirklich nicht wichtig sei: dieselben Häscher hielten denselben Hammer über unserem Kopf. Während die Frauen, die vom Gericht kamen, immer noch vor dem eisernen Tor warteten, wurde ich aus dem Saal geführt. Ich dachte, ich sei auf dem Weg zu den Zellen, fand mich aber statt dessen in einem großen fensterlosen Raum, in dem eine trübe Glühbirne kaum die Mitte der Decke erhellte. Es gab dort den gleichen dreckigen Zementfußboden, öde gelbe Kachelwände und zwei sehr alte Bürotische. Eine stämmige Aufseherin führte dort das Wort. Als ich unter den an die Wand geklebten Zetteln mein Bild und meinen Steckbrief auf einem Suchplakat der FBI entdeckte, riß sie es runter. Meine Augen wanderten zum nächsten Plakat. Zu meiner Überraschung trug es das Bild und den Steckbrief einer Frau, die ich auf der höheren Schule gekannt hatte. Kathy Boudin war mit mir in der elften und zwölften Klasse der Irwin-Schule gewesen. Jetzt wurde sie von der FBI gesucht.
Als die Beamten abgelöst wurden, wartete ich noch immer in diesem schäbigen Zimmer. Eine neue Beamtin wurde zu meiner Bewachung geschickt. Sie war schwarz, sie war jung jünger als ich - sie trug eine Afro-Frisur, und als sie näher kam, zeigte sie weder die Feindseligkeit noch die Arroganz, die ich erfahrungsgemäß mit Gefängniswärterinnen in Verbindung brachte. Es war ein entwaffnendes Erlebnis. Dennoch war es nicht ihre Hautfarbe, die mich irre machte - ich war schon früher Schwarzen Aufseherinnen begegnet - in den Gefängnissen von San Diego und Los Angeles - sondern ihr Benehmen: unaggressiv und offenbar sympathisierend.
Zuerst schwieg sie sich aus. Aber nach einigen Minuten sagte sie mir mit ruhiger Stimme: »Eine große Anzahl von unseren Wärterinnen - den Schwarzen Wärterinnen - haben um Sie gebangt. Wir hatten die ganze Zeit gehofft, Sie würden einen Platz finden, wo Sie in Sicherheit wären.« Ich hätte gern mit ihr gesprochen, fand es aber klüger, mich vor einem freimütigen Gespräch zu hüten. Sie konnte ja auch den Auftrag haben, sich teilnehmend zu stellen. Wenn es so schien, als sei ich durch ihre Teilnahme getäuscht, wenn es so schien, als machte ich sie zu meiner Vertrauten, dann würde es ihre Glaubwürdigkeit erhöhen, falls sie den Inhalt unserer Gespräche verfälschen sollte. Für mich wäre es sicherer, wenn ich den Abstand, die Förmlichkeit, wahrte. Ich versuchte, von ihr etwas über meine Lage zu erfahren und fragte sie, warum ich so lange warten müsse. Sie wisse nicht über alle Einzelheiten Bescheid, sagte sie, aber sie glaube, man sei am Überlegen, wie man mich von der Masse der Gefangenen absondern könne. Es gebe eigentlich keine Isoliermöglichkeiten, und das sei das Problem. Sie hätte den Verdacht, daß man mich in 4b stecken würde, die Gefängnisabteilung für Frauen mit psychischen Schwierigkeiten. Ich sah sie ungläubig an. Wenn sie mich in einen Komplex mit Geisteskranken sperrten, dann könnten sie als nächstes auch mich für geisteskrank erklären. Vielleicht würden sie sogar behaupten, daß der Kommunismus eine psychische Erkrankung sei - ähnlich wie der Masochismus, Exhibitionismus oder Sadismus.
Überrascht von meiner Reaktion versuchte sie mich zu trösten. Sie sagte, ich wäre dort wahrscheinlich glücklicher - manchmal bäten die Frauen darum, in den »geistigen Block« verlegt zu werden, weil sie den Lärm im Hauptblock nicht aushalten könnten. Aber für mich war Gefängnis Gefängnis - es gab da keine Skala von besser oder schlimmer. Und nichts konnte mich von dem Gedanken abbringen, daß man mich isolieren wollte, weil man die Wirkung fürchtete, die allein schon die Gegenwart einer politischen Gefangenen auf die anderen Frauen haben könnte.
Ich erinnerte die Wärterin daran, daß ich noch nicht die zwei Telefongespräche geführt hätte, die mir zustanden. Ich brauchte einen Anwalt, und ich wußte, daß ich das Recht hatte, mit einem in Verbindung zu treten. »Ein Anwalt namens John Abt hat versucht, Sie hier zu besuchen«, sagte sie. »Aber die Besuchstunden für Anwälte enden um fünf Uhr. Es tut mir leid, aber ich kann nichts machen.« »Wenn ich ihn schon nicht sehen kann, dann sollte es wenigstens gestattet sein, daß ich ihn anrufe.« »Die Leute hier«, erwiderte sie, »sind sich noch nicht einig, wie sie mit Ihnen verfahren sollen. Sie sagen, Sie sind die Gefangene der Bundesbehörde und gehören in die Zuständigkeit der Bundesbeamten. Wir haben hier immer Bundesgefangene. Daher wären die Bundesbeamten für Ihre Telefongespräche zuständig gewesen. Das hat jedenfalls die Frau Captain gesagt.« »Seit fünf Stunden«, beharrte ich, »versuche ich zu telefonieren, und alle, die ich frage, halten mich zum Narren.« »Wissen Sie, eigentlich darf hier kein Gefangener das Telefon benutzen. Sie müssen Ihre Nummer und Ihren Auftrag auf ein Formular schreiben, und ein Spezialbeamter macht den Anruf.« Ich wollte schon protestieren, mußte aber bald einsehen, daß mir alles Reden an diesem Abend nicht den Zutritt zu einem Telefon verschaffen würde. Das einzige, was sie rausrückten, war eine Karte, die John Abt am Eingang für mich abgegeben hatte. Die Frauenschar, die gerade vom Gericht zurückkam, war inzwischen anscheinend »abgefertigt«, und ich konnte in den Aufnahmesaal zurückkehren, um meine eigene »Abfertigung« abzuwarten. Als ich den Saal betrat, sah ich eine Gestalt auf einer fahrbaren Krankenbahre liegen, die fast völlig mit einem Laken bedeckt war. Ich wußte nicht., ob sie lebendig war oder tot. Sie war einfach da, ohne Betreuer, in der abgelegensten Ecke des Saales. Als ich sie, soweit es mir aus der Entfernung möglich war, genauer betrachtete, bemerkte ich in der Mitte eine Wölbung, die sich zu bewegen schien. Es war eine schwangere Gefangene, die kurz vor der Entbindung stand - sehr kurz. Wollte denn niemand etwas tun? Sollte sie ihr Baby hier kriegen, in diesem verwahrlosten Loch? Selbst wenn man sie zu einer halbwegs anständigen Klinik brachte, was sollte dann aus dem Kind werden, wenn es geboren war? Wurde es in ein Waisenhaus gegeben, während sie ihre Zeit absaß? Ich fühlte mich zornig, aber auch hilflos, als diese Schwester von mir immer mehr in die Wehen kam. Kurz darauf öffneten sich die eisernen Tore, und die Träger eines Polizeikrankenwagens schafften sie fort. Ich sah ihnen zu, wie sie die Bahre in die Nacht hinaustrugen.
Endlich war ich an der Reihe. Der Abdruck meines Zeigefingers wurde auf eine orangefarbene Karte gestempelt, die, wie man mir mitteilte, der Anstaltsausweis war, den jeder Häftling jederzeit mit sich führen mußte.
Dann kam eine weitere Leibesvisitation. Ich erhob scharfen Protest gegen diese zweite Untersuchung - die FBI hätte bereits eine bei mir durchgeführt. Die Wärterin, die mit der Untersuchung beauftragt war, äußerte sich nur ungenau über das Verfahren. Während ich mich im Duschraum entkleidete, tat sie taktvollerweise so, als suche sie etwas. Sie gab mir einen Morgenrock wie im Krankenhaus und forderte mich auf, auf einer Bank vor einer geschlossenen Tür Platz zu nehmen. Von den Frauen, die dort bereits warteten, erfuhr ich, daß wir auch innerlich untersucht würden. Immer wenn Häftlinge das Gefängnis verließen, um vor Gericht zu gehen, und wenn sie zurückkehrten, mußten sie sich einer vaginalen und rektalen Untersuchung unterziehen.
Es war ein Uhr nachts, als ich endlich formell ins Gefängnis aufgenommen wurde. Im Aufnahmesaal waren nur noch drei Frauen übrig. Eine starrte mich lange an und fragte mich schließlich, ob ich nicht Angela Davis sei. Als ich nickte und lächelte, sagte sie, daß sie auf dem Rückweg vom Gericht draußen Menschenmengen gesehen hätte, die für mich demonstrierten. Menschen aller Art jung, alt, Schwarz, weiß. »Was? Wo?« Der Gedanke, daß Menschen der Bewegung mir nahe waren, erregte mich ungeheuer. Die Schwester sagte, wir sollten einen Augenblick still sein. Wenn wir genau hinhörten, könnten wir vielleicht die Sprechchöre hören. Und tatsächlich: gedämpfte Rhythmen drangen durch diese massiven Mauern. Unmittelbar vor dem Gebäude, sagte die Schwester, skandierten sie »Freiheit für Angela Davis«. Die Schwester, die mir die Szene beschrieb, war eingesperrt, weil sie Heroin in ihrem Besitz gehabt hatte. (Wenn sie rauskam, sagte sie, würde sie schnurstracks zu ihrem Dealer gehen.) Mit triumphierender Miene versicherte sie mir, daß ich siegen würde. Sie sagte das, obwohl sie wußte, daß ich mich, am Gefängnisdurchschnitt gemessen, einer sehr schweren Anklage gegenübersah.
Das gesamte Gefängnis war schon finster, als ich endlich meine Zelle in 4b betrat. Sie war nicht mehr als anderthalb Meter breit. Die einzigen Einrichtungsgegenstände waren eine eiserne Bettstelle, die mit Bolzen im Fußboden befestigt war, und am Fuß des Bettes ein Klosett ohne Brille. Einige Minuten nachdem man mich eingesperrt hatte, kam die Wärterin, die die Abteilung beaufsichtigte - auch wieder eine junge Schwarze Frau - an die eiserne Tür. Sie flüsterte durchs Gitter, daß sie mir ein Stück Schokolade unter die Tür schiebe. Ihre Stimme klang zwar durchaus ehrlich, aber ich konnte nichts riskieren. Ich wollte nicht hysterisch sein, aber Mißtrauen war besser als mangelnde Vorsicht. Ich kannte den »Selbstmord« in den kalifornischen Gefängnissen. Es konnte ja sein, daß die Schokolade vergiftet war. In der ersten Nacht im Gefängnis hatte ich nicht den Wunsch zu schlafen. Ich dachte an George und seine Brüder in San Quentin. Ich dachte über Jonathan nach. Ich dachte über Mutter und Vater nach und hoffte, daß sie diese Schreckenszeit gut überstehen würden. Und dann dachte ich über die Demonstration da draußen nach, über die vielen Menschen, die alles stehen- und liegengelassen hatten, um für meine Freiheit zu kämpfen. Ich war gerade erst gefangen worden; ein Prozeß erwartete mich in Kalifornien wegen des Tatverdachts von Mord, Entführung und Verschwörung. Wenn ich auch nur in einem dieser Punkte für schuldig befunden wurde, konnte das den Tod in der Gaskammer bedeuten. Man sollte glauben, daß das eine furchtbare Belastung war. Aber in jenem Augenblick fühlte ich mich besser als seit langem. Ein schwerer Kampf stand mir bevor, aber man konnte den Sieg schon ahnen. In der dumpfen Stille der Haftanstalt vernahm ich, wenn ich mich stark konzentrierte, den Widerhall der Parolen, die draußen angestimmt wurden: »Freiheit für Angela Davis.« - »Freiheit für alle politischen Gefangenen.«
Das Knirschen des Schlüssels im Schloß der Zellentür schreckte mich hoch. Eine Wärterin öffnete die Tür für eine rundliche junge Schwarze Frau in einer verschossenen blauen Häftlingskluft, die ein großes Tablett in den Händen trug. Lächelnd sagte sie mit sehr leiser Stimme: »Hier ist dein Frühstück. Willst du Kaffee?« Ihre Sanftheit war tröstlich und ließ mich glauben, daß ich wieder unter Menschen war. Ich setzte mich im Bett auf, dankte ihr und sagte, daß ich sehr gern eine Tasse Kaffee trinken würde. Als ich mich umsah, merkte ich, daß es keinen Platz gab, wo man das Essen hinstellen konnte - das Bett und das Klosett waren die einzigen Möbelstücke in dieser winzigen Zelle. Aber die Schwester, die das wahrscheinlich schon viele Male durchexerziert hatte, hatte sich bereits hingehockt und das Essen auf den Fußboden gestellt: eine kleine Schachtel Cornflakes, einen Papierbecher mit wäßriger Milch, zwei Scheiben trockenes Weißbrot und einen Papierbecher, in den sie den Kaffee einzugießen begann. »Gibt es keinen schwarzen Kaffee?« fragte ich sie, teils weil ich Kaffee mit Milch nicht mochte, und teils weil ich einen Vorwand suchte, um mit ihr ein paar Worte zu wechseln. »Wenn wir den Kaffee kriegen, ist er schon so wie dieser«, antwortete sie, »aber ich will versuchen, dir morgen schwarzen Kaffee zu besorgen.«
Die Wärterin sagte mir, ich solle mich fürs Gericht fertigmachen. Dann, nachdem die junge Frau die Zelle verlassen hatte, knallte sie die Tür zu. Während sie die nächste Zelle aufschloß, flüsterte die Schwester durch die Tür: »Mach dir gar keine Sorgen. Wir sind alle auf deiner Seite«, und verschwand auf dem Korridor. Ich sah auf mein Frühstück nieder und bemerkte, daß eine Küchenschabe bereits damit beschäftigt war. Ich ließ es unberührt auf dem Fußboden stehen. Nachdem ich mich der schwierigen Prozedur unterzogen hatte, mich fürs Gericht anzukleiden, brachte mich eine Aufseherin nach unten. Eine Schar weißer Männer hastete im Empfangssaal durcheinander. Als sie mich sahen, stießen sie auf mich zu wie die Geier und schlossen mir Handschellen um die Handgelenke, die mir vom gestrigen Tag noch weh,taten. Draußen standen dichtgedrängt blitzende hellbraune Autos auf dem Kopfsteinpflaster des Hofes. Es war noch dunkel, als die Kolonne den Bundesgerichtshof erreichte. Ein Blick auf die in Balkenschrift gedruckte Schlagzeile der Morgenzeitung, die unter dem Arm eines Mannes hervorlugte, benahm mir den Atem: ANGELA DAVIS IN NEW YORK VERHAFTET. Plötzlich wurde mir klar, daß die Riesenmenge von Zeitungsleuten, die die FBI am gestrigen Abend zusammengetrommelt hatte, wahrscheinlich ähnliche Schlagzeilenartikel im ganzen Land verbreitet hatten. Das Bewußtsein, daß mein Name nun Millionen von Menschen bekannt war, überwältigte mich Und doch wußte ich, daß dieser ganze Öffentlichkeitsrummel nicht mir als Individuum galt. Indem man mich als Beispiel benutzte, wollte man die Schwarze Freiheitsbewegung, die Linke im allgemeinen und selbst verständlich auch die Kommunistische Partei in Mißkredit bringen. Ich war nur der Anlaß für ihre Manipulationen. Die Wartezelle, in der ich die nächsten paar Stunden verbrachte, war sauberer als die Gefängniszelle, aus der ich kam, und sah aus wie ein großes unvollendetes Badezimmer. Sie hatte schimmernd weiße Kachelwände und einen Linoleumfußboden in heller Farbe. Ein Klosett ohne Brille stand in einer der Ecken. Lange Metallbänke zogen sich an den drei Wänden hin.
Ein Zivilbeamter der FBI trat in die Zelle.
»Ich habe nichts zu sagen«, erklärte ich ihm, »bevor ich nicht mit meinem Anwalt gesprochen habe.« »Der Anwalt Ihres Vaters wartet draußen«, sagte er. Der Anwalt meines Vaters? Vielleicht war es ein Freund, der sich als »Anwalt meines Vaters« ausgab, um überhaupt mit mir sprechen zu dürfen.
In einem großen Saal, der mit Reihen von Tischen gefüllt war, wurde ich von John Abt erwartet. Ich hatte ihn zwar nie gesehen, kannte aber die Prozesse, in denen er Mitglieder unserer Partei erfolgreich verteidigt hatte. Ich fühlte mich ungeheuer erleichtert und setzte mich, um mit ihm zu sprechen. »Ich habe gestern stundenlang vor dem Gefängnis gewartet, aber man wollte mich nicht reinlassen«, sagte John. »Ich mußte Ihren Vater bitten, hier anzurufen, bevor man mich heute morgen zu Ihnen gelassen hat.« Dann erklärte er mir, daß ich vor dem Bundesgericht unter Anklage gestellt würde - weil ich über die Staatsgrenze von Kalifornien geflohen sei, um mich der Strafverfolgung zu entziehen. Aber er kam nicht weit in der Erläuterung des bevorstehenden Prozesses, denn eine Gruppe von Menschen drängte sich durch eine Tür am anderen Ende des Saales. Ohne meine Brille, die mir die FBI noch nicht zurückgegeben hatte, sah ich die Gesichter nur verschwommen. Als ich eine junge Schwarze Frau bemerkte, die mit den Aufsichtsbeamten eine hitzige Auseinandersetzung hatte, kniff ich die Augen zusammen, um sie deutlicher zu sehen. »Das ist Margaret!« schrie ich.
Margaret Burnham war eine sehr alte Freundin von mir. Als ich noch ganz klein war, hatte ihre Familie in derselben Siedlung gelebt wie meine. Als die Burnhams nach New York zogen, besuchten wir sie vier Jahre lang jeden Sommer, und wir besuchten uns danach abwechselnd manchmal kamen sie nach Birmingham und manchmal wir nach New York. Unsere Familien waren so eng befreundet, daß ich Margaret, ihre Schwestern Claudia und Linda und ihren Bruder Charles fast zu unserer Familie zählte. Ich hatte sie seit Jahren nicht gesehen. Sie war in Mississippi gewesen, hatte geheiratet und ein Kind bekommen. Ich wußte, daß sie erst vor kurzem ihr juristisches Studium beendet hatte, und nahm an, daß sie nun in New York praktizierte. »Margaret«, rief ich so laut ich konnte, »komm her zu uns.« Offenbar genügte das, um ihren Streit mit dem Aufsichtsbeamten zu beenden, denn er hinderte sie nicht, an den Tisch zu kommen, wo John und ich saßen. Es war so schön, sie zu umarmen. »Margaret«, sagte ich zu ihr, »ich bin so froh, daß du gekommen bist. Du weißt gar nicht, wie ich mich freue, dich zu sehen.« Als wir anfingen, uns über persönliche Dinge zu unterhalten, hätte ich fast vergessen, daß wir auch Geschäftliches zu besprechen hatten. »Kannst du in meinem Prozeß mitarbeiten?« fragte ich sie schließlich und hoffte verzweifelt, daß sie ja sagen würde. »Das weißt du doch, Angela«, erwiderte sie, »wenn du's für richtig hältst.«
Es war, als sei die halbe Schlacht schon gewonnen.
John Abt fuhr fort, die Lage vom gesetzlichen Standpunkt aus zu erläutern. Letzten August war ich in Marin County des Mordes, der Entführung und der Verschwörung zum Mord und zur Gefangenenbefreiung bezichtigt worden. Auf Grund der beschworenen Aussage eines FBI-Agenten, daß ich von »zuverlässigen Zeugen« in Birmingham gesehen worden war, hatte ein Bundesrichter einen Haftbefehl gegen mich erlassen, auf dem ich »der Flucht über die Staatsgrenze, um der Strafverfolgung zu entgehen«, beschuldigt wurde. Es war möglich, sagte John, daß ich nach Kalifornien »überführt« würde, was bedeutete, daß ich ohne Prozeßverhandlung einfach vom Bundesgericht in New York zum Bundesgericht in Kalifornien geschickt würde. Es sei jedoch wahrscheinlicher, daß ich dem Staat New York zur Auslieferung nach Kalifornien »überstellt« würde, und das würde uns in den Stand setzen, gegen Kalifornien vor einem New Yorker Gericht Einspruch zu erheben. Als wir zum Ende dieser Besprechung gelangten, trat David, von Wächtern umringt, in den Raum. Seit unserer Verhaftung hatte ich ihn nicht gesehen. Er sah aus, als hätte auch er nicht geschlafen.
Mit kühler, knapper Stimme rief er zu mir herüber: »Denke daran, was immer auch kommen mag, wir werden in dieser Sache Sieger bleiben.«
»Keine Unterhaltung zwischen den Gefangenen«, ertönte eine Stimme. Wahrscheinlich kam sie von einem der Aufsichtsbeamten, die herumstanden.
»Okay, David«, sagte ich, ohne auf den Befehl zu achten. »Sieh nur zu, daß du selbst stark bleibst.«
Ich hatte noch nie einen so kleinen Gerichtssaal gesehen. Mit seinen verunzierten Wänden aus blondem Holz hatte er die schäbig gewordene Eleganz einer alten Villa. Es war darin lediglich Platz für den Richterstuhl und eine einzige Reihe von Stühlen an der hinteren Wand. Der Raum war so klein, daß er die Höhe des Richterpodiums übertrieb. Der Richter selbst war klein wie sein Zimmer. Er trug eine altmodische Brille mit Plastikrahmen, und sein weißes Haar war spärlich über den Schädel verteilt. Ich dachte an den Wächter O. G. Miller in Soledad, der auf seinem Wachtturm stand und im Januar den Karabiner auf die drei Brüder auf dem Hof richtete und sie tötete.
Es gab keine Zuschauer. Die einzigen nichtamtlichen Leute waren Zeitungsreporter - und nicht sehr viele. Als ich eintrat, hob eine Schwester, die der Tür am nächsten saß, ein gebundenes Exemplar von Georges Soledad Bruder in die Luft. So sah ich zum erstenmal das Buch, das ich im Manuskript gelesen hatte. Die Anklageerhebung nach den von den Bundesbehörden erhobenen Beschuldigungen war kurz und sachlich. Der Staatsanwalt brauchte nichts weiter zu tun als für das Protokoll zu beweisen, daß ich die im Haftbefehl genannte Angela Davis war. Die Kautionssumme war ein Witz. Wer konnte auch nur daran denken, 250 000 Dollar aufzutreiben, um mich aus dem Gefängnis zu befreien?
Es war noch früh - später Morgen oder früher Nachmittag - als ich in meine Wartezelle zurückkehrte. Beim letztenmal war der beherrschende Gedanke in dieser Zelle gewesen, einen Anwalt zu finden. Jetzt, da ich zwei großartige Anwälte hatte, denen ich vertraute und die ich liebte, konnte ich die Gedanken an meine Gefangenschaft nicht mehr von mir weisen. Ich war allein mit diesen schimmernden Kachelwänden und den grauen Stahlgittern. Wände und Gitter, sonst nichts. Ich wünschte, ich hätte ein Buch oder, wenn schon nichts zu lesen, dann wenigstens einen Bleistift und ein Blatt Papier. Ich kämpfte gegen die Versuchung, meine mißliche Lage zu individualisieren. Ich wanderte von einem Ende der Zelle zum anderen, von einer Bank an der einen Wand zu einer Bank an der anderen Wand und hielt mir immer wieder vor, daß ich nicht das Recht hatte, mich über ein paar Stunden, die ich allein in einer Wartezelle verbrachte, aufzuregen. Hatte denn ein Bruder - sein Name war Charles Jordon nicht nur Stunden, sondern Tage und Wochen nackt in einer pechfinsteren Zelle in Soledad zugebracht, die nicht einmal groß genug war, daß er sich auf dem Zementfußboden ausstrecken konnte, und die nach Urin und menschlichen Exkrementen stank, weil die einzige vorhandene Toilette ein Loch im Boden war, das man im Dunkeln kaum erkennen konnte? Ich dachte an die Szene, die George im Manuskript seines Buches beschrieben hatte - an den Bruder, der sich einen Nachthimmel an die Decke seiner Zelle gemalt hatte, weil er seit Jahren Mond und Sterne nicht mehr gesehen hatte. (Als es entdeckt wurde, haben die Wärter es grau übertüncht.) Dann dachte ich an Ericka Huggins, die im Staatsgefängnis für Frauen in Niantic, Connecticut, einsaß. Ericka, Bobby, die Soledad-Brüder, die Soledad-Sieben, die Aufständischen in den »Tombs« von New York und all die unzähligen anderen, deren Identität hinter so viel Beton und Stahl, so vielen Riegeln und Ketten verborgen war. Wie durfte ich mir auch nur den leisesten Anflug von Selbstmitleid gestatten? Und doch ging ich jetzt schneller durch die Zelle. Ich ging mit der Entschlossenheit eines Menschen, der einem sehr wichtigen Ziel entgegengeht. Gleichzeitig versuchte ich, meine Erregung vor den Wärtern zu verheimlichen. Als schließlich jemand die Tür öffnete, war es später Abend. Margaret und John warteten, um mich bei der gerichtlichen -Vorführung in denselben Gerichtssaal zu begleiten, in dem ich schon am Morgen gewesen war. Außer uns gab es keine »Zivilisten« im Zimmer, nicht einmal die Reporter der Morgensitzung. Ich überlegte mir, wozu diese geheime Vorführung dienen sollte. Der ältliche Richter verkündete, daß er die Kaution streiche und mich gegen meine Zusicherung, vor Gericht zu erscheinen, wenn ich geladen würde, freilasse. Ich traute meinen Ohren nicht. Aber schon nahten sich die Beamten der Bundespolizei, um mir die Handschellen abzunehmen. Der Richter sagte noch etwas anderes, was ich kaum hörte, worauf plötzlich einige New Yorker Polizisten auf mich zukamen, um die bundeseigenen Handschellen durch staatliche Handschellen zu ersetzen. Während nun New Yorker Handschellen meine Handgelenke banden, trat ich die Fahrt zu einem muffigen Polizeirevier an, wo ich offiziell als Gefangene des Staates New York registriert wurde. Formulare, Fingerabdrücke, Fotoaufnahmen - dieselbe Routine. Die New Yorker Polizei schien so wirr zu sein wie ihr Revier. Zwischen dem ganzen Papierkram, der planlos über Tische und Pulte verstreut lag, liefen sie herum wie Anfänger. Ihre Unfähigkeit beruhigte mich. Es muß zehn Uhr abends gewesen sein, als einer erklärte, jetzt werde noch eine Vorführung vor Gericht stattfinden. (Wußten Margaret und John von dieser dritten Gerichtsverhandlung?) Der Gerichtssaal im New Yorker Bezirksgefängnis war der größte, den ich bisher gesehen hatte. Seine hohe Decke und die unendlichen Bankreihen gaben ihm das Aussehen einer Kirche früherer Zeiten. Die meisten Gerichtssäle haben keine Fenster, aber dieser schien von der Außenwelt besonders streng abgeschirmt. Er war so spärlich beleuchtet und so spärlich besetzt - außer ein paar Polizisten saß kaum jemand auf den Bänken - daß ich den Eindruck hatte, die nächsten Ereignisse sollten vor der Öffentlichkeit verborgen bleiben. Weder Margaret noch John waren zugegen. Als man mir sagte, ich solle vor einem New Yorker Gericht unter Anklage gestellt werden, erwiderte ich, daß ich meinen Platz nicht verlassen würde, bis man meine Anwälte benachrichtigt hätte. Ich sei bereit, die ganze Nacht zu warten.
Als John schließlich ankam, sagte er, die Polizei habe ihn zum falschen Gerichtssaal gewiesen. Er sei in ganz New York herumgerannt, um mich zu finden. Nach dem stundenlangen Warten dauerte die eigentliche Verhandlung ganze zwei Minuten. Wieder im Gefängnis, war ich körperlich und seelisch so erschöpft, daß ich nur noch schlafen wollte. Selbst das harte Zellenbett in der »geistigen« Station schien mir behaglich. Aber kaum hatte ich die Augen geschlossen, als ich von durchdringenden Schreien in einer slawisch klingenden Sprache aus meiner Erschöpfung hochgeschreckt wurde. Sie kamen aus einer Zelle am anderen Ende des Ganges. Man hörte Schritte im Dunkeln, die sich der Zelle näherten. Stimmen versuchten, die Frau auf Englisch zu beruhigen. Sie konnten sie aber in ihrer Panik nicht beschwichtigen. Ich hörte ihr die ganze Nacht zu - bis sie am Morgen fortgeschafft wurde. Das gleiche ungenießbare Frühstück - Cornflakes, Pulvermilch und altes Weißbrot - wurde mir am nächsten Morgen auf den ungefegten Fußboden gestellt. Wie versprochen, hatte Shirley, die mir am gestrigen Morgen das Frühstück gebracht hatte, eine Tasse schwarzen Kaffee für mich aufgetrieben. In ihrer Begleitung war diesmal eine große, schlanke Puertorikanerin mit sehr kurzem Haar im Afro-Look. Sie stellte sich als »einfach Tex« vor und sagte dann noch, die Schwestern im Gang, die gehört hätten, daß ich in 4b sei, wären überzeugt, daß ich siegen würde, und wollten, daß ich's wüßte. Nachdem Shirley und Tex gegangen waren, rief ich durch das Gitter der Wärterin zu, sie möge mir doch meine, Zigaretten bringen - man hatte sie einbehalten, als ich vergangene Nacht vom Gericht zurückkam. »Sie können jetzt keine Zigarette haben«, rief sie vom Tagesraum herüber. »Sie müssen bis zur Zigarettenpause warten, genau wie die anderen Insassen.« Sie sprach in einem Ton, als sei es vorschriftswidrig, nicht zu wissen, daß das Rauchen nur in der »Zigarettenpause« stattfand. Als sie nach einer halben Stunde vorbeikam, gab sie mir eine einzige Zigarette und bestand darauf, sie mir selbst durch das Türgitter anzuzünden. »Tut mir leid, das sind die Vorschriften. Wir müssen uns nach den Vorschriften richten.«
Der Gang war an jenem Morgen still. Als ich meine Zigarette aufgeraucht hatte, rief ich noch einmal die Wärterin. »Ich möchte mich jetzt duschen und anziehen.« Sie kam wieder zu meiner Zelle. »Ich kann Sie jetzt nicht rauslassen.« »Ich möchte mir die Zähne putzen, mich duschen und etwas anderes anziehen als diesen Morgenrock.« »Ich kann Sie nicht rauslassen. Hat Ihnen niemand die Regeln von 4b erklärt? Die >Mädchen< dürfen nur aus ihren Zellen, wenn zwei diensthabende Beamte dabei sind.« (Alle Gefangenen ob sechzehn oder sechzig - wurden als »Mädchen« bezeichnet.) Nichts, erkannte ich später, absolut nichts war innerhalb der Zellen gestattet - nicht nur waren Zigaretten und Streichhölzer verboten, sondern auch Bücher, Schreibmaterial, Zahnbürsten, Seife, Waschlappen, Kleider und Schuhe. Bevor eine Gefangene in ihre Zelle gesperrt wurde, wurde sie untersucht, ob sie auch ihre Unterwäsche ausgezogen hatte und nichts trug als das dünne hellgrüne Nachthemd, das man ihr gab. Ein Buch oder eine Zeitschrift? Wie konnte man sich damit etwas antun? Und Klosettpapier? Wir durften nicht einmal Klosettpapier in der Zelle haben. Wie unselbständige Kinder mußten wir immer, wenn wir das Klosett benutzen wollten, die Wärterin bitten, uns Papier zu bringen.
Kurz vor dem Mittagessen kam die zweite Wärterin, worauf die Türen der Zellen geöffnet wurden. Ein seltsames Sammelsurium von Frauen ergoß sich aus den Zellen: eine sehr junge Negerin, klein und untersetzt, deren Afro-Frisur auf einer Seite dünn wurde. Irgend etwas schien in ihrem Innern zu brodeln. Eine andere Negerin mit glattem Haar und einem außerordentlich gelassenen Gesichtsausdruck. Sie war mit ihren Gedanken weit weg vom Gefängnis. Eine weiße Frau mit rot gefärbtem Haar, die jetzt jung und gleich danach alt aussah und gehetzt im Tagesraum umherlief, wobei sie unverständliches Zeug vor sich hin brabbelte. Und eine junge weiße Frau, klein, schmächtig, mit kurzem blondem Haar, die am Rande der Panik schien, aber nicht wußte, wie sie's von sich geben konnte. Die Frauen merkten nicht mal, daß eine neue Gefangene zu ihnen gestoßen war. Mit Ausnahme der Frau, die immer noch umherlief, fanden sie im Tagesraum alle einen Platz am Tisch. Sie saßen voneinander entfernt, als hätten sie miteinander vereinbart, den Bereich der anderen zu respektieren. Als sie sich gesetzt hatten, waren sie nur noch mit sich beschäftigt; die leeren Blicke sagten mir, daß es vergeblich sein würde, mich einer von ihnen zu nahen, und wenn mir noch so sehr nach Sprechen zumute war. Später erfuhr ich, daß diese Frauen jeden Tag Thorazine mit ihren Mahlzeiten bekamen; dieses Beruhigungsmittel machte sie verschlossen und sonderte sie von ihrer Umgebung ab, selbst wenn sie geistig völlig normal waren. Nachdem ich sie einige Stunden beobachtet hatte, wie sie stumm ins Leere blickten, war es mir, als sei ich in einen Alptraum geraten. Selbst dort im Tagesraum, wo die Augen der Wärterinnen ständig unseren kleinsten Bewegungen folgten, durften wir keine Zigarettenpackung und keine Streichhölzer in die Hand nehmen. Wenn man eine Zigarette wollte, ging man zur Beamtin am Pult; dann gab sie einem aus der eigenen Packung eine Zigarette und zündete sie selber an. Wenn man, wie ich zur damaligen Zeit, Kettenraucher war, und besonders wenn man seine Geister noch beisammen hatte und nüchtern denken konnte, war diese Zeremonie an sich schon zum Verrücktwerden.
Vom ersten Tag an hatte ich laut dagegen protestiert, daß ich in der Abteilung 4b eingesperrt wurde. Ich gehörte dort nicht hin - oder hatte man mich wirklich als Geisteskranke eingestuft? Die Wärterin sagte, ich sei nicht in 4b, weil ich psychisch gestört sei, sondern um meiner eigenen Sicherheit willen, und weil man verhindern wollte, daß ich das Leben im Gefängnis störte. Das überzeugte mich nicht.
Ich begann so viele Forderungen zu stellen, wie ich mir nur ausdenken konnte. Ich wußte, daß es irgendeine Bibliothek im Gebäude geben mußte, und verlangte daher, sie zu besuchen, denn ich war sicher, auch bald für das Thorazine reif zu sein, wenn ich nur die Stapel von Reader's Digest las, die hier herumlagen. Darauf wurde mir die Antwort übermittelt, daß ich Bücher aus der Bibliothek bestellen könnte, die mir dann gebracht würden. Das gleiche galt für den Gefängnisladen - ich konnte bestellen, was ich brauchte, und es würde mir geliefert. Ich hatte weder die Bibliothek noch den Laden gesehen, aber als fast nichts geliefert wurde, was auf meinen Listen stand, wurde mir klar, daß ich beide Gefängniseinrichtungen bei weitem überschätzt hatte. Selbst Dinge wie ein Kugelschreiber oder ein Kräuselkamm waren im Laden nicht zu haben und galten daher als »Konterbande«.
Der Tag schleppte sich hin, und ich begann mich zu fragen, ob man mir den Verkehr mit meinen Anwälten versagen wollte. Margaret oder John - einer von beiden hätte mich inzwischen bestimmt besuchen müssen. Als ich mich erkundigte, ob mich meine Anwälte nicht besuchen dürften, erklärte die Wärterin, sie hätte die Anweisung, daß ich zwar den Besuch meiner Anwälte empfangen dürfe, aber ich dürfe keinen Schritt tun ohne »Eskorte«. (Die Gefängnisbeschönigung für Wache.) Normalerweise braucht ein Häftling nichts als einen Paß. Schließlich kam der Anruf, daß meine Anwälte eingetroffen waren. Auf dem Weg zu ihnen hatte ich zum erstenmal Gelegenheit, zu einer normalen Stunde, in der die Häftlinge nicht eingesperrt waren oder schliefen, durch einen Teil der Haftanstalt zu gehen.
Frauen, die auf einen Prozeß warteten, hatten stets die Erlaubnis, ihre eigenen Kleider zu tragen. Die Frauen in 4b jedoch, die »Geistesgestörten«, trugen die Uniform verurteilter Gefangener, so daß ich zu meinem ersten Besuch im Erdgeschoß in dem kotfarbenen ungesäumten Baumwollkleid gehen mußte, das um mindestens zwei Größen zu weit war und bis fünfzehn Zentimeter oberhalb der Knöchel reichte. Ich hatte mir an jenem Morgen das Haar gewaschen und zum erstenmal nach fast zwei Monaten wieder meine Afro-Frisur gemacht, aber da wir keine Kräuselkämme benutzen durften, war mein Haar in hoffnungsloser Unordnung. Dennoch war meine Erregung über diesen Ausflug zum Hauptgeschoß so groß, daß ich darüber die Sorge über mein Aussehen völlig vergaß. Als das Eisentor geöffnet wurde, drangen mir Töne ans Ohr, die für alle Haftanstalten typisch sind - die Schreie, das metallische Klirren, das Klappern der Schlüssel. Einige Frauen bemerkten mich und lächelten freundlich oder hoben die Fäuste zum Zeichen der Solidarität. Der Fahrstuhl hielt im dritten Stock, wo sich der Laden befand. Die Frauen, die auf den Fahrstuhl warteten, erkannten mich und sagten mir herzlich und schwesterlich - wobei die Worte oft von Fäusten bekräftigt wurden - daß sie auf meiner Seite stünden. Das waren die »gefährlichen Frauen«, die mich überfallen könnten, weil sie die »Kommunisten« nicht mochten - wenn man mich nicht in 4b versteckt hätte. Dieser und spätere Gänge zum Hauptgeschoß bewiesen mir, was ich bereits wußte: wenn die Verwaltung behauptete, daß die Gefängnisinsassen mir Gewalt antun könnten, so war das Unsinn. Im Erdgeschoß wurde ich in eine Kabine gewiesen, die in den nächsten Wochen mein regelrechtes Stammquartier wurde. Als erstes besprach ich mit Margaret und John das Problem, wie man mich aus 4b zum Hauptstamm der Haftanstalt umsiedeln könnte. Während wir sprachen, bemerkten wir, daß die Wache, die außerhalb der Kabine an einem Tisch saß, sich alle Mühe gab, unserer Unterhaltung zuzuhören. Obwohl ich mit der Routine in 4b jetzt vertraut war, wurde in den folgenden Tagen das Leben hinter Gittern nicht weniger grauenhaft. Nicht nur drängte ich stärker, selbst von dort loszukommen, sondern meine Überzeugung wuchs, daß man die ganze erhöhte Sicherheitseinrichtung abschaffen mußte, die sich als therapeutischer Zellenblock tarnte. Aus welchen Gründen auch immer Frauen in 4b untergebracht wurden - jedenfalls wurde ihnen dort furchtbarer Schaden zugefügt. Keins der Probleme, die sie anfänglich hatten, wurde gelöst, sondern vielmehr systematisch verschlimmert. Selbst in der kurzen Zeit, die ich dort zubrachte, konnte ich erkennen, wie ihr Wille verschlissen wurde.
In der Zelle neben mir wohnte eine weiße Frau zwischen 30 und 45 Jahren, die den Kontakt mit der Wirklichkeit vollkommen verloren hatte. Jede Nacht, bevor sie einschlief, bebte der ganze Block von ihrem Geschrei. Manchmal dauerten ihre Tobsuchtsanfälle bis lange nach Mitternacht. Ihre gemeine Sprache, die wüsten Bilder, die mit den übelsten rassistischen Schimpfwörtern gespickt waren, machten mich so wütend, daß ich sehr an mich halten mußte, um nicht durch den Beton und Stahl, die ihre Zelle von meiner trennten, durchzubrechen. Ich war überzeugt, daß man sie absichtlich dort untergebracht hatte; das gehört zur Strategie meiner Schergen, um mich psychisch fertigzumachen. Als ich am nächsten Morgen die jämmerliche Figur sah, wurde mir klar, daß ihre Krankheit zu weit fortgeschritten war - eine Phase der Schizophrenie - als daß sie Argumenten zugänglich sein konnte. Ihre Krankheit war das bequeme Vehikel für den Ausbruch ihres Rassismus geworden, der in ihrem Unterbewußtsein fett geworden war wie Maden. Jede Nacht und jeden Morgen vor dem Frühstück zelebrierte sie ein ausgedehntes Ritual in Form einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung mit einer unsichtbaren Figur in ihrer Zelle. In den meisten Fällen war diese Figur ein Schwarzer Mann, der sie mit einer Art sexueller Perversität attackierte, die allen Begriffen gespottet hätte, wäre ihre Bildersprache nicht so lebendig gewesen. Sie vertrieb diese Figur aus ihrer Zelle mit einer Reihe von halb gesungenen Beschwörungen. Wenn ihr eingebildeter Angreifer eine andere Stellung einnahm, wechselten auch ihre Beschwörungsformeln.
Eines Tages brach Barbara, die junge Schwarze Frau aus der unmittelbar gegenüberliegenden Zelle im Tagesraum ihr gewohntes Schweigen, um mir zu sagen, daß sie ihre tägliche Dosis Thorazine verweigert habe. Es war sehr einfach: sie hatte es satt, sich die ganze Zeit stumpfsinnig zu fühlen wie eine Pflanze. Sie wollte sich dem Thorazine widersetzen und fort von 4b. Sie wußte, daß auch ich fortwollte, und falls wir beide versetzt würden, sagte sie, dann würde sie beim Hauptstamm gern meine »Zellengenossin« sein.
In der Zelle neben Barbara war eine sehr junge weiße Frau, die anscheinend größere Mengen von Thorazine bekam als die anderen. Eines Tages, als sie einigermaßen bei Bewußtsein war, fragte sie mich, ob ich nicht bei ihrem Fall helfen könne. (Sie kam gerade vom Gericht zurück und hatte keine Drogen bekommen, damit sie vor dem Richter einigermaßen normal erschien.) Als ich sie fragte, worauf die Anklage lautete, strömten ihr die Tränen übers Gesicht, und sie sagte wiederholt: »So etwas könnte ich niemals tun. Ich könnte nicht mein eigenes Baby umbringen.« Sie wußte nicht, wo sie war und hatte überhaupt keinen Begriff vom Rechtssystem. Wer ihre Freunde waren, sollte ich ihr sagen, und wer die Menschen waren, die sie aus dem Weg räumen wollten. Sie hatte Angst gehabt, mit ihrem Anwalt zu sprechen, weil sie fürchtete, er würde alles dem Richter weitersagen. Jetzt war sie völlig verzweifelt, weil ein Arzt, der ihr Verschwiegenheit geschworen hatte, als Zeuge alles preisgegeben hatte, was sie ihm erzählt hatte. Jetzt wollte sie nichts als ein bißchen Thorazine. Sie wollte weg, vergessen, high werden.
Vielleicht der tragischste Fall war Sandra - ein Teenager, der wegen Brandstiftung angeklagt war. Sie war eine der Frauen, die am Abend meiner Verhaftung im Empfangsraum gesessen hatte. Es war mir aufgefallen, daß ihr Haar büschelweise ausfiel, und ich hatte deshalb angenommen, daß sie an Kopfgrind litt. An meinem ersten Tag in 4b kam sie zu den Mahlzeiten aus der Zelle. Am zweiten Tag ließ sie den Schlüssel, der ihre Zellentür zu den Mahlzeiten aufschloß, unbeachtet. Sie riß sich stumm und systematisch die Haare mit den Wurzeln aus. Von jenem Tag an saß sie immer, wenn ich sie sah, still auf ihrem Bett und riß sich ganze Hände voll Haare aus. Als ich von dort wegkam, war sie so dünn wie ein Hühnerbein, und von ihrer Frisur waren nur noch ein paar Büschel auf einer Seite ihres jammervollen haarlosen Kopfes übrig.
Von allen Wärterinnen, die in 4b Dienst machten - und sie wechselten fast jeden Tag - kümmerte sich keine um diese junge Frau, keine außer einer lieben, mütterlichen Schwarzen Frau, die in ihrer Aufseheruniform ganz wesensfremd aussah. Die wenigen Male, die sie Dienst hatte, holte sie durch sanftes überreden das arme Mädchen aus ihrer Depression, entlockte ihrer gefolterten Seele einige Worte, brachte sie aus ihrer Zelle in den Tagesraum und kriegte sie dazu, ein bißchen zu essen. Aber diese Wärterin war nur selten da, und sie war nur ein Mensch gegen ein ganzes System, das in keiner Weise die Sorge für eine Gefangene förderte, auch wenn diese langsam und hoffnungslos in ihrer Verzweiflung versank.
Die Woche, die ich in 4b verbrachte, war viel schlimmer als meine schlimmsten Vorstellungen von der Einzelhaft. Es war eine Qual, von diesen Frauen umgeben zu sein, die so dringend sachkundige Hilfe brauchten. Es war um so quälender, weil jedesmal, wenn ich einer von ihnen aus ihrem Elend helfen wollte, eine Mauer zwischen uns stand, die viel undurchdringlicher war als die Mauern unserer Zellen. Ich wurde selbst das Opfer von Depressionen, wenn ihr »Arzt« kam, um sie zu untersuchen - er verschrieb dann lediglich größere Mengen von Thorazine, Chloralhydrat oder andere Beruhigungsmittel. Selbst wenn man Gefangenen mit schweren psychischen Störungen mehr Aufmerksamkeit schenkte, so würde sich die Methode von dem, was ich in 4b mitangesehen habe, wahrscheinlich nicht wesentlich unterscheiden. Die Psychologie, wie sie zumeist praktiziert wird, kann nicht heilen. Oft gelangt sie gar nicht erst an die Wurzel der Störung, weil sie den gesellschaftlichen Ursprung nicht erkennt, der vielen Formen der Geisteskrankheit zugrundeliegt.
Wie konnte bei der Frau neben mir eine Heilung auch nur versucht werden, wenn der behandelnde Psychologe nicht erkannte, daß der Rassismus, wie die Pest vergangener Zeiten, jedes Gelenk, jeden Muskel, jedes Gewebe im gesellschaftlichen Leben unseres Landes verseucht? Diese Frau verrottete in der Schlangengrube des Rassismus und geißelte sich täglich mit ihren obszönen und anschaulichen Phantasien. Um ihre Krankheit zu begreifen, müßte man mit der Krankheit der Gesellschaft beginnen, denn es war die Gesellschaft, die ihr den Haß auf die Schwarze Bevölkerung so fehlerlos beigebracht hatte.
Gefangen in dieser Einöde, die von den Kranken, den mit Drogen Betäubten und ihren teilnahmslosen Wärterinnen bewohnt war, konzentrierte ich mein Dasein auf die täglichen Besuche von Margaret. Sie waren Oasen, erfrischende Rückkehr in die Menschlichkeit. Unsere Gespräche - über die kleine Welt unserer Kindheit, unserer Familien und die größere Welt der globalen Politik, die Bewegung, den Fall waren in dieser Zeit meine besten moralischen Stützen. Sie brachte mir Nachrichten von meinen Eltern und versicherte meiner Mutter immer wieder, daß ich gesund sei und guten Mutes. Margaret war meine einzige Verbindung zu meinen Genossen, meinen Freunden, und sie bewahrte mich davor, vom Wahnsinn dieses Verlieses gänzlich verschlungen zu werden. Sie war sehr stark geworden. Neben ihrer ganztägigen Arbeit beim Juristischen Verteidigungsfonds für die Nationale Vereinigung zur Förderung Farbiger Menschen (NAACP) und ihrer totalen Hingabe an ihren sechsjährigen Sohn widmete sie meinem Fall ihre volle Kraft. Und da sie wußte, wie sehr ich mich auf ihre Besuche freute, ließ sie kaum einen Tag aus. Sie übernahm meinen Fall mit einem Kampfeswillen, den sie sich die ganzen zwanzig Monate hindurch erhielt. Am ersten Morgen war sie im Bundesgericht erst zu mir gelangt, nachdem sie sich durch eine Mauer von Polizisten durchgekämpft hatte. Als sie mich im Gefängnis besuchte, sagten ihr die Schergen, sie sehe nicht aus wie eine Anwältin: sie sehe zu jung aus, um in New York als Anwalt zugelassen zu sein. Zudem sei sie Schwarz und, um dieses Bündel schlimmer Eigenschaften zu vervollständigen, eine Frau. Nachdem sie ihr Recht, mich zu besuchen, durchgesetzt hatte, begann sie eine endlose Schlacht mit der Gefängnisverwaltung um meine Rechte.
Das erste Scharmützel hatte zum Ziel, mich aus 4b rauszubekommen. Margaret stellte Antrag über Antrag an die Verwaltung, mich in einer normaleren Abteilung der Haftanstalt unterzubringen. Sie ging in der Hierarchie aufwärts von Stelle zu Stelle, vom Lieutenant zum Captain, zur stellvertretenden Direktorin und schließlich zur Anstaltsdirektion selbst. Aber Margaret versicherte, daß man mit dieser Kerkermeisterin kein vernünftiges Wort wechseln konnte. (Meine eigenen Begegnungen mit dieser Frau bestätigten alles, was ich von Anwälten und Häftlingen über sie gehört hatte. Das war wahrscheinlich der Grund, weshalb man sie für diese Stellung auserwählt hatte - sie hatte sich der Spitze im New Yorker Dezernat für »Besserungs«-Anstalten als willfähriges Werkzeug empfohlen.) Nirgends in der Hierarchie konnte man einen Grund angeben, weswegen ich in 4b eingesperrt war, abgesehen von der lächerlichen Behauptung, daß mich die anderen Frauen mißhandeln könnten, wenn ich nicht in einer streng bewachten Abteilung untergebracht würde. Wenn ich jedoch von meinem Zellenblock zum Hauptgeschoß ging, um mit meinen Rechtsanwälten zu sprechen, hatte sich zur Genüge erwiesen, wieviel Zuneigung mir die große Mehrheit der Frauen entgegenbrachte.
Etwas mehr als eine Woche war vergangen, als die Direktorin Margaret mitteilte, daß ich in den Hauptteil der Haftanstalt umgesiedelt werden sollte. Ich war aufs äußerste erregt, wollte aber die Wärterin nicht merken lassen, daß dieser Umzug für mich mehr sei, als mir zustand und als ich von Anfang an erwartet hatte. Kurz vor dem Abendessen kam eine junge hagere puertorikanische Wärterin, um mich aus 4b abzuholen. Ich sammelte meine Habseligkeiten - Gefängniskleidung und -unterwäsche und die Zeitschriften, die ich mir hatte bringen lassen - verabschiedete mich von den Frauen (obwohl die meisten von den Drogen unrettbar abgestumpft waren) und folgte der Wärterin durch die Eisentür. Ich rief den Frauen im Speisesaal gegenüber vom Fahrstuhl zu, sie sollten Shirley und Tex, die mir in 4b das Frühstück gebracht hatten, in meinem Namen auf Wiedersehen sagen. Als diese hörten, daß ich fortging, kamen sie beide rausgelaufen und sagten, ich solle doch versuchen, ab und zu mal zu ihnen zu kommen.
Das Bett, das mir im Schlafsaal des zehnten Stockwerks, in dem mindestens hundert Frauen schliefen, zugeteilt war, befand sich ganz vorn, nur wenige Meter vom Beamtentisch entfernt. Nach einem reizlosen Abendessen im benachbarten Speise- und Aufenthaltsraum kam ich mit einer Anzahl von Frauen ins Gespräch. Viele dieser Frauen hatten eine Krankheit hinter sich und waren diesem Block zugeteilt, um in der Nähe der gegenüberliegenden Klinik zu sein, falls sich Komplikationen ergaben. Einige hatten erst kürzlich entbunden. Andere waren ältliche Frauen, die die normale Gefängnisroutine vielleicht nicht überlebt hätten.
Eine Frau kam mir bekannt vor. Bald wurde mir klar, daß es die schwangere Frau war, die ich in der Nacht meiner Verhaftung gesehen hatte. Als ich sie fragte, wie es ihrem Baby ginge, war sie erstaunt, daß ich davon wußte. Nachdem ich's erklärt hatte, erzählte sie mir, ihre Schmerzen seien so groß gewesen, daß sie an dieses Geschehen keine Erinnerung mehr habe. Wir führten ein lebhaftes Gespräch über die Haftanstalt, ihren Fall, ihre persönlichen Probleme. Schließlich faßte sie sich ein Herz und bat mich zu erklären, was Kommunismus sei. Einige andere Frauen fingen an zuzuhören. Wir waren im hinteren Teil des Saales; dort gab es keine Wärterinnen, aber natürlich würden sie erfahren, daß wir politische Gespräche führten. Die meisten Frauen schienen aufrichtig interessiert, und ich ergriff die Gelegenheit, ihnen zu sagen, daß fast alles, was sie vom Kommunismus gehört hätten, ein sorgfältig gesponnenes Lügennetz sei.
Während ich in dem kleinen Spind neben meinem Bett meine Sachen einordnete, kam eine junge weiße Frau auf mich zu und flüsterte mir fast unhörbar zu: »Ich bin auch eine politische Gefangene.« Sie erklärte, daß ein Freund ihres Mannes in Oakland verhaftet worden sei, weil er Sprengstoff in seinem Besitz hatte. Ihr Mann und sie seien offenbar von der Polizei in diese Angelegenheit hineingezogen und später in New York verhaftet worden. über ihre Auslieferung werde noch verhandelt. Sie sei hier von einem Baby entbunden worden und warte in fast völliger Unkenntnis, wie sich der Prozeß gegen sie entwickle. (Später erfuhr ich, daß die Wärterinnen ihr den Namen »Weatherman« angehängt hätten, obwohl sie mit dieser Organisation offenbar nichts zu tun hatte.) An jenem Abend kam ich zum erstenmal mit einem wohlbekannten Phänomen in Berührung, das in jedem Gefängnis existiert - dem Hintertreppengerücht. Mehrere Frauen hatten angeblich »über die Hintertreppe« gehört, daß ich aus Sicherheitsgründen von 4b zum zehnten Stock versetzt worden sei. Die Verwaltung fürchte, sagten sie mir, daß ich mit Hilfe von Freunden außerhalb der Anstalt versuchen könnte, vom vierten Stock zu entfliehen. Angeblich war das schon gelegentlich passiert. Es gab sogar Gerüchte, man sei bereits einem Komplott zu meiner Rettung auf der Spur. Ich weiß nicht, ob das Hirngespinste der Gefangenen oder der Gefängnisverwaltung waren; immerhin wollte ich die Möglichkeit nicht ausschließen, daß die Verwaltung sich aus Furcht gezwungen sah, mich in den zehnten Stock zu versetzen. Das war zwar komisch, aber auch beängstigend, denn wenn sie schon aus so unvernünftigem Anlaß gehandelt hatten, war nicht vorauszusagen, was ihnen sonst noch einfallen würde.
Und tatsächlich: schon am nächsten Tag sagte man mir, daß ich in einen anderen Teil der Anstalt umziehen müsse. Ich protestierte, daß man mit mir hin und her spiele wie mit einem Pingpongball, aber insgeheim hatte ich gegen diesen Wechsel nichts einzuwenden, weil ich glaubte, ich würde jetzt zum Hauptstamm versetzt. Es war mir zuwider, daß man im Schlafsaal nie allein sein konnte. Wenn ich lesen oder schreiben wollte, war ein Klosettverschlag der einzige Zufluchtsort. Im Zellenblock würde die Zelle wenigstens eine Spur von Eigenleben gestatten. Ich hatte keine Ahnung, daß mein Wunsch nach einer gewissen Zurückgezogenheit im Übermaß erfüllt werden würde. Der Hauptstamm, auf den ich mich gedanklich vorbereitet hatte, stellte sich als eilig improvisiertes Isolationszimmer heraus, das von allen Gängen des sechsten Stockwerks abgeriegelt war. Wütend verlangte ich zu wissen, was hier gespielt würde, aber die Wärterin, die mich stumm davongeführt hatte, gab natürlich keine Erklärung ab. Schließlich, sagte sie, befolge sie nur die Anweisung ihrer Vorgesetzten. Es war nicht schwer, eine sehr einleuchtende Verbindung zwischen meiner harmlosen Unterhaltung mit den Schwestern über den Kommunismus und dieser unvermittelten und unerklärlichen i Verlegung in die Einzelhaft herzustellen. In zornigem Unglauben sah ich mich in der Zelle um. Es schien mir besonders unlogisch, daß man mich erst vom psychiatrischen Zellenblock in den Schlafsaal verlegt hatte, um mich nun völlig zu isolieren. Aber während mir noch die Gedanken durch den Kopf schwirrten, sah ich schon ein, wie vergeblich es war, die abnorme Logik der Kerkermeister zu begreifen. Ich erfuhr später, daß dieser Raum gewöhnlich vom Arzt benutzt wurde; vermutlich für medizinische Untersuchungen. Die Isoliereinheiten, die früher existiert hatten, waren vor Jahren abgerissen worden, weil man die krassesten Beispiele der Unmenschlichkeit den Blicken entziehen wollte. Es bedarf wohl keiner Erwähnung, daß das nicht gelungen war; die Unmenschlichkeit strömte einem aus allen Rissen und Spalten des Hauses entgegen. Wenn die Arbeitsschichten wechselten - erst zur Mitternacht und dann am frühen Morgen - wurde auffälligerweise auch die Wache vor meiner Tür abgelöst. Ich begann zu begreifen, daß man Leute eingesetzt hatte, um mich vierundzwanzig Stunden am Tag zu bewachen. Man hatte mich nicht nur isoliert, sondern auch den strengsten Sicherheitsvorkehrungen unterworfen. Später am Abend sah ich aus dem Fenster den »freien« Menschen zu, die die Greenwich Avenue entlanggingen. Ich lauschte den Nachtgeräuschen des Village und ging im Raum auf und nieder. Als ich mich schließlich zu Bett legte, hielt ich die Augen offen: ich wollte nicht mitten in der Nacht überrumpelt werden. Am nächsten Morgen fiel mir auf, daß sich keine Dusche in meiner Zelle befand. Ich begann mich ganz ernsthaft zu fragen, ob man eigens für mich sanitäre Anlagen einbauen würde. Ich sagte der Wärterin vor der Tür, daß ich bereit sei, meine tägliche Dusche zu nehmen, erhielt aber die Antwort, daß ich warten müsse. Es dauerte über eine Stunde, bis ich unter die Dusche konnte, weil alle Frauen aus dem Gang entfernt und in ihre Zellen gesperrt werden mußten, bevor ich die meine verlassen durfte. Die Wärterin schloß meine Tür auf und geleitete mich durch eine Eisentür in einen langen Gang mit Zellen. Dies war das erstemal, daß ich mir einen Gang im Hauptblock genauer betrachten konnte. Wenn die Gefangenen nicht eingesperrt waren, dann verbrachten sie, wie ich später entdeckte, den größten Teil der Zeit in Gängen wie diesem und saßen dabei auf dem kalten schmutzigen Zementfußboden. Offenbar hatten die Zellen keine Papierkörbe, weil Papier und Abfall über den ganzen langen Gang verstreut lagen - als hätte man sie achtlos durch die Gitter geworfen. Die Dusche war auch nicht hygienischer - eine tote Maus lag zusammengekrümmt unter der Bank, als wolle sie sich nicht gar so mausig machen. Als ich den Duschraum verließ, fühlte ich mich nicht sauberer als vorher, hatte mir aber die kleine Genugtuung verschafft, daß mein Verlangen nach der Dusche meine Schergen gezwungen hatte, ein bißchen nachzugeben.
Als Margaret und John eintrafen, gab ich ihnen eine eingehende Beschreibung der letzten Offensive seitens der Gefängnisverwaltung. Wir begannen, Pläne für eine Gegenoffensive zu entwerfen. Unsere Antwort mußte sowohl politisch als auch rechtlich begründet sein. Ein Prozeß müßte vor dem Bundesgericht angestrengt werden, mit der Begründung, daß ich das Opfer einer unangemessenen Diskriminierung sei. Die politische Kampagne hätte dann offenzulegen, welche Art von Präzedenzfall die Gefängnisverwaltung und die Regierung für die Behandlung politischer Häftlinge schaffen wollten.
Zu dieser Zeit muß die Strafvollzugsbehörde es für ungeheuer wichtig gehalten haben, Methoden zu entwickeln, die geeignet waren, Widerstand und Radikalismus unter strengem Verschluß zu halten und dadurch deren weitere Verbreitung zu verhindern. Im September, vor einem Monat, hatte sich in den »Tombs« von New York ein massiver kollektiver Protest entladen. Anscheinend suchten alle Gefängnisse in New York nach neuen Mitteln, um solche Ausbrüche künftig zu verhindern. Wenn wir uns meiner Trennung von den anderen Frauen nicht widersetzten, dann wurde diese Behandlung in Zukunft jedem zuteil, der als politisch gefährlich galt. Ich entschloß mich, die Situation zu dramatisieren, indem ich meinen Hungerstreik erklärte, solange ich in Isolierhaft gehalten würde - ich wollte die Sache innerhalb der Mauern durchfechten, während draußen die Dinge ins Rollen kamen. Es war nicht schwer, einen Hungerstreik durchzuführen. Hätte das Essen einigermaßen genießbar ausgesehen, dann wäre es schwierig gewesen, aber die ekelerregenden Gerichte, die man mir vorsetzte, erleichterten mir tatsächlich den Streik. Nach einem Blick auf die Speisen war mir mehr zum Kotzen als zum Essen zumute. Unter den vielen Wärterinnen, die mir zur Bewachung zugeteilt wurden, gab es einige, die unverkennbar auf meiner Seite standen. Ich erfuhr von ihnen, daß die Direktorin ihnen befohlen hatte, jeden Austausch von Worten zwischen mir und den anderen Frauen zu unterbinden - selbst ein Gruß war nicht erlaubt. Die freundlichen Wärterinnen mißachteten diesen Befehl, obwohl sie wegen Ungehorsams belangt werden konnten, wenn ihre Vorgesetzten das Einverständnis entdeckten, das zwischen uns herrschte. Von einer dieser Wärterinnen erfuhr ich außerdem, daß sie bei Antritt ihres Dienstes ein Protokollbuch übernehmen mußten, das den Titel trug: »Die täglichen Aktivitäten der Angela Davis.« Mit dem Glockenschlag einer jeden Stunde mußten sie einen Eintrag machen, durch den sie meine Tätigkeit der vergangenen Stunde beschrieben ob ich gelesen (und wenn, was) oder geschrieben oder Gymnastik getrieben hatte - darin erschöpften sich auch schon die Aktivitäten, die man auf so kleinem Raum vornehmen konnte. Andere erzählten mir, sie hätten den Auftrag, bei jeder Wachablösung meine Zelle gründlich zu durchsuchen. Die netteren ließen die Durchsuchung ausfallen. Wer jedoch den Dienst ernst nahm, kündete den Antritt seines Postens dadurch an, daß er die Zelle betrat, die nackten Wände ringsum spähend betrachtete, als ob sich dort eine Waffe verbergen könnte, und schließlich die Schubladen im Nachttisch durch stöberte. Dabei blieb ein Auge stets auf meine Bewegungen gerichtet. Leider darf ich die sympathisierenden Wärterinnen weder beschreiben noch beim Namen nennen.
Das könnte den Verlust ihrer Stellung bedeuten. Sie waren eine interessante Zusammenstellung Schwarzer Frauen, junger und alter, deren politische Ansichten von »liberal« bis zur unverblümten Anhängerschaft beim militantesten Flügel der Schwarzen Befreiungsbewegung reichten. Sie alle behaupteten, daß die Not sie gezwungen habe, sich um dieses Amt zu bewerben. Anscheinend war es die höchstbezahlte Stellung in New York, die kein Studium voraussetzte. In gewisser Weise waren die Wärterinnen selbst Gefangene, und einige von ihnen waren sich deutlich bewußt, daß sie auf trügerischen Wassern wandelten. Wie ihre Vorgänger, die Schwarzen Aufseher, bewachten sie ihre Schwestern um den Preis einiger Krumen Brot. Und wie die Aufseher mußten auch sie entdecken, daß der Lohn ihrer Arbeit zum Teil die eigene Unterdrückung war. Überstunden waren zum Beispiel obligatorisch. Und wegen der militärischen Disziplin, der sie sich unterwerfen mußten, wurde es als Ungehorsam geahndet, wenn sie keine Überstunden machten. Sechzehn Arbeitsstunden an mehreren Tagen der Woche waren nichts Außergewöhnliches für die jungen Wärterinnen, die noch kein Dienstalter aufzuweisen hatten, oder für jene älteren, die bei den oberen Rängen der Gefängnishierarchie nicht gut angeschrieben waren.
Aber wenn auch ihre mißliche Lage genügend Grund zum Protest bot, so war doch die gute Rolle, die sie innerhalb der Haftanstalt spielen konnten- begrenzt - sie konnten bestimmt nicht den Strafvollzug revolutionieren. Dennoch gab es in diesem Bereich eine Reihe wichtiger Dinge, die sie tun konnten. Zum Beispiel übermittelten sie Botschaften von Häftlingen nach draußen, wenn es nicht möglich war, sie auf dem normalen Dienstweg zu schicken. Sie brachten Artikel der »Konterbande«, wie zum Beispiel Kräuselkämme. Sie brachten den Gefangenen zu lesen - besonders politische Literatur, die aus der Bibliothek verbannt war. Wenn Frauen, die mehr über die Schwarzen oder puertorikanischen Freiheitsbewegungen erfahren wollten, ernste Studiengruppen bildeten, dann dienten die Wärterinnen zuweilen als Schild zwischen ihnen und der Verwaltung. So etwas war natürlich riskant. Diese Wärterinnen wiesen immer wieder darauf hin, daß zwei ihrer Kolleginnen auf der Stelle entlassen worden waren, als man ihre Verbindung mit der Schwarzen-Panther-Partei entdeckt hatte. Zwar seien sie bereit, ihre Stellung aufs Spiel zu setzen, aber sie glaubten den Gefangenen mehr zu nützen, wenn sie innerhalb des Gefängnissystems das ihnen Mögliche taten, als wenn sie sinnlos zu Märtyrern wurden. Dennoch sagten einige von ihnen, sie würden ihre Uniform ausziehen und sich dem Heer der Gefangenen anschließen, wenn es wirklich zur Krise käme. Natürlich konnte man nur schwer beurteilen, wie ernsthaft und tief sie wirklich engagiert waren, aber trotzdem freute es mich immer, wenn eine von ihnen die Wache übernahm. Dann konnte ich mit einigen Schwestern in diesem Stockwerk reden. Eines Nachmittags marschierten die Schwestern aus den beiden meiner Zelle benachbarten Korridoren an meiner Zelle vorbei und skandierten: »Freiheit für Angela. Freiheit für unsere Schwester.« Gerüchtweise erfuhr ich, daß im ganzen Gefängnis Frauen in den Hungerstreik getreten waren, um sich mit meinem zu solidarisieren. Ich war besonders gerührt zu hören, daß Shirley den Hungerstreik im vierten Stock organisierte. Da sie in der Küche arbeitete, muß ihr das ungewöhnlich schwergefallen sein. Was mich anbetrifft, so hatte ich dreimal am Tag zur Essenszeit ein Glas Saft, viel Wasser und körperliche Übung. Das und die New York Times, die jetzt täglich eintraf, die ein oder zwei Bücher, die ich besaß, und die Besuche von Margaret und John genügten, um mich in Schwung zu halten.
Während ich in Einzelhaft war, erhielt ich endlich regelmäßigen Abendbesuch von mehreren Freunden. Eine Wärterin stand dann immer gerade nahe genug, um meine Seite der Unterhaltung mitanzuhören. (Ich nehme an, daß sie das zusammengefaßt in einem Protokoll wiedergab.) Ich war mit den Besuchsvorschriften in Haftanstalten einigermaßen vertraut, denn ich hatte oft Freunde und Genossen im Gefängnis besucht. Aber dieses Besuchszimmer war bei weitem das schlechteste, das mir begegnet war. Es ist nicht ungewöhnlich, daß man mit dem Besucher durch eine Glasscheibe sprechen muß, aber die Scheiben in diesem Gefängnis waren weniger als 30 Zentimeter im Quadrat, und der rostfarbene Dreck, der sie bedeckte, machte es unmöglich, die Person des Besuchers deutlich zu sehen. Die Häftlinge mußten während der zwanzig Minuten dauernden Besuche stehen und in ein Telefon hineinbrüllen, das unweigerlich immer dann aussetzte, wenn der wichtigste Teil der Unterhaltung im Gange war. Als ich noch in Einzelhaft war, empfing ich eines Abends den Besuch von Kendra Alexander, die zusammen mit ihrem Mann als Zeugin im Prozeß gegen David Poindexter vor dem großen Schwurgericht in New York geladen war. Sie erzählte mir, daß die Protestdemonstration gegen meine Einzelhaft gleich beginnen würde. Man wußte mehr oder weniger, wo meine Zelle lag - ich hatte die Teile der Greenwich Avenue, die ich von meinem Fenster sehen konnte, sehr genau angegeben. Die Demonstration sollte an der Ecke Greenwich Avenue und West Tenth Street ihren Anfang nehmen. Ich rannte nach oben. Die Wärterin, die mich bewachte, gehörte zu den freundlicheren und schloß die Ohren, während ich die Nachricht verbreitete. In fünf oder sechs Stockwerken konnten die Frauen, deren Zellenfenster auf die Greenwich Avenue blickten, die Demonstration sehen und hören.
Es war eine begeisterte Menge. Ihre Rufe »Freiheit für Angela! Freiheit für alle unsere Schwestern!« tönten durch die Nacht. Als ich von meinem Zellenfenster hinuntersah, wurde ich von ihren Ansprachen so sehr in den Bann gezogen, daß ich zuweilen das Gefühl verlor, gefangen zu sein. Ich glaubte mich dort unten auf der Straße, bei ihnen. Meine Gedanken kehrten zu früheren Demonstrationen zurück »Freiheit für die Soledad-Brüder«, »Freiheit für Bobby und Ericka«, »Freiheit für Huey«, »Schluß mit dem Krieg in Vietnam«, »Schluß jetzt mit den Polizeimorden in unserem Viertel...«. Jose Stevens, ein Kommunistenführer in Harlem, hatte seine Rede beendet. Franklin richtete seine leidenschaftlichen Worte an alle Frauen, die in der Haftanstalt eingesperrt waren. Dann ergriff meine Schwester Fania das Megaphon. Der Klang ihrer Stimme brachte mich mit einem Schock in die Wirklichkeit meiner Lage zurück, denn ich hatte einen Augenblick vergessen, daß ich im Mittelpunkt der Demonstration stand. Ich war so sehr in diese Versammlung einbezogen, daß ich tatsächlich meinte, dort unten auf der Straße bei ihnen zu sein. Als ich mir die Undurchdringlichkeit dieser Festung vor Augen hielt, und all die Dinge, die mich von meinen kaum hundert Meter entfernten Genossen trennten, als ich über meine Einzelhaft nachdachte - dieses Gefängnis im Gefängnis, das mich von meinen Schwestern in der Haft absonderte - fühlte ich die Schwere der Gefangenschaft in diesem Augenblick vielleicht mehr als je zuvor. Das Gefühl meiner Ohnmacht überwältigte mich. Aber bevor mich meine Gedanken weiter zum Selbstmitleid verführten, gebot ich ihnen Einhalt, denn ich hielt mir vor Augen, daß genau das durch die Einzelhaft bezweckt werden sollte. Über ein Opfer in solchem Zustand konnten die Schergen Macht gewinnen. Von ihnen wollte ich mich nicht unterkriegen lassen. Ich verwandelte mein Gefühl der Ohnmacht in rasende Energie für den Kampf. Vor dem Hintergrund der Sprechchöre, die von der Demonstration auf der Straße heraufschallten, machte ich mir Vorwürfe, daß ich dem Selbstmitleid nachgegeben hatte. Wie war es denn George, John und Fleeta und meinem Mitangeklagten Ruchell Magee ergangen, die viel Schlimmeres durchgemacht hatten, als ich je auf mich nehmen könnte? Und mit Charles Jordan und seinem Erlebnis in der mittelalterlichen Nacktzelle im Soledad-Gefängnis? Wie war es denen ergangen, die ihr Leben gegeben hatten - Jonathan, McClain und Christmas?
Das Erlebnis der Demonstration hatte mir so viel Auftrieb gegeben, daß ich mich von meinem Fasten nicht entkräftet fühlte. Ich machte besonders schwere Freiübungen, um meinen Energiespiegel so weit zu senken, daß ich verhältnismäßig ruhig im Bett liegen konnte. Daß ich die ganze Nacht schlafen konnte, stand außer Frage. An diesem Abend mußte ich besonders wachsam sein. Im Gefängnis war alles ruhig, aber ich war sicher, daß die Demonstration die Schergen aufgerüttelt hatte und ich mich bereit halten mußte, falls sie vorhatten, in der Nacht zuzuschlagen.
Am zehnten Tag des Hungerstreiks, als ich mir schon eingeredet hatte, ich könne unbegrenzt ohne Essen aushalten, erließ das Bundesgericht an die Gefängnisverwaltung die Verfügung, daß man mich nicht weiter in Isolation und unter höchsten Sicherheitsmaßregeln halten dürfe. Das Gericht hatte entschieden - selbstverständlich unter Druck - daß diese unberechtigte Strafe mir wegen meiner politischen Überzeugung und Verbindungen auferlegt werde. Das Gericht sagte praktisch, daß der Kommissar für den Strafvollzug George McGrath und Jessie Behagan, die Direktorin der Haftanstalt für Frauen, vor lauter Angst, die Frauen im Gefängnis könnten einige Tatsachen über den Kommunismus erfahren, meine verfassungsmäßigen Grundrechte mißachteten. Die Verfügung kam als Überraschung. Ich hatte nicht erwartet, daß sie so schnell und so sachlich erfolgen würde. Sie war ein bedeutender Sieg, denn wir hatten nun gründlich dafür gesorgt, daß die Herren im Dezernat für den Strafvollzug keine freie Bahn haben würden, wenn sie den nächsten politischen Häftling, der in ihre Hände geriet, zu schikanieren suchten. Zu gleicher Zeit hielt ich allerdings die Gefängnisverwaltung durchaus für fähig, sich andere Schikanen auszudenken, die vielleicht keine Einzelhaft, aber für mich ebenso quälend sein würden.
Dieser Gedanke dämpfte meine Freude über die gerichtliche Verfügung.
Nächste Station: siebenter Stock, C-Korridor. Als ich dort ankam, war ein großer Umzug im Gange. Frauen wurden ausquartiert, andere zogen ein. Einen Augenblick kam mir der Gedanke, daß man einen eigenen Korridor für Spitzel und Vertrauensleute der Gefängnisverwaltung schaffen wollte - und mich. Es stellte sich jedoch heraus, daß die Gerichtsverfügung die Verwaltung gezwungen hatte, bei sich Ordnung zu schaffen sogenannte »Ersttäter« sollten getrennt von denen untergebracht werden, die bereits vorbestraft waren. Offenbar wurden die notwendigen Umquartierungen jetzt vorgenommen. Ich hatte nur wenig Zeit, mich mit der Umgebung vertraut zu machen, bevor alle Zellentüren zugesperrt wurden, aber einige Nachbarinnen veranstalteten für mich eine Führung durch meine Zelle, die 2,70 m mal 1,50 m maß. Weil ich die Eckzelle hatte - die vom Beamtenpult im Hauptkorridor am leichtesten überwacht werden konnte - war sie auch die kleinste im Korridor; das Doppelbett ließ sie noch kleiner erscheinen. Das Inventar - das Bett, das winzige Waschbecken, das Klosett - war in einer geraden Linie angebracht, so daß an keinem Punkt der Zelle die Breite des Fußbodens mehr als sechzig Zentimeter betrug.
Die Schwestern halfen mir, vor dem Klosett und dem Waschbecken einen Vorhang zu improvisieren, damit sie vom Korridor aus nicht zu  sehen waren. Sie zeigten mir, wie man Zeitungspapier in Stoffetzen wickeln und dadurch eine Sitzfläche herstellen konnte, so daß sich das Klosett in einen Stuhl vor dem eisernen Tisch verwandeln ließ, den man aus der Wand herunterklappen konnte. Bei dem Gedanken, daß ich meine ganzen schriftlichen Arbeiten auf diesem Klosettstuhl sitzend erledigen würde, mußte ich laut lachen. Sperrzeit war nahe; eine Schwester sagte, sie hätte vergessen, mich vor einer Gefahr im Nachtleben der Haftanstalt für Frauen zu warnen. »>Mickey< wird versuchen, heute nacht in deine Zelle zu dringen«, sagte sie, und ich müßte Vorsichtsmaßregeln ergreifen, um ihn »auszuschließen«. »Mickey?« Gab es einen Irren, den die Kerkermeister nachts losließen, um die Frauen zu belästigen? Lachend erklärte mir die Schwester, daß sie die Mäuse meinte, die im Dunkel der Korridore herumhuschten und nach Zellentüren suchten, die nicht mit Zeitungspapier ausgestopft waren.
Das wurde zum nächtlichen Ritual: sorgsam gefaltetes Zeitungspapier in den kleinen Spalt zwischen der Tür und dem Fußboden und halbwegs hoch zwischen Tür und Wand stopfen. Trotz dieser Abwehrmaßnahmen konnte sich Mickey immer durch die Barrikade mindestens einer Zelle hindurchnagen, und oft wurden wir von den Schreien einer Frau geweckt, die die Wache rief, um die Maus zu verjagen. Eines Nachts kam Mickey zu mir ins obere Bett. Als ich ihn um meinen Hals krabbeln fühlte, wischte ich ihn weg, weil ich dachte, es sei ein Kakerlak. Als ich dann endlich merkte, was es war, rief ich nach dem Besen - unsere einzige Waffe gegen ihn. Anscheinend waren Mausefallen zu teuer - und ausrotten wollte man ihn nicht. Ein Gutes hatte Mickey. Solange er da war, konnten wir sicher sein, daß keine Ratten in der Nähe waren. Die beiden haben nie dasselbe Revier.
In gewisser Weise waren unsere täglichen Scharmützel mit Mickey und all die verschiedenen Notbehelfe, um die Oberhand über ihn zu behalten - symbolisch für die größeren Scharmützel mit dem System. In meiner Phantasie stellte ich mir manchmal vor, daß die abendlichen Vorbereitungen, um diese Viecher abzuwehren, in Wahrheit die Barrikaden waren, die gegen den größeren Feind errichtet wurden, und daß Hunderte von Frauen in der ganzen Haftanstalt politisch bewußt, politisch engagiert in revolutionärer Gemeinsamkeit handelten. An jenem ersten Abend, kurz nachdem die Schwester mir geholfen hatte, die Tür mit Zeitungspapier auszustopfen, rief eine Wärterin: »Sperrstunde, ihr Mädchen. In eure Zellen.« Die Frauen ließen ihre schweren Zellentüren zuschlagen, und lautes metallisches Krachen donnerte von allen vier Korridoren im siebenten Stock. Von fern her konnte ich dasselbe Getöse im ganzen Gefängnis widerhallen hören. (In 4b hatte ich mir nicht erklären können, was dieser Lärm zu bedeuten hatte. Als ich ihn das erstemal hörte, glaubte ich, ein Aufstand sei ausgebrochen.) Die Wärterin machte die Runde, um die Häftlinge zu zählen; danach wurden um neun Uhr am Hauptschalter alle Lichter im Gang und in den Zellen ausgemacht. In der Dunkelheit wurde ein Gute-Nacht-Ritual zelebriert. Eine Schwester rief einer anderen, die sie bei Namen nannte, gute Nacht zu. Diese, die die Stimme erkannte, rief ebenfalls gute Nacht und nannte die erste Schwester bei Namen. Schon früh rief eine aus meinem Gang mit herzlicher Stimme: »Gute Nacht, Angela!« Da ich aber fast noch keine bei Namen kannte, geschweige denn ihre Stimme unterscheiden konnte, war es mir nur möglich, mit einem einsamen, hilflosen, wenn auch nicht weniger kräftigen »gute Nacht« zu antworten. Mein Ruf weckte andere an mich gerichtete Gute-Nacht-Rufe, die nicht nur aus meinem Gang, sondern auch aus anderen kamen. Ich bin sicher, daß es noch nie ein so ausgedehntes »Gutenachtsagen« gegeben hatte. Die Wärterinnen schritten nicht ein, obwohl schon längst hätte Ruhe herrschen müssen.
Das Leben im Gefängnis wurde nach pragmatischen Grundsätzen schlimmster Sorte von oben organisiert und kontrolliert. Es wurde gerade so viel Betätigung zugelassen, daß der Häftling von längerem Nachdenken über sein jämmerliches Los abgelenkt wurde. Der einzige Zweck der Maßnahmen bestand darin, den Tag mit sinnlosen Betätigungen und leeren Ablenkungen auszufüllen. Folglich gab es ein ganzes Netz von Einrichtungen, die die überschüssige Energie der Häftlinge in Anspruch nehmen sollten. Selbstverständlich war der Gefängnisladen ein wichtiger Faktor, um die Haftzeit zu überstehen. An drei Tagen in der Woche betraten die Frauen, die auf ihren Prozeß warteten, diesen kleinen Laden, um die Sächelchen zu besorgen, die das Leben etwas weniger unerträglich machten. Montags und mittwochs war für unsere Einkäufe eine obere Grenze von drei Dollar gesetzt, freitags durften wir einen Dollar mehr ausgeben. Die begehrtesten Verkaufsartikel waren Dinge wie Zigaretten, Kosmetika, primitives Schreibmaterial - Bleistifte (aber keine Federhalter) - linierte Schreibblocks und Briefmarken; Strick- und Häkelzubehör und Eßwaren, wie Kekse und Süßigkeiten, Zucker, Nescafé und heiße Schokolade. Wenn man nicht schwanger war, konnte man richtige Milch nur im Laden erhalten. Daß der Laden so sehr im Mittelpunkt stand, war eine Folge der Entbehrung, die ein so wichtiges Element der amtlichen Kontrolle und Herrschaft ist. Im Gefängnis lernt man, daß man nichts als gegeben annehmen darf; der normale Prozeß der Bedürfnisbefriedigung liegt in Scherben. Man kann nicht erwarten, daß selbst die grundlegendsten Bedürfnisse befriedigt werden. Es gibt immer Wenns und Abers. Wenn man sich so aufführt, daß sich eine Wärterin provoziert fühlt und einen einsperrt, verliert man das Privileg, im Laden einzukaufen. Wenn man gerade keine Zigarette hat, muß man eben ohne auskommen. Die Drohung, daß einem die Einkaufsprivilegien entzogen werden, ist ein mächtiger Abwiegelungsgrund.
Ein anderes Mittel, die Zeit auszufüllen, war der Gottesdienst am Sonntagmorgen. Aus Neugier ging ich am ersten Sonntag, den ich beim Hauptstamm verbrachte, in die Kapelle. Ich war von der Zahl der anwesenden Häftlinge überrascht. Aber bald sah ich ein, daß viele Frauen dafür Motive hatten, die mit ernster Religiosität nichts zu tun hatten. Die Kirche war einer der zwei feststehenden Treffpunkte, an dem Frauen aus einem Teil der Haftanstalt ihre Freundinnen aus anderen Stockwerken sehen und mit ihnen sprechen konnten.
Der andere wöchentliche Treffpunkt war das Kino - das heißt, wenn der Projektor nicht kaputt war. Nicht einmal die Neugier, die mich zum Gottesdienst gezogen hatte, konnte mich veranlassen, einem dieser öden Filme aus Hollywood beizuwohnen. Es versteht sich von selbst, daß dies das bevorzugte Stelldichein für lesbische Paare war.
Für Leute, die gern lasen, wäre die Bibliothek ein Rettungsanker gewesen, wenn nicht die übergroße Mehrzahl der Bücher Detektiv- und Liebesromane und einfach schlechte Literatur gewesen wäre, die nichts anderes bezweckte, als den Leser emotionell von sich abzulenken. Nachdem Margaret während meiner Einzelhaft die Direktorin überredet hatte, mir den Zutritt zu irgendwelchem Lesematerial zu gestatten, verbrachte ich mehrmals ein paar Stunden in der Bibliothek. In kurzer Zeit hatte ich den ganzen Bestand durchgemustert und nur wenige Bücher entdeckt, die immerhin einiges Interesse beanspruchen konnten: ein Buch über die chinesische Revolution von Edgar Snow, die Autobiographie von W. E. B. DuBois und ein Buch über den Kommunismus von einem erstaunlich objektiven, wenig bekannten Autor. Als ich diese Bücher entdeckt hatte, rätselte ich hin und her, wie sie dorthin gelangt waren. Dann kam die plötzliche Erleuchtung: sie hatten wahrscheinlich Elizabeth Gurley Flynn, Claudia Jones oder einer der anderen kommunistischen Führerinnen zur Lektüre gedient, die in der McCarthy-Ära auf Grund eines damals gültigen Gesetzes eingesperrt worden waren. Man hatte auch mir gesagt, daß ich die Bücher, die ich während meiner Haftzeit erhielt, der Bibliothek überlassen müßte - was mir angesichts des Zustands dieses sogenannten Ortes der Gelehrsamkeit ein Vergnügen war. Als ich in den Seiten dieser Bücher blätterte, fühlte ich mich geehrt, die Tradition der hervorragendsten Heldinnen dieses Landes fortzusetzen: kommunistischer Frauenführerinnen und besonders der Schwarzen Kommunistin Claudia Jones. Wenn man Bücher wünschte, die nicht in der Bibliothek vorrätig waren, mußte man sie sich unmittelbar vom Verleger schicken lassen. Ich entschloß mich, mir möglichst viele Bücher schicken zu lassen, um spätere Häftlinge mit Literatur zu versehen, die interessanter, relevanter und ernster war als der Schund in den Bibliotheksregalen. Offenbar durchschauten die Kerkermeister meinen Plan, vor allem als zehn Exemplare von George Jacksons Soledad Bruder eintrafen, denn sie gaben mir barsch zu verstehen, daß keines meiner Bücher meine Hände verlassen dürfe. Sie sollten mit mir in die Gefängnisse wandern, in die ich wanderte.
Die wenigen sonstigen Einrichtungen im Gefängnis waren noch ärmlicher. Es gab kurze Sportperioden auf dem Dach des Gebäudes. Ich muß zugeben, daß das meine Lieblingsbeschäftigung war, und solange das Wetter es zuließ, freute ich mich sehr auf unser Volleyballspiel, oben auf dem Gefängnis. In penthouse-ähnlichen Räumen gab es auch Kunst und Handwerksarbeiten, Tanz und Spiele, wie zum Beispiel Karten und Scrabble. Damit war die Liste der Beschäftigungen hinter Mauern aber auch schon erschöpft. Es war allerdings erstaunlich, wieviel Zeit man mit diesen Dingen verbringen konnte, die zumeist in keiner Weise zur erzieherischen, kulturellen oder sozialen Förderung der Häftlinge beitrugen. Der Hauptzweck dieses Zeitvertreibs bestand darin, auf sehr feine Weise Gehorsam und Unterwürfigkeit zu züchten.
Haftanstalten und Gefängnisse sind so angelegt, daß sie den Menschen zerbrechen, die Insassen in Zootiere verwandeln - gehorsam den Wärtern, gefährlich für einander. Als Reaktion erfinden die Männer und Frauen in Strafanstalten verschiedene und mannigfaltige Abwehrmaßnahmen und führen sie dauernd im Munde. Folglich begegnet man in fast jeder Strafanstalt zwei Schichten der Existenz. Die eine Schicht wird durch die Routine und das Verhalten bestimmt, die von der herrschenden Hierarchie des Strafvollzugs vorgeschrieben sind. Die zweite Schicht ist eine eigene Gefangenenkultur: die Regeln und Maßstäbe des Benehmens, die von den Gefangenen entwickelt und definiert sind, um sich gegen den offenen und versteckten Terror zu schützen, der den Zweck hat, ihre Moral zu brechen. Auf elementare Weise ist dies eine Kultur des Widerstandes, aber eines Widerstandes der Verzweiflung. Sie ist daher nicht imstande, dem System viel anzuhaben. Alle ihre Elemente basieren auf der Annahme, daß das Strafvollzugssystem weiter bestehen wird. Und aus genau diesem Grund tut das System nichts, um sie zu unterdrücken. (Es kommt sogar vor, daß die Subkultur der Häftlinge unter der Hand gefördert wird.) Ich war in der Haftanstalt von den unendlichen Verästelungen der sozialen Regionen, die die Frauen für ihre ausschließliche Domäne hielten, immer wieder erstaunt. Diese Kultur war den Wärtern hochmütig verschlossen. Ich wanderte zuweilen in aller Unschuld durch die Türen und fand mich völlig verwirrt. Ein aufschlußreiches Beispiel dafür ereignete sich am zweiten Tag, den ich in der Hauptabteilung verbrachte. Eine Schwester fragte mich: »Wie findest du meinen Großvater? Er sagte, er hätte dich heute früh gesehen.« Ich glaubte ihre Frage mißverstanden zu haben, aber als sie sie wiederholte, erwiderte ich, sie müsse sich irren, denn ich hätte keine Ahnung, wer ihr Großvater sei. Außerdem hätte ich an diesem Tag keine Besucher gehabt. Aber hier war ich die Gefoppte. Ich war in einem fremden Land und war der Sprache noch nicht kundig. Ich erfuhr von ihr, daß eine Gefangene, die früher am Tag bei mir vorbeigekommen war, der »Großvater« sei, von dem sie sprach. Weil sie nicht gewillt schien, Fragen zu beantworten, zügelte ich meine Neugier, bis ich jemand fand, der mir erklären konnte, was da eigentlich gespielt wurde.
Eine Frau in einer anderen Zelle lieferte mir eine fesselnde Beschreibung eines ganzen Systems, nach dem die Frauen ihre Häftlingsfreundinnen als Verwandte adoptieren konnten. Ich war erstaunt und ergriffen von der Methode, nach der die große Mehrheit der Gefängnisbevölkerung sich säuberlich in Generationen von Familien eingeteilt hatte: Mütter/Ehefrauen, Väter/Ehegatten, Söhne und Töchter, ja sogar Tanten, Onkels, Großmütter und Großväter. Das Familiensystem diente als Abwehr dagegen, daß man nicht mehr war als eine Nummer. Es vermenschlichte das Milieu und gestattete eine Identifikation mit anderen Menschen innerhalb eines familiären Rahmens. Trotz seiner starken Komponente von Flucht und Phantasie konnte das Familiensystem gewisse unmittelbare Probleme lösen. Familienpflichten und -verantwortungen waren Mittel, mit denen eine Gemeinsamkeit und Verantwortung institutionalisiert wurde. Man erwartete von den Eltern, daß sie für die Kinder sorgten, vor allem für die jungen, wenn sie sich keine »Luxusgegenstände« im Laden leisten konnten. Wie es auch in der Außenwelt vorkommt, hatten, oder entwickelten, einige Söhne und Töchter dabei Nebenabsichten. Eine ganze Anzahl von ihnen trat in gewisse Familien ein, weil die materiellen Vergünstigungen dort größer waren.
Was mir bei diesem Familiensystem am meisten auffiel, war die ihm zugrunde liegende Homosexualität. Obwohl in dieser improvisierten Familienstruktur die homosexuellen Beziehungen zweifellos sehr zahlreich waren, war sie trotzdem den »normalen« Frauen nicht verschlossen. Es gab normale Töchter und gattenlose, d. h. normale Mütter. Ich erinnere mich mit Zuneigung einer jungen Frau, die sechzehn Jahre alt und von einer sehr intensiven Schönheit war, und die mir eines Tages einfach und geradeheraus erklärte, sie werde mich als Mutter annehmen. Obwohl ich meine Einkäufe im Laden mit ihr (wie auch mit anderen) teilte, wenn sie auf ihrem Konto nicht genug Geld hatte, hat sie mich nie um etwas gebeten. Sie war still, ernst und sehr begierig, etwas über die Schwarze Freiheitsbewegung zu erfahren. Meine Verpflichtungen ihr gegenüber schienen vorwiegend darin zu bestehen, daß ich mit ihr über die Bewegung debattierte. Obwohl sie in einem anderen Korridor meines Stockwerkes bei den »Jugendlichen« wohnte, gelang es ihr immer, ihre Aufseher mit ruhiger Bestimmtheit dazu zu überreden, daß sie sie in meinen Korridor gehen ließen.
Da die Mehrzahl der Häftlinge zumindest oberflächlich in diese Familienstruktur verflochten schien, mußte es im ganzen Gefängnis eine große Zahl von Lesbierinnen geben. Es ist unabwendbar, daß an jedem Ort, an dem Menschen eingesperrt und nach Geschlechtern getrennt sind, die Homosexualität in verhältnismäßig großem Umfang auftritt. Das wußte ich, bevor ich verhaftet wurde. Auf den Schock, sie so durchweg im Gefängnisleben eingewurzelt zu sehen, war ich jedoch nicht vorbereitet. Es gab Frauen, die eine maskuline, und solche, die eine feminine Rolle spielten; die ersteren, die »Knilche«, wurden »er« genannt. Während der ganzen sechs Wochen, die ich im siebenten Stockwerk verbrachte, konnte ich mich nicht dazu bringen, eine Frau mit einem männlichen Fürwort zu bezeichnen, obwohl man einige von ihnen niemals für Frauen gehalten hätte, wenn sie nicht die vorgeschriebene Anstaltskleidung getragen hätten. Viele von ihnen - die Knilche wie die Frauen - hatten sich offenbar entschlossen, während ihrer Strafverbüßung die Homosexualität zu betreiben, um sich einen gewissen Kitzel zu verschaffen und den Schmutz und die Erniedrigung rings umher zu vergessen. Wenn sie auf die Straße zurückkehrten, würden sie wieder zu ihren Männern finden und die Ehegesponse im Gefängnis schnell vergessen.
Ein wichtiger Teil des Familiensystems waren die Hochzeiten. Davon waren einige sehr groß angelegt - mit Einladungen, einer formellen Zeremonie und einer dritten Person, die als »Pfarrer« auftrat. Die »Braut« machte sich für den Anlaß zurecht wie für eine regelrechte Hochzeit. Mit all den Hochzeiten, dem Suchen nach einem Stelldichein, dem Ränkespiel einer Frau, um eine andere zu ergattern, den Streitigkeiten und Eifersuchtsszenen - mit all dem - wurde die Homosexualität zu einem der Angelpunkte, um den sich das Leben im Frauengefängnis drehte. Gewiß war sie ein Mittel, um dem Leid des Häftlingsdaseins irgendwie entgegenzuwirken, aber objektiv gesehen diente sie nur dazu, alles, was an diesem Gefängnis schlecht war, auch noch zu verewigen. Das schwule »Leben« beherrschte alles; es hinderte viele Frauen, ihre persönliche Unzufriedenheit mit den sie umgebenden Verhältnissen in eine politische Unzufriedenheit umzuwandeln, weil die homosexuelle Phantasiewelt die Flucht aus der Wirklichkeit einfach und reizvoll erscheinen ließ.
Einer der Gänge im vierten Stockwerk, wo sich der psychiatrische Block befand, war nur von Frauen mit schwerer Heroinsucht besetzt. Als ich bei meinen Fahrstuhlfahrten einige von ihnen flüchtig zu sehen bekam, fiel mir ihre körperliche Zerrüttung auf. Ihre Leiber waren von Schwären übersät, wie beim Aussatz. Das waren die Abszesse, die von schmutzigen Nadeln herrührten. Andere hatten Nadelspuren überall an den Beinen und Armen, und weil dort die Venen bereits zerstört waren, hatten sie begonnen, sich die Droge in die Halsvene zu spritzen. Der traurigste Anblick waren die sehr jungen Süchtigen, von denen einige nicht älter als vierzehn Jahre sein konnten - ungeachtet des Alters, das sie der Polizei angegeben hatten. Die meisten hatten durchaus nicht die Absicht, von der Droge zu lassen, wenn sie auf die Straße zurückkehrten. Es überstieg mein Verständnis, daß sie im Gefängnis die grausigsten Wirkungen mitansehen konnten, die das Heroin hatte, und doch nicht bereit waren, den eigenen vielleicht noch spielerischen Umgang mit der Droge neu zu überdenken - einen Umgang, der häufig zur vollständigen Süchtigkeit führte. Manchmal wurden Frauen mit schweren Suchterscheinungen ins Gefängnis gebracht und dann allein in der Zelle gelassen, um sie dort allein loszuwerden. Dann schrien sie in ihrer Qual die ganze Nacht, ohne daß eine Wärterin kam, um ihnen zu helfen. Eines Abends wurde eine ausgemergelte junge Frau in die mir gegenüberliegende Zelle gesteckt. Als wir für die Nacht eingesperrt werden sollten, hatte sie sich zusammengekrümmt, und ihr Gesicht war angstverzerrt. Sie brauchte schnell medizinische Hilfe, aber kein Arzt war zu sehen. Schwestern in meinem Gang erzählten sich Geschichten von Frauen in ähnlicher Verfassung, die in der Nacht gestorben waren, als man sie zur »Ausnüchterung« allein in ihrer Zelle gelassen hatte. Wir beschlossen, uns nicht einsperren zu lassen, wenn sie nicht sofort medizinisch versorgt würde. Erst auf diese energische Haltung hin erschien ein Arzt, der sie untersuchte und ins Krankenhaus überführen ließ.
Es gab viele andere Fälle, in denen wir gezwungen waren einzugreifen, um für eine unserer kranken Schwestern ärztliche Hilfe herbeizuholen. Am schrecklichsten war der Fall einer Frau in unserem Gang, die an einem Wochenende anfing, über heftige Schmerzen in ihrer Brust zu klagen. Am Montag morgen sprach sie beim Krankenappell mit einem der ältlichen weißen Ärzte, der ihr sagte, ihr Problem sei psychosomatisch - die Folge davon, daß sie untätig den ganzen Tag rumsitze. Der Rat des Arztes war: »Verschaffen Sie sich eine Stellung.« (Wenn man auf einen Prozeß wartete wie diese Schwester, dann erhielt man nicht einmal die fünf oder zehn Cent pro Stunde, die die verurteilten Häftlinge erhielten.) Die Schmerzen der Schwester verschlimmerten sich in den nächsten Tagen, so daß wir uns zu einer kollektiven Drohung entschlossen, um ihr die ärztliche Hilfe zu sichern, die sie brauchte. Wir weigerten uns, uns einschließen zu lassen, bis ein kompetenter Arzt sie untersucht hatte. An jenem Tag kehrte sie nicht in ihre Zelle zurück; wir erfuhren später, daß man Tumore in ihrer Brust gefunden und sie eilends ins Krankenhaus überführt hatte, um Tests zu machen und vielleicht die Brust zu amputieren, falls die Geschwülste bösartig waren.
Die Gleichgültigkeit gegenüber der Gesundheit der Häftlinge zeigte sich auch in der täglichen Routine der Anstalt. Wenn schwangere Frauen nicht genug Geld hatten, um sich an den drei verkaufsoffenen Tagen ihr Quantum Milch im Laden zu kaufen, konnten sie die drei kärglichen Glas Milch, die sie zu den Mahlzeiten erhielten, nur durch unsere List ergänzen. Als ich an einem Augenleiden erkrankte (eine gerichtliche Verfügung hatte mir gestattet, einen auswärtigen Arzt zuzuziehen), wurde mir eine Spezialdiät verschrieben, zu der auch Milch gehörte. In zahlreichen Fällen schmuggelte ich meine Milch bei einer der schwangeren Schwestern ein.
Die ersten zwei Wochen gingen qualvoll langsam vorbei. Ich hatte das Gefühl, als befände ich mich schon sehr lange im Gefängnis. Als sich jedoch der Gefängnistrott unerbittlich bei mir durchsetzte, flossen die Tage unmerklich ineinander über, und der Unterschied zwischen drei Tagen und drei Wochen schien sehr gering.
Um sechs Uhr gingen jeden Morgen die trüben Lichter an, und die Türen wurden zum Frühstück geöffnet. Um acht Uhr wurden wir zum erstenmal am Tag eingesperrt, und zwar so lange, bis die Häftlinge und das Besteck gezählt waren, denn man wollte sicher sein, daß weder ein Häftling noch ein Löffel fehlte. Säuberung, Arztvisite, Postverteilung und Laden am Montag, Mittwoch und Freitag. Dann Mittagessen und Besteckzählung, gefolgt von der zweiten Einsperrung und Abzählung um drei Uhr nachmittags. Je nach dem Wochentag fanden am Nachmittag die Sportspiele auf dem Dach statt oder man ging in die Bibliothek und gelegentlich auch ins Kino. Abendbrot, Besteckzählung, acht Uhr abends Einsperrung und Abzählung. Licht aus um neun. Es war ein Glück, daß Margaret fast täglich zu Besuch kam. John kam, sooft er konnte, und ich erhielt häufig auch Besuche von Anwälten, die mit Margaret an den Prozesser) arbeiteten, die die Verhältnisse der Gefangenen zum Gegenstand hatten. Das waren Haywood Burns, der Direktor der Nationalen Konferenz Schwarzer Rechtsanwälte mit zwei Mitgliedern dieser Organisation, Harold Washington und Napoleon Williams. Wir besprachen die Fortschritte dieser Prozesse und den Rechtsstreit, durch den meine Auslieferung verhindert werden sollte. John und Margaret wollten das New Yorker Urteil, das meine Rückkehr nach Kalifornien anordnete, notfalls durch alle Instanzen bis zum Obersten Bundesgerichtshof bekämpfen.
Alle Häftlinge, die Familie oder Freunde hatten, erwarteten nach dem Abendessen ungeduldig den Zeitpunkt, zu dem die Wärterin der kleinen Schar, die sich hinter dem Gitter am Ende eines jeden Ganges angefunden hatte, die Besuchszettel aushändigte. Die Abendbesuche dauerten nie länger als zwanzig Minuten; trotzdem unterbrachen sie die Eintönigkeit der Tage. Nachdem meine Anwälte die Gefängsnisbürokratie gezwungen hatten, mir - kurz nachdem ich aus der Einzelhaft entlassen war - die regelmäßigen Abendbesuche zu erlauben, hatte ich fast jeden Abend Besucher. Immer wenn meine Schwester Fania, Franklin oder Kendra Alexander, Bettina Aptheker oder andere Freunde und Genossen in New York waren, kamen sie mich besuchen. Genau zwanzig Minuten nach Anfang des Besuches konnte ich die laute Ankündigung erwarten, daß die Zeit um sei; gewöhnlich dauerte es etwa so lange, um gerade ernsthaft ins Gespräch zu kommen. Auf die Besuche von Charlene Mitchell freute ich mich immer. Sie war eine gute Freundin und gehörte dem Politischen Ausschuß (dem Führungsgremium) der Kommunistischen Partei an. Bei den Präsidentschaftswahlen des Jahres 1968 war sie die Kandidatin unserer Partei. Charlene hatte bei meiner Entscheidung, der Partei beizutreten, eine bedeutende Rolle gespielt, und in den letzten Jahren hatte ich durch diese Freundschaft sehr viel darüber gelernt, was es heißt, Kommunistin zu sein. Als die FBI mir auf den Fersen war, hatte sie ohne das geringste Zögern sich selbst in Gefahr begeben, um mir das Leben zu retten. Es war so unbefriedigend, mit ihr durch das defekte Telefon zu sprechen, und ich war mir der Glaswand und der Mauern, die uns trennten, immer schmerzlich bewußt. Es hätte mir so viel bedeutet, wenn ich sie einmal hätte umarmen können - oder auch nur ihre Hand drücken. Eines Abends erhielt ich den aufregenden Besuch von Henry Winston, dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei. Winnie, wie unsere Genossen ihn freundschaftlich nannten, war im Staat Mississippi geboren und wurde, da er sowohl Schwarzer als auch Kommunist war, zum beliebten Zielobjekt der antikommunistischen Hetze der vierziger und fünfziger Jahre. Er war fast erblindet, weil man während seiner zehnjährigen Strafzeit im Gefängnis versäumt hatte, einen Gehirntumor zu behandeln. Vor seinem Besuch in der Haftanstalt hatte ich ihn persönlich noch nicht gesehen. Von der anderen Seite der trüben Glaswand begrüßte er mich mit einer sehr sanften Stimme, und mir war, als könne er mich mit einer viel größeren Wahrnehmungskraft erblicken als andere mit gesunden Augen. Er wollte von meiner Gesundheit hören, dem Gefängnisessen und wie mich die Wärterinnen behandelten. Er versicherte mir, daß die Partei sich den Kampf für meine Freiheit ganz zu eigen gemacht habe, und daß er persönlich alles Nötige tun werde, um mir den Sieg zu sichern.
Ich dachte ständig an meine Familie. Kein Tag verging, ohne daß ich mir nicht voller Sorgen überlegte, wie meine Mutter, die sich noch in Birmingham befand, mit diesem ganzen Unheil fertig würde. Obwohl ich sie gern gesehen hätte, sagte ich Margaret, sie solle ihr nicht zureden, die Reise nach New York zu machen. Sie ist so empfindsam, daß ich fürchtete, der Schock, ihre Tochter in einem schmierigen, von Mäusen wimmelnden Gefängnis hinter Gittern zu sehen, könnte sie umwerfen. Nur sehr ungern hätte ich sie der Unzulänglichkeit eines zwanzigminütigen Besuchs durch Telefon, Beton und das winzige, schmutzige Fenster ausgesetzt. Aber Mutter war entschlossen, mich ungeachtet der Umstände zu besuchen. Als sie uns mitteilte, daß sie nach New York käme, mühte sich Margaret tagelang im Büro der Sozialabteilung, einen »Sonderbesuch« durchzusetzen. Aber erst als Margaret der Gefängnisverwaltung erklärte, daß meine Mutter sich den Fuß gebrochen hätte und es für sie schwierig sein würde, während des Besuches zu stehen, genehmigte man den Sonderbesuch. Die Erfahrung hatte mich gelehrt, in allen Dingen Skepsis walten zu lassen. Ich hatte nicht wirklich geglaubt, daß man Mutter ins Innere der Haftanstalt lassen würde, bis sie tatsächlich dort eintraf. Sie kam an jenem Morgen an Krücken, da ihr Fuß noch im Gips war. Als sie die Arme um mich legte, spürte ich die Spannung in ihrem ganzen Körper. Ihr zuliebe versuchte ich, besonders fröhlich zu erscheinen. Um sie nicht sehen zu lassen, wie mager ich war, hatte ich mir das größte der vier vom Gefängnis zugeteilten Kleider angezogen. Selbst unter normalen Umständen regt sie sich auf, wenn ich ein paar Pfund abnahm; während meiner Fastenzeit hatte ich fünfzehn Pfund eingebüßt. Obwohl sie versuchte, aufgekratzt zu wirken, sah ich an den tiefen Furchen auf ihrer Stirn, daß sie in tiefer Sorge war. Wir sprachen von der Familie - von Vater, der noch zu Hause war, von Benny, dessen Frau Sylvia und Kind ich noch nicht gesehen hatte, und von Fania, die seit einigen Monaten schwanger war. Obwohl sie es nicht aussprach, merkte ich, daß sich mein Vater die ganze Geschichte sehr zu Herzen nahm; ich bat sie, ihm zu sagen, daß er sich nicht zu sorgen brauche - es sei nur eine Frage der Zeit. Immer wenn ich etwas so Zuversichtliches von mir gab, muß sie an die Gaskammer in Kalifornien gedacht haben. Daher sagte ich ihr immer wieder, ich zweifelte keinen Augenblick, daß ich bald wieder frei sein würde - und bei ihr. Es war gut, daß der New Yorker Ausschuß zur Befreiung von Angela Davis mehrere Veranstaltungen geplant hatte, zu denen Mutter eingeladen wurde. Ich wußte, daß sie neuen Mut fassen würde, wenn sie sah, wie viele Menschen an meinem Schicksal Anteil nahmen. Einige der sympathisierenden Wärterinnen kamen zu einem Empfang, der ihr zu Ehren stattfand. Das war besonders wichtig, weil sie erkannte, daß sogar unter meinen bestellten Kerkermeistern Frauen waren, die sich der Massenbewegung gegen die Unterdrückung anschließen wollten.
Zusätzlich zu diesen amtlich genehmigten Besuchen erhielt ich zahlreiche »Straßenbesuche«. Obwohl es gegen das Gesetz verstieß, war dies ein eingefahrener Brauch bei den Häftlingen. Freunde schrien einfach unten von der Straße herauf zum Gefängnisfenster. Eines Abends nach der Einsperrung versammelten sich mehrere Frauen von der Harlemer Vereinigung der Schwarzen Frauen zur Befreiung von Angela Davis, um mich von den Schritten in Kenntnis zu setzen, die sie für mich geplant hatten. Ich sah einen Polizisten auf eine von ihnen zugehen und sie offenbar verwarnen; als sie fortfuhr, zu mir heraufzurufen, packte er sie und schleppte sie davon.
Nachdem ich in der Gefängnisbevölkerung nun sozusagen eingesessen war, begann ich mir natürlich Möglichkeiten auszudenken, um im Gefängnis eine kollektive politische Tätigkeit anzuzetteln. Viele Leute kennen nicht den Unterschied zwischen Untersuchungsgefängnis und Strafgefängnis, die zwei ganz verschiedene Anstalten sind. Die Menschen im Strafgefängnis sind bereits verurteilt. Die Untersuchungsgefängnisse sind zumeist für die Haft vor dem Prozeß bestimmt, sind Haftanstalten, bis der Häftling entweder verurteilt oder freigesprochen ist. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung im Untersuchungsgefängnis ist keiner Tat überführt, muß aber doch in diesen Zellen schmachten. Weil das Kautionssystem notwendigerweise nur den verhältnismäßig gutgestellten Häftlingen zugute kommt, werden die Untersuchungsgefängnisse in unverhältnismäßig hoher Zahl von den Armen bewohnt, die die Kautionssumme nicht aufbringen können. Das O.R.-Programm nach dem man freigelassen werden kann, ohne Kaution zu stellen, und zwar auf Grund einer persönlichen Verpflichtung - ist stark vom Rassismus gefärbt. Mindestens 95% der Frauen in unserem Gefängnis waren entweder Schwarz oder aus Puerto Rico. Das schwerste Problem, dem sich die Untersuchungsgefangenen gegenübersehen, ist somit die Stellung der Kaution. Daraus ergibt sich die politische Frage, wie die Männer und Frauen unter Tatverdacht in gleicher Weise daraus Nutzen ziehen können, daß sie so lange als unschuldig gelten, bis ihre Schuld bewiesen ist. Ich nahm an, daß dies ein Thema sei, auf das hin wir die Schwestern in unserer Haftanstalt am wirkungsvollsten organisieren könnten und das war es denn auch, was wir später taten.
Ursprünglich hatten meine Schergen erklärt, daß ich zu meinem eigenen Schutz in Einzelhaft gesteckt worden sei - die Frauen im Korridor, so sagten sie, würden mir wegen meiner kommunistischen Ansichten feindlich gesinnt sein. Das war alles Lüge. Die Frauen waren vom ersten Augenblick an gastfreundlich, und sie waren liebevoll und schützten mich. Der klarste Beweis dafür war die Demonstration, die die Frauen vom sechsten Stockwerk vor meiner Einzelhaftzelle veranstalteten, und der Hungerstreik, der sich aus Solidarität mit meinem Streik über das ganze Gefängnis zu verbreiten begann. Solange ich da war, erhielt ich zahlreiche schriftliche Angebote von meinen Schwestern, die mich unterstützen wollten. (Jeder schriftliche Verkehr zwischen den Häftlingen ist gesetzwidrig; diese Mitteilungen heißen »Kassiber«.) Schon wenige Tage, nachdem ich in das siebente Stockwerk gezogen war, wollten die Schwestern mit mir über die Bewegung sprechen und zwar aus eigener Initiative, ohne im mindesten von mir angestiftet zu sein. Wir sprachen über Rassismus, und daß sich dieser nicht in der Einstellung erschöpft, die Schwarzen Menschen seien minderwertig. Rassismus ist in erster Linie eine Waffe der Reichen, um den Profit zu erhöhen, den sie machen - indem sie den Schwarzen Arbeitern weniger für ihre Arbeit bezahlen. Wir sprachen darüber, wie der Rassismus die weißen Arbeiter verwirrt, die oft vergessen, daß sie von einem Unternehmer ausgebeutet werden und statt dessen ihre ohnmächtige Wut an den farbigen Menschen auslassen. Im Gang und im Gemeinschaftsraum hatten wir zahlreiche Diskussionen über die Bedeutung des Kommunismus; die Schwestern wollten besonders meine Erlebnisse 1969 in Kuba hören - eine Reise, die mir bewiesen hatte, was der Sozialismus tun kann, um den Rassismus zu beseitigen.
Eines Abends, nachdem wir bereits eingesperrt waren, brach eine laute Frage die Stille. Sie kam von einer Schwester, die ein von mir geliehenes Buch las. »Angela, was soll >Imperialismus< heißen?« Ich rief: »Die herrschende Klasse eines Landes besiegt die Bevölkerung eines anderen Landes, um ihr Boden und Bodenschätze wegzunehmen und ihre Arbeit auszubeuten.« Eine andere Stimme schrie: »Du meinst, Menschen in anderen Ländern so behandeln, wie die Schwarzen hier behandelt werden?« Das weckte eine spannungsgeladene Diskussion, die von Zelle zu Zelle sprang, von meinem Gang zum gegenüberliegenden und wieder zurück. Obwohl ich zehn Exemplare von Soledad Bruder, Georges Briefen aus dem Gefängnis, in meinem Bibliotheksfach hatte, durfte ich kein einziges davon in den Korridor bringen. Einige sympathisierende Wärterinnen schmuggelten jedoch ein paar Exemplare von außerhalb ins Gefängnis. Sie wurden die wertvollste Konterbande in der Anstalt. Sie wurden ständig verlangt und von vielen gelesen. Als ich George schrieb, wie begeistert sein Buch von den Schwestern aufgenommen wurde, freute es ihn zu wissen, daß sie durch die Beschäftigung mit seiner eigenen politischen Entwicklung eine Beziehung zur Bewegung fanden. Eine Frage machte ihm allerdings zu schaffen: wie reagierten die Schwestern auf seine Meinung über die Schwarzen Frauen, die sich aus einigen seiner frühen Briefe ergab? In der Vergangenheit hatte er oft gefunden, daß Schwarze Frauen die Schwarzen Männer davon abhielten, sich am Kampf zu beteiligen. Seither hatte er gemerkt, daß diese Verallgemeinerung nicht zutraf und bat dringend darum, das den anderen Frauen im Gefängnis mitzuteilen. Selbstverständlich hatten wir für unsere Aktivitäten zu büßen. Eine Schwester war besonders schwer betroffen. Harriet war schon viele Male in der Haftanstalt gewesen und kannte die Schliche im Gefängnis besser als die meisten Wärterinnen. Ich war ihr zum erstenmal in meiner Isolierhaft begegnet. Durch ihre Tätigkeit in der Wäscherei kam sie im ganzen Gefängnis herum und war die einzige Gefangene, die meine Zelle betreten durfte. Wenn sie kam, brachte sie immer etwas mit - als ich ihr erzählte, daß mein Bleistift immer so schnell stumpf wurde, brachte sie mir als »Konterbande« einen Kugelschreiber.
Harriet hatte Joan Bird und Afeni Shakur von den New Yorker Panther 21 kennengelernt, als diese in Untersuchungshaft saßen. Sie war äußerst erpicht, der Bewegung zur Befreiung ihrer Rasse beizutreten. Als ich später in den siebenten Stock zog, kam sie jeden Tag auf ihrer Wäschetour vorbei und brachte Kassiber und Neuigkeiten von anderen Stockwerken. Im Verlauf der Wochen begannen unsere Schergen die Solidarität, die uns zusammenschweißte, mit Argwohn zu betrachten, und die Sicherheitsmaßnahmen wurden merklich strenger. Harriet erhielt Befehl, meiner Zelle und den anderen Frauen in diesem Gang fernzubleiben. Man beauftragte eine andere Frau, die Wäsche in unser Stockwerk zu bringen. Bis dahin hatte sich Harriet mit den Wärterinnen verhältnismäßig gut verstanden, sogar mit der Spitze. Ihre Arbeit gehörte zu den begehrtesten, weil sie ohne Sondererlaubnis überall in dem elfstöckigen Gefängnis umhergehen konnte. Nachdem man ihr untersagt hatte, unser Stockwerk zu betreten, warf sie stolz ihr »Privileg« den Kerkermeistern vor die Füße. Sie hörte mit der Arbeit auf und sprach nur noch im Bösen mit den Wärterinnen, die für diese Anordnung verantwortlich waren. Viele begriffen nicht, warum Harriet einen so drastischen Schritt tat - und wenn man sich die Gefängnisstruktur vor Augen hält, war dieser Schritt wahrhaft drastisch. Sie ließ mir sagen, daß dieser Vorfall grundlegende und grundsätzliche Fragen berührte, in denen sie nie einen Kompromiß annehmen würde. So entwickelte sich ein echtes Zusammengehörigkeitsgefühl. Es lag mir viel daran, diesen Gemeinschaftssinn zu festigen, und ich wußte, daß es dazu mehr brauchte als Bücher und Diskussionen. Um ihn am Leben zu halten, lud ich die Schwestern ein, mit mir auf dem Gang Freiübungen zu machen. Freiübungen waren für mich unerläßlich, um die Gefängniszeit durchzustehen. Ich konnte oft nicht einschlafen, wenn ich nicht vorher bis zur Erschöpfung Gymnastik getrieben hatte. Nachdem wir ein paar Tage zusammen geübt hatten, probten wir zusätzlich einige Karate-Bewegungen. Eine der Frauen, die auch ein wenig Karate konnte, half mir beim Unterricht. Es dauerte nicht lange, bis das Gerücht sich mit Windeseile in den offiziellen Gefängniskreisen verbreitete, daß ich den Frauen Karate beibrachte, um sie auf einen Zusammenstoß mit den Gefängniswärtern vorzubereiten. Sie befahlen der Sache Einhalt, aber wir fanden doch einen Weg, sie fortzusetzen. Wenn die gymnastischen Übungen zu Ende waren, und wir uns über die ganze Länge des Ganges schlugen und traten, stand eine der Frauen am Eingang Schmiere.
Als sich mein Aufenthalt in der Haftanstalt dem Ende zuneigte, begann eine Anzahl von Frauengruppen in New York einen Kautionsfonds für die Frauen in der Anstalt zu organisieren. Manche Frauen verbrachten Monate im Gefängnis, weil sie einfach die fünfzig Dollar nicht hatten, um die Kaution zu stellen. Während dieses Projekt draußen lief, organisierten wir es auch im Innern. Wir mußten zu verhindern suchen, daß der Kautionsfonds nichts anderes wurde als eine weitere Dienstleistungsorganisation, um Frauen im Gefängnis Kaution zu stellen, genauso, wie die Rechtsanwälte von der Rechtshilfe gestellt wurden. Wir gelangten zu einer idealen Lösung: die Frauen, die von der Organisation draußen Geld erhielten, sollten drinnen kollektiv von den Frauen in jedem Gang gewählt werden. Wenn eine Frau als Empfängerin gewählt war, dann wurde ihr nicht nur die Kaution gestellt, sondern sie übernahm auch für den Kautionsfonds Pflichten. Nach ihrer Entlassung mußte sie bei dem Fonds arbeiten und helfen, Geld zu beschaffen; sie mußte für die Entwicklung der Organisation jede politische Hilfe leisten, zu der sie imstande war.

21. Dezember 1970

An einem kalten Sonntagnachmittag fand unten in der Greenwich Avenue eine Massendemonstration statt. An ihrer Spitze marschierten die Vereinigung für den Kautionsfonds und der New Yorker Ausschuß für die Befreiung von Angela Davis. So begeistert war die Menge, daß wir uns veranlaßt sahen, unsere Stärke entsprechend zur Schau zu stellen. Wir kamen in unserem Gang zusammen, einigten uns auf die Losungen, die wir schreien wollten und wie wir sie rhythmisch abstimmen konnten - obwohl wir uns über den ganzen Gang in die verschiedenen Zellen verteilen und aus den verschiedenen Fenstern schreien wollten. Ich hätte mir nie träumen lassen, daß man unter den Schwestern in dieser Anstalt ein so mächtiges Gefühl von Stolz und Zuversicht wecken konnte. Sprechchöre donnerten von draußen: »Eins, zwei, drei, vier, das Frauengefängnis bleibt nicht hier!« - »Freiheit für unsere Schwestern, Freiheit für uns« und andere politische Losungen, die zu jener Zeit populär waren. Nach einer gewissen Zeit beschlossen wir, unsere Sprechchöre auszuprobieren. Es war für uns viel einfacher, uns durch die Fenster den Menschen draußen verständlich zu machen, als uns selbst zu hören, da wir durch die dicken Betonwände zwischen den Zellen getrennt waren. Obwohl sich unsere Losungen vielleicht nicht in reinster Harmonie mitgeteilt haben, gelang es uns doch, unsere Forderungen zu Gehör zu bringen: »Freiheit für die Soledad-Brüder!« »Freiheit für Ericka!« »Freiheit für Bobby!« - »Lang lebe Jonathan Jackson!« Während die Chöre »Freiheit für Angela!« mich mit Stolz erfüllten, machte ich mir doch Sorgen, daß sie mir den Schwestern gegenüber eine Sonderstellung verschaffen würden, wenn sie überhand nahmen.
Ich schrie daher der Reihe nach die Namen aller Schwestern in meinem Stockwerk, die bei der Demonstration mitmachten. »Freiheit für Vernell! Freiheit für Helen! Freiheit für Amy! Freiheit für Joan! Freiheit für Laura! Freiheit für Minnie!« Die ganze nächste Woche war ich heiser. Als die Demonstration ihren Höhepunkt erreicht hatte, schloß eine Wärterin das Tor zu unserem Gang auf und schrie, wir sollten mit dem Lärm aufhören. Wir weigerten uns. Sie schickten eine Frau Captain, die versuchen sollte, die Demonstration aufzuhalten. Sie kam zu mir in die Zelle und sagte, daß uns allen Strafmaßnahmen drohten, wenn wir nicht Ruhe gäben. Unsere Auseinandersetzung war heftig. Innerhalb von Minuten braute sich ein Konflikt zusammen. Von der anderen Seite des Saales kamen Rufe - die Schwestern im nächsten Gang hatten beschlossen mitzumachen. Die Frau Captain hatte keine Mittel, uns zu kuschen; jedes Wort, das sie hervorbrachte, entflammte unsere Streitlust. Je militanter wir wurden, desto mehr verlor sie an Sicherheit, und schließlich räumte sie als Geschlagene den Gang. Solange draußen noch Demonstranten waren, setzten wir unsere Sprechchöre fort. Selbst nachdem sie gegangen waren, bebte unser Gang noch vor Erregung. Wir waren stolz auf die feste Haltung, die wir der Bürokratie gegenüber eingenommen hatten. In dieser triumphalen Stimmung war es für uns eine grausame Enttäuschung zu erfahren, daß der Oberste Bundesgerichtshof unsere Berufung verworfen hatte und ich demnächst nach Kalifornien ausgeliefert würde. Es war ein Sonntag; ich nahm an, daß man mich am Montag oder Dienstag zur Westküste zurücktransportieren würde. In dieser Nacht arrangierten die Frauen, die noch von der Hitze der Demonstration glühten und nun im Dunkel ihrer Zellen eingesperrt waren, eine spontane Demonstration, um mich zu unterstützen. »Eins, zwei, drei, vier, Angela bleibt hier!« »Fünf, sechs, sieben, acht, sie wird nicht durch das Tor gebracht!« Schuhe schlugen gegen die Zellengitter, die Rufe wurden lauter. Eine Wärterin versuchte schüchtern, die Frauen zu beruhigen, aber ohne Erfolg. Eine sehr stimmgewaltige Schwester in einem der Gänge für jugendliche Häftlinge wurde aufgefordert, still zu sein, aber als sie sich weigerte und alle Schwestern lautstark ihre Partei ergriffen, wurde sie von den Wärterinnen geschlagen, da diese wußten, daß wir außer Schreien nichts ausrichten konnten. Man schleppte sie fort nach 4b - der Isolierzelle zur Bestrafung von Disziplinarvergehen.
In unserer ohnmächtigen Wut, weil wir ihr nicht helfen konnten, schrien wir unsere Drohungen und schlugen noch lauter gegen die Gitterstäbe unserer Zellen. Jemand bemerkte ein offenbar sympathisierendes weißes Paar unten auf der Greenwich Avenue, das voller Verwunderung zu dem Gebäude emporstarrte, das vom Protestgeschrei in unserem Stockwerk widerhallte. Wir riefen den beiden zu, daß eine Schwester gerade eben geschlagen worden sei und nun wahrscheinlich im Loch gefoltert würde. Wir waren ohne Furcht an jenem Abend. Wir riefen laut und deutlich die Namen der Wärterinnen nach unten, die sie aus der Zelle gezerrt hatten. Wir baten das Paar, die Untergrundpresse und möglichst viele linke Organisationen anzurufen und ihnen zu sagen, daß wir noch viel schärfere Disziplinarmaßnahmen erwarteten. (Später erfuhr ich, daß die beiden den ganzen Abend lang mit allen Stellen Verbindung aufgenommen hatten, von denen sie glaubten, daß sie uns helfen könnten.) Ein paar Stunden vergingen, und nichts Ungewöhnliches geschah. Unsere Aktion verlor allmählich an Schwung, bis der Stock ruhig war. Als ich gerade einschlafen wollte, wurde ich von einem hellen Licht, das mir ins Gesicht schien, ins Wachsein zurückgerissen. Eine der »freundlichen« Schwestern hielt ihre Taschenlampe auf mich gerichtet. Mein Anwalt sei unten, sagte sie. Man wolle mir einen Sonderbesuch genehmigen, damit er mich wegen der bevorstehenden Auslieferung über meine Rechte informieren könne. Es war allerdings seltsam, daß ein Anwalt um drei Uhr morgens einen Besuch machte, aber schließlich war John den ganzen Tag bei der Auslieferungsverhandlung des Obersten Gerichtshofes in Washington gewesen. Er war vermutlich spät zurückgekommen und glaubte nun, daß ich noch vor Ende der Nacht ausgeliefert würde.
Gleich als der Fahrstuhl im Erdgeschoß hielt, merkte ich, daß man mir erfolgreich etwas vorgegaukelt hatte. In dem Raum vor dem Empfangssaal standen weiße Polizeitypen scheinbar untätig herum. Die weiße Direktionsassistentin in ihrer besten Sonntagskleidung unterhielt sich mit ihnen. Eine Direktionsgehilfin, die zuweilen versuchte, eine menschliche Maske anzulegen, hatte gewartet, bis sich die Fahrstuhltüren öffneten. Offenbar leitete sie die Aktion. Sie teilte mir barsch mit, daß ich mich einer Leibesvisitation unterziehen müsse. Ich weigerte mich voller Zorn. Ich rief ihnen sarkastisch ins Gedächtnis, daß man mir gesagt hätte, mein Anwalt warte auf mich, ging zu der Bank, wo die Häftlinge warteten, bis sie für ihre Besuche aufgerufen wurden, und setzte mich. Rings um mich her herrschte nun eine erhöhte Geschäftigkeit, die ich nicht zur Kenntnis zu nehmen schien. Die Direktionsgehilfin kam zum zweitenmal zu mir, diesmal in Begleitung der Frau, die nach der Direktorin die zweite Stelle einnahm. Wieder sagte sie mir, ich solle mich auf eine körperliche Durchsuchung gefaßt machen. Wieder weigerte ich mich. Ob ich nun wollte oder nicht, sagte sie, die Durchsuchung werde stattfinden, womit sie andeutete, daß man notfalls Gewalt anwenden wolle. Dann verließen die beiden den Raum, vermutlich um mit den Polizeitypen zu konferieren. Mehrere Male kehrten sie zurück, ein paarmal in Begleitung einer Wärterin, die bisher zu mir ganz nett gewesen war. Während die beiden die Rolle des Steckens spielten, mußte sie die Mohrrübe mimen. Noch während sich die Auseinandersetzung verschärfte, schlichen sich zwei mir bekannte Wärterinnen in Zivilkleidung leise in den Raum. Als ich sie sah, war ich verwundert. Von allen Angestellten der Haftanstalt hatten sie zu den wenigen gehört, die ich in gewisser Weise respektierte. Eine war die Bibliothekarin, die andere saß am Empfangspult und registrierte die Anwälte, wenn sie ihre Besuche machten.
Bislang verhielten sie sich noch völlig unbeteiligt, als seien sie Zuschauer. Als ich sie jedoch gerade fragen wollte, was sie zu dieser Nachtzeit im Gefängnis taten, sah ich aus dem Augenwinkel zwei Männer in Wachuniform von hinten an mich herankommen. Das war das erstemal, daß ich Männer in diesem Frauengefängnis sah. Ich erinnerte mich, was die Schwestern über diese Wachen als »äußerstes Mittel« gesagt hatten - die Aufruhrbrigade im Gefängnis - die stets bereitstand, wenn Gewalt angezeigt schien. Als ich begriff, warum sie da waren, sprang ich auf, nahm Kampfhaltung an und wollte mich wehren. Einer von ihnen packte meinen Arm. Ich trat ihn. Als ihm der andere Mann zu Hilfe kam, warfen sie mich beide zu Boden. Bevor ich aufstehen konnte, waren die Vizedirektorin und einige der weiblichen Gehilfen an dem Getümmel beteiligt - als ob die zwei männlichen Gefängniswachen nicht imstande wären, mich unterzukriegen. In diesem Augenblick konnten die beiden Wärterinnen, die beiseite standen, ihre neutrale Haltung nicht länger bewahren. Sie warfen sich beide ins Handgemenge. Daß sie sich am Kampf beteiligten, war ein Schock - waren auch sie gewillt, dem Feind Beistand zu leisten? Ein größerer Schock war es jedoch, als sie nicht versuchten, mich fertigzumachen, sondern auf die Männer einschlugen, die mich inzwischen wirklich mit großer Roheit behandelten. Der Kampf wurde zur Rauferei. Keiner wußte genau, wer auf wessen Seite stand. In dieser Verwirrung gelang es den beiden Männern, je einen Arm von mir zu packen. Sie drehten mir die Arme auf dem Rücken hoch, so daß ich mich unmöglich befreien konnte. Zerschlagen und atemlos, wie ich war, konnte ich sie nicht hindern, mir Handschellen anzulegen. Ich wußte, daß man meine Rechte verletzt hatte; sie führten mich ab, bevor ich noch Gelegenheit hatte, die Ergebnisse der Gerichtsentscheidung von meinen Anwälten zu erfahren. Aber im Augenblick konnte ich kaum etwas dagegen tun, außer warten, bis ich wieder mit meinen Genossen draußen Fühlung nehmen konnte. Die Hände auf dem Rücken gefesselt und laut protestierend wurde ich in ein Nebenzimmer gestoßen. Als die Bibliothekarin sah, daß ich das ärmellose Anstaltskleid aus Baumwolle und die Segeltuchschuhe ohne Socken trug, machte sie mich darauf aufmerksam, daß es draußen sehr kalt sei. Ich sagte ihr, daß meine »Gerichtskleider« sich am Registrierpult befänden. Die Empfangsbeamtin gab mir zwei Zivilgarnituren: den marineblauen Rock und die Bluse, die ich am Tag meiner Verhaftung getragen hatte, eine Wollhose und eine leichte Wildlederjacke. Ich konnte sie jedoch nicht anziehen, weil meine Hände auf dem Rücken mit Handschellen zusammengeschlossen waren. Die zwei Frauen halfen mir, mit den Beinen in die Hose zu fahren, und legten mir das Jackett um die Schultern. Ich versuchte mich auf die konkrete Situation zu konzentrieren. War ich auf dem Weg zum Flughafen oder sollte die Überführung per Bahn stattfinden - oder mit dem Auto, wie vor einigen Monaten im Fall von Bobby Seale?
Die Ungewißheit zerrte an meinen Nerven. Die Empfangsbeamtin an einer und die Bibliothekarin an der anderen Seite schritt ich langsam durch das Gefängnistor auf das kalte Kopfsteinpflaster des Hofes. Mein Zorn wich dem Bedauern, daß ich alle meine Freundinnen, die in diesem Dreck eingesperrt waren, zurücklassen mußte. Vernell... ob man die fingierte Mordanklage fallenlassen würde? Helen... durfte sie nach Hause zurückkehren? Amy... so alt, so herzlich... Was würde aus ihr werden? Pat? Ob sie wohl ihr Buch mit Enthüllungen über die Haftanstalt für Frauen schreiben würde? Und die Organisation für den Kautionsfonds... Ob das weiterging? Harriet... So engagiert für den Kampf - würde man weiterhin versuchen, ihren Willen zu brechen? Das Polizeiauto wartete auf dem Hof, dasselbe Auto, in dem man mich immer zum Gericht gefahren hatte. Durch das dicht vergitterte Fenster konnte ich in der Dunkelheit nichts erkennen. Aber plötzlich, als das Auto durch das Hoftor fuhr, hörte ich eine donnernde Salve von ermunternden Rufen. Ich konnte mir nicht erklären, wie so viele Menschen erfahren hatten, daß ich in jener Nacht weggeschafft wurde. Später sagte man mir, daß die Anrufe jenes weißen Paares in der Greenwich Avenue diese Menge auf die Beine gebracht hatte. Kein einziges Licht erhellte den Riesenhof der »Tombs«. Ich konnte nichts sehen als die Umrisse mehrerer in der Mitte geparkter Wagen und die Schatten von menschlichen Gestalten, die sich zwischen den Fahrzeugen hin und her bewegten. Die Stimmung erinnerte an Spionagefilme der Nachkriegszeit. Ein Dutzend weißer Männer schwärmte um die Polizeiwagen und wartete nervös auf das Ende dieser Transaktion, dieser Schmierenkomödie der Unterdrückung, die sich im trüben Schimmer von Taschenlampen abspielte. New York nahm seine Handschellen ab. Kalifornien brachte die seinen zum Vorschein und schloß sie um meine Handgelenke. New York überreichte Dokumente, Kalifornien richtete seine Taschenlampen auf die Papiere, bevor es sie zustimmend annahm. New York übergab meine Kleidungsstücke und einen Drillichsack mit Schuhen. Kalifornien nahm sie entgegen, als begründe es durch die Übernahme meiner Besitztümer die Kontrolle über mein Leben. Die Bibliothekarin und die Empfangsbeamtin, die mich bis hierher begleitet hatten, standen stumm dabei. Es war, als ob ihre persönliche Identität langsam verblich. Sie schienen verstört wegen ihrer Machtlosigkeit. »Ich hoffe, daß alles gut geht«, sagte eine von ihnen. Ohne es zu wollen klang sie wie jemand, der einem Patienten kurz vor seinem Tode noch etwas Aufmunterndes sagen muß.
Die Szene hatte etwas Choreographisches. In dem gleichen stummen Rhythmus bewegte sich New York zu seinem Auto und stapfte Kalifornien zum Auslieferungsvehikel. Die ungestörte Vollkommenheit dieses Staatsaktes war in gewisser Weise viel erschreckender als die Auslieferung selbst. Ich mußte etwas tun, um dieses Schauspiel zu stören. In plötzlicher Eingebung blieb ich abrupt stehen. Als Antwort auf diese kleine Geste der Weigerung schlossen sich automatisch Hände um Waffen. »Diese Handschellen sind zu eng, und ich sehe keinen Grund, warum meine Hände auf dem Rücken gefesselt sind. Wenn Sie daran denken, mich in dieses Auto zu kriegen, dann denken Sie erst mal daran, die Handschellen zu ändern.« Ich hatte zumindest den Rhythmus des Unvermeidlichen durchbrochen. Ich hatte sie zumindest überrumpelt, und da niemand da war, um ihnen ein Stichwort zu geben, waren sie zunächst ratlos. Immer noch verwirrt, als folgten sie den Anordnungen eines Vorgesetzten, befahl der rangälteste Polizist einem anderen, er solle die Handschellen öffnen und mir die Hände vorn wieder zusammenschließen. In dieser Autokolonne ohne Anfang und Ende gipfelte die wahnwitzige Gewalttätigkeit des Staates. Sie raste durch die Stadt und kam unvermittelt zu einem jähen Halt. Anonyme Polizisten sprangen aus Wagen, flüsterten miteinander, darauf fuhren einige Autos in eine und andere in die entgegengesetzte Richtung. Als wir an einen Tunnel kamen, hielten die Wagen an, während die Straßensperre, die sie für uns errichteten, gesichert wurde. Ich hatte nicht gemerkt, wie kalt es war, bis ich meinen Körper zittern, meine Zähne klappern fühlte. Der Mann rechts von mir hielt meinen Wollrock und meine Bluse. Wenn ich den Rock um die Beine wickelte und mit der Bluse die Hände bedeckte, würde mir vielleicht wärmer. Zuerst widersetzte er sich nicht, als ich den Rock anforderte, aber während ich mich ungeschickt bemühte, ihn mit meinen gefesselten Händen um meine Füße zu wickeln, fuhr er auf mich los, als erwarte er, daß ich eine Pistole auf ihn richtete. Einen Augenblick dachte ich, er sei übergeschnappt. Nur ein Irrer konnte glauben, daß ich in diesen dünnen Kleidern, die außerdem schon von der FBI und den Wachen in der Haftanstalt durchsucht worden waren, eine Waffe versteckt haben könnte. Dann fiel mir ein, daß jeder an seiner Stelle dasselbe getan hätte - es war der Wahnsinn der Institution, der er diente, der ihn veranlaßte, den Saum meines Rockes und die Nähte meiner Bluse hysterisch zu befühlen.
Wir waren schon so lange unterwegs, daß ich mir überlegte, ob sie wirklich die ganze Strecke über Land fahren wollten. Als ich jedoch eine Frage über unseren Bestimmungsort stellte, sagte der Mann zu meiner Rechten nach einem kleinen Zögern, wir führen zum McGuire-Flughafen der Luftwaffe in New Jersey. Nun war also neben den bewaffneten Zivilbeamten, der Polizei, der Generalstaatsanwaltschaft zweier Staaten auch noch das Militär an dieser Sache beteiligt. Wir fuhren in den Flughafen hinein und rasten diagonal über das Flugfeld, das in das Dunkel eines frühen Wintermorgens getaucht war. Das Flugzeug war noch nicht erkennbar, nur das Licht, das durch seine Fenster schien. Erwarteten sie einen Luftkampf? Hatten sie deshalb die Luftwaffe eingesetzt? Es hätte mich kaum überrascht, wenn mir jemand gesagt hätte, daß mich Jagdflieger nach Kalifornien eskortieren sollten. Als wir dem Flugzeug näher kamen, sah ich kleine Menschengruppen in der Form eines U um die Treppe am Hinterteil des alten Transportfliegers aufgestellt. Zivilbeamte mit Waffen in der Hand. Schrotflinten, Gewehre, Maschinengewehre. Wenn ich nun stolperte, während ich zum Flugzeug ging? Dann würden die Angriffsreflexe ausgelöst. Und mein Körper würde von Kugeln durchlöchert. Da diese Aktion insgeheim stattfand, außer Sichtweite der Presse, könnte ihnen niemand widersprechen, wenn sie behaupteten, ich hätte versucht zu fliehen. Langsam und entschlossen stieg ich, trotz der gefesselten Handgelenke, glatt aus dem Wagen. Als ich auf das Flugzeug zuging, war jeder Schritt mühsam. Die Gewehrläufe zeichneten meinen Weg. Flankiert von Zivilbeamten und Polizisten standen zwei Frauen auf dem oberen Absatz der versenkbaren Treppe. Eine war klein und dünn mit stumpfem braunem Haar. Ihr blasses Gesicht mit den scharfen Zügen verriet die Unsicherheit des Neulings. Die ältere Frau war groß und hatte ein fleischiges Gesicht. Ihr Haar verriet, daß sie erst vor kurzem einen Schönheitssalon aufgesucht hatte. Ich wußte von vornherein, daß sie in ihrem Beruf aufging: weibliche Polizei par excellence. Es schien ihr Freude zu machen, daß sie mit mir betraut war, umgeben von diesen bewaffneten Männern, die bei einem Zwischenfall ihren Anweisungen zu folgen hatten. Während des ganzen Fluges war sie es, die sich mir am auffälligsten aufdrängte. Jedesmal wenn ich meine Stellung, und sei es noch so geringfügig, änderte, stand sie von ihrem Platz auf, um den kleinen Raum um mich herum zu prüfen. Und wenn ich auf die Toilette mußte, bestand sie darauf, daß auch sie sich in die winzige Kabuse hineinzwängte.
Als sie gespannt zusah, wie ich urinierte, konnte ich die Frage nicht unterdrücken: »Glauben Sie, daß ich mich ins Klosett spüle?« Sie erschien mir als typische Vertreterin der kalifornischen Regierung. Der Staat genoß den zweifelhaften Ruf, einer der fortgeschrittensten des Landes zu sein, wenn es galt, einen Widerstand zu unterdrücken. Kalifornien konnte schon mehr als seinen Anteil an Opfern für sich verbuchen. Ich konnte die Geschichte meines politischen Engagements an der Zahl der Beerdigungen ablesen, denen ich beigewohnt hatte. Während des endlosen Fluges fragte ich mich, ob auch ich eines seiner Opfer werden würde. In mein Vertrauen zur Bewegung drängte sich die fürchterliche Vision von San Quentin, jener Festung des Grauens, die über der Bucht von San Francisco hing, als klammere sie sich an die Ränder der Zivilisation. Ich dachte an Aaron Henry, das letzte Opfer, das in der Todeskammer von San Quentin mit Gas erstickt wurde. Am Tag seiner Hinrichtung bat seine Mutter um Audienz beim Gouverneur. Ronald Reagan fühlte kein Mitleid mit ihr. Er ließ sich nicht herab, ihre Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen. Als ich im Flugzeug saß, dachte ich an sie und jede Schwarze Mutter, die ihr glich. Der Flug von einem Ende des Landes zum anderen dauerte zwölf Stunden. Zwölf Stunden, in denen meine Gedanken von einem Ende meines Lebens zum anderen wandern konnten. Ich dachte an meine Familie. Was sollte mit meiner Mutter, meinem Vater, Reggie, Benny, Fania geschehen? So viel Zeit war seit jenen Tagen vergangen, als wir noch alle zusammen waren zu Hause, sicher, geschützt. Aber hatte es diese Zeit wirklich einmal gegeben? Waren die Leute in diesem Flugzeug nicht schon immer da gewesen, hatten uns mit dem Haß in ihren Augen gefangengehalten und unserem Leben nachgestellt?