...Rosemary hat keine Ahnung, was in einem solchen Fall geschieht, außer daß das Spiel nicht vorbei ist, und sie wünschte, es wäre vorüber. Der Nachmittag ist heiß und scheinbar endlos. Der verbrannte Sportplatz schimmert grell und siedet, und es sieht so aus, als ob sie noch eine Runde spielen müßten.
Da sie im Augenblick offenbar nicht benötigt wird, geht sie ein kurzes Stück weg und legt sich in den Schatten eines Baumes, schließt die Augen und weigert sich, sich von den kleinen, schwarzen Fliegen, die ihr über das Gesicht kriechen, und der Ameisenstraße, die über Arme und Beine läuft, stören zu lassen. Sie schläft. Sie träumt flüchtig von komischen, kleinen Hintern mit menschlichen Köpfen an beiden Seiten, die bald auf dem Inneren ihrer Augenlider, durch die die Sonne knallt, von einer kunterbunten Wandmalerei von menschlichen Figuren überlagert wird, die die verschiedensten Veränderungen und Körperverzierungen tragen afrikanische Hautritzungen, japanische Tätowierungen, chinesische, gebundene Füße, mittelamerikanische, gefeilte Zähne, burmesische Messinghalsringe, Sara-Wak'sche Lippenplatten, südamerikanische Wangenstöpsel, neuguinesische Nasenringe, und dann landen zwei Tropfen Eiswasser auf ihrer Stirn, und sie wacht auf.
Eine gut aussehende Frau Ende Dreißig, so schätzt Rosemary, und, soweit zu sehen ist, ohne Körperschmuck, Narben oder andere Verzierungen, steht über ihr und hält ihr eine Flasche Mineralwasser entgegen, deren Plastikrumpf vor Kälte beschlagen ist. Rosemary setzt sich auf, nimmt sie und trinkt.
»Danke«, sagt sie. »Nichts zu danken«, sagt die Frau und setzt sich neben sie. Sie nimmt die Flasche, trinkt und gibt sie Rosemary zurück. Rosemary gerät in eine kleine Krise bei der Überlegung, ob sie wieder aus der Flasche trinken soll. Sie würde gerne erst den Flaschenhals abwischen, aber das könnte beleidigend wirken, also atmet sie tief durch, drückt die Daumen, hebt die Flasche an ihre Lippen und trinkt. Die Frau schenkt dem Ganzen sowieso keine Beachtung. Sie schaut den Spielerinnen auf dem Sportplatz zu, die in diversen Feldpositionen verstreut sind. Ein adrettes Geschöpf in Weiß geht zum Schlagen.
»Hast du bemerkt«, fragt die Frau Rosemary, »wie unheimlich jung diese Frauen sind?«
Rosemary, die in den letzten Monaten schließlich über kaum etwas anderes nachgedacht hat, kann nur zustimmen. »Und außerdem«, fährt die andere fort, »wie heutzutage praktisch jedes Mädchen, dem du begegnest, lesbisch ist? Sie strömen aus ihren Schlupflöchern hervor, diese kleinen Lesbenmädchen. Und sie kommen sich so gut vor. Du solltest annehmen, daß sie es erfunden haben. Wir Eulen sollten zusammenhalten, wenn du mich fragst.«
»Wir Eulen?« Oder sollte es Eulinnen heißen, fragt sich Rosemary, aber wen könnte das in dieser Hitze wohl interessieren?
»Erfahrene unbeirrbare Lesbierinnen e.V. Wir treffen uns jeden zweiten Donnerstag im Monat im Frauengesundheitszentrum.«
Aus einer mittleren Entfernung tönen Rufe zu ihnen herüber. Die Erscheinung in Weiß hat ihren Schläger auf den Boden geworfen und geht mit den Händen auf den Hüften davon. Mehrere Mädchen pfeifen und winken Rosemary zu, von der offensichtlich etwas erwartet wird.
»Du bist dran. Zeig's ihnen.« Und das tut sie.
Sie haben alle in der Kneipe stundenlang Rosemarys Lauf um alle vier Male gefeiert, der das Spiel entschieden hat, aber jetzt ist die letzte der siegreichen Tops gegangen, und nur Rosemary und ihre neue, erfahrene, unbeirrbare Freundin bleiben zurück.
»Ich kann euch gut verstehen«, sagt aus heiterem Himmel ein Typ vom anderen Ende der Bar. »Männer sind furchtbar. Sie sind engstirnige, herzlose Scheißkerle, unfähig, ihre Gefühle auszudrücken. Ich mag sie auch nicht. Ich glaube, ich kann wahrheitsgemäß sagen, daß alle meine besten Freunde Frauen sind. Frauen geben einem soviel mehr. Tja, das brauche ich euch ja nicht zu erzählen, wie?«
Wie sind sie da hineingeraten? Rosemary kann es sich nicht erklären. Sie hatten sich nicht mit ihm unterhalten, hatten nicht einmal seine Gegenwart bemerkt.
»Wenn er nicht den Mund hält«, sagt ihre Begleiterin, »knalle ich ihm eine.«
Rosemary hofft, daß es dazu nicht kommen wird, aber es sieht fast so aus, denn er fängt wieder an.
»Ich meine, ehrlich, Mädchen, wenn ich eine Frau wäre, wäre ich auch lesbisch. Keine Frage. Männer sind dumme, langweilige, rauhe und gemeine Scheißkerle. Ich bin in einer Männergruppe. Wir treffen uns einmal die Woche, und wißt ihr was, wir verbringen die meiste Zeit damit, unseren Gefühlen nachzuspüren. Kein Wunder, daß ihr lieber mit Frauen schlaft. Würde ich auch. Naja, das ist ja sowieso klar. Ich bin ja keine Schwuchtel oder sonst was.«
»Ich werde ihn bitten«, murmelt Rosemarys Freundin in ihr nervöses Ohr, »mit uns nach draußen zu kommen, und dann verpasse ich ihm eins mit meinem Baseballschläger, und dann will ich dich mit nach Hause nehmen. Ich will, daß du mich fickst.«
Rosemary ist nicht völlig überrascht. Sie hat so etwas ähnliches erwartet, sich sogar darauf gefreut. Warum sonst würde sie in einer Kneipe herumhängen, wenn sie mit einem guten Buch sicher zuhause sein könnte? Tätowierung, Folter, Verstümmelung und Verzierung: Die Entnaturalisierung des Körpers in Kultur und Text, herausgegeben von Macia-Lees und Patricia Sharpe, State University of New York Press, zum Beispiel. Lois hatte es Daphne geliehen, die darauf besteht, daß Rosemary es liest.
»Nun, kommst du?« will die Eule wissen, und Rosemary denkt, daß sie wahrscheinlich kommen wird, ungefähr dreimal. Nun, vielleicht zweimal, verbessert sie sich, angesichts ihrer wechseljährlichen Verfassung. Aber was ist, wenn sie völlig trocken und verschrumpelt innendrin ist? Wird sie es dann noch können?
»Was meinst du?« will die andere wissen. Und was ist mit Billie, fragt Rosemary sich, und die Antwort kommt hurtig und geschwind nach dem Motto: Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß, und es zählt ja gar nicht, es ist unwichtig, es ist bloß eine einmalige Angelegenheit, und außerdem brauche ich es. »Du könntest sogar sagen«, bricht Rosemary ihr Schweigen, »daß ich es mir, nach all der Angst, die ich in der letzten Zeit durchgestanden habe, verdient habe.« »Heißt das ja?« »Ja, heißt es.« Und die Frau lehnt sich vor und nimmt Rosemarys Hand. Sie hat lange, dünne Finger. Rosemary freut sich darauf, sie nutzbringend angewandt zu sehen. Dann fängt der Mann wieder an.
»Ich kann es euch wirklich nicht verdenken, überhaupt nicht«, sagt er, und Rosemary findet, nachdem sie sich endlich von ihrer Überraschung, sich in dieser Situation zu befinden, und dem Durchstehen ihrer kurzlebigen, aber ermüdenden moralischen Dilemmas erholt hat, ihre Stimme wieder und sagt ihm ruhig, daß sie seiner Zustimmung nicht bedürfen. Dazu scheint er nichts zu sagen zu haben, und das ist auch gut so. Rosemary hofft nur, daß er lange genug still bleibt und sie ihm ein paar Sachen erklären kann. Zu seinem Besten. Sie persönlich würde gerne die Baseballschlägerlösung vermeiden. Und außerdem findet sie, nachdem sie nun einmal angefangen habe, könne sie auch gerade so gut fortfahren.
»Es ist nicht Abscheu vor Männern, die Frauen dazu bringt, Frauen zu lieben. Frauen lieben Frauen um ihrer selbst willen. Weil sie es wollen. Nicht weil sie auf irgend etwas reagieren, das Männer tun. Er tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, daß Männer absolut gar nichts damit zu tun haben. Lesben sind Lesben, weil es sie nach Frauen verlangt. Und darüber hinaus verschwindet dieses Verlangen nicht, nur weil sie Sex mit Männern haben. Kurzum, eine Lesbe ist eine Lesbe und bleibt eine Lesbe.«
»Ja. Cool. Kapiere ich. Kann ich kapieren. Aber hört mal, ihr wißt doch, daß ich auf eurer Seite bin, Ladies. Aber es gibt etwas, was ich schon immer wissen wollte. Wie macht ihr es? Los doch, ihr könnt mir vertrauen. Was treibt ihr?«
Rosemary merkt, wie sie deutlich auf die Schlägerlösung umschwenkt, aber offenbar hat ihre Begleiterin entschieden, daß das eine Zeitverschwendung ist, und außerdem macht sie sich Sorgen wegen der Babysitterin. Und so gehen sie. Die Stimme des Unverbesserlichen tönt ihnen hinterher, aber niemand hört zu.
Auf dem Parkplatz beginnen die zwei Frauen zu lachen. Ein Lachanfall überkommt sie. Sie sind hilflos dagegen. Es ergreift und schüttelt sie zutiefst und unkontrollierbar, während sie aneinanderhängen und sich küssen, und dann wird es ernst, oder so ernst jedenfalls, wie diese Dinge zu sein pflegen. Rosemary schiebt die andere Frau behutsam gegen eine Wand. Sie macht ihre Jeans auf und zieht sie ihr zu den Knöcheln hinunter. Als sie die Beine der Frau sanft auseinanderzieht, bemerkt sie die Schuhe, glänzende, weiche, braune Schuhe, die leicht abgetragen, leicht altmodisch sind, wahrscheinlich aus einem Second-hand-Laden, das ist recht wahrscheinlich, wo sie doch eine alleinstehende Mutter ist. Auf der Landstraße donnern Lastwagen vorbei. Es beginnt zu regnen. Drei Jungen, hat sie wohl gesagt. Scheiße. Drei. Jungen. Wie dem auch sei, sie will diese dreifache Mutter so sehr, wie sie selten eine Frau in ihrem Leben gewollt hat. Sie wünscht sich nur, sie könnte sich an ihren Namen erinnern. In der ganzen Aufregung über ihren Spielgewinn hatte sie ihn gleich wieder vergessen. Natürlich hat sie viele Gelegenheiten gehabt, wie zum Beispiel: »Was möchtest du trinken, äh .... tut mir leid, ich habe wirklich ein schreckliches Namensgedächtnis«, als sie in der Kneipe die Drinks geholt hat, oder: »Wo wohnst du, äh .... tut mir leid, ich habe deinen Namen vergessen, sowas Blödes«, aber jetzt wäre es wohl unhöflich, sich danach zu erkundigen, während sie die Finger in sie gleiten läßt.
»Heb dein Hemd hoch, heb es hoch«, weist sie an. Sie will diese Titten sehen, die so viele Kinder genährt haben. Ihre Hände finden sie. Nippelringe. Sie läßt ihre Finger an der feinen Kette entlanggleiten, die sie verbinden. Deborah. Das ist es, bestimmt. Sie ist überrascht, daß es ihr so schwerfiel, sich an den Namen zu erinnern, denn es war der Name der Schulsprecherin in ihrem letzten Schuljahr, die einmal auf einem dieser Wanderausflüge, auf die die Schule so viel Wert legte, Rosemary eingeladen hatte, sich ihren Schlafsack mit ihr zu teilen, denn es konnte im Busch nachts kalt werden, und Rosemary hatte es bereitwillig getan, obwohl natürlich nichts passiert war, denn in der Schule passierte kaum je etwas, ganz anders als jetzt, als Deborah, Debbie, Deb an Rosemary hängt und ermutigend stöhnt. Offensichtlich benötigt diese Szene mehr Aufmerksamkeit und kann nicht hier erledigt werden.
»Zu dir oder zu mir, Debbie?« fragt Rosemary; nachdem sie gestern abend endlich das Buch, das sie vor Ewigkeiten gekauft hatte, zu Ende gelesen hat, ist sie offensichtlich kühner geworden, dem Beispiel folgend, das Blaize mit dieser Frau mit den Ray Bans und der mächtigen Autostereoanlage gesetzt hatte.
»Zu mir.« »Sag >Bitte<, Deborah«, sagt Rosemary alias Blaize, als das Gespenst der Schulsprecherin seinen Kopf wieder hebt. Sie kann kaum glauben, daß sie sich so verhält, und dann auch noch in strömendem Regen, aber es ist einmal nett zur Abwechslung, und es funktioniert, das merkt sie an der Art, wie Debbie an ihr hängt und »Bitte« flüstert und dann: »Ich werde gut sein. Komm mit mir nach Hause, und ich zeige es dir.« »Zeig es mir hier.« Rosemary dreht hart an einem Nippelring und dann härter. Debbie zerrt an dem Gummibund von Rosemarys weißen Leinenshorts. Rosemary findet diese Shorts töricht. Sie hatte es sich schon gedacht, daß sie es bedauern würde, sie anzuhaben, aber sie waren das einzige Kleidungsstück in ihrem Besitz, das als sportlich beschrieben werden konnte. Mittlerweile hat Deborah die Shorts fest im Griff, und Rosemary hat diese kurze Vision von einem kleinen Mädchen, dem von seiner Mutter aus den Kleidern geholfen wird und das in einem dampfenden Badezimmer erst auf einem, dann auf dem anderen Bein steht. Das scheint nicht sehr angemessen. Sollte sie nicht schwarzes Leder, Ketten, Gürtel, Peitschen und möglicherweise eine spitze Lederkappe tragen? Sicherlich war die Baseballkappe mit den Worten: Ich kann nicht einmal normal denken, die ihr jemand aufgesetzt hatte, als sie den Sieg entschieden hatte, in diesen oder auch anderen Umständen ein bißchen albern? Rosemary sagt sich, daß es idiotisch ist, sich in einem Augenblick wie diesem darüber Sorgen zu machen, was sie anhat.
»Wir müssen gehen«, keucht Debbie. »Ich mache mir wirklich Sorgen wegen der Babysitterin.« »Natürlich«, sagt Rosemary höflich. Es gibt schließlich immer ein Später. Die Nacht ist noch einigermaßen jung, auch wenn sie es nicht ist.
Ich hätte mir auch Sorgen wegen der Babysitterin gemacht, denkt Rosemary, als sie sie sieht, Ganz und gar nicht die Jugendliche mit dem frischen Gesicht, die sie erwartet hatte, sondern eher eine untersetzte, zähe, fernfahrermäßige Person, die deutlich nach Zigaretten und Alkohol riecht und sich mit einem eigenartigen grunzenden Geräusch unhöflich in der engen, muffigen Diele von Debbies feuchtfleckigem Faserplattenhäuschen an ihr vorbeischiebt, die Fliegentür aufschmeißt und, indem sie ganze Schneckenbataillone zerquetscht, den Betonpfad entlangwatschelt, an dem Hortensien in durchweichten Reihen stehen. Als sie den verrosteten Holden-Kingswood-Kombi, der am Rinnstein geparkt ist, erreicht, steigt sie ein und donnert davon. Debbie tritt auf die durchhängende Veranda hinaus, die von einer trüben Glühbirne beleuchtet wird.
»Tschüß, Daddy«, sagt sie, als der Kingswood auf zwei Rädern um die Ecke saust und verschwindet. Daddy? »Komm herein, Darling«, murmelt Debbie, nimmt Rosemarys Hand und zieht sie sanft hinter sich her. In dieser Hand liegt ein Zittern, etwas Hilfloses und Resigniertes ihrer Besitzerin, das mit Sicherheit Rosemarys schlimmste Seite zum Vorschein bringen wird. Wer war Daddy? Aber wen kümmerte es? Hand in Hand gehen die unbekümmerten Geliebten die übelriechende Diele entlang, wo die Feuchtigkeit im Teppich sitzt, an uralten Laufschuhen vorbei, die wie der Inbegriff von Jungen riechen, und in das Wohnzimmer, wo ein sehr großer Hund, eine Rottweiler-Schäferhund-Ridgeback-Kreuzung, um mehr oder weniger genau zu sein, von einer schwarzen Kunstledercouch, auf der er geschlafen hatte, auf den Boden hinunterkracht und Rosemary wie ein Drache anstarrt, der darauf wartet, erschlagen zu werden. Und nun, endlich, das Schlafzimmer, und es ist entgegen dem Rest des Hauses - Rosemary war nicht in der Küche oder im Bad und wird auch nicht hingehen, wenn es sich vermeiden läßt, denn sie kann sich mit Sicherheit vorstellen, wie es dort aussehen muß - sauber, ordentlich, weiß gestrichen und enthält nichts als ein Einzelbett und eine Kommode, auf der diverse Requisiten ausgelegt sind: Arschstöpsel, Zahnschutz, Handschellen und ähnliches plus einem wirklich sagenhaft aussehenden Dildo zum Anbinden, dessen Gurte liebevoll aus rosafarbenem und schwarzem Leder gearbeitet sind. Made in England, heißt es. Wahnsinn! Was für eine teure Spielzeugsammlung. Offensichtlich nimmt Deb Debbie Deborah, denn sie hat keiner Vorliebe Ausdruck verliehen, ihr Sexleben ernst. Und so viele Lampen. Rosemary sucht vergeblich nach einem Lichtschalter. Debbie tritt von hinten an sie heran, umgreift ihre Taille mit den Armen, schiebt die Hände unter Rosemarys T-Shirt, nimmt jeweils eine Brust in die Hand und drückt sanft.
»Mach das Licht nicht aus. Ich sehe gerne etwas. Ich will sehen, was du mit mir machen wirst.« Natürlich wäre Rosemary entsetzt, wenn sie diesen Dialog in einem Buch lesen würde, aber hier und jetzt ist sie es nicht. Deborah ist offensichtlich scharf darauf, weiterzukommen. Sie gibt liebenswürdige Geräusche von sich und bindet Rosemary den Dildo um, nimmt dann etwas, was Rosemary fälschlicherweise als After Eight ansieht, zerrt mit den Zähnen die Verpackung ab und begibt sich daran, das Kondom über Rosemarys eregiertes Dingsbums zu streiten, denn es ist ja nicht direkt eine Erektion, nicht wahr, und auch kein Schwanz, Pimmel oder Ständer, aber in jedem Falle wirft es, Rosemary kommt nicht umhin, das festzustellen, einen mächtigen Schatten. In diesem Fall wirft es ihn auf die Wände, die Decke und das ordentliche, weiße Bett, als Rosemary es anschnipst und die Hüften bewegt, so daß es hinauf und hinunter und hierhin und dorthin und hierum und darum zeigt, bis Deb sie anfleht, stillzustehen, so daß sie ihr Werk vollenden kann. Deb sieht so bescheiden aus, so sehr, sehr ergeben und süß, wie sie vor ihr kniet, und Rosemary hätte dieses rührende Bild gerne ein bißchen länger in Szene gesetzt, aber Deb geht zum Bett, wo sie sich auf allen Vieren niederläßt und ihren Arsch ausstreckt, denn Rosemary glaubt nicht, daß die Wörter Po oder Hintern oder Gesäß der Situation angemessen sind. Sie zögert, da sie zeitweilig verdattert darüber ist, wie sehr die Sprache sexuellen Verlangens männlich besetzt ist.
»Willst du denn nicht?« säuselt Deb, dreht sich besorgt auf den Rücken und streckt die Arme aus. »Komm her. Laß mich nicht warten, Daddy, komm her und zeig deinem Baby, was du willst.« Das sollte sie wahrscheinlich tun, aber Rosemary hat keine Lust auf dieses Daddy Zeugs. Und nichts von alledem hier war doch real? Nicht real jedenfalls, wie Fernsehnachrichten real waren, oder vielleicht doch so real wie diese. Aber nicht so real, wie die Geliebte zu verlieren oder den Job, die Brieftasche oder die Zähne. Nicht real, nein, nur eine Szene. »Zeig's mir«, beharrt Debbie, und das tut Rosemary, während der Vollmond über dem Fenster aufgeht. Und Daddy ist zurück, sitzt auf der ekligen Couch, die Füße in ein Paar alte Filzpantofffeln gesteckt, teilt sich ein Bier und ein Paket Chips mit dem Hund, während sie sich die ganze Sache auf einer Art Sofortvideoaufnahmegerät ansehen, das Daddy für sich aufgebaut hat. Auf ihre Art ist Daddy selbst so etwas wie ein kleines Genie.
Deb, Debbie, Deborah schläft jetzt, Rosemary hat nicht geschlafen, sondern eine Weile still gelegen und an dieses und jenes gedacht, und jetzt steht sie auf und zieht sich an.
Sie geht ins Wohnzimmer, wo Daddy durch drei Jungen im Teenageralter ersetzt worden ist, der größte von ihnen schluchzt in einer Ecke, während seine Brüder ein Videospiel spielen. Rosemary hat diese Jungen vorher nicht gesehen, gemäß der Regel, die männliche Hunde und Jungen über zwölf vom gestrigen Spiel ausschließt. Der weinende Junge sitzt zusammengesackt an einem Tisch und hat den Kopf in den Armen vergraben. Im Nacken, wo das rasierte Haar anfängt, ist eine Tätowierung in Form einer Zielscheibe. Er trägt ein verblichenes, kariertes Hemd, zerrissene, schwarze Jeans. Seine Füße, in riesigen und schmutzigen Schuhen versunken, klopfen auf den Boden. Warum er weint, würde Rosemary gerne wissen. Sie ist sich bewußt, daß ihre Neugierde einen anthropologischen Gesichtspunkt hat. Sie fragt sich, ob sie dem einen oder allen Hallo sagen sollte oder nicht, aber sie scheinen ihre Gegenwart nicht wahrzunehmen. Es hat sowieso nicht viel Zweck, sich hier einzulassen, denn sie weiß, ohne darüber nachgedacht zu haben, daß sie Debbie nicht wiedersehen wird, höchstens vielleicht auf der Straße, wo sie sich womöglich über den Weg laufen und kurz stehenbleiben, um sich nach der Gesundheit der anderen zu erkundigen, da es nicht viel anderes gibt, das sie gemeinsam haben.
Angegriffen von den Ereignissen der Nacht schleicht Rosemary in die Morgendämmerung und findet eine Welt vor, die vom Regen schwer und trübe geworden ist. Während sie nach Hause läuft, denkt sie an die abwesende Billie. Sie pflückt Geißblattzweige, die wild in einer Hecke wachsen, und hält sie sich an die Nase. Sie weiß nicht, was mit Billie geschehen wird. An diesem Morgen findet sie sich mit der Erkenntnis ab, daß es nichts gab, was sie tun konnte, um das zu ändern. Sie würde einfach akzeptieren müssen, was Billie entschied. Sie ist überrascht, wie ruhig, beinahe kalt, sie dabei empfindet. Verärgerung scheint Zuneigung abgelöst zu haben. Billie hätte sie wenigstens wissen lassen können, daß sie sicher angekommen war. Hatte sie das nicht an dem Morgen nach der Party gesagt, während ein verrückter Maori sein Bestes getan hatte, die Telefonzelle auseinanderzunehmen?
Irgendwie geht es Rosemary nicht durch den Kopf, daß es Billie nicht gut gehen könnte, als sie noch mehr Geißblattzweige pflückt, um sie in einen Krug auf den Küchentisch zu stellen. Der Himmel wird rasch heller. Der Tag scheint jetzt weniger grell. Regentropfen verwandeln sich auf jedem Blatt und Zweig in Silber. Der Mond steht immer noch dort oben, obwohl er zügig schwindet, als Rosemary in ihre Straße einbiegt,
Billie öffnet die Augen und sieht ein Fenster auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers, und durch die Fensterscheibe sieht sie denselben schwindenden ... schwindenden »Mond.« Das einfache Wort purzelt steif aus Billies Mund. Es tänzelt im Dunklen zwischen der Sprecherin und der Frau umher, die in einem Rollstuhl in der Ecke des Zimmers schläft. »Mond« stößt sanft an das Ohr der Schlafenden und weckt sie auf.
»Billie«, schreit Lorraine. »Oh Scheiße, Kleine, du hast uns vielleicht einen Schrecken eingejagt.«
»Also, was ist passiert?« will Billie wissen, nachdem die Ärzte und Krankenschwestern gegangen sind.
»Du bist von einer Welle geflogen und verschwunden. Das haben die Mädchen erzählt. Marsha hat dich vom Meeresboden gezerrt, und sie haben es geschafft, dich an den Strand zu bekommen. Sie haben meterweise Tang aus deinem Mund gezogen.« »Igitt.« »Sowie winzige Einsiedlerkrebse und zerbrochene Venusmuschelschalen.« »Ach Quatsch!« »Wirklich. Aber es ist ihnen nicht gelungen, dich wieder aufzuwecken. Sie haben es beide mit Mund-zu-Mund-Beatmung versucht.«
Billie weiß, daß sie dankbar sein sollte, aber in Wirklichkeit ist es ihr peinlich, und ihr ist ein bißchen schlecht. Sie möchte ins Badezimmer gehen.
»Ich muß aufstehen.« »Ich helfe dir.« Billie besteht darauf, daß sie es alleine kann, und so ist es auch.
Im Badezimmer und auf wackeligen Beinen greift sie die Kante des Handwaschbeckens und untersucht ihr graues Gesicht und strähniges Haar im Spiegel, der darüber an der Wand angebracht ist.
Irgend etwas fehlt. Irgend etwas ist nicht da, was da sein sollte. Aber was? Billie findet es heraus, nachdem der Arzt ihr gesagt hat, daß sie nach Hause gehen kann, und sie zu Lorraines Haus zurückfahren.
»Hier. Du mußt doch darauf brennen, deine Frau anzurufen. Ich hätte sie ja angerufen, um ihr Bescheid zu geben, aber allein der Name Rosemary brachte mich nicht weit.«
Billie nimmt den Telefonhörer in die Hand und starrt ihn an. »Wenn sie so wichtig für mich wäre. .. ich meine, wenn ich sie wirklich liebte, wie konnte ich sie dann vergessen?«
Lorraine dreht sich eine Zigarette und nimmt sich Zeit, die Frage zu bedenken. Wenigstens hat Billie nicht vergessen, daß sie eine Lesbe ist, wofür sie dankbar sein sollten. Sie zündet ihre sorgfältig gedrehte Zigarette an und reicht den Tabaksbeutel an Billie weiter, die sich nicht erinnern kann, ob sie raucht oder nicht, und so beschließt sie, es zu versuchen. Es sieht nach einem angenehmen Zeitvertreib aus.
»Als ich neulich im Supermarkt war«, sagt Lorraine, »fragte die alte Lady vor mir nach einer Packung Kippen, und das Mädchen an der Kasse gab ihr ein Päckchen mit der Schwangerschaftswarnung, du weißt schon: Rauchen schadet Ihrem ungeborenem Kind oder so. Jedenfalls hat sie das Päckchen zurückgeworfen und gesagt, diese Sorte wolle sie nicht. Sie wolle die Sorte, die einem nur Lungenkrebs gibt, so wie früher. Das arme Mädchen mußte die ganzen Päckchen durchsehen, um eines mit der richtigen Warnung zu finden, und die Schlange wurde länger und länger.« Lorraine lacht. Billie nicht. »Tja, nun. Du findest es nicht lustig. Es war aber lustig. Muß daran liegen, wie ich es erzählt habe.«
»Aber du hast meine Frage nicht beantwortet«, merkt Billie an. »Nein, habe ich nicht, wie? Könnte sein, weil ich die Antwort nicht weiß.« »Ja, gut, aber dennoch, was glaubst du?« »Du weißt doch, wie es ist, wenn du auseinandergehst ...
Sie verschwindet aus deinem Leben, und bei allen guten Vorsätzen: sie könnte genauso gut tot sein, findest du nicht? Ich finde schon. Es ist verrückt. Als hättest du einen Friedhof an den Außenrändern deines Hirns. Vielleicht wurde deine Rosemary aus Versehen dorthin gespült, als du etwas auf den Kopf bekamst oder was sonst passiert ist. Ich meine«, sagt Lorraine, »wie Boy George sagt: >In einer Minute kannst du deine Zunge in jemandes Arsch stecken haben, und in der nächsten kannst du nicht einmal mehr miteinander kommunizieren.< »Ich glaube nicht, daß wir das je gemacht haben.« »Woher willst du das wissen? Du kannst dich doch nicht erinnern.«
Vier gebrechliche Schwule trippeln aus Bungalow Nummer 6 hervor und gehen zum Schwimmbecken. Dankbar für die Ablenkung fragt Billie, was mit dem kranken Jungen in Nummer 4 passiert ist. Sie hat ihn nicht gesehen.
»Er wurde zu krank, als daß wir uns hätten um ihn kümmern können, deshalb haben sie ihn ins örtliche Krankenhaus gebracht, und er ... nun, du weißt schon«, erzählt Lorraine ihr. »Als er tot war, kamen seine Eltern aus Queensland und nahmen seine Leiche mit, um ihn dort zu beerdigen. Es gab eine furchtbare Szene auf der Station. Der Mann, mit dem er-ichweiß nicht, wie lange, aber lange jedenfalls - zusammengelebt hat, tauchte auch auf und wollte ihn. Die Mum war bereit, vernünftig miteinander zu reden, aber der Dad war abscheulich, Der Geliebte hat ihm über die Leiche hinweg einen Schlag versetzt und ein paar Zähne gelockert. Von dem Dad, meine ich, nicht von der Leiche. Jedenfalls hat das Krankenhaus dann die Bullen geholt, und das war's dann. Der arme Kerl ist in einem Stückchen Sonnenscheinstaat vergraben, und sein Partner ist auf Kaution wegen Körperverletzung. Er ist auch HIV-positiv. Eigentlich ein netter Kerl, du würdest ihn mögen. Vielleicht solltest du dich einmal mit ihm treffen, wenn du nach Sydney zurückkommst.« »Sicher«, sagt Billie, aber sie ist sich nicht sicher, denn Billie kann nicht gut mit Aids umgehen. Jeder, den sie kennt, hatte irgendwie mit jemandem mit Aids zu tun, und wenn es nicht in ihrem Freundes- oder Familien- oder Bekanntenkreis auftauchte, gingen sie auf die Suche danach, arbeiteten freiwillig für Aids-Organisationen, gingen für Sterbende einkaufen und ließen sich deren Wutanfälle gefallen. Aber Billie will nichts mit Sterbenden zu tun haben, und sie will auch nicht darüber nachdenken. Sie erinnert sich an ihre Gefühle, als sie sich die Steppdecke zum Gedenken an Aidstote angeschaut hatte. Sie war feierlich entfaltet worden. Viele tausend Leben bedeckten den Boden eines riesigen Sportstadions, ein jedes auf ein Viereck aus glänzendem Stoff reduziert. Zu ihren Füßen lag Wayne, 1958-1991, sehr vermißt, sehr geliebt, und hier war sein ganzes Leben: reduziert auf ein Viereck aus glänzendem, rosafarbenem Stoff, auf das zwei schwarze Lederteddybären gestickt waren, die durch ein Stückchen Kette miteinander verbunden waren. Sollte Billie jemals ein Testament aufsetzen, mußte sie daran denken, ausdrücklich festzulegen, daß aus ihr unter keinen Umständen eine Steppdecke gemacht würde.
Billie macht sich Sorgen, daß ein solcher Standpunkt in einer Ferienanlage für Schwule und Sterbende fehl am Platze sein mochte, und behält ihn für sich. Lorraine strahlt die Männer an, die unter ihr im Becken herumtoben. »Salzwasser«, sagt sie, »ist gut für ihre Hautgeschwülste.«
Das holländische Mädchen, die Kusine des Jungen, mit dem Billie sich auf ihrem Schüleraustausch in Holland angefreundet hatte, ist in Australien. Sie ist in Cairns und möchte, daß Billie sich mit ihr trifft. Sie hat ihr eine Postkarte mit Korallen und leuchtend bunten Fischen geschickt, die hin und her springen, wenn die Karte aus verschiedenen Winkeln betrachtet wird.
»Dirk läßt schön grüßen. Und nachdem ich soviel von dir gehört habe, freue ich mich darauf, dich kennenzulernen. Gruß, Ulli.« Ulli hat außerdem den Namen und die Telefonnummer der Jugendherberge aufgeschrieben, in der sie übernachtet.
Billie findet diese Karte auf dem Frühstückstablett, das Lorraine ihr am Morgen gebracht hat, gegen ein Glas Mangosaft gelehnt. Die Karte war letzte Woche gekommen, aber Lorraine hatte bis jetzt vergessen, sie ihr zu geben. Billie erinnert sich daran, wer Ulli ist, was sie erstaunlich findet, wenn sie bedenkt, daß sie sich immer noch nicht an die Frau erinnern kann, die, und darauf besteht jeder, ihre Geliebte ist. Die Frage scheint zu sein, ob sie versuchen soll, diese Rosemary zu finden oder nicht? Sie vermißt sie zwar nicht, aber es ist anzunehmen, daß die Frau, wer sie auch und wo sie auch ist, sie vermißt, sie macht sich womöglich Sorgen, was ihr passiert war. In diesem Fall müßte Billie sie ausfindig machen. Wenn die Frau sehr besorgt war, würde sie vielleicht sogar die Polizei rufen, und Billie würde für vermißt erklärt. Andererseits könnte sie Billie einfach als aussichtslos abschreiben. Es hat etwas Bezwingendes, verlorenzugehen, findet Billie, Ein sehr freier Zustand. Wer weiß, was für eine Beziehung sie mit dieser Frau gehabt hatte? Wenn sie gut war, sollte sie sicherlich versuchen, sie wiederzufinden. Wenn sie schlecht war, könnte sie sicherlich von Glück sagen, davon los zu sein. Sie starrt die Postkarte in ihrer Hand an. Die Fische bewegen sich. Sie hat Kopfschmerzen. Und sie hat nicht die Absicht, nach Cairns zu fahren. Während sie wie Hamlet mit sich ficht, fährt der alte, blaue Valiant die Auffahrt herauf, und Marsha steigt aus. Sie hält einen Blumenstrauß umklammert, der in gemasertes Zellophan eingewickelt ist. Ihr sportlicher, sarongbekleideter Körper schimmert in der Hitze, als sie auf Billie zugeht. Billie erwartet ner-vös ihr Herankommen. Sie schuldet dieser Person ihr Leben. Sie steht auf. Marsha hält ihr die Blumen entgegen. Billie nimmt sie, und die beiden Frauen umarmen sich.
»Also, die kleine Billie verläßt uns«, sagt Lorraine. »Wir machen eine Abschiedsparty, ja?« Lorraine fragt nicht, wohin Billie geht, denn sie vermutet, daß sie es selbst noch nicht weiß.
Die hier Versammelten befürworten offenbar die Idee einer Party. Das sind natürlich Billie, Marsha, Carmen und auch Melissa, die Aufseherin des Nationalpark- und Wilddienstes, die in letzter Zeit immer wieder vorbeischaut, um Lorraine zu besuchen, die diesmal richtig auf cool macht. Napoleon, der Krankenpfleger, ist mit einem anderen Patienten zurück, und Napoleons ältere Schwester Aviva ist mit ihrem Teenagersohn Ben zu Besuch. Bens Anwesenheit verändert die Dinge hier ein wenig.
»Eine Party?« wiederholt er, als hätte er so etwas noch nie gehört. Hat er natürlich, aber wo er wohnt - in der Lamrock Avenue in Bondi Beach -, wäre es verrückt, eine Party zu geben, denn folgendes würde passieren: Er würde seine Freunde einladen, was prima wäre, aber dann würden mit Sicherheit durch die Mädchen auch die Surfer davon erfahren, und ziemlich bald würde jeder Jugendliche im Stadtteil davon Wind bekommen, und Hunderte von ihnen würden die Party stürmen und das Haus auseinandernehmen, und dann würde die Polizei kommen, und dann, nach all dem, würde jeder wissen, wo er wohnte und was er hatte, und sie würden zurückkommen und ihn ausrauben.
»Kann ich ein paar Mädchen einladen?« Ben kennt hier noch keine Mädchen, aber das hält er nicht für ein Problem.
»Natürlich kannst du das. Je mehr Mädchen, desto besser«, lacht Lorraine und sieht vergnügt den qualvollen Blick, den ihr das von Melissa einbringt. Am liebsten würde sie sofort über sie herfallen, aber sie kann warten.
»Bist du maskulin oder feminin?« fragt Lorraine Billie später, als sie das Abendessen vorbereiten. Billie ist ein bißchen überrascht über die Frage. Es gibt heutzutage erheblichen Widerstand gegen Gespräche dieser Art, wie sie betont.
»Ich weiß«, sagt Lorraine, » aber ich lege meine Karten offen auf den Tisch. Jahrelang habe ich die Choreografie eingehalten und nicht meinen Tanz getanzt, aber jetzt ist es mir egal, was andere denken. Das Leben ist zu kurz. Wenn du weißt, was du willst, brauchst du nicht wie die Muschi um den heißen Brei zu schleichen, wenn du den Ausdruck verzeihst. Hast du die Spieße eingeweicht?« will sie wissen, als Billie beginnt, das Hühnerfleisch, das sie in Sataysauce mariniert hat, für den Grill aufzuspießen.
»Ja«, sagt Billie und wünscht, Lorraine würde aufhören, sie herumzukommandieren. Sie tut so, als wüßte sie als einzige, wie die Dinge gemacht werden.
»Nimm zum Beispiel den jungen Ben da drüben«, schlägt Lorrdine vor. »Der weiß, was er will. Er will sein Leben nicht damit verbringen, sich stundenlang Gedanken zu machen, ob er unten oder oben liegen will, nicht wahr, Darling?« Ben hat keine Ahnung, wovon sie spricht, aber lächelt, winkt fröhlich und bestückt den Grill.
»Ich liebe dich«, beschwert sich Marsha, als sie mit Billie am Strand sitzt, Es ist ungefähr Viertel nach acht, ein heller, orangener Mond hebt sich spektakulär aus dem Meer.
»Ooh, ooh, I gotta crush on you«, singt Billie leise vor sich hin. Diverse Mondsüchtige, Göttinnenanbeterinnen, Retro-Hippies, wilde Waldbewohner und andere jugendliche Stämme überfallen heulend den Strand und beginnen zu trommeln.
»Aber du kennst mich doch überhaupt nicht«, ruft Billie, und ihr Lachen übertönt das Getöse, aber sie weiß natürlich, daß es nichts damit zu tun hat, ob sie sich kennen. Sie sollte Marsha dankbar sein, daß sie ihr das Leben gerettet hat, und natürlich ist sie das auch, aber wie weit mußte ihre Dankbarkeit gehen?
Marsha schnieft vor sich hin. Billie kann die dicken Tränen, die Marshas Gesicht herunterrollen, mehr spüren als sehen. Was soll sie tun? Aufstehen und weggehen? Nun, das könnte sie, aber sie tut es nicht. Es gibt keinen Ort, an den sie gehen könnte, und am Sonntag fährt sie sowieso, also versucht sie Worte zu finden, die es besser machen. »Ich bin zur Zeit nicht in der Verfassung für eine Beziehung.«
»Ich will keine Beziehung. Ich will nur einen Fick.« Wenn das nur wahr wäre, denkt Billie, die so etwas schon öfters gehört hat. »Was ist da nun falsch dran?« will Marsha wissen. »Nichts. Außer, daß ich mit einer anderen zusammen bin.« »Aber du kannst dich doch nicht einmal daran erinnern, wer sie ist«, jammert Marsha, »wie wichtig kann sie dir schon sein?« »Weiß ich nicht. Aber bevor ich es herausfinde, will ich keine andere Geschichte in meinem Leben. Das kann ich nicht gebrauchen.« Billie kaut störrisch an den Fingernägeln und starrt den Mond an, der den Himmel hinaufhuscht. Neben ihr schluchzt und seufzt Marsha und läßt Sand durch ihre Finger rinnen. Billie hat genug davon. Sie will sich auf ihr Motorrad setzen und davonfahren. Sie will mit ihrem Leben weiterkommen. Sie will ihr Studium beenden. Sie will nicht den Rest ihres Lebens damit verbringen, am Strand zu sitzen oder im Loser Backstager-Café, Darlinghurst, zu kellnern. Nein. Sie will ein paar Millionen machen und sich dann mit Vierzig zur Ruhe setzen. Ein paar dieser Millionen hebt sie vielleicht dafür auf, an der Goldküste eine Frauenuniversität zu gründen, an der es womöglich ein Orchideenfach, genannt Männerstudien, gäbe. Ach ja, und außerdem möchte sie singen.
»Ich fahre nächste Woche«, unterbricht Marsha sie. »Mein Urlaub ist zu Ende.« Da fällt Billie ein, daß Marsha Hauptmann in der australischen Armee ist. Wie das wohl ist? Sie würde sie gerne danach fragen, aber sie möchte keine weitere Unterhaltung mit Marsha riskieren. Billie springt auf und geht ans Wasser. Seit dem Unfall ist sie noch nicht im Meer gewesen. Der Mond legt einen silbernen Pfad auf dem ruhigen Ozean aus. Billie zieht sich aus und beginnt zu schwimmen. Sie schwimmt so weit und so schnell, wie sie kann, bevor sie ruhiger wird, kehrtmacht und in einem vernünftigeren Tempo zurückschwimmt. Als sie an den Strand zurückkommt, ist Marsha fort und mit ihr ihre Kleider. Kindisch, denkt Billie, so etwas bringen sie ihr wahrscheinlich in der Armee bei.
»Erbärmliches Mädchen«, krächzt ein kleines Naturkind mit verfilztem Haar und einem niedlichen, kleinen Knochen durch die Nase. Billie hat von diesen Waldbewohnern gehört, aber bis jetzt noch nie einen gesehen. »Erbärmlich«, wiederholt das wilde Kind und rutscht seitwärts die Düne hinauf, wobei ihr lachender Mund milchiggrüne Zähne freilegt, und die nackte, fröstelnde Billie, der ein schwacher Bodenwind die Knöchel mit Sand pfeffert, kann nur zustimmen, daß erbärmlich in der Tat ein angemessenes Wort ist. Mit einem schrillen Schrei verschwindet das Kind über die Düne, und ein flacher, schwarzer Schatten fällt auf Billie, als Marsha herankommt und ihr ihre Kleider entgegenhält.
»Das war ja wohl idiotisch«, sagt sie schroff und läßt sie vor Billies Füße fallen, bevor sie sich umdreht und wegmarschiert. Der Strand ist öde, dunkel, verlassen, als das kleine Naturkind wieder oben auf der Düne auftaucht, Haltung annimmt und auf einem Eukalyptusblatt laut und unverschämt den Zapfenstreich bläst. Marsha bleibt stehen, dreht sich um und schreit: »Ich krieg dich noch, du kleines Miststück. Ich weiß Bescheid über euch Scheißkerle! Ihr lebt wie Meuten von dreckigen Tieren von der Sozialhilfe, brütet wie die Kaninchen auf Kosten der Steuerzahler, kettet euch an Bäume, um anständige Leute davon abzuhalten, ihren Lebensunterhalt auf die einzige Art und Weise zu verdienen, die sie kennen«, aber sie verschwendet ihren Atem, denn das Kind ist verschwunden, und die wütenden Worte strömen beiseite und werden von der Weite des Strandes verschluckt.
Die Venusmuscheln, die sie bei Ebbe aus dem Sand gegraben haben, wässern in einem Eimer Wasser und geben Sand von sich. Lorraine wird zu Billies Abschiedsfest Spaghetti alla Vongole, ihre Spezialität, kochen. Die Party wird großartig werden, ein Riesenspaß. Ben hat einen Haufen Mädchen eingeladen, die er gestern an einer Bushaltestelle kennengelernt hat, und sie sollen auch ihre Freundinnen mitbringen. Natürlich kommt Melissa. Zum Glück besucht Terry, ihr Mann, seine Mutter, um ein paar Reparaturen an seinem Elternhaus auszuführen. Er meint, da er und Melissa es eines Tages erben würden, lohne es sich, es in einem guten Zustand zu erhalten. Es ist ein wunderschönes Haus, die reinste Verschwendung für eine alte Frau, auch wenn sie seine Mutter ist. Eines Tages würden er und Melissa dort einziehen und es mit Kindern füllen, davon träumt er jedenfalls, während er Dachrinnen repariert und Risse verputzt.
Sie können nicht sicher sein, was die Naturkinder angeht, aber da sich die Party herumgesprochen hat, tauchen sie vielleicht auch auf. Und dann sind da natürlich die Gäste, auch sie sind voller Vorfreude. Als Billie um drei Uhr nachmittags ihr Motorrad holt und losfährt, sind die Vorbereitungen in vollem Gange. Sie fährt die Küste hinauf, und sie fährt schnell. Es fühlt sich gut an, und ihr geht es gleich besser. Sie sucht nach einer Stelle, an der sie einmal mit ihrer Mutter war, einer einsamen Felsnase, die ins Meer abbricht. Dort hatten sie kurz vor der Dunkelheit beobachtet, wie eine Kolonie Seelöwen hereinsurfte und sich für die Nacht niederließ. Alle sagten, daß es an dieser Küste keine Seelöwen gab, aber sie konnten sagen, was sie wollten. Sie hatte sie gesehen.
Billie findet die Abzweigung von der Landstraße und folgt einer tief zerfurchten, unbefestigten Straße zu einem Tor, das auf eine Kuhweide führt. Sie öffnet das Tor und schließt es sorgfältig hinter sich, denn sie weiß, was sich gehört. Sie fährt langsam über das abgefressene Gras und um runde Inseln dieser verfluchten Lantana. Die Kühe suchen am anderen Ende der Koppel Zuflucht und beobachten ihre Weiterfahrt mit einem ernsten, kollektiven Stieren. Sie sehen aus, als ob sie gleich in Tränen ausbrechen wollten. Die Fahrt endet oben auf einer Klippe. Billie steigt von ihrem Motorrad, geht an den Rand und schaut hinunter. Die grauen Felsen sind noch da, Die langen, gleichmäßigen Wellen rollen sanft herein und waschen über die Felsen. Keine vollkommen glatten und runden Köpfe dümpeln draußen herum; statt dessen steht am Wasser, und das ist erstaunlich angesichts der zerklüfteten Abgeschiedenheit dieses Ortes, eine Statue der Jungfrau Maria, die ihre Arme in der weltumspannenden Geste des Segnens und der Umarmung erhoben hat. Zwischen den emporgestreckten Händen wölbt sich ein Regenbogen von Handfläche zu Handfläche.
Billie klettert die Klippe hinunter, Geröll löst sich unter ihren Füßen, und als sie fast unten angekommen ist, verliert sie das Gleichgewicht und fällt, rutscht den Rest der Strecke hinunter und landet vor einer gehauenen Falte vom Rock der Jungfrau. Sie steht auf und geht um die Statue, die ein bißchen größer als Billie ist, herum. Sie steht zum Meer hingewandt, ihr Gesicht wird von der Gischt gepeitscht, und die Gesichtszüge sind von großen Salztränen zerfurcht und zerfressen. Sie wird dem nicht lange standhalten, aber wie ist sie hierhergekommen? Jemand mußte sie gemacht und dann mit einem Boot hier an Land gebracht haben. Billie wünscht, sie hätte einen Fotoapparat dabei, sonst würde ihr niemand glauben. Aber sie wird sowieso niemandem davon erzählen.
Diese einsame, bröckelnde Jungfrau gehört ihr und dem Meer. Sie kniet zu ihren Füßen nieder - die Wellen kräuseln sich um ihre Stiefel -, bricht ein Stückchen vom Rocksaum ab und steckt es sich als Souvenir in die Tasche. Sie könnte schwören, sie könnte ehrlich schwören, daß Maria eine Hand gesenkt und ihr leicht über das Haar gestrichen hat. So gesegnet klettert Billie die Klippe hinauf und fährt davon.
Es ist früher Morgen, kurz vor Tagesanbruch. Die Party ist fast vorüber. Es war wundervoll. Total. Wüst, Supercool. Unheimlich. Ein Hit. Nimm ein Wort, irgendein Wort, eines von den vielen, die umherhinken, zerrissen und verkehrtherum eingesetzt, abhängig von Woche, Tag, Minute, Sekunde, als du geboren wurdest. Wirbelnde Worte für einen zufälligen Planeten. Alle waren gekommen, die Polizei eingeschlossen, und zwar zweimal. Die Naturkinder waren um Mitternacht eingetroffen, ein Heranrauschen bunter Lumpen, die an einem Bulldozer hingen, den sie auf einer Lichtung abgestaubt hatten, wo häßliche Männer von früh bis spät arbeiteten, um ihre häßlichen Familien zu ernähren, indem sie eine Straße durch das anfällige und versagende Herz des Waldes trieben. Die Naturkinder hatten geduscht und einander die Haare geschnitten. Sie hatten im Schwimmbecken ihre Wäsche gewaschen und sie überall über die Büsche gehängt, damit sie in den ersten rosigen Sonnenstrahlen trocknen konnten. Die bunte Kleidung hüllte die Männer mit Aids, die in Decken eingewickelt und aufgereiht wie Erbsen in der Hülse auf Liegen neben dem Becken schliefen, in festlichen Glanz. Napoleon, der Krankenpfleger, hat nach seinen Patienten gesehen, bevor er in sein Zimmer gegangen ist, um Tagebuch zu schreiben, was er seit Tagen vernachlässigt hat. Seine Schwester, der die Party keinen Spaß gemacht hat, hatte sich, Kopfschmerzen vortäuschend, kurz nach Mitternacht mit einer Augenbinde, Ohrstöpseln und zwei Schlaftabletten ins Bett gelegt. Sie hatte zu Recht das Gefühl, daß sie sich wirklich genug bemüht hatte, sich in diesem schließlich sehr fremden Territorium zu amüsieren, Vor dem Einschlafen hat sie sich für einen Augenblick gefragt, wohin ihr Sohn Ben wohl verschwunden sein mochte. In die Stadt, um mit den Mädchen herumzustreunen, hoffte sie, denn Gott mochte sie davor bewahren, daß er als Homo endete wie Napoleon. Nicht daß sie irgend etwas gegen Homos hätte, sie wollte nur einfach nicht einen zur Welt gebracht haben, das war alles. Und Sophie, ihre liebe, kleine Tochter, war übers Wochenende bei ihrem Vater. Wie es Sophie wohl ging? Oh Gott, bitte laß es ihr nicht schlecht gehen. Aber laß es ihr auch nicht zu gut gehen. Bitte sorge dafür, daß sie mich mehr liebt als ihren Vater. Erschöpft von ihren Anstrengungen, die nostalgische Fassade einer Familie in der westlichen, spätkapitalistischen Welt aufrechtzuerhalten - denn es tröstet uns stets, die Zeit zu orten, in der wir leben, die Längen- und Breitengrade unserer Schuldzuweisungen haargenau zu bestimmen - tut Aviva das einzig Vernünftige: Sie schläft ein.
Die Naturkinder haben sich Pulverkaffee gemacht, obwohl es auch richtigen Kaffee gab und Lorraine sogar so weit ging, ihnen anzubieten, ihn für sie zu machen, da keiner von ihnen wußte, wie. Aber sie mochten Pulverkaffee, darauf bestanden sie. Sie aßen Unmengen Toast mit Marmelade, ihre Haare waren prächtig mit Perlen, Patronen und Federn geschmückt. Sie bauten sich ein Nest, in das sie ihre sauberen Köpfe legten, bevor sie die Nachtlandschaften betraten, entlang Alleen blasser, nackter Stämme wandelten, die sich zur unverschämtesten aller Gesten aufbäumten, hin zu Koalabären, die sich langsam, langsam auf Spießen drehten und ihr trauriges Fett auf den von Sägespänen nachgiebigen Boden spritzten, und währenddessen richteten sich die Partylesben vor dem Fernsehgerät in Lorraines Bungalow ein, denn Lorraine hatte ein Video, das ihre Freundin Jill ihr aus Sydney geschickt hat. Auf Jills heiße Videos konnte man sich verlassen, besonders auf die mit Debbie, und Lorraine hat dieses hier für die Party aufgehoben.
»Wo sind die Jaffas?« möchte eine wissen und verrät damit eindeutig ihr Alter. Es gab keine Jaffa-Schokoladenkugeln, aber statt dessen sechs Pakete Arnott's Schokoladenkekse und mehrere fette, klebrige, grüne Joints.
Im Kühlschrank lag reichlich Cascade-Bier und auch Coca-Cola.
»Fertig, Ladies?« erkundigt sich Lorraine, und im großen und ganzen sind sie es, wenn auch vielleicht ein bißchen nervös. Dora, die ortsansässige Tierärztin, drückt in der Hoffnung, daß keine Tiere vorkommen, die Daumen, denn dann würde sie gehen müssen. Billie lehnt an der Rückwand nahe der Tür. Sie persönlich, so sagt sie sich, kann bei diesem Zeug mitmachen oder es bleiben lassen, aber ihr wird klar, daß sie sich womöglich nicht die ganze Wahrheit eingesteht, denn sie spürt einen bekannten Adrenalinstoß der Vorfreude, von einer intensiven Neugierde einmal ganz zu schweigen.
Lorraine zwinkert ihr zu und drückt die Abspieltaste.
Die Qualität ist anfangs entsetzlich - nun, eigentlich den ganzen Film hindurch, denn es ist eine schlecht ausgeleuchtete, schlecht vertonte Amateurleistung, eine Situation direkt aus dem Leben und nicht ein elegantes Produkt, das auf das Vergnügen von Männern abzielt, und so macht es niemandem etwas aus. Aber Billie möchte gerne wissen, warum niemand Pornofilme von anständiger Qualität für Frauen macht. Sie spielt kurz mit dem Gedanken, selbst einen zu drehen. Sie fährt zufrieden in einem Ferrari und mit Perlen um den Hals umher, um nach Talenten Ausschau zu halten, als ihre Aufmerksamkeit plötzlich nicht mehr davon in Anspruch genommen wird, was auf dem Bildschirm passiert, sondern sie sich fühlt, als würde sie mit dem Gesicht nach unten und dem Arm hinter dem Rücken zu Boden gerungen. Und Billie findet die Frau ihres Lebens wieder, während um sie herum die plötzlich grauenerregenden Frauen pfeifen, buhrufen und anfeuern, und dann tut sie etwas, was sie noch nie in ihrem Leben getan hat: Sie fällt in Ohnmacht.
»Herrgott, es war doch nicht dermaßen schlecht, oder?« will Lorraine wissen. Sie weiß, daß es nicht so schlecht war, denn sie hatte sich das Video am Nachmittag kurz angeschaut, Sie hatte es okay gefunden, wie diese Dinger nun einmal waren.
Die ältere Frau war eine Wucht, irgendwie überrascht über sich selbst, das war zu sehen, aber doch voll dabei. Lorraine hat Billie nach draußen gebracht und sie auf der Kante einer unbesetzten Liege abgesetzt, wo sie schluchzend mit dem Kopf zwischen den Beinen sitzt. Verlangen ist eine schwer faßbare Angelegenheit, denkt Lorraine, und was ein Mädchen für Vergnügen hält, konnte für ein anderes bloß wie eine lauwarme Ovomaltine sein. Man mußte Zugeständnisse Machen. Die Schwulen gaben wie ein kleiner Chor ganze Tonleitern aufeinander abgestimmter Schnarcher von sich.
»Wie konnte sie nur?«, flüstert Billie, aber Lorraine hört ihr gar nicht zu. Sie hört gespannt zu Anthony, dem Mann am Ende der Reihe. Das war nicht so sehr ein Schnarchen als ein Todesröcheln. »Oh lieber, Gott, nein, laß es nicht zu, laß es nicht zu«, schreit Lorraine. Aber er läßt es zu, und es gibt nichts, was sie dagegen tun könnte. So wie Anthony daliegt, den Kopf zurückgeworfen, die Zähne leicht entblößt, kann Lorraine nicht umhin zu denken, daß er so ähnlich ausgesehen haben mußte, wenn er kam. Jodelnde Wertschätzung und kreischende Zustimmung tönen aus Lorraines Bungalow. Sie glaubt, sie kann Melissas Stimme heraushören. Sie will Melissa. Sogar hier, als sie die Augenlider eines toten Mannes schließt, will sie sie.
»Was ist los mit ihm?« will Billie wissen. »Er ist tot« »Ich wünschte, ich wäre tot«, sagt Billie. Ach, diese selbstbezogenen Melodramen der Jugend, denkt Lorraine. Sie hat gute Lust, ihr eine herunterzuhauen, und ohne viel nachzudenken, tut sie es auch und fühlt sich gleich viel besser.
Alle sind gegangen - nun, fast alle, bis auf ein Paar zäher Lesben, das in Lorraines Wohnzimmer zu k.d. lang tanzt und singt.
»You're still out there somewhere with someone you've met, and I'm down to my last cigarette«, heulen sie, werfen die Teppiche in Falten und stürzen in die Möbel.
Die Leiche ist fort, Napoleon hat sie ins örtliche Krankenhaus begleitet und alle notwendigen Telefonanrufe erledigt, unterschrieben, was zu unterschreiben war, und auch sonst getan, was erforderlich war, bevor er auf einem Umweg über viele Kilometer am leeren Strand zurückläuft. Er schreit seine Unzufriedenheit in den Wind und die Wellen, bleibt aber stehen, als er den jungen Ben vor sich sieht, der mit zwei der Mädchen, die gestern zur Party gekommen waren, in der Brandung angelt. Ein Mann ist bei ihnen, der Vater eines der Mädchen.
Ben stellt ihm die Mädchen und den Vater vor, der die Hand ausstreckt, um Napoleons:zu schütteln, als es plötzlich an seiner Angelschnur zerrt und er die Hand zurückzieht, um seinen Fang zu halten. Aber beide Hände sind nicht genug. Was immer da draußen ist: es ist groß und stark und zur Flucht entschlossen.
Die Mädchen greifen den Mann um die Taille, und Ben greift sie und Napoleon ihn, und lachend und rufend zerren sie das Tier zur Küste. Es kommt näher, sie können es spüren. Napoleon versucht, um, über oder durch die Gruppe kämpfender Leute, von der er ein Teil ist, zu sehen, versucht zu sehen, was da draußen ist, aber er kann nichts erkennen. Aber da ist etwas. Er kann seine Kraft spüren, wie es die Nylonschnur peitscht, sie hierhin und dorthin zerrt, während sie Mühe haben, überhaupt stehenzubleiben. Als sie langsam vom Strand ins Wasser gezogen werden, fragt Napoleon sich, wer hier eigentlich wen zu fangen versucht. Dann reißt die Schnur. Einfach so. Sie fallen in einem Haufen übereinander und stöhnen und lachen.
»Nun, wir haben ihm einen guten Kampf geliefert«, verkündet der Mann, und Napoleon findet, daß das wahr ist. Für einen Moment sieht er es als Teil einer größeren Debatte; wie etwas, das du in der sich verändernden Form von Wolken ahnst, etwas, das zum Greifen nahe ist, aber gerade wenn du denkst, du hast es, verschwindet.
»Ich brauche einen Kaffee«, erklärt der Mann, »ihr nicht? Holt die Thermoskanne, Mädels, und auch die Sandwiches mit den Curryeiern, wenn ihr schon dabei seid.« Er strahlt Napoleon an. »Sie sind also der Onkel dieses jungen Mannes? Guten Tag.« Sie schütteln sich die Hände, und der bedrückte Napoleon schmiegt sich an diese kleine Gruppe Menschen an, trinkt Kaffee, ißt ein Sandwich und fühlt sich besser.
Lorraine hat endlich Erfolg bei Melissa und hatte ihn noch, als Billie sich zur Abreise bereitmacht. Sollte Billie an die Tür klopfen und sich verabschieden? Sollte sie wenigstens warten, bis Lorraine herauskommt? Auch wenn sie unbedingt fort will, so wollte sie doch nicht mit bitteren Gefühlen gehen. Sie macht Lorraine die Ohrfeige nicht zum Vorwurf, weil Lorraine in der letzten Zeit viel Kummer gehabt hat, und Billie hat das Gefühl, daß sie ihr das zugestehen muß, und außerdem muß sie zugeben, daß sie sich wie ein verzogenes Gör verhalten hat, aber sie hatte ehrlich nicht mitbekommen, daß der Typ tot war, obwohl Lorraine es gesagt hatte. Wie dem auch sei, jetzt kann sie nicht weg, weil sie auf jemanden wartet, der etwas wegen des Bulldozers unternehmen soll, der auf dem Boden des Schwimmbeckens steht. Gelegentlich rülpst er eine Kette großer Luftblasen hervor, die langsam nach oben steigen und die Wasseroberfläche aufwerfen. Als die Naturkinder aufbrechen wollten, hatten sie die Maschine aus Versehen hineingefahren, als sie den Rückwärts- statt des Vorwärtsgangs einlegten. Es war so schnell passiert: Der Bulldozer am Beckenrand kippte vornüber, und sie konnten nur noch hinunterspringen und wegrennen. Billie war erst ins Becken getaucht, um die Nummer von der Seite des Fahrzeugs abzulesen, und hatte dann den Unternehmer angerufen, um ihm zu sagen, wo seine Maschine war, auch wenn sie keine Ahnung habe, wie sie dahingekommen sei.
»Sie haben aber doch nicht etwa die Bullen angerufen, meine Liebe, oder?« hatte die nervöse Stimme am anderen Ende des Telefons wissen wollen. Billie sagte, daß sie das nicht getan habe. »Es ist nämlich eher eine Familienangelegenheit, verstehen Sie?« Billie verstand es nicht. Sie war neugierig, es herauszufinden. Er hatte gesagt, er käme mit einem Kran vorbei, um das Ding hochzuwinden. Billie wünschte nur, er würde sich beeilen oder daß Lorraine herauskommen würde, so daß sie losfahren konnte, und gerade als sie sich das wünscht, kommt ein Abschleppwagen die Einfahrt heraufgerattert, und zwei schwere Kerle schwingen sich heraus. Der ältere von ihnen eilt ans Schwimmbecken, brüllt, reißt sich den Hut vom Kopf und trampelt darauf herum.
»Du Ratte, du Scheißkerl, du mieser, kleiner Hund.« »Er meint meinen Bruder«, erklärt der andere. »Er macht unseren Vater rasend. Er ist einer von diesen Grünen, und er fuhrwerkt immer mit unseren Maschinen herum. Er sagt, er liebt die Bäume, aber ich glaube eher, er haßt Dad. Aber egal, was der Bastard macht, Dad steht immer noch hinter ihm.« »Wie ich schon sagte«, beharrt der andere, »es ist eine Familienangelegenheit.« Er drückt Billie einen Stapel Geldscheine in die Hand. »Das sollte Sie für den ganzen Ärger entschädigen. Ist ja ein ganz schönes Durcheinander, ganz schön was aufzuräumen. Aber keinerlei Schaden, nichts weiter kaputt. Habe ich nicht recht?« Ohne eine Antwort abzuwarten, springt er in den Lastwagen, setzt bis zur Kante des Schwimmbeckens zurück und lockert die Ketten und Greifhaken. Sein Sohn springt ins Becken und bringt sie an.
Der Bulldozer schwebt bereits mitten in der Luft, und Wasser strömt aus ihm heraus, als Lorraine endlich auftaucht. Sie fragt, was los sei, weil sie das Gefühl hat, das müsse sie, obwohl es ihr im Grunde genommen egal ist. Am allermeisten wünscht sie sich zu Melissa ins Bett zurück, aber Melissa meint, sie wolle lieber nach Hause gehen, und ist aus diesem Grund duschen gegangen, und Lorraine nimmt an, mit diesen verrückten Leuten umzugehen sei so gut wie jede andere Beschäftigung auch, um sich die Zeit zu vertreiben.
Billie erzählt ihr, was passiert ist, und gibt ihr das Geld. Lorraine lacht, zieht Billie auf ihren Schoß herunter und gibt ihr einen dicken Kuß. »Ich hab's nicht so gemeint, Mädel. Das weißt du doch. Du gehst mir nur manchmal einfach auf die Titten. Aber ich liebe dich nach wie vor.« »Familienangelegenheiten«, wiederholt der Holzunternehmer grimmig und springt vom Lastwagen, um sicherzustellen, daß alles in Ordnung ist. »Am wenigsten gesagt, am ehesten behoben. Versteht ihr, was ich meine?« »Klar doch, Kumpel«, sagt Lorraine. »Nicht wahr, Darling?« Und Billie stimmt einfach zu.
Sie ist wieder unterwegs. Sie fährt zurück. Aber als sie dort ankommt, hält sie nicht an, sondern braust nur am Park vorbei, am Strand vorbei, am Haus vorbei, denn sie weiß nicht, was sie tun oder sagen soll, und aus irgendeinem Grunde hat sie sogar ein bißchen Angst. Deshalb geht sie in die Wohnung ihrer Freundin Jo Jo, holt den Ersatzschlüssel, den Jo Jo unter einem Blumentopf an der Seite des Hauses aufhebt, hervor und schließt auf. Sie badet mit viel Schaum und legt sich im Gästezimmer ins Bett, wo sie schläft, bis Jo Jo von der Arbeit nach Hause kommt und nach ihrem Kater Phyber Optik ruft, der neben Billies Kopf auf dem Kopfkissen eingerollt schläft und sie aufweckt, als er, auf die Stimme seiner Herrin reagierend, aufspringt.
»Was für ein Trip«, ist Jo Jos Kommentar, als Billie ihre Geschichte zu Ende erzählt hat, und Billie stimmt ihr zu, aber so sei es nun einmal, und das ist es dann auch.
»Das war sie. Ich bin mir sicher.« Rosemary greift Alans Arm und unterbricht die Geschichte, die Daphne ihr gestern abend am Telefon erzählt hatte, wie ihre Mutter Isobel zum Abschied eine Trichternetzspinne in Edith Blacks Bett gesetzt hatte. »Hast du sie nicht gesehen?«
»Lesben auf Motorrädern sehen für mich alle gleich aus«, sagt er. Alan hat die Nase voll von dem Thema, es tut ihm leid, daß es seiner Freundin schlecht geht, und er ist wütend auf das kleine Miststück, das an ihrem Unglück Schuld hat. Sie waren über die Klippen nach Bondi spaziert, wo sie in Rosemarys thailändischem Lieblingsrestaurant zu Mittag gegessen hatten, bevor sie wieder zurückliefen.
»Wie läuft es mit deinem Aufsatz?« fragt er, darauf bedacht, Rosemarys Aufmerksamkeit auf ihr berufliches Leben zu lenken, wohin sie seiner Meinung nach in ihrem Alter gehörte. »Den über Jungen, die zuviel Raum einnehmen.«
»Er ist fertig. Nun, beinahe«, verbessert sie sich, da sie noch an den Fußnoten herumbastelt. »Das könnte ein gutes Jahr für dich werden«, sagt Alan voraus, entschlossen, sie auf die guten Seiten aufmerksam zu machen. »Du hast doch auch ein Forschungssemester anstehen, oder nicht?«
Sie sind jetzt am Rande des Parks und kurz davor, die Straße zu überqueren. Rosemary sieht nach links und rechts: kein Motorrad, keine Billie, die ihre Meinung geändert hat und zu ihr zurückdonnert. Und wenn sie zurückkäme, denkt Rosemary, gäbe es keinen Parkplatz, und sie würde wahrscheinlich sowieso aufgeben und weiterfahren.
»Hast du irgendwelche Pläne?« »Nichts Genaues. Naja, doch, Italien für einen Teil der Zeit, nehme ich an.« »Du hörst dich an, als redetest du von einem Kaff wie Dubbo.« »Wirklich?«
Er hatte eigentlich recht. Ihr kam in diesem Moment die ganze Welt wie Dubbo vor.
Auf dem Kaminsims im oberen Schlafzimmer des Literaturhauses steht eine Grußkarte von Floryan. Darauf hat er geschrieben: »Jeder Körper ist ein Buch aus Blut; wo immer wir geöffnet werden, sind wir rot.« Daphne fragt sich, wo er das wohl geklaut hat - er hat es von seiner neuen Freundin Ruth Tongue, die es wiederum von ihrem Lieblingsschreiberling abgeschrieben hat, aber das kann Daphne nicht wissen: Daphne weiß noch nicht einmal, daß Leute wie Ruth Tongue existieren.
Oben in den Bergen schreitet die Arbeit voran, und Daphne findet heraus, daß Rosemary recht gehabt hat. Es tut weh, besonders am Rücken, an den Rippen, an den Innenseiten der Oberschenkel und Arme und hinter den Ohrläppchen.
»Denk an diese Jain-Frauen, die wir neulich im Fernsehen gesehen haben«, rät Lois ihr. »Denen das ganze Haar ausgerissen wird, bevor sie Nonnen oder sonst was werden.« Daphne denkt an sie, aber das hilft nicht. Die winzigen Nadeln, die an ihrer Hautoberfläche knabbern, ziehen kleine Bluttröpfchen hervor. Das hatte sie auch nicht erwartet. »Und außerdem macht es so einen Lärm«, beschwert sie sich, als Lois mit dem jaulenden, metallenen Tätowierungsarm über ihr steht, dessen feine Gummivenen mit Tinte gefüllt sind, die die Farbe in die Nadeln entläßt.
Lois zeichnet freihändig, sie redet ununterbrochen mit Daphne und folgt dem Fluß ihrer Gedanken. Lois hat es aufgegeben zu versuchen, einen Sinn in dem Ganzen zu erkennen. Sie folgt einfach den wilden Bildern, aber jetzt beginnt Daphne, von der Notwendigkeit von Wörtern zu reden. Was für Wörter das sein werden und wer sie schreiben wird, ist unklar.
Alle zwei Stunden machen sie eine Pause. Lois cremt sie mit Salbe ein und bedeckt die neue Arbeit mit schützender Gaze. Dann geht sie kurz im Garten spazieren und trinkt mit Dot in der Küche eine Tasse Tee. Dot macht auch einen Tee für Daphne, aber sie bringt ihn ihr nicht hoch, denn sie weigert sich, den Raum zu betreten, den sie zum Ärger der anderen als Horrorkammer bezeichnet.
Daphne würde die ganze Sache gerne beschleunigen, indem sie auch nachts arbeiten, aber Lois will das nicht. Sie wird müde, und außerdem ist das Licht nicht gut genug. Schließlich ist dies nur ein Schlafzimmer, das zu diesem Zweck umgestaltet worden ist, und kein richtiger Tätowierungssalon. Und so geht Daphne jeden Abend zu Rosemarys Haus zurück und Lois zu ihrer Mutter nach Hause.
Der Aufenthalt in den Bergen beginnt, Lois zu bedrücken. Das Wetter ist grauenhaft. Die gesamte Bevölkerung sieht aus, als könnte sie nicht mal mehr eins und eins zusammenzählen. Sie fühlt sich auf dem Land nicht sicher, Hinter der Fassade der Trödelläden, Teehäuser und gemütlichen, kleinen Pensionen, die Unterkunft mit kolonialem Charme anbieten, liegen die nackten Buschgrundstücke, auf denen sich die Hausbesitzer mit häßlichen Stapeln von Ziegelsteinen umgeben haben, vielleicht in dem Glauben, so die Heimsuchung abwenden zu können; in der Hoffnung, daß der Tod seinen Weg nicht durch die Doppelgarage fände oder durch das Fenster des Wohnzimmers einstiege. An solch desolaten Orten foltern christliche Fundamentalisten ihre Kinder, und jeder fest zugezogene Vorhang versteckt einen übergewichtigen Waffenbesitzer. Was Lois angeht, so wird sie sich nicht sicher fühlen, bis sie in die Stadt zurückgekehrt ist.
Am sechsten Abend ruft sie Floryan an, und sie diskutieren über die Möglichkeiten, wie Daphne überredet werden kann, nach Sydney hinunterzufahren, um die Arbeit dort abzuschließen. Sie diskutieren auch, was das Endresultat von all dem sein wird. Lois möchte, daß ihr erstes größeres Werk von soviel Menschen wie möglich gesehen wird. Sie möchte, daß es auf den Kunstseiten der Zeitungen und Zeitschriften rezensiert wird. Sie will Furore machen. Allerdings stimmen sie darin überein, daß es im Augenblick besser sei, Daphne gegenüber die Pläne, die sie mit ihrem Körper haben, nicht zu erwähnen.
Schließlich stellt es sich als gar nicht schwierig heraus, Daphne zur Rückkehr in die Stadt zu überreden, besonders als Lois darauf hinweist, daß sie dann abends arbeiten könnten im Tätowierungsstudio ihres Freundes Troy auf der Bondi Road. Außerdem ist es ein bißchen einsam in Rosemarys Haus ohne Rosemary, und so packt Daphne am siebten Abend ihre Taschen und ist bereit, am nächsten Morgen abzufahren.
Daphne steckt unter mehr Lagen von Verbänden als der Elefantenmann, und Lois muß ihr in den Zug helfen und außerdem ihre Tätowierausrüstung und Daphnes Koffer und ihren eigenen tragen, weil Daphne zu wundgestochen ist, um überhaupt etwas tun zu können. Als sie sich auf ihren Plätzen niedergelassen haben, bemerkt Lois, daß das, was sie von Daphne sehen kann, an diesem Morgen sehr blaß aussieht, und fragt sie, ob es ihr gut gehe. Daphne nickt und starrt aus dem Fenster. Lois nimmt eine Schachtel Perlen heraus und beginnt, sie aufzufädeln. Sie macht ein Armband für ihre jüngere Schwester. Daphne dreht sich vom Fenster weg. Sie zieht aus ihren vielen Lagen eine Keksdose von Arnott's hervor, auf deren Deckel einheimische Wildblumen gemalt sind.
Daphne hält ihr die Dose entgegen. Lois legt ihre Perlen beiseite und schaut hinein. »Was ist das?« »Worte.«
Lois sieht, daß die Dose voller zerrissener Papierfetzen ist. Sie schöpft ein paar heraus. Die Stücke sind sehr trocken, alt. Viele sind braun an den Rändern, offenbar hat jemand versucht, sie zu verbrennen. Jeder Fetzen trägt ein, zwei und gelegentlich drei verblichene Wörter, die in einer flüssigen, ordentlichen Handschrift mit einer verwaschenen, blauen Tinte geschrieben sind. Lois breitet sie auf dem Sitz neben sich aus.
»Die Worte meiner Mutter, nachdem Edith Black versucht hat, sie zu vernichten.« »Wo hast du sie gefunden?" »In dem verfluchten Schirmschrank. Wo sonst?« »Ja, aber wie? Ich meine, wann hast du sie gefunden?« »Gestern abend. Ich bin mit dem Fahrrad hinübergefahren und durch das Seitenfenster unten, das nicht richtig schließt, eingestiegen. Niemand hat mich gehört. Die drei Schriftsteller, die im Moment dort sind, waren alle oben und spielten Cricket. Ich bin zu dem Schrank gegangen, habe ihn geöffnet, mit meiner Taschenlampe hineingeleuchtet, und ganz hinten, voller Spinnweben, habe ich die Dose stehen sehen. Also, ich wollte natürlich nicht meinen Arm da drinnen riskieren, und außerdem konnte ich nicht bis hinten in den Schrank reichen, deshalb habe ich den Besen geholt und sie hervorgezogen. Ich hatte nämlich immer das Gefühl, daß Mum an etwas gearbeitet hat, als sie starb, und ich habe recht gehabt.«
Lois greift in die Dose und läßt die Papierfetzen durch ihre Finger gleiten. »Woher weißt du, daß es Edith war?« »Nun, ich glaube nicht, daß lsobel ihre eigene Arbeit vernichtet hätte, und selbst wenn, dann glaube ich nicht, daß sie sie in Ediths Schirmschrank gesteckt hätte.« »Aber warum hat Edith die Fetzen nicht einfach weggeworfen? Warum sollte sie sie in eine Keksdose tun und verstecken?«
Daphne wirft Lois einen beunruhigenden Blick zu. »Hör mal«, sagt sie, »es ist eine Geschichte. Sie muß nicht wahr sein. Ich persönlich kann mir mehrere Gründe vorstellen, warum Edith das getan haben könnte, aber das tut nichts zur Sache, denn die Hauptsache ist, daß ich die Worte gefunden habe, die wir brauchen.«
Daphne sammelt die Papierfetzen zusammen, die Lois aus der Dose genommen hatte, legt sie zurück, schließt den Deckel und schüttelt die Dose kräftig. Dann öffnet sie sie wieder und hält sie Lois hin.
»Zieh welche.« »Wie viele?« »Egal. Naja, nicht zu viele«, fügt sie hinzu, als sie an ihre leidende Haut denkt. »Und wä-hl sie nicht aus. Zieh sie einfach nur zufällig heraus. Und lies sie auch nicht.«
Nachdem dies getan ist, versucht Daphne, den Rest der Worte aus dem Fenster zu werfen, aber in diesem Zug lassen sie sich nicht öffnen, und so wird sie die Worte im Augenblick nicht los.
Rosemary ist wieder in der Buchhandlung in der Oxford Street, um sich mit solchen Büchern einzudecken, die sie zu verachten pflegte, bevor sie das mit Blaize gelesen hatte. Sie freut sich, daß mehrere Blaize Bücher im Regal stehen, und kauft sie alle. Die junge und beunruhigende Frau steht immer noch an der Kasse. Als Rosemary diesmal ihre Einkäufe tätigt, lehnt sie sich vor und sagt leise etwas. Rosemary vermutet, daß sie kürzlich einen leichten Hörverlust erlitten hat, und hat ihn schon auf die Liste der Symptome ihrer Wechseljahre gesetzt, so daß die Leute in der Beratungsstelle genau wissen, was für ihr individuell entworfenes Hormonpflaster benötigt wird. »Was?« f ragt sie, und das Wort kommt viel lauter und ärgerlicher heraus, als sie beabsichtigt hatte, daher wiederholt sie es noch einmal in einem vernünftigeren Ton: »Was?« »Ich sagte, ich fand dein Video wirklich ganz toll. Alle meine Freundinnen und ich haben Kopien davon.«
Rosemary hat keine Ahnung, wovon sie redet. Kann das der Ausbruch der Alzheimer Krankheit sein, bildet sie sich das ein, oder verweilen diese jugendlichen Finger wirklich ein wenig auf Rosemarys, als sie ihr das Wechselgeld geben?
Jo Jo ist in der letzten Zeit viel aus und kommt erst spät nach Hause, wenn überhaupt. Billie ist auch oft aus. Der Unterschied ist, daß Jo Jo sich vergnügt und Billie nicht. Sie hat ihren alten Job im Café wieder, nächste Woche beginnt die Universität, und sie hat sogar ein paar Auftritte geplant, also was ist eigentlich das Problem? Billie geht in der Abenddämmerung im Centennial Park spazieren und versucht herauszufinden, warum sie sich nicht mehr mutig und funkelnd vorkommt, aber was macht denn die Frau da drüben? Billie bleibt stehen und schaut der verhüllten Gestalt zu, die Papier am Lagunenrand verstreut. Schwäne und Gänse versammeln sich, um sich über die Fetzen zu streiten, bis sie ihren Fehler bemerken und davonpaddeln.
Als die Frau weggeht, tritt Billie ans Wasser und hebt ein paar Stücke Papier auf, aber sie sind jetzt schlammverschmiert und unleserlich. Was es wohl war? Liebesbriefe, denkt Billie, und das bringt sie gleich wieder zu ihrer eigenen Geschichte zurück, während die Wasservögel zum Schlafen auf die Insel in der Mitte des Sees fliegen, die untergehende Sonne sich auf die Hochhäuser der City aufsplittert, und Sara und Susan vorbeigehen, die in einer Pause, die sie zwischen Arbeit und Oper gefunden haben, ihren Pudel namens Morgan spazierenführen.
»Ist das nicht ... ist das nicht, du weißt schon.« »Ja, das ist sie, ich bin mir sicher«, sagt Susan und kramt nach ihrem Telefon.
Und so weiß Rosemary jetzt mit Sicherheit, daß Billie zurück ist.
Daphne will sich nicht mit Rosemary treffen, aber sie unterhalten sich oft am Telefon. Sie will niemanden sehen, bevor die Zeit gekommen ist, aber es widerstrebt ihr, vorauszusagen, wann das sein wird. Sie hat offenbar jegliche Notwendigkeit vergessen, Geld zu verdienen. Sie hat ein Stipendium der Kunstförderung für dieses Projekt, aber den größten Teil davon hat sie Lois gegeben, und da sie unbezahlten Urlaub von der Universität hat, fragt sich Rosemary, wovon sie lebt. Nicht, daß es sie etwas anginge. Rosemary denkt eben viel über Geld nach, das ist alles. Sie hat es immer für ein interessantes Thema gehalten.
Sie kann der Versuchung nicht widerstehen, zu fragen, ob es wehtut, tätowiert zu werden. Schmerzt es mehr als ein gebrochenenes Herz, will sie eigentlich fragen, aber wer wagt es schon, in ihrem Alter noch so dumm zu sein? »Natürlich, es tut verdammt weh«, fährt Daphne sie an, »aber du gewöhnst dich daran. Und das Jucken ist schrecklich, wenn es zu heilen anfängt. Ich sage dir, was das Schlimmste ist: der Lärm von dieser Maschine. Manchmal trage ich Ohrstöpsel, aber dann werde ich paranoid und glaube, sie reden über mich, und muß sie wieder herausnehmen.« »Wie wäre es mit Musik? Kopfhörer. Steck dir eine Stabat Mater in deinen alten Walkman. Das wäre äußerst passend, wenn du mich fragst.« »Haha«, sagt Daphne und hängt auf.
Floryan und Ruth Tongue liegen vor dem Schreibtisch im Empfangsbereich auf dem Boden und diskutieren die Einladungen, die zu Daphnes Enthüllung verschickt werden sollen. Ruth hat viel mit so etwas zu tun und behauptet daher zu wissen, wovon sie redet, und sie findet, daß Floryan aufhören sollte, sich den Diskurs zwischen Erzählung, Autobiographie und Schauspiel durch den Kopf gehen zu lassen, und mit Clive Barkers Büchern des Bluts, Band eins, gleich zur Sache kommen sollte.
Hör zu, weist sie ihn an, und das tut er. Vertrau mir, beharrt sie, und das tut er nicht. Ich lese es dir vor, sagt sie, und das tut sie und überspringt dabei die langweiligen Stücke: »Jetzt er war eine einzige Masse Blut, von Kopf bis Fuß. Sie konnte die Zeichen sehen, die Hieroglyphen der unerträglichen Schmerzen. Sie schrieben von allen Seiten auf ihn, zupften das Haar aus seinem Kopf und Körper, um die Seiten zu leeren, schrieben in seine Achselhöhlen, schrieben auf seine Augenlider, schrieben auf seine Genitalien, in die Spalte seines Gesäßes, auf die Sohlen seiner Füße ... und nach einiger Zeit, als die Worte auf seinem Körper Schorf und Narben waren, las sie ihn. Sie las sie alle, jede letzte Silbe, die unter ihren Fingern glitzerte und näßte. Er war ein Buch des Bluts und sie seine einzige Übersetzerin.«
Ms. Tongue sitzt einen Moment zurück und genießt den Gedanken, und dann möchte sie wissen, was er davon hält. Floryan hält es für geschmacklos, aber er sieht ein, daß sie es vielleicht verwenden können. Er weiß, daß Daphne dem nicht zustimmen wird, aber sie muß einsehen, daß jemand, der etwas so Exhibitionistisches und Flamboyantes macht, sich allen möglichen Interpretationen offenlegt.
»Wir sollten ein Poster daraus machen. Nein, du solltest ein Poster entwerfen. Mach, was du willst, und wir hängen es in der ganzen Stadt auf. Einverstanden?«
Ruth Tongue lächelt. Sie steht auf und streckt sich. Die unzählbaren Dinge, die in ihr stecken, funkeln und zittern im schattenlosen Licht des Tätowierungsstudios. Sie streckt Floryan die Hand entgegen. Er muß an Mausefallen denken und sich überwinden, sie zu ergreifen. Ihre Finger schließen sich um seine. Er bemerkt mit steigender Panik, daß ihre Fingernägel mit Stahl überzogen sind und Nieten dort sitzen, wo die Nagelhaut sein sollte.
»Ich sehe«, sagt Ruth Tongue, »daß ich deine Ansichten über ein unberührtes, begrenztes Selbst herausfordere.« »Das tust du«, stimmt Floryan zu. »Du wirst doch verstehen«, sagt sie ihm, »daß solche Ansichten zu einer Zeit, da die Hälfte der Bewohner der westlichen Welt mit anderer Leute Organen und, so habe ich gelesen, sogar mit den Gehirnzellen von anderer Leute toten Babys herumläuft, nostalgisch erscheinen warum bauen sie sie nicht selber an, kultivieren ihren eigenen Erste-Hilfe-Satz sozusagen?«
Ruths Mund öffnet sich leicht. Ihre Zunge zuckt und gibt den Blick auf ein paar wenige strategisch angeordnete, geteilte Zähne frei. »Und natürlich gibt es mehr Gegenstände aus Plastik und Stahl, die in die menschliche Rasse eingelassen werden, als ich Zeit habe zu erwähnen, viele davon mit eingebauter Batterie. Verstehst du?«
Floryan nickt, und sie gibt seine Hand frei. »Ich werde ein schönes Poster für deine Freundin machen. Ich bewundere sie. Sie nimmt die Sprache, die seit den Modernisten und allen, die nachfolgten, anspielungsreich und vieldeutig ist, und macht sie zu etwas, das gewußt und gefühlt werden kann.«
Die Ladentür öffnet sich, und ein kleiner Mann mit einem langen Mantel eilt herein.
»Ah. Da habe ich dich ja, meine Liebe. Das ist gut. Hier ist eine Einkaufsliste. Wir haben kein Klopapier mehr, keine Müllbeutel, Spülmittel für die Geschirrspülmaschine und weiß Gott noch was. Steht alles auf der Liste. Also nimm das Auto und spring bei Coles in Bondi Junction herein und dann rasch nach Hause, sei so lieb, denn unsere Babys sind heute abend ruhelos.«
Und Ruth Tongue nimmt die Liste und geht, und Troy eilt ins Studio, um Lois zu helfen, die großen Farbflächen auszufüllen, die auf Daphnes Arm darauf warten, gefüllt zu werden, und Floryan geht nach Hause, wo er seinen Wellensittich füttert, den Fernseher anstellt, eine Flasche Rotwein öffnet und sich niederläßt, um eine Einladungsliste zusammenzustellen.
Kaum zu glauben, daß eine so große Menschenmenge so ruhig sein konnte, aber man hätte eine Nadel fallen hören können, als Daphne vom Dach des Königlichen Gartenbaupavillons im Ausstellungsgelände herabschwebte und über tausend nach oben gerichteten Gesichtern baumelte. Sie wird von einem großen Stahlring getragen. Ihre Arme sind nach oben gestreckt, und ihre Hände greifen Lederbänder, die an der oberen Kurve des Rings befestigt sind, und ihre Füße bewegen sich leicht auseinander, während sie das Gleichgewicht hält und über der Menge hängt, ein dunkler Stern, der sich langsam um sich selbst dreht, und die Bilder auf ihrem Körper sind dunkle Schatten, die sich verlagern und bewegen, wie der Ring sich bewegt.
»Licht, Licht, Licht«, brüllt die Menge, und es wird Licht, und Daphne ist lebendige Farbe und hängt, wie sie hängen wollte: ein lebendiges Bild, durch das Blut fließt. Unmöglich, alles auf einmal aufzunehmen. Du mußt den Katalog sehen, um die komplexen Details, die feineren Punkte zu erkunden. Vielleicht kannst du dir die Reihe wild entschlossener Spinnen vorstellen, die aus Telefonhörern an den Ohrläppchen hervorkommen, den perfekten Holzstoß, der die linke Brust bedeckt. Wenn du für so etwas offen bist, magst du die Gegenwart von Ruths Zunge spüren, einen Hauch sozusagen von Zitat: Napalm am Morgen, Zitatende, auffangen; die bleichen Geister von Akademikern AD 37 - Anno Derrida miterleben, wie sie die rauchenden Ruinen der Literatur oder eine ähnliche Metapher, die auf einen kaputten Kanon paßt, durchstreifen.
Heute abend gibt es nur einen flüchtigen Blick, einen Anfang. Wenn es dir ernst ist, wirst du in Zukunft viel mehr sehen können, wenn Daphne über diesen Veranstaltungsort mit seinen schwulen und lesbischen Assoziationen, seiner Freakshow-Peepshow-Atmosphäre hinausgeht und, nachdem sie von der Kunstwelt aufgenommen wird, beginnt, die Galerien der Welt zu bereisen, ein kontinuierliches Kunstwerk, stets anders und stets frisch, während die Arbeit fortschreitet und sich verändert und verblichene Lieblingsbilder überarbeitet, neu interpretiert, gelobt, verworfen, verunglimpft werden. Daphne reist verpackt und geschützt durch ihren Manager, der später ihr Ehemann werden wird aus Gründen, die niemand anders ermessen kann, aber die sowohl ihr als auch Floryan passen.
Was noch?
Die Show ist vorüber. Rosemary läuft den Strand entlang. Alleine. Kein Mond.
Etwas anderes.
Ein Happy End vielleicht; ein Licht am Ende des Tunnels, ein Licht am Ende des Strandes. Gibt es das? Ist das zuviel verlangt?
Bittet, so wird euch gegeben, suchet, so werdet ihr finden, und ja, da ist zweifelsohne ein Licht am Ende dieses Tunnels. Es gehört zu Billies Motorrad. Rosemary steht wie festgenagelt, verwandelt, aufgehoben in Licht, auf Billies Sattel gehoben, und sie wird fortgetragen, wiedergeboren, getauft in salziger Gischt, von Küssen durch den feuchten Sand gewirbelt, für einen Augenblick nur sind die heiligen Frauen um den Felspool wiederauferstanden, wiederaufgebaut.
Die winzige Jungfrau, die Rosemary heute abend als Glücksbringer zur Show mitgenommen hatte, ob nun ihr Glück oder Daphnes oder beider - sagen wir beider -, befindet sich in ernster Gefahr, zerdrückt zu werden, und springt mit einem Satz von dem Ort hervor, an dem sie gehalten wurde, kreist umher wie die Fee Tinkerbell und düst dann mit Lichtgeschwindigkeit, beinahe »300.000 Kilometer pro Sekunde«, wie Rosemary, die so etwas immer weiß, nicht umhin kann zu flüstern, über den Felspool davon.
»Donnerwetter«, sagt Billie, »ist ja unglaublich.«