...nach einem zweifelsohne erfolgreichen Abend, denn alle haben sich gut unterhalten, sie eingeschlossen, im Bett und begibt sich, angestoßen durch die entsetzlichen Nachrichten, die sie am Abend im Fernsehen gesehen hat, auf ihren eigenen mörderischen Spaziergang, entlang eines graugrünen, öligen Gewässers, nicht dem Limpopo obwohl es durchaus Verbindungen gibt -, sondern entlang der Themse in der Nähe von Oxford.
Es hatte Zeiten gegeben, als sie diesen Gang in Gedanken beinahe jede Nacht gegangen war, aber dann hatten sich die Monate aufeinandergestapelt und waren umgestürzt, waren in siebenundzwanzig Jahre Trennung von Sapphire und ihrem Baby Shirley hinübergeglitten, bis die Zeit enttäuschenderweise, denn sie hatte geschworen, daß es in ihrem Fall nicht geschehen würde, auch diese Wunde geheilt hatte, wie doch die meisten. Aber sie möchte dennoch wissen, wo sie sind. Sie könnten nirgendwo sein, denn sie könnten tot sein. Sie könnten in einem von diesen qualvollen Dritte-Welt-Etablissements gefangen sein, in denen die Apokalyptischen Reiter in Deckung gegangen waren. Wahrscheinlicher war, daß Sapphire immer noch den kleinen Gemischtwarenladen in einer Nebenstraße von Oxford betrieb, in dem Rosemary sie zuerst getroffen hatte.
Beim ersten Mal war sie in den Laden gegangen, um Zigaretten zu kaufen, da der Automat in der Kneipe nicht funktionierte. Danach war sie wieder und wieder zurückgegangen, hatte Marsriegel, Baked Beans, Chips oder Milch von der hinreißenden Frau hinter der Theke gekauft. Hinter einem Perlenvorhang am Ende des Ladens hörte sie das Gebrüll von Männern, die sich Sportveranstaltungen im Fernsehen anschauten. Bis zu einem gewagten: »Hast du Lust, einen Abend auf einen Drink mit mir auszugehen?« »Ich trinke keinen Alkohol.« »Tee?« »Ich darf abends das Haus nicht verlassen.« Das werden wir ja sehen, dachte Rosemary, und schlug eine Zeit am Tage, eine Verabredung zum Tee vor. Sapphire war einverstanden, und die Geschichte begann und führte unweigerlich zu dem Moment, in dem Rosemary, voller Hoffnung und getrieben von ihrer Phantasie, die längste Leiter, die sie tragen konnte, gegen die dunkle Steinwand am Laden stellte. Rosemary ermutigte Sapphire, über die Fensterbank des hinteren Schlafzimmers zu steigen, während ihr Mann und seine beiden Brüder im vorderen Karten spielten. Shirley, das Baby, wurde als erstes in ihre gierigen Hände heruntergelassen, darauf hatte sie nicht gewettet. Hatte es noch nicht einmal in Betracht gezogen, und das überrascht sie nun, denn sie konnten wohl kaum ein Mädchen in den Händen von diesen Leuten zurücklassen.
Zum Hausboot. Und dann im Dunklen ein dunkleres Geheimnis. Sie hatte nie von weiblicher Beschneidung gehört. Wie konnte sie ihr Vergnügen in etwas so Vergnügungslosen finden? Sapphire weigerte sich, sie zu trösten, kein Grund auch, warum sie das hätte tun sollen, aber: »Wenigstens«, jammerte Rosemary gekränkt, »hättest du es mir sagen sollen.« »Was für Worte hätte ich dafür finden können?« erkundigte sich Sapphire.
Die bittere Rosemary, selbstbezogen, traurig, auf einem Poller zusammengesackt, versuchte, sich in dem verdammten Wind, der unaufhörlich vom Wasser herüber wehte, eine Zigarette anzuzünden; die Ohrenspitzen waren blaugefroren, bevor ein stumpfes Instrument zwischen diesen kalten Ohren landete und sie aus dem Bewußtsein hinaus- und wieder hineinglitt; an einem leeren, grauen Morgen öffnete sie die Augen, und der Geruch nach verdorbenem Gemüse von der Themse verfing sich in ihrer Kehle. Winterbäume krallten den Himmel. Eine leere Scotchflasche, eine von diesen großen, die Leute in Dutyfree-Shops kaufen, rollte unter ihrem Fuß weg. Sie ging nach unten und fand Spielzeug, Kleider, die Reste vom gestrigen Abendessen, die aus irgendeinem Grund über die Wände und Bullaugen verschmiert waren, zerschlagene Teller und keine Sapphire. Sapphire mit ihrem Mädchen und ihren gewichtigen Narben. Sapphire aufgespürt, in der Nacht in die Ecke getrieben, von denen zurückgefordert, denen sie so sehr zu entfliehen versucht hatte. Wie hatten sie und Rosemary es anders erwarten können? Wie hätten sie inmitten eines solchen Sturms ein Leben versuchen können?
Rosemarys Welt war in unregelmäßige Stücke zerschlagen, die sie nicht zusammenbringen konnte, und so hatte sie inmitten des Labyrinths aus Reifenspuren auf dem Treidelpfad gestanden. In der heilen Welt liefen zwei Schulmädchen vorbei, mit Hockeyschlägern, kurzen Röcken und fleischigen Beinen, die von der Kälte rosa marmoriert Waren.
»Es muß furchtbar kalt sein, auf diesen Hausbooten zu wohnen«, bemerkte eine, als sie vorbeigingen.
Sie war einfach fortgegangen. Sie hatte sich nicht umgeblickt, sondern einen forschen Schritt eingeschlagen, war den Weg zurückgegangen, auf dem sie gekommen war, eine einsame Rückreise. Keine Sapphire mit ihren Plastiktüten voller Habseligkeiten und kein ängstliches Baby, das gebrüllt hatte, als der gestreifte Kinderwagen, von zischenden Gänsen angegriffen, durch die Furchen im schlammigen Ufer geschwankt war, und ihr Kopf, gepeinigt vom eisigen Wind, sich in eine violette und pflaumenähnliche Blüte verwandelt hatte.
Rosemary war immer weitergegangen, bis sie ihr früheres Leben erreicht hatte, ihr Zimmer im College, ihre Bücher, Besitztümer, ihre unterbrochene Dissertation, Briefe von der Familie zuhause, die sie beantwortet hatte, ohne eine Erklärung für ihr Schweigen zu geben und ohne eine Bitte um eine solche zurückzubekommen. Sie vertrauten ihr. Sie hatte weinen müssen, daß sie sie so sehr liebten und daß niemand Sapphire liebte, obwohl viele sie gewollt hatten aus Gründen, die mit ihnen zu tun hatten und nicht mit Sapphire, und unter ihnen, das mußte Rosemary zugeben, war sie selbst gewesen.
Rosemary rückt ihre Kopfkissen zurecht und versucht dasselbe mit ihren Erinnerungen. Sie kann sich verschiedene Versionen von diesem und jenem erzählen, bis die Wahrheit, die schon von Anfang an nicht so völlig wahrheitsgemäß war, gemildert wird und sich in die bequemste Version der Ereignisse formt. Was hatte sie wirklich gewollt? Sapphire von ihrer arrangierten Heirat voller Schmerz und Ladenarbeit retten? Sie an einer Leine, die an einem schwarzen Lederhalsband mit silbernen Ziernägeln befestigt war, nach Australien zurückführen und Shirley, das Baby, in einen Korb am Fußende ihres Bettes stecken, in dem furchtbar viel gefickt wurde?
Rosemary versucht auszurechnen, wieviel sie heute abend getrunken hat. Offensichtlich zuviel. Einsam und betrunken, denkt sie.
»Einsam und betrunken«, sagt sie laut, und ihr wird mit einem lauten Klopfen an der Eingangstür geantwortet. Wie Daphne dabei schlafen kann, ist ihr ein Rätsel, aber das tut sie augenscheinlich. Sie nimmt bestimmt Schlaftabletten.
Alan steht schlotternd vor der Tür, blaß im Gesicht, rote Augen, die Nase ebenso. Er ist krank, zu krank, um in seinem neuen Auto in die Stadt zurückzufahren, wo immer er gewesen sein mag. Es ist die Grippe, glaubt er. Jeder in seiner Abteilung hat diese verdammte Grippe, und jetzt bekommt er sie auch noch.
Rosemary hält ein Streichholz an die Scheite, die im Kamin bereitliegen, denn in den Bergen weißt du nie, wann du sie brauchst, und macht Tee mit Honig und Zitrone und einem guten Schuß Whiskey. Als sie Alan niesen hört, beschließt sie, einen Schutzwall aufzubauen, und macht sich selbst auch einen. Ich trinke zuviel, denkt Rosemary. Sie holt Holz aus der Kiste auf der Veranda und legt es auf das Feuer. Vielleicht trinke ich manchmal zuviel, verbessert sie sich.
»Du scheinst dich ja sehr zu freuen, mich zu sehen«, bemerkt Alan argwöhnisch. »Tue ich auch«, sagt Rosemary, aber bietet keine Erklärung dafür an. »Daphne ist im Gästezimmer, aber wir können dir hier draußen auf dem Sofa ein Bett bauen. Ich suche dir ein Nachthemd,« »Danke. Solange es genau dasselbe wie deines ist. Was sind denn das für Geschöpfe, die darauf herumtollen?« Er zupft an ihrem flanellenen Arm. »Langnasige Mäuse mit Schlafmützen oder Elefanten? Ich weiß schon, es ist Babar. Ich will auch so eins. Hast du ein Thermometer? Aspirin? Ein paar gute Bücher? So, Süßeste, und jetzt erzähl mir mal, was genau Daphne im Schilde führt.«
Das ist nun wirklich eine gute Frage. Was immer es ist: Daphne verliert keinen Schlaf darüber.
Daphne findet im Traum die Hausruine in Blackheath, die sie bei Tage nicht finden kann. Es ist, da war sie sicher, der Schauplatz des Autodafés ihrer Mutter, Daphne sprayt die Umrisse einer Leiche der Länge nach auf den Boden. Der dunkle Schattenbalken, der vom alten Kamin geworfen wird, fällt wie ein anklagender Finger darüber. Daphne macht ein Foto. Sie geht zurück zu ihrem Fahrrad. Steigt auf. Steigt ab, läßt es auf die Erde fallen. Geht zu den weißen Umrissen zurück, die sie gezogen hatte, und legt sich hinein, paßt sich ihnen genau an. Sie streicht ein paar Ameisen und Kiesel weg und legt ihre Wange sanft auf den Boden. Es sieht nicht geruhsam aus, aber das ist es, und mehr noch, es ist beruhigend, und beruhigt wacht Daphne von dem Stimmengemurmel im Wohnzimmer auf .
Der Autodieb kommt gut voran, fährt gleichmäßig in Richtung Westen. Er hat in Cobar nach derselben Methode getankt und es bis nach Broken Hill geschafft. Kann er noch einmal damit durchkommen? Er kann. Als er, in eine Wolke roten Staubs gehüllt, von der Straße abfährt und auf ein paar wilde Melonenranken pißt, fühlt er sich sanft, offenherzig, beinahe gütig.
Im Auto lutscht er gedankenvoll an einer Nudel aus dem Paket, das er hinten im Wagen auf dem Boden gefunden hat. Es mußte auf dem Nachhauseweg vom K-Markt aus der Plastiktüte gerutscht sein. Es hat ihn jedenfalls bei Kräften gehalten. Er hatte in Läden um ein Glas Wasser gebeten, und es war ihm nie verweigert worden. Mindestens zwei Leute hatten ihm einen Tee gemacht, und alle hatten ihm Kekse gegeben. Er freut sich auf Perth, auf den wohlhabenden Stadtteil, in dem sein jüngerer Bruder sicherlich lebt. Er hat diesen Bruder lange nicht gesehen, aber er hat ihm einmal aus dem Gefängnis einen Brief geschrieben und eine schnelle und kurze Erwiderung erhalten, die unfreundlicherweise unter anderem auf das Ereignis Bezug nahm, das an dem Tag stattgefunden hatte, an dem unser Mörder sein Zuhause verlassen hatte, ein Ereignis, das er mehr oder weniger vergessen hatte und an das er auch heute noch nicht allzu gerne denkt. Alles in allem war der Brief nicht sonderlich ermutigend gewesen, aber wenn sie bei einem Bier oder zwei zusammensitzen und Geschichten austauschen würden - er stellt es sich vor: nur sie beide auf einer fernen Veranda in der Abenddämmerung mit dem schwindenden Licht auf dem Swan River - würden sie es wahrscheinlich ins reine bringen, sich die Hände schütteln, umarmen.
Von Alan, der im angenehmen Halbschatten auf der Seitenveranda sitzt, ermutigt, arbeitet Rosemary im Garten. Sie verteilt den gesamten Kompost, pflanzt, gießt, beschneidet und genießt es. Alan fühlt sich besser und zieht in die Hängematte um, die zwischen den beiden großen Tannen hängt, wo er vor sich hin döst und liest und mit Kristeva schmust, wenn sie ihn läßt. Er zeigt keinerlei Anzeichen zum Aufbruch. Rosemary ist froh darüber: Zum einen kann sie seinen Wagen benutzen, um ihre neuen Rosenbüsche zu transportieren, und zum anderen gefällt es ihr, ermutigt zu werden, selbst wenn es nur um eine so simple Angelegenheit geht, wie einen Platz zu wählen, um den Samenkegel für die Vögel aufzuhängen.
Auf Alans Laptop beendet sie ihre Buchrezensionen und faxt sie frühzeitig ab. Beim Frühstück blättert Alan durch eines der betreffenden Bücher und runzelt die Stirn über das Foto der Autorin.
»Sie wurde 1973 geboren«, beschwert er sich. »Ich glaube nicht, daß wir das gegen sie anführen können.« »Ich sehe nicht, wieso nicht.« »Probier mal die Marmelade«, schlägt Rosemary vor und streicht sie großzügig auf ihren Toast. Sie untersucht das Etikett. »Hier steht, daß sie hausgemacht ist.« »Ja, aber in wessen Haus?«
Rosemary nimmt eine Ausgabe der Blue Mountain Gazette zur Hand, denn sie beabsichtigt, die niedrigen Sommerpreise auszunutzen und eine Ladung Eisenrindenholz von einem der Händler zu bestellen, die in der Zeitung werben. Als das Holz geliefert wird, stapeln Alan und Rosemary es. Sie setzen sich auf die Veranda und trinken ein paar Bier auf ihren Erfolg. Als Daphne nach Hause kommt, deuten sie mit einem bierschaumigen Lächeln in Richtung ihres Werkes. Daphne prüft es. Daphne seufzt.
»Australier haben keine Ahnung, wie Holz gestapelt wird«, sagt sie und beginnt, ohne um Erlaubnis zu bitten, ihren Holzstoß auseinanderzunehmen. Sie schleudert die Scheite in vier Richtungen, offenbar grob sortiert nach ihrer Größe. Als alle über den Rasen verteilt sind, geht sie. »Ich mache es morgen früh zu Ende«, sagt sie. »Das ist nur recht und billig«, sagt Rosemary, weiß Gott warum. Es ist einer von diesen Ausdrücken, die herausrutschen, wenn alles andere versagt.
»Sie ist ein komisches Mädel«, sagt Alan.
Als Rosemary abends alleine im Bett liegt, möchte sie mit jemandem schlafen. Sie denkt über die Zeit nach, die sie damit verbracht hat, von ihrem Verlangen durch die Landschaft geworfen zu werden. Leidenschaft, mit der sie diese oder jene Person überschüttet hatte, und die sie, obgleich es unterhaltsam gewesen war, besser auf andere Dinge hätte richten können, denkt sie heute. Auf der anderen Seite, was für andere Dinge? Nicht viel konnte sich mit dem Zauber dieser ergreifenden Lesbendramen messen, den schneidend kristallenen Küssen, dem Aufruhr, den zerwühlten Bettüchern, Mitternachtsfluchten und Mondlichtfahrten, dem paradise by the dashboard light, festgehalten auf einem Soundtrack der Popmusik, des großen Fixativs der Gefühle. Am Ende der Affäre flogen die Kassetten aus dem Autofenster. Die Briefe, die Fotos, die Wildlederjacke mit den Fransen, die sie ihr vor dreiundzwanzig Jahren in Mexiko gekauft hat, die Mode, die Briefe und in letzter Zeit die Faxe, die einen schwarzen Pegelrand aus Müll an den äußeren Rändern ihres Lebens hinterlassen hatten. Vielleicht hätte sie ihre Freizeit lohnender einsetzen und das Analphabetentum in der Welt ausmerzen oder alle Hauptstraßen reparieren sollen.
Kristeva springt aufs Bett. Rosemary streichelt ihre Katze, aber wer streichelt Rosemary? Sollte sie ausgehen und eine Ehefrau finden, mit der sie alt werden kann?
Der kopfschmerzige Geruch einer Mückenspirale weht herein. Rosemary findet einen Floh im Fell unter Kristevas Halsband und zerdrückt ihn. »Arme, alte Muschi«, flüstert sie und wünscht gleich, sie hätte es nicht gesagt.
Draußen im Garten wispert Daphne mit Dots Tochter, die vor einiger Zeit vorbeigekommen ist. Die beiden sitzen seit nunmehr drei Stunden am Gartentisch. Hin und wieder erheben sich ihre Stimmen aufgeregt, dann klingen sie wieder vorsichtig und gedämpft. Daphne, die offensichtlich sehr darauf bedacht war, daß Rosemary nicht zuviel mit dieser jungen Frau sprach, hatte ihre Besucherin zum Gespräch in den Garten geführt. Als Rosemary ihnen jetzt zuhört, denkt sie, wie angenehm es ist, Menschen um sich zu haben. Sie ist sich nicht sicher, wohin Alan heute abend gegangen ist. Er hatte sich nach dem Abendessen frohen Schrittes in engen, zerrissenen Jeans und Lederweste weggestohlen und seine Schlüssel spielerisch in die Luft geworfen. Sie nimmt an, daß Rupert ihm eine Liste des örtlichen Reviers zur Verfügung gestellt hat und er sie ausprobieren wollte. Womöglich hat er Alan auch die Kleidung geliehen. Rosemary hat Alan nie so etwas tragen sehen, aber wahrscheinlich sind seine Kleiderschränke zuhause voll von dem Zeug. Rosemary wünscht, sie könnte sich einen Schwanz annähen und mit ihm da draußen im Dunkeln sein, im heißen Regen, der gerade beginnt und Daphne und ihre neue Freundin - ihr Name ist Lois, fällt Rosemary jetzt ein - nach drinnen und direkt zum Schnapsschrank und damit vor Rosemarys Schlafzimmertür treibt, wo sie mädchenhaft grinsend stehenbleiben und drei dicke Brandygläser und eine Flasche Cognac in der Hand halten, eindeutig darauf bedacht, etwas zu feiern. Was war los, hatte denn jeder heute abend Erfolg außer ihr? »Auf den Hybridismus«, sagt Daphne und hebt ihr Glas. »Wenn das das richtige Wort ist.«
Rosemary hat keine Ahnung, was das heißen soll, und offensichtlich will keine der beiden ihr eine Erklärung liefern, aber sie trinkt trotzdem darauf.
Am nächsten Morgen beim Metzger, wo sie Fleisch für Kristeva besorgen wollen, beschließt Daphne, Rosemary von ihren Plänen zu erzählen. Rosemary kauft gerade zwei Lammnieren, ein Herz und eine Handvoll besten Hackfleisches, als Daphne damit herausplatzt. »Zum Hier-Essen oder zum Mitnehmen?« erkundigt sich Wayne, der Fleischer. Rosemary fühlt sich von Waynes Witz getroffen und registriert kaum die Tatsache, daß ihre Freundin ihr unterbreitet, sich selbst in ein großes Bilderbuch mit ein paar Textunterschriften verwandeln zu wollen. Sie hört sogar kaum zu, als sie weiter die Fußgängerzone entlanggehen, um Milch und den Sydney Morning Herald zu kaufen, denn es ist Montag, und in der Zeitung ist eine Beilage mit dem wöchentlichen Fernsehprogramm, ohne die sie verloren wären. Rosemary beabsichtigt außerdem, fünf Rubbellose zu zwei Dollar oder zwei zu fünf Dollar zu kaufen. Bruce meint, daß die Chancen bei denen zu fünf Dollar größer seien, aber Rosemary mag die zusätzliche Aufregung, fünfmal anstatt zweimal rubbeln zu können.
»Guten Morgen, Guten Morgen, Guten Morgen«, rufen sie Passanten zu, als hätten sie ihr ganzes Leben hier gelebt und kennten jeden in- und auswendig. Rosemary hat Visionen, daß dieser Sommer sich für immer ausdehnen könnte: Sie und Daphne wären im Hier und Jetzt gefangen, sie schlügen auf ihren Fluchtversuchen wild um sich und zerbrächen eine Membrane, die diesen Raum von jenem anderen trennt, und beträten eine Zwielichtzone, in der sie achtzigjährig die Straße hinuntergehen, einen Schirm über dem Kopf tragen, um die Sonne abzuhalten, und darüber zanken, wer ihn halten darf. Rosemary hat sich zu diesem zukünftigen Ausflug strahlend weiße Söckchen und Sandalen angezogen. Ihre Hände sind vergilbte Päckchen brüchiger Knochen, die von dünnen, weißen Handschuhen am Ende der Arme zusammengehalten werden. Ihr spärliches, weißes Haar, durch das schwach die rosafarbene Haut schimmert, wird durch einen Haarreif en von ihren trüben Augen zurückgehalten, und aus einem Grunde, den sie nur der Senilität zuschreiben kann, trägt sie einen Rock und eine Bluse mit einem runden Kragen. Sie sieht aus wie ein verschlissenes Baby, während Daphne in einem pinkfarbenen Trainingsanzug und Turnschuhen ein robustes, angeberisches Kleinkind ist, das an ihrer Seite dahinrauscht. Denn sie hat natürlich gewonnen, sie hält den Schirm.
Und jetzt spricht Daphne, die in ihr übliches Schwarz gekleidet ist und mit Sicherheit nie Pink trägt, noch nicht jedenfalls, aufgeregt von Farben. Tätowierungen haben sich, was die Farbe angeht, offenbar sagenhaft verbessert. Außerdem sind sie nicht länger auf blutende Herzen, Schlangen, Dornen und Rosen beschränkt. Komplex und subtil im Design - und Daphne erläutert dies am Beispiel einer von Lois' Kundinnen, einer konservativen Senatorin aus Adelaide, die die niedlichen Figürchen von Snugglepot und Cuddlepie auf ihr Gesäß hat sticken lassen - können sie wie die Sixtinische Kapelle scheinen, und sollte die Zeit, wie die Kapelle, auch sie stumpf werden lassen, können auch sie restauriert werden.
»Tut das nicht weh?« Rosemary sagt, was ihr als erstes in den Sinn kommt. Nun, Nadeln tun doch weh, nicht wahr, aus welchem wertvollen Grund auch immer sie eingestochen werden? Rosemary hat kürzlich einen Artikel über Akupunktur gelesen, der besagte, daß sogar die Chinesen, auch wenn sie die Prozedur für heilsam hielten, Angst vor den Schmerzen hatten, die damit einhergingen. Daphne hatte auf eine begeisterte Reaktion auf ihre Ideen gehofft und sieht geknickt aus, und Rosemary tut es gleich leid, denn es ist eine interessante, in der Tat außergewöhnliche Idee. Selbstverstümmelung als Biographie. Ein Leben auf einem Körper festzuhalten und nicht nur in einen weiteren Erzähltext zu verwandeln, dem das Schicksal droht, ignoriert zu werden, wie es Daphnes Biographie ihrer Mutter sicherlich beschieden wäre. Hatte Foucault nicht den Körper als eine Fläche beschrieben, auf die Ereignisse inskribiert wurden, die vollständig geprägt von Geschichte waren, oder so in etwa? »Weiter so, Foucault«, summt Rosemary und hakt ihre Freundin unter, als sie in den Zeitungsladen hineinschwingen, wo sich Rosemary für fünf Zweidollarlose entscheidet.
Das Problem ist, denkt Daphne, während sie zuschaut, wie Rosemary ihre Einkäufe tätigt, den richtigen Augenblick für Enthüllungen zu wählen. Nur weil sie bereit war, sich jemandem anzuvertrauen, hieß das noch lange nicht, daß ihre engsten Freundinnen, abgelenkt vom Leben, automatisch bereit waren, zuzuhören. Außerdem war Rosemary so hoffnungslos bürgerlich, daß sie Tätowierungen automatisch mit Matrosen, Gefangenen und sich selbst verstümmelnden Teenagern mit geringem Selbstvertrauen gleichsetzte. Rosemary war, nach Daphnes Meinung, weit davon entfernt, vollkommen zu sein. Seit wann war sie zum Beispiel eine zwanghafte Spielerin? Sie kam an keinem Zeitungsladen vorbei, ohne hineinzuspringen und diese dummen Lose zu kaufen. Sie erinnert sich daran, wie Rosemary geschworen hatte, daß es damals das erste Mal gewesen sei, daß sie im Hakoah Club Keno gespielt hatte. Anfängerglück, hatte sie behauptet. Daphne bezweifelt das jetzt. Daphne ist gewillt, darauf zu wetten, daß Rosemary sich seit Monaten dort herumgetrieben hatte. Sie erwartet sogar halb, daß Rosemary auf der Stelle in einen Rubbelanfall verfällt, aber sie steckt die Dinger lediglich in ihre Jacke, klopft dreimal auf die Tasche und legt den Arm um Daphne.
»Ich lade dich zum Mittagessen ein«, sagt sie. »Wohin möchtest du gerne gehen?« Aber Daphne ist nicht so leicht zu gewinnen, obwohl sie es gerne wäre. Nachgeben zu können würde vielleicht ihren Rückenschmerzen helfen, die sie heute beinahe ständig hat. »Ich kann nicht«, sagt sie, »habe ein paar Dinge zu erledigen«, und geht beleidigt die Fußgängerzone hinunter.
Rosemary tut es leid. Jetzt glaubt sie, daß es schlimmere Schicksale geben könnte, als ihre altersschwachen Tage mit Daphne zu verbringen. Was war Schlimmes an zwei alten Damen, die miteinander daherwackelten? Aber realistisch gesehen, sagt Rosemary sich, während sie in das Schaufenster der Buchhandlung schaut, war es nicht sehr wahrscheinlich, daß es mit ihnen gutgehen würde, oder? Und abgesehen davon: wie war es überhaupt, alt zu sein? Ernsthaft alt, nicht nur mittelprächtig alt wie Rosemary? Sie möchte gerne zwanzig Jahre überspringen und es herausfinden. Es ist, als ob ein Vorhang, von dem sie nie gewußt hatte, daß er existierte, sich für einen Moment geteilt hätte und dann mit einem Ruck wieder zugerissen worden wäre, bevor sie eine Chance gehabt hatte, sich genau umzuschauen.
Rosemary wird sich einiger Dinge bewußt, über die sie nie zuvor nachgedacht hat. Beispielsweise in den mittleren Jahren zu sein, wenn nur noch die zweite Hälfte bleibt, die Hälfte, in der die schlechten Sachen passieren. Und was hatte sie mit der ersten Hälfte angefangen? Was hatte sie vorzuzeigen? Eine Karriere, die sie oft interessant fand, aber genauso oft nicht, die es wert zu sein schien, aber allzu oft nicht. Artikel in Schriften veröffentlicht, die von dem winzigen Prozentsatz der Bevölkerung gelesen wurden, der sich mit solchen Angelegenheiten beschäftigte. Das gelegentliche bißchen Glück und das gelegentliche bißchen Pech. Schecks und Kontoauszüge. Guthaben und Lastschriften. Alles dasselbe Einerlei. Sie will herausschreien: »Ich habe mein ganzes Leben vergeudet«, aber eigentlich besteht dazu keine Veranlassung, und schon gar nicht in der Hauptstraße eines Ortes, der stolz darauf ist, als Gartenstadt bekannt zu sein, in dem »Vorsichtige Autofahrer Willkommen« sind.
»Guten Morgen«, sagt Rosemary zu einer Person, die sie anzulächeln scheint, aber sie achtet nicht weiter darauf wegen der Klippe in ihrem Kopf, an deren Abgrund sie gerade steht. Von wegen zweite Hälfte: Dies ist das letzte Viertel. »Kommst du zu dem Spiel am Sonntag?« erkundigt sich die lächelnde Person, die nämlich Max ist, diejenige, die sich gerade zu Annie bekannt hat. Und das fragliche Spiel ist das Baseballspiel der Teams Tops gegen Bottoms, das an diesem Sonntag auf dem Sportplatz in Nord-Katoomba stattfinden soll. »Du kannst mitspielen, wenn du willst. Die Tops könnten ein bißchen Verstärkung gebrauchen.«
Erstaunt, dazu gezählt zu werden, sagt Rosemary zu.
»Wußtest du, daß Frauen, die zu Beginn dieses Jahrhunderts geboren wurden, eine Lebenserwartung von sechsundvierzig Jahren hatten? Denk dir nur, Darling, wir wären beide schon tot.« Penelope trommelt zur Betonung aufs Steuerrad. »Ist das nicht unglaublich?« »Unglaublich«, wiederholt Rosemary und denkt: Dann wäre wenigstens alles vorüber. Wenigstens wüßte ich es dann. Aber was sie dann wüßte, kann sie nicht sagen. Außerdem glaubt sie nicht, was Penelope gerade gesagt hat. Die Leute sagen immer solche Dinge.
Penelope und Rosemary sind auf dem Weg in eine Gärtnerei, die auf Rosen spezialisiert ist. Rosemary hat den Katalog vor sich auf dem Schoß liegen. Als sie vom Einkaufen zurückgekommen war, hatte sie sich ein Sandwich mit Salami, Käse und Rucola gemacht und das Brot und den Katalog zum Tisch unter dem Pflaumenbaum mitgenommen und die Rosen umkringelt, deren Namen sie wohlklingend fand. Sie hatte sich viel besser gefühlt, nachdem sie sich mit den Rosen beschäftigt hatte. Wenn Penelope das Thema Sterblichkeit nicht wieder aufgebracht hätte, wäre es Rosemary wahrscheinlich sogar gelungen, es für den Rest des Tages zu vergessen.
»Denkst du manchmal über den Tod nach?« fragt sie mit einer Stimme, die seltsam klingt, einer Stimme, die zu jemandem gehört, die viel jünger und unsicherer ist als sie. Zum Glück bemerkt Penelope diese fremde, schüchterne Person in ihrem Wagen nicht, oder wenn sie es tut, sagt sie es jedenfalls nicht. »Oh ja, ständig. Ich frage mich, was ist, wenn Bruce morgen tot umfällt. Oder, da du es gerade erwähnst, heute nachmittag. Gott steh uns bei. Dann hätte ich den Laden ganz alleine am Hals. Ich müßte jeden verfluchten Tag hingehen. Nun ja, vielleicht könnte ich es mir leisten, einmal in der Woche jemanden zu bezahlen. Aber ich bitte dich, einen Tag pro Woche für mich selbst. Tja, noch nicht einmal das, wenn du die ganze Buchhaltung bedenkst, die ich dann führen müßte. Ich nörgele immer an ihm herum, er soll das Trinken einschränken, aber er hört einfach nicht auf mich. Ich versuche, wenigstens den Scotch aus dem Haus zu verbannen, aber irgendwie kommt er immer wieder daran. Du siehst, ich beziehe alles aufs Trinken. Und zum Teufel mit den Käsesandwichs. Andererseits hat er kürzlich, nachdem ich monatelang gedrängelt hatte, seine Leberwerte überprüfen lassen, und das Ergebnis war vollkommen normal. Das scheint doch irgendwie nicht richtig, oder? Ich bin natürlich heilfroh. Auf der anderen Seite hatte ich darauf gebaut, daß es ihm einen kräftigen Schrecken einjagen würde. Wenn du weißt, was ich meine.«
»Deinen eigenen Tod, meinte ich.«
»Meinen eigenen Tod, verstehe. Tja nun, eigentlich nicht. Ich glaube nicht. Ich will nicht sagen, daß ich mir nicht gelegentlich Sorgen mache, weißt du, eine ganz furchtbare und schmerzhafte Krankheit zu bekommen. An Krebs denke ich dann wohl meistens, obwohl das weiß Gott nicht das einzige ist. Die Zeit vor dem Tod macht mir Angst. Nehmen wir einmal an, ich hätte einen Gehirnschlag, und der würde mich hilflos machen. Nein danke. Wenn ich sterbe, will ich, daß es wie ein Blitz, Volltreffer, gleich vorüber ist. Keine Trödelei in Todesangst, kein Gestammel und Gesabber. Erinnert mich an meinen Schwiegervater. Er hat ewig so herumgehangen, hat immer die falschen Worte für alles gesagt. Ich mochte ihn von Anfang an nicht sonderlich. Als er endlich heimgegangen ist, habe ich ihn eindeutig gehaßt. Herrgott, wer hat das Thema bloß aufgebracht? Fühlst dich ein bißchen mies heute nachmittag, Darling?« Penelope dreht sich um und mustert Rosemary intensiv. Der Wagen macht einen leichten Schlenker. »Du hast doch keinen Knoten oder sonst was gefunden? Denn das mußt du sofort überprüfen lassen.« Penelope tritt so abrupt auf die Bremse, als ob sie beabsichtigte, hier und jetzt zu wenden und in Richtung Notaufnahme zu fahren. Der Wagen hinter ihnen kann noch mit heulender Hupe knapp ausweichen. Rosemary ist dem Tod schon lange nicht mehr so nahe gewesen, und sie ist ihm entkommen. Sie lacht. »So ist's besser«, bemerkt Penelope, und das ist es.
Sie fahren weiter und kaufen Rosen mit den Namen Marie Antoinette, Claudine, Albertine, Josephine, Ninette de Valois und Priorin, zu denen in letzter Minute Dolly Parton und Bob Hope stoßen, die aber auf dem Boden hinter dem Fahrersitz unter sich bleiben, und das ist eine weise Entscheidung, denn die anwesenden Damen raffen ihre Röcke und machen sich daran, auf dem Rücksitz dornig miteinander zu flüstern und zu rascheln. Rosemary denkt an die verschwundene Theresa und an deren zertrümmerte und feierliche Heiligenfiguren. Auf dem Nachhauseweg halten sie auf einen Drink. Rosemary fallen die Rubbellose in ihrer Tasche ein. Sie stürzen sich begeistert darauf, aber alles sind Nieten. »Du mußt etwas wegen deines Autos unternehmen«, sagt Penelope. Das ist wahr, aber Rosemary schiebt es hinaus. Ihr gefällt die Idee, in den Bergen festzusitzen oder sich jedenfalls so vorzukommen, auch wenn sie es nicht ist. Sie weiß außerdem, daß der Wagen, den sie kaufen wird, ebenso wie die Stiefel wahrscheinlich länger auf dieser Erde weilen wird als sie selbst, wodurch sie ihn nicht leiden kann, noch bevor sie ihn gekauft hat. Rosemary sagt sich streng, daß sie aufhören muß, ihre eigene Lebensdauer mit der von leblosen Objekten zu vergleichen. Sie kann nicht einmal mehr in ein Antiquitätengeschäft gehen, ohne darüber nachzudenken, daß alles darin mindestens einmal einer toten Person gehört hat. Penelope bricht plötzlich in ihr brüllendes Lachen aus und bringt auch Rosemarys Lippen zum Zucken.
»Was?« »Ich dachte nur gerade noch mal an meinen schon erwähnten Schwiegerpapa. Seine einzige liebenswerte Angewohnheit war es, uns mit klassischer Musik zu foltern. Nach seinem ersten Gehirnschlag saß er in seinem Sessel auf der Seitenveranda und gab diese grauenhaften, entstellten Töne von sich, weißt du, wie humpeta humpeta boing blah, und er wurde wütend, tobte völlig, wenn wir nicht erkennen konnten, was er uns erzählen wollte. Ich nehme an, er wollte, daß wir ihm ein bestimmtes Musikstück spielten, aber ich glaube nicht, daß wir das je richtig hinbekommen haben. Der arme, alte Mann. Eigentlich war es furchtbar traurig. Ich weiß auch nicht, warum ich lache. Es ist nicht komisch, oder?« »Nicht besonders.« »Nein. Aber dennoch, ich kann immer noch seine kleinen, braunen Stiefel sehen, wie sie vor Zorn springen. Er war nämlich so ein winziger Mann.« Penelope hält inne. »Auf den verrückten, alten Kerl, nichtsdestotrotz«, sagt sie und hebt ihr Glas.
Rosemary fährt mit dem Zug nach Sydney, weil sie mit ihrem Steuerberater sprechen muß. Als der Zug am Bahnhof von Penrith anhält, sieht sie eine Werbung für Männerunterhosen von Calvin Klein und ist von der narzißtischen Bewunderung beeindruckt, mit der der junge Mann auf dem Bild auf seinen klumpigen, weichen Baumwollschritt hinunterschaut. Hinterhöfe fliegen vorbei, viele enthalten runde Wäscheständer, die mit deutlich weniger schicker Unterwäsche behangen sind. Warum sind Männer so stolz auf ihren Penis? Fragt man sich. Fragt Rosemary sich. Schließlich haben alle einen. Es ist ja nicht so, als ob sie für außerordentliche Erfolge vergeben würden oder auf irgendeine Weise verdient werden müßten. Rosemary findet es schade, daß sie nicht auf der Grundlage von Meriten verteilt werden können. Als Preis am Ende eines erfolgreich durchschrittenen Übergangsritus plus einer einfachen schriftlichen Arbeit über die Regeln, die zu einer verantwortlichen Besitzerschaft gehören, zum Beispiel. Natürlich müßte es dann auch ein System geben, nach dem der Besitzer ihn verlieren könnte. Rosemarys Vorschläge für eine Liste mit Gründen für die Konfiszierung sind endlos, oder würden es sein, wenn nicht der Zug am Hauptbahnhof angekommen wäre und dem ein Ende gesetzt hätte.
Später trifft Rosemary Sara und Susan, und sie gehen zu einem Konzert ins Opernhaus. Rosemary wird die Nacht in ihrem Haus verbringen. Susan hat kürzlich eine alte irische Anrichte aus dunklem Holz gekauft, und sie können sich nicht entscheiden, wohin sie sie stellen sollen. Von einem leichten Dinner und mehreren Gläsern Sekt gestärkt, hilft Rosemary ihnen gerne, ihre Möbel neu zu arrangieren.
Rosemary ist um vier Uhr morgens aufgewacht und geht auf Zehenspitzen zum Badezimmer. Sie hört eine Stimme und dann noch eine, die letztere in schriller Erwiderung erhoben. Dann Schweigen, ein scharfer Schlag und ein Schluchzen, unmöglich zu sagen, wessen. Rosemary steht da und fragt sich, ob sie die Toilette spülen soll oder nicht. Sie weiß, daß es sie nicht aufwecken wird, da sie offensichtlich schon wach sind, aber andererseits möchte sie nicht, daß sie wissen, daß sie gehört hat, was gerade passiert ist, was immer es auch war. Rosemary schließt den Deckel und geht leise in ihr Zimmer zurück.
Als sie später am Morgen nach unten kommt, sitzt Sara mit einer Tasse Kaffee in der Küche und überfliegt die Financial Review. Susan, sagt sie, sei mit einer frühen Fähre gefahren, weil sie schon um halb acht eine Besprechung habe. Sie schenkt Rosemary Kaffee ein und reicht ihr die Tasse. Unter dem Make-up bemerkt Rosemary einen rohen Fleck auf Saras Wangenknochen. Sie will etwas sagen, aber spürt ebenso, daß Sara nicht möchte, daß sie etwas sagt, und entsetzt wäre, wenn sie wüßte, daß Rosemary etwas wußte. Also trinkt sie ihren Kaffee und plaudert über dies und jenes, bevor sie ihre Sachen zusammensammelt. Rosemary dreht sich in der Tür um, um sich von Sara zu verabschieden, die in ihrer schicken Designerküche sitzt und die wohl einen hohen persönlichen Preis für die Erfüllung ihrer wie auch immer gearteten Bedürfnisse zahlt. So sieht es jedenfalls für Rosemary aus, die plötzlich dankbar dafür ist, was ihr beschert ist, losrennt, um die Fähre zu erreichen, und es gerade schafft, indem sie über den sich vergrößernden Abstand zwischen dem Steg und dem Boot springt. Sie schaut zu, wie der Abstand sich weiter vergrößert, als die Fähre sich auf den Weg macht. Natürlich konnte sie sich irren. Man konnte nie wissen, was los war, was in der abgeschirmten Dunkelheit des Paartums vor sich ging, egal, wie gut man die Beteiligten zu kennen glaubt. Rosemary könnte ebensogut ein Eheparadies vor sich haben, nach allem, was sie darüber weiß. Eine Flotille von weggeworfenen Wegwerfwindeln stupst an die Seite des Bootes. Rosemary hebt die Augen zum Horizont, dem reptilartigen Schimmern des Opernhauses, der City Skyline. Aus der Ferne sieht alles so viel besser aus.
Floryan denkt, er wird jede Minute der drei ihm noch verbleibenden Tage brauchen, um sich auszudenken, was er vor seiner Abreise ins Gästebuch schreiben soll. Er blättert durch die lautstarken Einträge. Angesichts dessen stehen ihm die Nackenhaare zu Berge. Die Schwierigkeiten mit seinem Anfangssatz verblassen neben dieser unmittelbareren literarischen Herausforderung. Schließlich könnte jemand dies am Tag nach seiner Abreise oder noch am selben Tag lesen, und es würden Monate, wenn nicht Jahre vergehen, bevor sein Anfangssatz von irgend jemandem gelesen und geschätzt würde. Das Geflatter von Rieseneisvögeln - Dot hat die Angewohnheit, sie von der Küchenfensterbank aus mit Fleischstückchen zu füttern, wie auch Mrs. Black es immer gemacht hatte - verkündet Daphnes Ankunft mit Dots Tochter Lois im Schlepptau. Sie sind gekommen, um zu sehen, ob es einen großen, hellen, hygienischen Raum mit mehreren Steckdosen gibt, in dem Lois ihre Ausrüstung aufstellen kann. Rosemarys Haus ist zu klein, und außerdem erfüllt ihre negative Einstellung die Luft mit schlechten Schwingungen, die sie nicht brauchen können. Floryan wollte immer schon eine Tätowierung haben, und er hält den hinteren Raum im oberen Stockwerk für ideal. Obwohl das Zimmer einige Zeit verschlossen war und muffig und staubig ist, könnte es saubergemacht werden, das Licht ist gut, es gibt jede Menge Steckdosen, und ein Badezimmer gehört dazu, das wohl den hygienischen Aspekt abdeckt. Er wünscht sich nur, daß er ein bißchen länger bleiben und zuschauen könnte. Er nimmt an, daß Daphne theoretisch ihren Besuch beim Literaturhaus beantragen sollte, aber sie stimmen alle überein, daß diese Prozedur zu lange dauern würde. Außerdem hat Lois' Mutter einen Hausschlüssel, und mit einem bißchen Glück braucht niemand zu wissen, daß sie hier sind.
»Sie würden mir nicht vielleicht eine Tätowierung umsonst machen, als Bestechung oder Schweigegeld sozusagen?« fragt Floryan voller Hoffnung. »Nichts Kompliziertes. Ein keltischer Reif um den Oberarm wäre cool.« »Sicher doch«, sagt Lois. »Großartig.« Floryan liebt die Idee von Tätowierungen. Er liebt auch die Idee des Tätowierens. Es muß ein bißchen wie anonymer Sex sein. Du verbringst einige Zeit mit jemandem. Du bringst ihn ein bißchen zum Bluten. Du bereitest ihm Schmerzen, und dann verschwindet er.
Daphne schaut sich in dem Zimmer um, in dem das Werk vonstatten gehen wird. Sie geht zum Fenster und öffnet es. Frische Luft strömt herein. Floryan hat das Gefühl, einer besonderen Gelegenheit beizuwohnen, und geht in sein Zimmer, wo er eine Flasche Jack Daniels auf der Kommode stehen hat. Er holt drei Gläser, überlegt es sich dann und nimmt noch eines für Dot. Er findet Dot beim Putzen des Badezimmers und bringt sie nach oben, wo die vier auf Daphnes tote Schriftstellerinnen anstoßen. Dot denkt, es sei doch sehr schade, daß ihre Lady nicht hier ist, denn Edith hatte gerne gelacht, auch wenn sie es nicht oft gezeigt hatte. Dot vermutet, daß mehr Leute an dem bebilderten Körper einer Frau interessiert wären als an Mrs. Blacks Büchern.
Lois mochte noch nie Bourbon und schon gar nicht am frühen Morgen, daher geht sie in die Küche hinunter, um sich einen Tee zu machen. Sie muß nachdenken. Etwas muß getan werden, damit das Ereignis haften bleibt und nicht nur als eine isolierte und krankhafte Geste angesehen wird. Sie will, daß dies ein öffentlicher Akt zwischen erwachsenen Menschen ist. Sie will ihn zum Glänzen bringen, ihm Räder geben und ihn wirbelnd ins Internet hinaussenden.
»I shot an arrow in the air, it came to land I know not where«, summt Lois, während sie ihren Tee aus Yünnan in der Küche dieser weißen Frau schlürft, die ihre Mutter so lange saubergehalten hat, obwohl die betreffende weiße Frau längst tot ist.
Oben steht Floryan hinter Daphne und massiert ihr ein wenig den Nacken. »Was soll meine Lois denn auf Ihrem Körper illustrieren?« erkundigt sich Dot. »Die Wahrheit«, sagt Daphne, und das ist wahr. »Ihr solltet ein Videospiel daraus machen«, sagt Dot.
Als sie aus Sydney zurückkommt, ist Alan fort, und Rosemary macht sich Sorgen. Vielleicht hat er die wahre Liebe gefunden oder ist über ein anderes klebriges Schicksal gestolpert. Hier oben passieren verrückte Dinge. Ehemänner laufen Amok. Ehefrauen werden einbalsamiert im Kofferraum gefunden. Kinder leeren die Familienkonten und laufen davon, was durchaus als ein weiser Schritt beschrieben werden könnte. Schwule tauchen auf, gebunden wie Truthähne und angesengt in improvisierten Freudenfeuern, die am Fuße der Klippen errichtet werden. Vom Nebel hervorgezauberte Kobolde, Trottel und Dussel gibt es in rauhen Mengen. Selbstverständlich denkt Rosemary auch an den Gartenscherenmörder, der, obwohl sie das natürlich nicht weiß, sich rasch dem Stadtteil seines Bruders in Perth nähert.
Hinter ihm liegen Peterborough, Ceduna, Eucla, nicht zu erwähnen die endlose Langeweile der Nullarbor-Ebene, wo ein Mann gründlich seine Sünden überdenken konnte und er es auch getan hatte. Seine Hauptsünde war, so schien es ihm, die Enthauptung der Katze, denn es war schließlich die Katze seiner Mutter gewesen und damit ein hoffnungsloser Racheakt, denn was hatte seine Mutter ihm schon angetan? Immer weggeschaut, ein bißchen geistesabwesend gewesen, na und? Aber was hätte sie schon tun können? Ihn auf den Arm nehmen und davonrennen, zum Beispiel. Aber wovon hätten sie dann leben sollen? Ihm war zum Heulen zumute, wirklich, während er dieses gestrüppreiche, erbarmungslose Durcheinander durchquert. Er sehnte sich nach Wäldern, wo Blätter über seinem Kopf zusammenschlügen und er sich verstecken könnte, wild und weich und grün werden könnte, auf immer vor den Problemen geschützt.
Nach Kalgoorie hatte er plötzlich die Nase voll davon, sich auf die Freundlichkeit von Fremden und die nervenaufreibende Notwendigkeit, schnelle Fluchten von Tankstellen zu veranstalten, zu verlassen, und war eines Nachts durch die Hintertür eines Ladens eingebrochen und hatte die Kasse geleert. Es war so einfach gewesen, bis hierher zu kommen so einfach, daß er beginnt, mißtrauisch zu werden. Er fühlt sich abergläubisch und seltsam, als führe er in die falsche Richtung. Er verlangsamt die Fahrt an einem Stopzeichen in einem Ort namens Wundowie, wo ein dürrer Jugendlicher aus dem Staub auftaucht und damit beginnt, seine Windschutzscheibe zu putzen. Der Mörder hebt sein Gesäß ein wenig vom Sitz und nahm einen unsauber abgetrennten Finger aus der Hosentasche. Alle Gartenscheren, die zu benutzen er gezwungen gewesen war, waren irre stumpf gewesen, aber die letzte war die schlimmste von allen gewesen. Er würde gerne wissen, warum Frauen augenscheinlich von Natur aus unfähig waren, ihre Werkzeuge in Schuß zu halten. Er betätigte den Fensterknopf und reichte dein Jugendlichen den Finger mit einem Ring aus Rubinen und Diamanten durch das Fenster. Juwelen waren eine Zeitverschwendung. Sie kosten ein Vermögen, aber wenn du dann versuchst, sie zu verkaufen, sagen sie dir, daß sie nur einen Bruchteil dessen wert sind, was dafür bezahlt wurde. Aber vielleicht hatte dieser Junge ein Mädel oder eine Mum oder irgendeine andere passende Weiblichkeit, der er ihn geben konnte. Er drückte wieder auf den Knopf, und das Fenster glitt hoch und verschloß sich mit einem festen und zufriedenstellenden Dong. Er liebte dieses Auto, es fuhr ruhig und war bequem. Am besten fand er die digitale Anzeige für die Außentemperatur. Im Moment waren es 34,5 Grad. Es war gut zu wissen, daß draußen die Drohnen brieten. Wenn ich, so überlegt er sich, einen vernünftigen Wagen gehabt hätte, wäre mein Leben nicht so beschissen verlaufen. Wenn doch bloß, wenn doch nur, dann warum, vielleicht und eventuell, aber hauptsächlich: wenn doch nur. Wenn er doch nur die Katze nicht getötet hätte.
Dies mußte die längste rote Ampelphase der Welt sein, vielleicht war sie kaputt - beginnt er, sich Gedanken zu machen - vielleicht war ein Draht locker. Wer kontrollierte diese Dinger überhaupt, wer bestimmte, wer anhalten mußte und wer fahren durfte?
An jenem letzten Morgen zuhause hatte er die Familienkatze gegriffen, sie bis zum Hals im Rasen vor dem Haus vergraben, den Rasenmäher geholt und ihren kläglich miauenden Kopf abgesäbelt. Als das schlechte Karma, das er heraufbeschworen hatte, ihm zu Leibe rückte, heulten hinter ihm Luftbremsen auf, und der Junge hüpfte, als ob er Sprungfedern unter den Füßen hätte, deutete mit dem abgeschnittenen Finger die Straße hinauf und schrie, was niemand hören konnte, bis er sah, daß alles zu spät war, sich umdrehte und nach Hause sprintete.
Rosemarys Nachbar Kevin kann sich ebenfalls nicht bemerkbar machen, als er höflich an der Tür steht und: »Jemand zuhause?« ruft, was eigentlich eine rhetorische Frage ist; er weiß, daß jemand zuhause sein muß, denn die Tür ist angelehnt, und von irgendwo ertönt ein elektrisches Summen. Wahrscheinlich ein Föhn, der ihn gleich an seine Frau erinnert, und seine Kehle verschließt sich unwillkürlich und öffnet sich dann wieder. Dieser Tage ist er in der Lage, mit den plötzlichen Kummerausbrüchen umzugehen und auf den Beinen zu bleiben, anstatt vornüberzufallen, seine Kehle zu krallen und mitten an einem völlig gewöhnlichen Nachmittag lange, dunkle Minuten dazuliegen, die Nase mit Rotz und Verlust verstopft.
Kevin weiß nie, woran er mit seiner Nachbarin ist. Ihr Haus stand wochenlang leer, und dann tauchte sie plötzlich wieder auf, normalerweise folgten andere, und er wußte nie, was vor sich ging. Sogar wenn sie nicht da war, gingen seltsame Gestalten, die oft Plastiktüten trugen, in der Garage nach Belieben ein und aus. Sie hatte ihm einmal für den Notfall ihre Telefonnummer in der Stadt gegeben, aber er hatte vergessen, daß er sie in der Hosentasche hatte, als er sie in die Wäsche geschmissen hatte. Die Nummer hatte das nicht überstanden, und er hatte nicht noch einmal fragen wollen. Wie dem auch sei, er wollte ihr nur erzählen, daß der Abend für die wöchentliche Müllabfuhr sich geändert hat. Die Gemeinde hatte eine Mitteilung an alle Häuser geschickt, aber er war zu wetten gewillt, daß ihre unter einen Busch geweht oder vom Regen aufgeweicht worden war, und so fühlte er sich verpflichtet, vorbeizuschauen und ihr Bescheid zu sagen. Kevin fand oft Post von seiner Nachbarin, die in seinen Garten getrieben war, in dem es angesichts seiner detaillierten Organisation der Natur nicht viele Verstecke für sie gab. Er war sich bewußt, daß ihm jedes Gespür für einen Garten fehlte, aber er wollte ihn wenigstens in Ordnung halten. Seine Frau war die Gärtnerin gewesen. Er befingert den schmuddeligen Umschlag mit dem feuchten Brief, den er in der Hosentasche seiner Shorts trägt. Soll er ihn Rosemary geben oder nicht? Er kann sich nicht entscheiden. Zum einen hat er ihn geöffnet und gelesen. Nun ja, er war sowieso halb offen, dank den gnadenlos mahlenden Kiefern eines dreckigen, kleinen Gartenbewohners. Er war von einem Kerl namens Billie, der Dinge mit Rosemary anstellen wollte, die seine Finger, Zunge, Zähne, Zunge, Augenbrauen und Zehen zum Einsatz brachte, was Kevin zu der Frage veranlaßte, was denn mit dem elementaren Werkzeug des Kerls geschehen war, aber wahrscheinlich hatte das etwas mit Safer Sex zu tun, von dem man heute so viel hörte. Wenn Kevin jemals einen solchen Brief seiner nun traurigerweise verstorbenen Ehefrau geschrieben hätte, hätte sie geglaubt, er hätte den Verstand verloren. Er war ein bißchen überrascht, daß Rosemary in ihrem Alter noch an dem ganzen vermaledeiten Gedöns interessiert war.
»Sind Sie da?« ruft er noch einmal. »Ja, bin ich«, antwortet sie und geht zur Tür, wo ein verwitweter Schuljunge mit den Händen in den Hosentaschen vor ihr steht, mit schüchternen, braunen Sandalen, die fluchtbereit positioniert sind, einem braunledernen Brillenetui in der Brusttasche seines weißen, kurzärmeligen Polyesterhemds, und das alles von einem noch hoffnungsvollen Gesicht abgerundet, das von einem lieblosen Haarschnitt beeinträchtigt wird. »Kommen Sie doch herein«, sagt sie, aber das will er nicht, denn er kann nicht mit dem beschwerlichen Schweigen umgehen, das oft zwischen ihm und dieser merkwürdigen Frau entsteht.
Er zieht die Hände aus den Hosentaschen und läßt den Brief darin zurück, denn sie würde mit Sicherheit,merken, daß er ihn gelesen hat, und er will weder sich selbst noch sie in Verlegenheit bringen. Also erzählt er ihr nur von den veränderten Abholzeiten für den Müll und bewundert ihre neuen Rosenbüsche, als sie ihn zum Gartentor begleitet, denn Effie hätte die Rosenbüsche bewundert, ja, das hätte sie getan. Effie hatte eine gute Art, mit Leuten umzugehen; solange sie dabei gewesen war, hatte es kaum ein unangenehmes Schweigen gegeben. Er versucht sich ein Beispiel an seiner verstorbenen Frau zu nehmen und sagt: »Sie sollten sich einen Briefkasten zulegen. Im Heimwerkerladen in der Waratah Street haben sie gerade ein paar ganz hübsche. Die sind wie die altmodischen Pfostenkästen, mit einem »Victoria Regina« auf die Seite gemalt.« »Was für eine kluge Idee«, sagt sie. Etwas in ihrem Tonfall läßt ihn hinzufügen: »Das wäre mal ein bißchen was anderes.« »Das hört sich wirklich interessant an.« Sie berührt ihn leicht am Arm, bevor sie wieder in ihren Garten tritt und vor ihm die Gartentür schließt.
»Ich habe sieben A-C-I-D-Trips«, murmelt Bruce ins Telefon. »Keine kleinen rosa Pillen mit Mickymaus-Stempel, nicht diesen Kinderkram. Richtige Trips. Laß uns eine Party schmeißen. Was sagst du dazu? Komm schon. Das Hirn braucht gelegentlich Urlaub.« »Ich rufe dich zurück.« Rosemary legt auf. Sie hat gerade die Nachricht bemerkt, die mit ihrem Katherine-Manstield-Magneten an den Kühlschrank geheftet ist. Ihr Blick war darauf gefallen, als Bruce den Buchstaben 1 erreichte. Wie hatte sie die übersehen können? Sie war von Alan und besagte, daß er sich entschlossen hatte, nach Sydney zurückzufahren und wieder zur Arbeit zu gehen, und er bedankte sich für die schöne Zeit. Er hoffte, an einem der nächsten Wochenenden noch einmal heraufkommen zu können, ansonsten erwartete er sie bald wieder in der Stadt zurück.
Die Küche ist mit Ausgaben der Tattoo Review und Skin Art übersät. Sie sammelt die Zeitschriften zusammen und legt sie in Daphnes Zimmer ins Bücherregal. Sie schaut auf Bücher, aus denen Seiten herausgerissen sind, die neben dem Bett auf dem Boden liegen: Der Körper in Schmerzen, Der individuell ausgestattete Körper, Die Frau im Körper, Das Wort zu Fleisch gemacht, Fragmente einer Geschichte des menschlichen Körpers und last not least, da ist sich Rosemary sicher, Der bebende private Körper, der von den anderen Heften mit der Vorderseite nach unten auf dem Teppich festgehalten wird. Sie widersteht dem Impuls, sie aufzusammeln und auf den Nachttisch zu legen. Sie will nicht, daß Daphne glaubt, sie sei neugierig gewesen. Was jetzt?
Der Tag ist heiß. Der Tag ist lang. Rosemary verbringt den größten Teil damit, erste Notizen für einen Aufsatz festzuhalten, den zu schreiben sie seit einiger Zeit im Sinn hat, über die Frage, warum Jungen soviel öffentlichen Raum in Anspruch nehmen. Sie wird ihn ungefähr folgendermaßen betiteln: Geschlecht und Freizeit. Zur Politik des Spiels.
An einem sonnigen Nachmittag versammeln sich Rosemary und Rupert mit Bruce und Penelope in deren hübschen Innenhof und werfen einen Trip. Daphne war eingeladen worden, aber hatte es vorgezogen, nicht teilzunehmen.
»Wenn ich mit euch zusammen bin, komme ich mir so erwachsen vor«, hatte sie gesagt. »Als nächstes werdet ihr Pyjamapartys veranstalten und beieinander übernachten.«
Die Sache ist die, daß Rosemary vergessen hat, wie lang ein Trip dauern kann. Eine Tablette LSD ist wie eine CD, findet sie - so sehr man sie auch am Anfang genießt, sie laufen viel zu lange. Als sie endlich um sieben Uhr morgens sicher nach Hause gekommen ist, trinkt sie reichlich frisch ausgepreßten Orangensaft, um die Nachwirkungen zu bereinigen, und beschließt, daß dieser Trip ihr letzter war. So wie ihre Eierstöcke in Kürze aufhören werden, Eier zu produzieren, wird ihr Gehirn sicherlich mittlerweile auch knapp an Zellen sein, also kümmert sie sich besser um die, die ihr bleiben. Sie spürt das Gewicht von toten oder schwer geschädigten Gehirnzellen, die sich wie Schuppen auf ihren Schultern stapeln, und als sie sich ein wenig zur Seite dreht und die Hand hebt, um sie fortzubürsten, sieht sie ausgerechnet ihren besonderen Freund, den fetten Polizisten, der ernst durch das Küchenfenster starrt. Er hält einen großen, braunen Umschlag zum Gruß hoch. Offensichtlich will er hereinkommen. Rosemary geht zur Hintertür und läßt ihn ein. »Es ist wegen Ihres Wagens«, sagt er, zieht ein paar glänzende Schwarzweißfotos aus dem Umschlag und breitet sie vor ihr auf dem Tisch aus. »Ich möchte gerne, daß Sie sich die einmal ansehen.« Das tut Rosemary, und dort ist ihr Auto, das wie ein zurückgewiesener Happen aus dem Schlund eines Kenwood-Lastwagens hervorsteht. »Oh Gott. Was ist passiert? Wo ist das?« »In Westaustralien. Die Überreste jedenfalls. Die Bremsen des Lastwagens haben versagt, als er auf eine rote Ampel zusteuerte. Fuhr direkt über Ihr Fahrzeug. Das können Sie abschreiben, den Fahrer ebenso. Wir haben Grund anzunehmen, daß er mit illegalen Substanzen handelte. Im Kofferraum des Fahrzeugs wurde Marihuana gefunden, und eine Anzahl von Gartengeräten lag im Wagen selber. Aber das soll nicht Ihr Problem sein.«
Rosemary ist nicht sicher, ob es die nachklingende Wirkung des Acids oder ihr eigenes schlechtes Gewissen ist, aber das verdrehte Blech des Wracks windet sich leicht, als sie es anschaut. Sie dreht das Foto mit der Vorderseite nach unten. Während sie das tut, glaubt sie, ein schwaches Seufzen zu hören, und wird von dem Verlangen überrollt, die Sache mit dem Marihuana zu gestehen, um den Namen des Fahrers reinzuwaschen. Vielleicht hat er eine Frau, Kinder Rosemary droht sich, sich zu kneifen. Sonst macht sie sich doch auch keine Gedanken über Ehefrauen und Kinder.
»Der Mann, der Ihren Wagen gestohlen hat, ist der Polizei in mehreren Bundesstaaten bekannt«, sagt der Polizist. »Er war ein Dreckskerl, ein richtiger Scheißkerl.« Diese Information befreit Rosemary von ihrem Impuls zum Geständnis, und als er die eigenartige Information, die er in der Akte gefunden hat, noch hinzufügt, nämlich, daß der Autodieb einmal als Kind den Kopf der Familienkatze abgemäht hat, ist der Fall damit erledigt. Aber was war mit diesen Gartengeräten? Die hatten ihr nicht gehört. »Was für Gartengeräte?« Der Bulle seufzt, zieht ein Stück Papier aus seiner Brusttasche und entfaltet es. Seine Augen gleiten schwerfällig eine getippte Liste hinunter. »Die genaue Beschaffenheit der Geräte ist nicht spezifiziert.« Er starrt Rosemary über die Oberkante des Blattes an und räuspert sich. »Meiner Meinung nach wurden sie für die Kultivierung einer illegalen Ernte benutzt.«
Er faltet das Papier und steckt es in seine Tasche zurück. Er sammelt die Fotos ein und schiebt sie in den Umschlag. Dann erklärt er Rosemary, daß sie jetzt nur noch zu einem ihr genehmen Zeitpunkt in der Polizeiwache vorbeischauen müsse, um den Schlußbericht zu unterschreiben, und die Sache damit abgeschlossen sei. Und nachdem alles gesagt ist, geht er, und Kristeva kommt herein, Spinnweben kleben ihr am Schnurrbart. Sie blickt Rosemary an, als hätte sie sie nie zuvor im Leben gesehen, aber taut ein wenig auf, als Rosemary ein Ei in einen Topf schlägt und das Gas anzündet. Sie schüttet ein bißchen Trockenfutter in eine Untertasse, löffelt das kaum gekochte Ei darüber und wird, als sie es auf den Boden stellt, mit einem kleinen Schnurren belohnt. Nachdem Rosemary ihre Katzenpflichten erledigt hat, wünscht sie sich, sie hätte selbst etwas zu essen, aber was? Am liebsten hätte sie jetzt eine Pizza, aber wo sollte sie die auftreiben? Bestimmt konnte sie in den Bergen nicht einfach telefonisch eine Pizza bestellen. Rosemary starrt auf Daphnes verschlossene Tür. Sie klopft. Sie wartet. Die Tür schwingt auf. Daphne steht im Türrahmen und sieht riesig und sauer aus. Sie scheint mehrere Trainingsanzüge übereinander anzuhaben. »Herrgott, siehst du beschissen aus«, sagt sie. »Was willst du? Morphium, nehme ich an.« »Pizza.« »Hier oben? Um halb acht Uhr morgens? Bist du dir sicher mit dem Morphium? Das wäre bedeutend leichter zu organisieren. Wie wär's mit Spiegeleiern mit Speck? Ich mache dir ein paar«, sagt sie, und das tut sie auch. Danach fühlt Rosemary sich viel besser, besonders als sie noch französisches Vanilleeis von Sarah Lee im Eisfach findet. Sie erzählt Daphne von ihrem Wagen, dem Dope und den diversen Gartengeräten. »Das war der Gartenscherenmörder.« Daran hatte Rosemary nicht gedacht, wahrscheinlich wegen ihrer erschöpften und gelichteten Hirnzellen. Daphne jedoch ist noch in der Lage, eins und eins zusammenzurechnen. »Du wirst sehen. Von nun an werden die Finger der Leute sicher sein.« »Das hoffe ich. Ich gehe ins Bett.« »Ein weiterer Tag voller Arbeit.« »Ach, hau doch ab«, bittet Rosemary, die sich nie völlig der protestantischen Arbeitsmoral verschrieben hat und nicht die Absicht hegt, jetzt damit anzufangen. Außerdem kann sie nicht einsehen, wie es irgendwelchen gemeinhin akzeptierten Vorstellungen von Arbeit entsprechen konnte, diverse Szenen aus dem verrückten und bedauerlichen Leben einer Mutter zu pflücken und sie auf den eigenen Körper tätowieren zu lassen. Und so geht sie ins Bett, wohin ihr Kristeva nacheilt, um ihrer Herrin Gesellschaft zu leisten, denn wie alle Katzen ist sie hocherfreut, wenn Leute so vernünftig sind, sich während des Tages hinzulegen.
Bevor Rosemary einschläft, denkt sie über den Wagen nach, den sie kaufen wird, um den zu Schrott gefahrenen zu ersetzen. Glücklicherweise ist sie zu müde, um bei der Tatsache zu verweilen, daß jeder Wagen, den sie kauft, wahrscheinlich noch lange, nachdem ihr das Benzin ausgegangen ist, die schnelle und fabelhafte Autobahn des Lebens entlangbrausen wird. Aber sie denkt über die Tatsache nach, (laß Bob Marley, wenn er noch lebte, heute auch fünfzig wäre.
»No woman, no cry«, singt sie sich als Wiegenlied, aber als sie aufwacht, sieht die Sache ganz anders aus. Sie blutet. Aber ihre letzte Periode ist erst vierzehn Tage her. Das ist es dann wohl. Jede Frau weiß, daß Unregelmäßigkeit clas Hauptsymptom ist. Sie greift nach dem Telefonbuch, tastet nach ihrer Brille, überfliegt die entsprechende Seite und wählt.
»Guten Tag, Beratungsstelle für Wechseljahre. Kann ich Ihnen helfen?« »Das hoffe ich«, sagt Rosemary und nimmt den ersten zur Verfügung stehenden Termin, der nicht so bald ist, wie sie gehofft hatte, denn es scheint viel los zu sein und nicht genug Beratungsstellen zu geben. Natürlich, denkt Rosemary, wenn es Männer wären, die durch die Wechseljahre gingen, gäbe es an jeder Ecke eine und wahrscheinlich auch noch Hausbesuche. Sie schlägt den Tischkalender wagemutiger Frauen auf, den sie hier oben benutzt, schreibt den Termin auf und stellt fest, daß an diesem Tag im Jahre 1963 Gloria Steinem ihren Job als Bunnymädchen kündigte, und das macht ihn sicherlich für alle zu einem Tag, den sie im Kalender rot anstreichen. Während sie auf das Datum schaut, wird Rosemary klar, daß die Zeit vergeht, das akademische Jahr näherrückt und es Dinge gibt, die erledigt werden müssen.
Rosemary entscheidet, daß es fast an der Zeit ist, die Berge zu verlassen, aber zunächst ist da noch das Baseball-Spiel.