Vor der halb verfallenen Villa namens Lulisworth

...steigt Rosemary aus ihrem Wagen.
Sie hat keine Idee, woher der Name des Hauses kommt. Sie bemerkt die grünstichigen Streifen auf der dunkelbraunen, bröckelnden Fassade. Der Gar-ten knirscht und tröpfelt um sie herum, voller Schnecken und Bleiwurz. Unkraut stürmt die Stufen zur Haustür hinauf. Ein spindeldürrer, alter Hund wackelt heran, um sie zu begrüßen. Er scheint sich zu freuen, Rosemary zu sehen und seine drei gelben Zähne verrutschen seitwärts, als er über ihren Schuh sabbert.
Irgendwo hier war einmal ein Tennisplatz. Da ist er. Er liegt hinter dem Haus, eine große Schüssel voll Unkraut, über die ein weiter Schutzbezug aus violetten Winden geworfen ist.
»Verpiß dich, Deborah ...« Fiona reißt die Haustür auf, und der Hund taumelt davon. »Du bist eine Bestie. Die letzte aus einer langen Reihe von Mutters abscheulichen Bestien. An einem der nächsten Vormittage geht's zum Tierarzt, das kann ich dir sagen«, und zu Rosemary: »Du erinnerst dich doch bestimmt an Mutters Flohsäcke?« Rosemary ist sich nicht sicher. Aber sie erinnert sich daran, daß Fiona sich immer über alles gleichermaßen erhitzte, so daß die kleinste Kleinigkeit ebensoviel Leidenschaft erweckte wie das größte Problem. Es war beeindruckend, und es war anstrengend. Fiona ist groß, hager und grau, ihre Gliedmaßen sind in scharfen Winkeln arrangiert. Rosemary findet, sie ist genau, wie sie immer war, nur noch mehr. Fionas beunruhigend grüne Augen mustern Rosemary, die sich vorkommt, als ob sie gegen ihr Auto gepreßt und gründlich nach versteckten Waffen durchsucht würde.
»Wie geht's dir?« fragt sie. »Wie soll's mir schon gehen?« fragt Fiona, die es nicht weiß, und wie sollte sie auch? Was für Worte gibt es für die Übel des Alterns: die Runzeln und Falten, das rauhreiffarbene Haar, das Welken, das Sterben, die Leichentücher, die Gräber und die Würmer und den allerletzten Sturz in den Verfall? Wie sollte es ihr schon gehen angesichts dessen? Abgesehen davon haben sich Fiona und ihre Mutter nie verstanden.
Fiona nimmt Rosemarys Arm und geht mit ihr entschieden die Stuf en hinauf und durch die Haustür die sich hinter ihnen schließt und dabei mit einem lauten Krachen aus den Scharnieren fällt. Fiona beginnt zu lachen und ebenso Rosemary, nachdem sie festgestellt hat, daß sie sich nicht verletzt hat. »Ehrlich«, keucht Fiona, »da sprechen sie vom Fall des Hauses von Usher. So ist es, wie? Genau so?« So ist es, denkt Rosemary, und nickt nur zustimmend, denn durch das heftige Lachen hat sie Seitenstiche. Sie läßt sich auf die untere Stufe der prachtvollen Treppe fallen, die sich hinter ihr im Schatten verliert, und bemüht sich, wieder zu Atem zu kommen. Über ihrem Kopf steigen zwei vernünftige Schuhe aus der Düsterkeit ins Licht herab, gefolgt von zwei dicken, aber liebenswerten Knöcheln. »Es ist Mittagszeit«, verkündet eine Stimme aus dem Reich der Dunkelheit. »Und Ihre Mutter ist recht aufgeweckt.« »Okay, Bridget, danke.« »Ich bin spätestens um halb zwei zurück«, sagt diese Bridget, und als sie den Abstieg der Treppe beendet, findet Rosemarys Kopf sich intim in fremde Röcke verwickelt, was nicht unangenehm ist. Bridget geht, ohne einen Blick auf die Haustür zu werfen oder einen Kommentar über ihren Zustand abzugeben. Vielleicht ist sie in Gedanken schon beim Mittagessen, oder vielleicht hat sie es alles schon einmal gesehen. »Es sind immer Irinnen, weißt du«, sagt Fiona, » alle Krankenschwestern und Sozialarbeiterinnen und Krankengymnastinnen und was es sonst noch so gibt. Sie sind wunderbar, die hier ist es jedenfalls. Mutter hängt scheinbar ganz schön an ihr. Wenigstens benimmt sie sich besser, wenn Bridget in der Nähe ist. Nun, am besten gehen wir hoch und sehen nach, wie's steht.«
Fionas Mutter liegt alleine wie schon seit Jahren, und entgegen dem Gesagten scheint sie zu schlafen, eine zusammengefaltete leichte Baumwolldecke stützt ihr spitzes Kinn. Oder ist sie bewußtlos, fragt sich Rosemary, denn sie vermag den Unterschied nicht zu erkennen. Ein beunruhigendes Büschel des stumpfen, orangefarbenen Haars ist ihr ins Gesicht gefallen und hebt und senkt sich mit jedem Atemzug. Rosemary wartet darauf, daß Fiona es beiseite streicht, aber Fiona scheint nicht gewillt, etwas zu unternehmen, also tut Rosemary es. Die Augen der alten Frau springen auf. »Was haben ein Terminkalender und eine Klitoris gemeinsam?« Rosemary weiß nicht einmal, wie sie darüber nachdenken soll. Vielleicht weiß Fiona es, aber Fiona steht drüben am Fenster und hat ihnen den Rücken zugewandt. »Ich weiß es nicht,« »Dann fragen Sie mich besser.« »Was haben sie gemeinsam?« »Was hat was gemeinsam?« Fiona kämpft damit, das Fenster zu öffnen. Sie hämmert und klopft auf mehrere Generationen Farbe ein. »Was haben ein Terminkalender und eine Klitoris gemeinsam?« »Sie hört nicht eher auf, bis sie das Haus um mich herum abgerissen hat. Sehen Sie sie sich an, sie ist verrückt, meine verrückte Tochter. Vor einer Minute hat sie die Haustür eingetreten, ich habe sie gehört.« Die alte Frau ist von ihren Kopfkissen gerutscht. Sie versucht vergeblich, sich wieder aufzusetzen. Rosemary tut ihr möglichstes, sie aufzurichten, aber sie ist nervös und linkisch, und die Decke rutscht auf den Boden und bringt eine unerwartete Nacktheit zum Vorschein. Rosemary bringt die Decke wieder in Ordnung. Sie will etwas sagen, aber sie kann sich nicht an ihren Namen erinnern. Mrs. Henty, ja, aber was war ihr Vorname? Lillian, war es das? Rosemary ist sich ziemlich sicher, daß es etwas mit L war. Es scheint ihr besonders absurd, in diesem Moment keinen Namen parat zu haben. Rosemarys Augen füllen sich mit Tränen. Die alte Frau sieht es und lächelt. Es ist ein freundliches Lächeln, und es erinnert Rosemary an den alten Hund.
»Ich erinnere mich an Sie«, sagt die alte Frau zu ihr. »Ja, Sie sind doch die Ernste, die immer um ihre Hoheit herumgestrichen ist. Nicht, daß es gut für Sie gewesen wäre. Mit der alten Eisenunterhose da drüben kommen Sie nicht weit. Sie sind doch Lehrerin, nicht wahr?« Rosemary nickt. Das umschreibt wahrscheinlich mehr oder weniger, was sie macht. »Dachte ich mir. Sie waren der Typ dazu. Ich habe mein ganzes Leben lang nichts gemacht. Hatte nie das Gefühl, daß ich es müßte. Ich hatte Geld, und nichts kam mir so wichtig vor, als daß ich tagein, tagaus mein Leben damit hätte zubringen wollen. Immobilien waren meine Leidenschaft.«
Jetzt dreht Fiona sich um und beobachtet ihre Mutter und ihre Freundin, die, wie sie findet, in einer eher schäbigen Dickens'schen Szene arrangiert sind. »Nicht wie einige, die glauben, sie könnten mit ihren Tiraden die Welt verändern. >Das Leben ist wirklich, das Leben ist ernst, und das Grab ist nicht das Ziel.<« zitiert die Frau ihre Tochter in einer recht guten Imitation ihrer schlechtesten Zeilen. Fiona nimmt den Telefonhörer am Bett ab und ruft jemanden an, um die Haustür sichern zu lassen. »Nein«, sagt sie, »es muß nicht so sorgfältig sein. Sie können sie einfach vernageln und absichern. Keiner geht da rein oder raus.« »Sie will mich durch die Küche hier hinausbringen. Sie war seit Jahren hinterher, daß ich das Haus verkaufen und in etwas Vernünftiges ziehen sollte, wie sie es nennt, aber ich habe ihr immer gesagt: >Nein, du wirst mich hier in einer Kiste hinaustragen müssen.< Hätte aber nicht gedacht, daß ich durch die Hintertür gehen würde. Nicht der großartige Abgang, den ich mir vorgestellt hatte. Das wird ihr gefallen. Deshalb hat sie natürlich die Haustür, eingetreten.« »Sie hat sie nicht eingetreten, es war ein Unfall. Sie ist einfach aus den Angeln gefallen. Ich nehme an, sie war eben schon alt.«
Rosemary kommt sich töricht vor wie als Kind, wenn sie keinen festen Boden unter den Füßen hatte, aber sich gezwungen sah, für ihre Freundin einzutreten. Damals wie heute erwartete sie nicht, daß ihr geglaubt würde. Aber warum zum Teufel sagte Fiona nichts?
»Ich habe sie regelmäßig geschlagen, wissen Sie. Aber anstatt die Schlechtigkeit aus ihr herauszuprügeln, ist es mir nur gelungen, noch mehr davon hineinzuprügeln.«
Fiona und ihre Mutter sehen sich an. Rosemary spürt den Funken boshafter Komplizenschaft, der zwischen ihnen knistert, und fühlt sich ausgeschlossen. Furchtbare Kinderspiele wie Blindekuh fallen ihr ein, bei denen sie sich abgerackert hatte und doch ausgetrickst worden war. Was machte sie hier überhaupt? Sie und Fiona standen sich nicht nahe, weder in der Schule noch danach, als Fiona schon starräugig vor Ehrgeiz war, und dann war sie nach England gegangen, und das war's dann gewesen.
Rosemary war auch nach Europa gegangen und hatte einige Jahre in London gelebt, unberührt von Fionas wachsender Berühmtheit. Sie hatten in einem Stadtteil nur zwei Straßen voneinander entfernt gewohnt, während Fiona schrieb und Rosemary mit der Zeit das brillante Buch las, aber das war eine andere Geschichte.
Während Rosemary hier im Kreuzfeuer gefangen sitzt, denkt sie an diese andere Geschichte. Oder ist es nur das Fragment eines Gedankens? Ein Scheibchen einer Geschichte, als eine Tür sich öffnet und in ihr diese Frau steht, aber Rosemary schaut nicht auf, sie arbeitet weiter an ihrem Tisch, auf dem sich Bücher und Papiere stapeln, denn sie will nicht, daß sie spricht, weil ihr Name Miriam ist und nicht Sapphire, nach der es sie verlangt. Miriam trägt einen violettgrauen Schal, ein blaßlila Twinset. Sie konnte entkleidet werden. Wie lange war es her, daß man solche BH trug? Sie hatte die pflasterfarbene Unterwäsche vergessen, aber jetzt erinnerte sie sich besser daran als an den Körper darunter, der eine Übertreibung von Brüsten und Schamhaar ist, ganz in schwarz und weiß, als dieses letzte Bild sich seinen Weg aus der Dunkelheit hochboxt und sie nun hier überrascht, wie sie in diesem Schlafzimmer sitzt und den Kopf schüttelt, denn sie will dieses alte, scharfe Stückchen Geschichte hier nicht haben, Sie will so erwachsen bleiben, wie die Jahre sie gemacht haben. Und da ist immer noch dieser Blick, der sich wie ein Stolperdraht zwischen den beiden Frauen spannt. Fiona und Lillian. Rosemary glaubt, daß die Frau Lillian heißen muß. Es gibt nicht so viele Namen, die mit einem L beginnen. Sie ist sie alle durchgegangen, und Lillian hört sich richtig an.
»Sie haßt mich. Und sie hat recht damit.«
Rosemary sieht Fiona an. Los, Fiona, sag etwas, bitte. Fiona sagt ihrer Mutter, sie solle nicht albern sein. »Albern? Ich mag weltlich gesinnt und käuflich gewesen sein, mein Mädel, aber Gott sei Dank war ich nie albern.«
Dann herrscht ein langes Schweigen, und Rosemary bemerkt, daß es auf dem Wecker am Bett zwölf Uhr ist, aber daß er wohl nachgehen muß, und dann, daß Lillians Blick weggeglitten ist, sich nach innen gewandt hat. Fiona greift nach einer der Einwegspritzen in der nierenförmigen Schale aus rostfreiem Stahl auf der Kommode, und Rosemary findet sich draußen auf dem Treppenabsatz wieder. Süßlicher und mottiger Staub steigt aus den faserigen Überresten des Täbrisläufers unter ihren Füßen auf. Sie war immer ein hoffnungsloser Fall, wenn es um Spritzen ging.
Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft.
Im Schlafzimmer nimmt Fiona ein Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit aus einem viereckigen Lederkästchen, in dem viele davon liegen, bricht das Siegel,
Und sie empfing durch den Heiligen Geist.
sticht mit der Nadel in die Spitze, zieht die Spritze auf, Gegrüßest seiest du, Maria, voller Gnade, der Herr injiziert ihrer Mutter sanft die Flüssigkeit ins linke Gesäß
und sei mit dir, gebenedeit seiest du ...
läßt die Spritze in den Papierkorb fallen.
»Ich habe an Pampelmusen geübt, Spritzen zu geben«, sagt Fiona, als sie zu Rosemary auf den Treppenabsatz tritt. Wenn Rosemary früher den Angelus rezitierte, liefen die Sätze in ihrem Kopf unabhängig von Unterbrechungen weiter, aber das war lange her, und jetzt funktionierte es nicht mehr. Jetzt schläft Lillian bestimmt. Fiona schlägt vor, sich etwas zu essen zu machen. Sie führt Rosemary nach unten und durch die modernden Räume, in denen die meisten Möbel grünlich wirken, in die Küche. Rosemarys Stimmung sinkt weiter, aber zum Glück ist die Küche einigermaßen in Ordnung und sonnig und enthält mehrere Köstlichkeiten aus David Jones' Lebensmittelabteilung.
Rosemary nimmt sich einen ganzen Löffel Lachsrogen und verzehrt ihn genüßlich. Sie liebt diese vollkommenen, orangen Perlen, die wie Billie schmecken, über alles. Aber wo ist Billie? Und was soll Rosemary mit dem heutigen Tag anfangen, und warum hat Fiona sie hier herausgebeten? Rosemary denkt sich, daß Fiona Gesellschaft braucht, jemanden, mit dem sie sprechen kann, aber daß sie auch ein Image aufrechtzuerhalten hat. Diese Szenen, das verrottete Haus kann sie nicht vor jemandem bloßlegen, den sie für wichtig hält, und daher hat sie Rosemary angerufen. Rosemary weiß das nicht mit Sicherheit, aber sie nimmt es an. Inzwischen nimmt Fiona einen silbernen Cocktailmixer aus dem Kühlschrank.
»Hast du mich wirklich so gemocht, als wir Kinder waren?« Rosemary weiß nicht genau, wovon sie redet, dann erinnert sie sich daran, daß Lillian oben im Schlafzimmer so etwas Ähnliches gesagt hat. Mehrere Mädchen in der Schule hatten ihr gefallen, besonders solche wie Fiona, die älter und kühner waren als sie, daher muß sie einen Moment nachdenken.
»Nein, habe ich nicht.« »Und heute?«
Rosemary schüttelt den Kopf. Sie beschließt, über diesen Unsinn aufgrund der Tatsache, daß Fionas Mutter oben im Sterben liegt, hinwegzusehen, aber Fiona will offenbar wirklich darüber reden. »Das ist schade. Ich habe Männer schon vor Jahren aufgegeben. Die sind alle emotional wie Zweijährige. Ich wünschte, ich wäre lesbisch. Ich meine, ich mag Frauen mehr, als ich Männer mag ... tja, ich habe es ausprobiert, du weißt schon ... im Bett, aber es funktioniert einfach nicht. Ich wünschte, es würde funktionieren.«
Rosemary verwöhnt sich mit einem weiteren Löffel Kaviar. Sie fragt sich, was passiert wäre, wenn sie gesagt hätte, daß sie Fiona mochte. Hätte Fiona dann Frauen noch einmal eine Chance gegeben? Hätte sie sie zu einem verschimmelten Bett im Ostflügel geführt? Rosemary kann es durchaus verstehen. Ein guter Fick kann sehr tröstend sein.
Fiona schenkt zwei Drinks ein und schiebt einen über den Tisch. Rosemary drückt ein paar spritzige Kaviarkügelchen mit der Zunge gegen ihre Vorderzähne. »Prost«, sagt Fiona. Sie trinken. Das Getränk stellt sich als Martini heraus und ist eine sehr willkommene Ablenkung. Aber Fiona läßt sich nicht ablenken. »Sogar wenn ich Affären mit verheirateten Männern hatte, mochte ich am Ende ihre Frauen immer lieber als sie.«
Rosemary schnuppert an ihrem Drink. Der frische, reinigende Duft durchbricht die Spuren von Tod und Staub und Schimmel, die in ihrer Nase nisten. Sie widersteht dem Impuls, sich einen Tropfen hinters Ohr zu tupfen. Wenn sie stirbt, kann sie dann bitte in einen großen Glasbehälter mit dieser angenehmen Mischung eingelassen werden und darin schweben wie eine große, kühle Olive im Angesicht der Ewigkeit?
»Ich war ein unglückliches Kind.«
Rosemary ist nicht überrascht. Sie denkt an die alte Frau, die oben stirbt, an das morsche Haus, den schwärenden Garten. Ein Bulldozer wäre eine gute Idee. Sie würde gerne das Thema wechseln und öffnet zu diesem Zweck den Mund, aber es ist zu spät.
»Mein Vater war gar nicht mein Vater. Sie hat das immer behauptet, und ich habe es geglaubt. Ich weiß nicht, was er geglaubt hat. Aber ich weiß, daß ihm klar war, daß er es nicht war. Er hatte eine Menge Spuren zu verwischen.« »Wer ist es dann? Ich meine ... wer ist dein Vater?« »Wer war mein Vater, meinst du. Er ist tot. Und ich kann dir nicht sagen, wer er war. Noch nicht. Ich hätte es nie herausgefunden, wenn ich nicht eines Morgens im Britischen Museum auf dieses Stück Papier gestoßen wäre.« »Himmel«, sagt Rosemary, da ihr nichts Besseres einfällt. »Du kannst dir meinen Schock vorstellen.« »Durchaus«, sagt Rosemary, aber eigentlich stellt sie sich vor, wie dieses ungewöhnliche Stückchen Papier im Britischen Museum umherschwebt und darauf wartet, daß Fiona es aus der Luft pflückt und die Wahrheit über ihre Vorfahren entdeckt. »Aber deine Mutter muß es doch wissen?«
Fiona schlägt auf den Tisch. Die Martinis tanzen. »Sie sagt es mir nicht, es ginge mich nichts an. Sagt, ich dächte es mir aus, weil da irgendwo ein Buch drinstecke. Aber ich denke es mir nicht aus. Und da steckt irgendwo ein Buch drin. Und ich beabsichtige, es zu finden.«
Rosemary glaubt, das trockene Zittern alter Knochen in Baumwipfeln zu hören; von jenem Ort, an dem alle lieben, toten Väter in Deckung gehen.
Ein Hämmern vom Hauseingang macht darauf aufmerksam, daß jemand gekommen ist, um die Tür abzusichern. Fiona geht hinaus, um die Arbeit zu beaufsichtigen. Rosemary ißt den Kaviar auf und beschließt zu fahren. Erst geht sie aber nach oben, um sich von Lillian zu verabschieden.
Sie klopft an die Tür, die sich sofort öffnet. Bridgets Kopf erscheint dahinter. Furze und zischende Geräusche zucken an ihren Ohren vorbei in die bodenlose Dunkelheit des Treppenhauses. »Oh jehmineh«, sagt Bridget, »wir sind heute nachmittag im schrecklichsten Tumult und nicht in der Lage, Besuch zu empfangen, fürchte ich.« Rosemary geht wieder nach unten und sucht Fiona. Der Arbeiter glaubt, sie ist mit dem Hund spazierengegangen. Rosemary geht zu ihrem Wagen, steigt ein und läßt den Motor an. Soll sie abfahren, ohne sich zu verabschieden? Sie tut es. Als sie aus der Einfahrt fährt, sieht sie Fiona und den Hund die Straße hinunterkommen. Rosemary verlangsamt die Fahrt und hält neben ihnen an. Fiona befiehlt dem Hund zu sitzen und kommt an die Fahrerseite. Rosemary kurbelt das Fenster herunter.
»Danke, daß du gekommen bist«, sagt Fiona. »Es tut mir leid mit deiner Mutter«, sagt Rosemary, die gerne mehr sagen würde, aber Fiona läßt sie nicht. »Wenn es irgend etwas gibt, das ich tun kann ... ?« Aber es gibt nichts. Rosemary tätschelt Fionas Hand, die im Fensterrahmen liegt. Fiona lächelt und zieht die Hand zurück.
Rosemary fährt davon. Fiona und der schiefe Hund werden im Rückspiegel kleiner und bleiben im schattigen Nachmittag zurück. Zu spät merkt Rosemary, daß sie immer noch nicht weiß, was ein Terminkalender und eine Klitoris gemeinsam haben.

Auf dem Anrufbeantworter ist keine Nachricht von Billie, statt dessen die Bitte einer Frau, die Rosemary nicht kennt, sie am Samstag zu dieser Partnerschaftszeremonie mitzunehmen. Rosemary ist nicht erfreut darüber. Wer ist sie, woher hat sie ihren Namen und ihre Nummer, und warum kann sie nicht mit dem Zug fahren?
Als nächstes kommt ein unartikuliertes Murmeln von Daphne, die klingt, als bräuchte sie eine Bluttransfusion. Es hört sich an wie: »Schick Anwalt, Waffen und Geld«, aber das kann unmöglich stimmen. Ah, jetzt wird's besser: ein klarer, munterer Anruf von Alan, der für heute abend Kino und Abendessen vorschlägt. Gut. Rosemary kann es nicht erwarten, jemandem von Fiona zu erzählen, und Alan ist gerade richtig dafür, obwohl sie sich erst durch einen ganzen Film sitzen muß, bevor sie die Gelegenheit dazu bekommt. Wenn Alan auch immer leugnete, Klatsch zu mögen, so gab er doch zu, Interesse an Details zu haben. Rosemary ruft ihn in seinem Büro in der Jumper Hall an, und sie vereinbaren, sich zur Siebenuhrvorstellung im Academy Twin zu treffen und anschließend essen zu gehen.
Sie denkt über Daphne nach. Sie sollte sie zurückrufen. Daphne rief fast nie jemanden an, also mußte es wichtig sein. Aber hat sie andererseits jetzt Lust, damit umzugehen, was immer es sein mochte? Eigentlich nicht. Sie wird sie als erstes morgen früh anrufen. Nein, wird sie nicht. Sie wird sie jetzt anrufen, ansonsten wird sie sich den ganzen Abend lang schuldig fühlen. Rosemary wählt Daphnes Apparatnummer an der Universität. Niemand da. Sie sieht Daphnes Privatnummer in ihrem Adreßbuch nach. Daphne wohnt in Lilyfield in einer Sozialwohnung. Dort ist auch keiner, aber wenigstens hat sie es versucht.
Rosemary nimmt den Spectator zur Hand, den sie auf dem Heimweg im Zeitungsladen gekauft hat, und geht zum Lesen in ihren kleinen Garten. Kristeva begleitet sie, um einige Eidechsen einen Kopf kürzer zu machen.
Sie wünscht, Billie würde anrufen.

Das Motorrad legt sich tief und eng in die Kurve. Als sie wieder geradeaus fahren, reißt Crispin die Arme hoch, wirft den Kopf zurück und jauchzt. Billie lacht und kneift die Augen zusammen, denn die Sonne steht jetzt tief, da die Straße sich von der Küste abwendet und sie nach Westen führt.
Sie sind auf dem Weg nach Nimbin, wo Crispin sein Wasabi-Meerrettichfeld hat. Billie möchte es sich ansehen. Crispin will nur auf ihrer Harley mitfahren, also ist es ihm recht, obwohl er sich insgeheim wünscht, daß sie ihn fahren lassen würde. Vielleicht läßt sie ihn auf dem Rückweg fahren, vielleicht aber auch nicht. Umgekehrt würde er sie mit Sicherheit nicht fahren lassen, aber Mädchen waren viel netter, daher rechnete er sich eine Chance aus, wenn er den Augenblick gut wählte und nett fragte.
Billie will morgen aufbrechen. Im Augenblick bewundert sie Crispins Wasabifeld, das in der Tat bewundernswert ist. Vor einigen Jahren hatte Crispin, nachdem er die wachsende Beliebtheit der japanischen Küche in Australien sowie die Tatsache beobachtet hatte, daß der grüne Meerrettich, den es dazu gab, stets eingeführt wurde, begonnen, ihn anzubauen. Seine Idee hatte funktioniert. Er belieferte die besten japanischen Restaurants mit frischem und einwandfreiem Wasabi, und jetzt plante er zu expandieren. Er hatte schon die Fühler ausgestreckt. Jetzt schien es, als stünde Crispin kurz davor, seinen Wasabi nach Japan zu exportieren, und das gefiel ihm sehr. Etwas von seiner Begeisterung springt auf Billie über, als er neben ihr steht und von seinem nächsten Projekt spricht: Bonsaigemüse.
Billie sieht Crispin an. Er ist ein kleiner, dünner Mann. Mit seinem silbernen Ohrring und dem blauen Arbeitshemd in den weichen, hellen Jeans, die von einem geflochtenen Gürtel gehalten werden, sieht er eigentlich ganz gut aus. Billie lächelt ihn an. Ohne darüber nachzudenken, beantwortet Crispin das Lächeln der Person, von der er hinter dem ärgerlichen Act Up-T-Shirt einen Blick erhascht. Die untergehende Sonne hinterläßt ein Glühen über den Regenwaldhügeln, die den Ort umgeben. Crispin beobachtet das Schauspiel. »Hast du schon einmal le rai en vert gesehen?« »Nein.«
Sie hat auch nie davon gehört. Was ist es? Er erklärt ihr, daß es grüne Lichtstrahlen sind, die in seltenen Momenten kurz nach Sonnenuntergang hinter dem Horizont aufflackern. Jeder, der Zeuge dieses Phänomens werde, könne mit großem Glück rechnen; er selbst hatte sein Leben lang danach Ausschau gehalten und es nie gesehen.
»Tja, jetzt hast du es«, sagt Billie und nickt gegen den Horizont. Und sie hat recht. Da ist es. »Aber ich warte seit Jahren darauf!« schreit Crispin, der manchmal, obwohl in fortgeschrittenem Alter, von der Welt und ihrer Ungerechtigkeit betroffen ist. »Anfängerglück«, zuckt Billie die Schultern. Nun ja. Er muß zugeben, daß Glück Glück ist, egal, wer es hat. Er kann sich glücklich schätzen, in seiner flüchtigen Gegenwart zu sein. Crispin ist wieder obenauf. Sein Wasabifeld und seine zukünftigen Bonsaigemüse werden erfolgreich sein. »Ich glaube nicht an Glück«, sagt Billie. »Nun, das solltest du aber«, sagt er ihr. »Willst du fahren?« fragt sie und wirft ihm die Schlüssel zu.

Daphne sitzt an ihrem Schreibtisch und klopft mit einem langen, lackierten und gesplitterten Fingernagel auf den obersten Pappordner aus einem Stapel mit zehn Notizbüchern. Die Notizbücher sehen alle gleich aus, alle hübsch, made in France vor dem Zweiten Weltkrieg. Dieser Stapel ist einer von zehn auf ihrem Schreibtisch, zehn Stapel, die zehn Jahre von Ethel Daintrees Notizen enthalten, und das ergibt einhundert Notizbücher, die alle gleich und alle in derselben unergründlichen Kurzschrift geschrieben sind, die einmal für eine winzige Zeitspanne in Neuseeland benutzt wurde; unergründlich jedenfalls bis heute morgen, als ein Wörterbuch bei ihr eintraf, das von einem alten Mann in Arkansas gesandt worden war, der eine Kapazität in frühen Formen der Kurzschrift war und eine besondere Vorliebe für die barocke, komplizierte und infolgedessen unbeliebte Schrift hatte, die Daphnes Jagdbeute für ihre Tagebücher gewählt hatte. Daphne hatte diesen Mann durch ihre amerikanische Agentin aufgespürt, und jetzt hält sie in ihrem rauchigen Verlies in Sydney den Schlüssel zu diesem höchst mysteriösen Text sicher in Händen.
Dies ist ein großer Moment. Sie kostet ihn aus. Sie seufzt, zündet sich eine Zigarette an, bedenkt ihren zerkratzten Nagellack, seufzt noch einmal. Fragt sich, ob es sich lohnt, mit dem Transkribieren der Notizbücher noch heute abend zu beginnen. Sie ist aufgeregt, sich sicher, daß endlich Licht auf die Geschichte ihrer Mutter, der Schriftstellerin Isobel McGuinness, fallen wird. Ihr liegt viel daran, gleich anzufangen, aber zugleich ist sie nervös. Isobel liegt wirklich heute abend in der Luft. Daphne kann beinahe ihren kalten, toten Atem im Nacken spüren. Dieses sie immer wieder heimsuchende Gefühl ist einer der Gründe, warum Daphne so erpicht darauf ist, Isobel auf die Seiten einen Buches zu bannen, das dann zugeschlagen und auf einem Bücherregal plaziert werden kann: aus den Augen, aus dem Sinn. Ein anderer Grund ist das Verlangen, ihrem vernachlässigten Elternteil die Anerkennung zu verschaffen, die dieser sich so sehr gewünscht und eigentlich zu Lebzeiten verdient hätte.
Ethel Daintree war Isobels älteste und engste Freundin gewesen. Es hatte damals Gerede über eine Affäre gegeben, was zu Ethels langem Exil in Übersee in den Jahren geführt hatte, die von den Tagebüchern erfaßt wurden. Daphne nimmt ihr eigenes Notizbuch zur Hand und schreibt diesen und einige andere Gedanken auf, die mit der praktischen Zuweisung der begrenzten Gelder zu tun haben, die sie von der Literaturförderung für diese Arbeit bekommen hat. Sie schreibt in einfachem Englisch, denn nicht nur hat sie nichts zu verbergen, sondern dies ist auch Teil des Prozesses. Sie versucht noch einmal, Rosie anzurufen. Diesmal ist niemand da und auch kein Anrufbeantworter an: Offensichtlich ist Rosemary ausgegangen, um sich herumzutreiben, und hat vergessen, ihn anzustellen.
Daphne knipst die Schreibtischlampe an, zündet sich eine Zigarette an und inhaliert tief, zieht den Rauch in die Lungen so weit sie kann, bis es kratzt und sie auf angenehme Weise daran erinnert, daß sie lebt. Sie könnte sich ebenso gut fest kneifen, und manchmal tut sie das auch. Sie findet ihre Scotchflasche, aber kein sauberes Glas, und daher muß sie, wenn sie nicht den langen Korridor zur Toilette entlanggehen will, um es auszuspülen, und das will sie nicht, dasselbe benutzen, das sie heute morgen hatte und wohl auch gestern abend und wahrscheinlich auch schon gestern morgen. Daphne gießt den Scotch in das verschmierte Glas, und so bewaffnet öffnet sie den Pappdeckel und schlägt die erste Seite des ersten Tagebuchs auf.
Alan hat diese sehr britischen Kostümfilme nie gemocht, aber Rosemary gefallen sie, und so hat er sie bis jetzt ihr zuliebe mit angesehen. Heute abend kann er die spöttische Langeweile, die er oft heraufbeschwört, um sich zu amüsieren, nicht aufbringen. Dasselbe könnte über sein Leben gesagt werden. Gelegentlich sieht Alan selbst, daß er weniger tolerant mit allem geworden ist. Seinen Freunden ist es aufgefallen, und sie sprechen darüber, wenn er nicht dabei ist. Tatsächlich will Rosemary beim Abendessen heute versuchen, mit ihm über seine zunehmende Gereiztheit zu sprechen, wenn sie das Gefühl hat, daß sie es wagen kann. Es bereitet ihr Sorgen, wie unbeweglich ihr Freund in seinen Eigenheiten wird und sich allem Neuen verschließt. Hat dieses intellektuelle Verhärten der Arterien mit dem Altern zu tun, und wird ihr dasselbe passieren, fragt sie sich, als sie es sich im Restaurant gemütlich machen.
Es ist keines, das sie ausgesucht hätte, aber nachdem sie sich bei dem Film durchgesetzt hatte, hat sie beschlossen, in dieser Frage nachzugeben. Als sie sich an einen anderen Tisch setzen, nachdem Alan darauf bestanden hat, daß sie sich von dem für sie reservierten wegsetzen, weil er zu nahe an einem Lautsprecher steht, der musikalisches Gesülze ausspuckt - und Rosemary muß zugeben, daß er in diesem Fall absolut recht hat - nimmt er sein Glas in die Hand.
»Wir hatten gestern nacht einen Dreier«, sagt er und hebt das Glas. »Prost.« Rosemary weiß, wer >wir< ist. »Ich dachte, du hättest zugestimmt, daß es damit ein Ende hat.« »Tja, schon. Habe ich auch eigentlich. Ich glaube nicht, daß es noch einmal vorkommt. Aber gestern abend kamen sie zum Essen zu mir, und danach wurde Kurt sehr - nun, Kurt wollte es, also was sollte Tristram schon machen - ich meine, er wird schließlich nicht hinausstürmen und Kurt und mich alleine lassen, oder?« Alan lacht. »Na, dann Prost.« Rosemary trinkt auf Alans Dreier, weil er sich darüber zu freuen scheint. »Ich meine«, fügt Alan noch hinzu, »mir macht es nichts aus, aber ich wette, sie waren die ganze Nacht auf und haben sich gestritten. Deshalb wird es wahrscheinlich nicht noch einmal vorkommen.« »Du klingst ein bißchen wehmütig.« »Wehmütig? Glaube ich nicht. Nein. Und wie geht's der jungen Billie?« »Gut, nehme ich doch an.« Sie beginnen, sich um die Essensbestellung zu kümmern, was Rosemary schwierig findet, weil ihr Sehvermögen sich plötzlich verschlechtert hat. Es geht jedoch besser, wenn sie die Speisekarte auf Armeslänge entfernt hält. Alan nimmt seine Brille ab und gibt sie ihr. »Besser?« »Ja« »Dachte ich mir. Ist mir vor einem halben Jahr auch so ergangen. Volltreffer! Genau zum richtigen Zeitpunkt, sagte der Optiker. So ist es nun einmal in unserem Alter.«
Es ist nicht angemessen, in einem vollen Restaurant zu schreien, nur weil sie die Welt wie einen Sarg über sich schließen sieht, also schreit Rosemary nicht. Statt dessen sucht sie ihr Essen aus und gibt Alan seine Brille zurück. »Ich konnte den Film nicht ausstehen.« »Ich weiß.« Sie hatten es schon auf dem Weg zum Restaurant diskutiert. »Ich fand ihn recht unterhaltsam. Entspannend, du weißt schon.« »Nein, weiß ich nicht. Ich hasse diese ausgestopften Filme. Es macht mir nicht soviel aus, wenn ich sie im Fernsehen sehe. Dann kann ich wenigstens dabei bügeln.« »Tut mir leid. Beim nächsten Mal suchst du aus.«
»Allerdings.«
Ihre Augen funkeln sich an. Unwillkürlich sehen beide weg und werden vom Herannahen des Kellners erlöst. Beide spüren, daß sie besser vorsichtig sein sollten. Freunde sind wichtig. Wobei Rosemary einfällt, daß sie sich immer noch nicht bei Sara und Susan gemeldet hat. Sie wird sie morgen anrufen.
Sie sitzen in einem dieser extrem lauten Sydneyer Restaurants mit den vielen harten Ecken. Wenn Messer oder Gabel auf Porzellan treffen, klingt es wie Kanonenfeuer. »Nun«, sagt Alan und wirft einen kritischen Blick auf den Teller Antipasti, den der Kellner zwischen sie knallt, »was hast du so getrieben?« Rosemary spießt eine sonnengetrocknete Tomate auf, läßt angesichts ihrer eigenen Reizbarkeit den Plan fallen, Alan wegen seiner anzusprechen, und erzählt ihm statt dessen von Fiona.

Am nächsten Morgen faxt Alan ihr die Todesanzeige aus dem Sydney Morning Herald. Lillian war gestern am späten Nachmittag gestorben, während ihre Tochter den Hund spazierenführte. Rosemary ruft in Woollahra an. Besetzt, besetzt und dann geht niemand heran. Kristeva sitzt miauend auf dem Küchenschrank. Rosemary nimmt sie hoch und geht zum Fenster. Arme Fiona.
Auf dem Sand am Nordende des Strandes liegt ein kurzer, fetter Körper, der offenbar angespült wurde. Ein Polizeiauto rast auf zwei Rädern den Hügel herunter und an einer Gruppe johlender Jungen vorbei, die an einem Automaten vor dem Waschsalon das Straßenkämpferspiel spielen. Die Jungen rennen ihm durch den Park hinterher und lassen das schreckliche Spiel sein, sich selber zuzubellen, anzublinken und anzubrüllen. Zwei Polizisten steigen aus und stapfen über den Sand. Die Jungen tanzen um sie herum. Rosemary läßt Kristeva hinunter, springt zu ihrem Fernrohr und führt es an die Augen.
Die kreisrunde Welt des Fernrohrs, bestürzend im Detail, kollidiert mit einer Mülltonne im Park, schlingert in einen Baum und schwenkt am Schild Gefährliche Strömung vorbei, bevor sie ins Meer abdreht, um von einem russischen Containerschiff, das am Horizont klebt, abzuprallen, und nachdem sie eine Bahn durch die Surfer vor Tamarama geschnitten hat, wendet sie sich ihrem Ziel zu und landet auf dem glatten, gefleckten Bauch eines Seeleoparden. Rosemary dreht an der Schärferegulierung herum und schwenkt in dem Augenblick wieder zurück, als die Polizei das Gebiet absperrt und Leute durch den Park eilen. Rosemary rennt ebenfalls hinaus.
Ein tristgrauer Lieferwagen fährt in den Park ein, ignoriert die Zufahrtsstraße aus Beton und wirbelt über den Rasen auf sie zu. Auf eine Seite des Lieferwagens ist ein verwirrt blickender Pandabär gemalt.
»Ich bin von Orca«, verkündet der Fahrer des Lieferwagens, ein finsterer Typ in einer kompostfarbenen Uniform. »Was ist das denn für'n Planet?« erkundigt sich Theresa, die in der Wohnung neben der Pommesbude wohnt. Der Ventilator des Ladens blies in Theresas Schlafzimmer, und sie roch oft selbst wie alte Pommes frites. Eigenartigerweise klebte in Theresas Gesicht oft Glitzerstaub. So wie heute. »Hallo, Kumpanin«, schreit Theresa, als sie Rosemary neben sich stehen sieht. Sie klopft ihr auf die Schulter, wie es ihre Art ist.
Rosemary und Theresa pflegten einmal frühmorgens zusammen schnorcheln zu gehen und fliehenden Fischen durch den versunkenen Einkaufswagenfriedhof hinter den Felsen am Südende des Strandes zu folgen. Als sie an einem besonders strahlenden Morgen über die Felsen hinauskletterten und Theresas Gesicht wieder einmal wie ein Weihnachtsbaum glitzerte, hatte Rosemary die Hand ausgestreckt, um es zu berühren, war aber auf einer von Theresas großen Brüsten gelandet. Sie hatte es getan, ohne nachzudenken, ohne Absicht, soweit ihr bewußt war. Theresa war zurückgetreten und hatte ein verschlossenes und vorsichtiges Gesicht aufgesetzt. Rosemary hatte eine Grenze überschritten, die sie nicht hätte überschreiten dürfen, und schlimmer noch, sie wußte nicht, warum sie es getan hatte. Sie hatte sich geschämt: eine sexuelle Belästigung, eine abwegige Lesbe. Sekunden später war Rosemary jedoch, abgelenkt durch ihr dummes Verhalten, ausgerutscht um nicht das Risiko eines weiteren Verstoßes einzugehen, hatte sie es vorgezogen, nicht nach Theresa zu greifen, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Statt dessen war sie gefallen, hatte sich die Beine von hinten aufgescheuert und den Ellenbogen an den scharfen Muschelstücken, von denen es auf den Felsen wimmelte, aufgeschnitten. Das Blut floß. Theresa hatte der erschütterten Rosemary auf die Füße geholfen, ihr den Arm fest um die Taille gelegt und an den Strand zurückgeholfen. Dort hatte Theresa mit ihrem Handtuch das Blut abgewischt und erklärt, daß das nur ein paar Kratzer waren und kein Grund zur Sorge bestünde. Rosemary war froh gewesen, das zu hören, obwohl sie sich Sorgen wegen der Infektionsgefahr machte. Schließlich würde niemand, der halbwegs vernünftig war, die Muscheln essen, die dort draußen wuchsen, also würden sich doch bestimmt, wenn man sich daran schnitt, wer weiß was für Giftstoffe ins Blut ergießen? »Wird schon werden, Kumpanin«, sagte Theresa, die zweifellos vorhatte, Rosemary zurückzulassen und wieder auf die Felsen hinauszustapfen, um ihre Ausrüstung zu bergen und an ihrem morgendlichen Plan festzuhalten.
»Danke«, sagte Rosemary.
»Keine komischen Geschichten mehr, ist das klar?« hatte Theresa gesagt. Entgegen der steigenden Betonung war dies keinesfalls als Frage gemeint. Verletzt und töricht hatte Rosemary genickt. Theresa hatte zurückgenickt und war wieder in Richtung Wasser aufgebrochen. Bevor sie im blendenden Morgenlicht verschwand, hatte sie sich umgedreht und gab Rosemary mit dem Daumen zu verstehen, daß alles in Ordnung war, und Rosemary hatte dies als eine Geste des Vergebens interpretiert. Rosemarys Arm hatte zu schmerzen angefangen. Sie war nach Hause gehumpelt, wo noch ein Rest Papayasalbe in dem Glas war, die sie benutzt hatte, als sie im Centennial Park vom Fahrrad gefallen war. Sie hatte sich damit eingerieben und den Bluterguß herausgezogen. »Ich wette, es ist krank«, sagt Theresa, wieder in der Gegenwart, und sie beobachten diesen Orca-Menschen, der unter der Absperrung durchschlüpft und auf den Seeleoparden zuschleicht, während er gleichzeitig in sein Handy spricht. »Und wenn nicht, dann wird es bald krank werden.« »Es ist eine Sie«, sagt weise einer der Bullen. »Woher will der das denn wissen?« knurrt Theresa, aber Rosemary sieht die weiche, süße Kurve des Bauchs und glaubt, es müsse so sein. »Was glauben Sie, Kumpel?« brüllt Theresa dem Orca-Menschen zu, der offensichtlich nicht bereit ist, etwas von seiner Sachkenntnis weiterzugehen, als er ein Stahlmetermaß aus der Tasche zieht und sich daran macht, den schläfrigen Seeleoparden zu vermessen und die Ergebnisse demjenigen mitzuteilen, der am anderen Ende der Leitung lauscht.
Der Seeleopard niest, atmet keuchend aus und setzt dabei einen dunklen Sardinengeruch frei. Dann dreht er sich um und begräbt den Typen von Orca unter sich. Die kleinen Jungen lachen und ebenso Rosemary und Theresa, als die Polizisten vorstürmen und den Seeleoparden zurückrollen. Der Mann von Orca steht auf und klopft sich ab. Er sieht mißtrauisch sein Telefon an, bevor er es scharf gegen den Absatz seines Schuhs klopft. Er drückt die sandigen Tasten, hält es ans Ohr, grimassiert entrüstet und stapft über den Sand zu seinem Panda Lieferwagen zurück. Der Seeleopard rollt sich auf den Rücken und schlägt mit den Flossen in die Luft. Diese Geste ruft wilden Jubel hervor. Die anwachsende Menschenmenge ergreift augenscheinlich Partei für den Seeleoparden gegen seinen Wohltäter.
Storm und seine Zwillingsschwester Skye, die den Surfshop betreiben, trotten über den Sand. Skye hat ihren Fotoapparat dabei. Sie schlüpft unter der Absperrung durch und geht ruhig auf den Seeleoparden zu.
»Armes Mädel«, flötet sie, »armes, müdes Mädel.«
»Tja nun, sie muß es ja wissen«, sagt Theresa.
»Hey! Kommen Sie zurück. Das dürfen Sie nicht machen«, ruft der Mann von Orca, Er hat ein neues Telefon dabei, einen Eimer und ein Stück Seil.
Storm fragt, warum nicht, aber der Mann von Orca antwortet nicht. Skye kniet neben dem Seeleoparden und tätschelt ihm den Kopf. Der Seeleopard schnieft. Die Menge seufzt: als ob ihr kollektiver Atem den Seeleoparden beruhigen und retten könnte, ihn anheben und ins Meer tragen, in die grauen, weichen Wellen zurückbringen könnte. Sanfte, seeleopardenförmige Wolken bilden sich über ihren Köpfen.
Die Polizisten - ihre dicken Pobacken scheuern aneinander, die Pistolen holpern auf den Hüften - schleppen sich zum Park zurück, um sich bei dem libanesischen Imbiß Hamburger und Milchshakes zu holen. Die Seeleopardenwolken drängeln. Die Menge drängelt auch und schließt die Reihen um den Mann von Orca. Es wird bald regnen. Skye beginnt, Fotos zu machen. »Hey, das dürfen Sie nicht.« »Warum darf sie das nicht, Kumpel?« fragt Storm noch einmal mit wachsender Wut in der Stimme. »Sie stört das Tier.« »Wie soll das denn gehen, eh?« »Wessen Seeleopard ist das überhaupt?« will jemand wissen.
Ein Blitz reißt den Himmel entzwei. Ist das eine Antwort? Ein rumpelnder Donner am Parkrand. Ein weiteres Fahrzeug kommt über den Rasen auf sie zugefahren. »Sie wollen nur, daß wir alle fortgehen«, wirft Strom ihm vor, »so daß Sie im Dunkeln wieder herkommen und mit ihr schlafen können.«
Der Mann von Orca denkt, daß ihm noch nie in seinem Leben ein Haufen dermaßen verrückter Leute über den Weg gelaufen ist. Er braucht sich aber keine Sorgen machen, denn Verstärkung ist eingetroffen. Gleich hinter dem Zoolastwagen hält ein Wagen mit einem Nachrichtenteam von der ABC. »Menschenskind! Muß ein Saurer-Gurken-Tag bei den Nachrichten sein«, sagt Theresa.
Der Sturm murmelt in der Ferne weiter. Ein paar platte Regentropf en fallen, aber lassen es dann bleiben. Die Hoffnung auf ein göttliches Eingreifen schwindet. Eine Tragbahre wird ausgepackt und eilig über den Sand zum Seeleoparden gebracht. Der Mann von Orca füllt seinen Eimer und schüttet dem Seeleoparden Meerwasser ins Gesicht. Dann tritt er mit dem Seil in der Hand zurück. Der Seeleopard richtet sich auf und öffnet den Mund, um müde zu brüllen. Da wirft der Mann von Orca das Lasso, rennt rückwärts, um die Schlinge zuzuziehen, und reißt dadurch den Seeleoparden um, der so auf die Trage gerollt werden kann. Eine Plane wird darübergelegt, und der Mann von Orca ist wieder mit seinem Seil zugange. Als der Seeleopard gründlich verschnürt ist, hieven sie ihn auf Schulterhöhe und laufen rasch den Strand zum Lastwagen hinauf, heben dabei schwungvoll die Knie und wenden die Köpfe mit einem breiten Lächeln dem Kameramann zu, der neben ihnen herläuft. Auf Wunsch des Kameramanns machen sie die ganze Sache noch einmal. Als sie beim zweiten Mal an Rosemary vorbeieilen, sieht sie die Augen des Seeleoparden, heiß und trocken mit einem Schimmer Angst.
Storm verfolgt sie den Strand hinauf und steckt den Kopf zwischen den Seeleoparden und die Kamera, um zu fragen, warum sie den Seeleoparden nicht in Ruhe lassen können, so daß er schlafen und alleine seinen Weg ins Meer hinaus finden kann. Die Zooleute sagen, daß der Seeleopard wahrscheinlich unter einer Virusinfektion leidet und nur sie ihn retten können. Außerdem wollen sie eine Blechmarke am Seeleoparden anbringen und für den Rest seines Lebens seiner Spur folgen. Storm greift sich den Mann von Orca und fragt ihn, wie ein schleimiggrüner Ökofaschist wie er sich wohl fühlen würde, wenn ein verdammt großer Seeleopard ihm ein Schild ins Ohrloch steckte. Rosemary findet, daß Storm recht haben könnte. Sie beschließt, einen Leserbrief an den Herald darüber zu schreiben. »Es ist besser so«, beharrt eine ältere Griechin. »Diese Männer, sie wissen am besten.« »Diese Männer wissen einen Scheiß«, sagt Theresa. »Sie lassen ihn frei, sobald es ihm besser geht«, sagt das Mädchen, das im Waschsalon bügelt, zu ihr. »Warum sollten sie? Ein Seeleopard ist eine wertvolle Angelegenheit. Sie können einen schönen Mantel daraus machen.«
Der Seeleopard wird auf der Ladefläche des Lastwagens festgebunden. Storm, der seinem Namen alle Ehre macht, wirft zu einer letzten Umarmung die Arme um ihn, bevor er sich abwendet und, begleitet von seinem Zwilling und seinem Hund, einem weißen Bullterrier mit einem schwarzen Straßlederhalsband und den häßlichsten Eiern, die Rosemary je an einem Lebewesen gesehen hat, weiter den Strand entlangstolziert. Rosemary hat gelesen, daß weiße Hunde mit rosa Nasen, die am Strand leben, große Gefahr laufen, Hautkrebs zu bekommen. Sie widersteht der Versuchung, die komische Stelle an ihrer Lippe mit der Zunge zu berühren. Rosemary will nicht an jeder Ecke Krebs sehen, aber sie kann nichts dagegen machen. Vielleicht hat der Seeleopard Krebs. Vielleicht ist Krebs dazu ausersehen, sich als eine alternative Lebensform breitzumachen.
Der Zoolastwagen fährt ab. Das Nachrichtenteam packt zusammen und verläßt den Strand. Der Mann von Orca nimmt seinen Eimer, macht einen letzten Telefonanruf und folgt den anderen geschwind. Zurück bleiben nur die Fläche von seeleopardengeplättetem Sand und das Absperrungsband, das im Wind flattert. Für die Menge gibt es nichts anderes zu tun, als sich aufzulösen, aber ein Rest des Dramas liegt noch in der Luft und läßt sie nur zögernd gehen.
»Tja, Leute«, sagt Theresa und schließt sie alle mit ein, »ich finde, wir sollten jeden Tag den Zoo anrufen, um zu hören, wie es ihm geht. Das wäre doch was, oder nicht?« »Das finde ich auch«, stimmt das Mädchen, das im Waschsalon bügelt, zu.
Theresa und Rosemary wandern zusammen den Strand in Richtung Felspool entlang. Zwei Jungen spielen Tauziehen mit einem Surfanzug. »Letztes Mal habe ich gesagt, daß du ihn anziehen kannst«, sagt der Besitzer, während sich der Anzug wie ein knalliger Kaugummi zwischen ihnen dehnt, »aber du furzt immer darin.«
Der so Angeklagte bricht vor Lachen zusammen und läßt den Anzug los. Dadurch schnellt er seinem Besitzer entgegen und schlägt ihn zu Boden. »Furzt in meinen Anzug«, singt er und erstickt bald vor Lachen, »furzt in meinen Anzug.«
Rosemary fragt sich, genauso wie mit fünf oder sechs oder sieben, und wie sie sich mit fünf, sechs- oder siebenundsechzig immer noch fragen wird und ebenso mit hundertundfünf, wenn es sich als notwendig erweisen sollte, was wohl genau Sache war mit Jungen. Aber es wäre jedenfalls schön, soviel über Nichtigkeiten lachen zu können.
»Und wie geht's so?« Theresa stupst Rosemary mit der Hüfte an. »Wie geht's deiner kleinen Freundin oben im Norden? Schon was von ihr gehört? « Rosemary erzählt Theresa, daß Billie noch nicht angerufen hat, was der anderen solch einen mitleidigen Blick entlockt, daß sie sofort wünscht, sie hätte gelogen.
»Sie wird anrufen, sobald sie kann.« »Ich bin mir sicher, daß sie das tun wird«, flötet Theresa in einem Ton, der wohl tröstend gemeint ist. »Was hast du denn da an der Lippe, Darling? Einen Herpes, oder was?«
»Ja.« Ja, natürlich, das war es. Ein Herpes, und das war alles. Schon geheilt und ohne zu überlegen, berührt Rosemary Theresa am Arm. Theresa tritt zurück und sagt: »Nicht.« »Nicht was?« »Mich anfassen. Du sollst mich nicht anfassen.« »Aber, ich wollte doch nicht... ich meine, ich ... hör mal zu, Theresa, es tut mir leid wegen damals. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.« Theresa weint. Was hatte das zu bedeuten? Was konnte es bedeuten? »Es tut mir leid. Die Sache ist nur die, daß du mir einen Riesengefallen erwiesen hast. Ich dachte nämlich, ich hätte Krebs, dabei habe ich gar keinen. Es ist einfach nur ein Herpes.« »Ich würde mich nicht darauf verlassen. Ich bin keine Ärztin.« »Nein. Aber du hast recht, ich bin mir sicher. Ich bin nur in der letzten Zeit ziemlich neurotisch. Billie ist eben so viel jünger als ich, und ...« Sollte sie Theresa diese Dinge anvertrauen? »... das macht mir sehr bewußt, daß ich alt werde.«
»Das tut es wohl, das kann ich verstehen. Ich glaube nicht, daß das neurotisch ist. Es scheint mir eine normale Reaktion, das steht zu erwarten.« Theresa, die Verständnisvolle, Theresa, die Weise. Warum weint sie? »Was ist los?« Rosemary würde gerne den Arm um sie legen, aber sie wagt es nicht. Theresa dreht sich weg. »Ich gehe nach Hause«, sagt sie und geht.
Rosemary betritt die Passage neben dem Imbiß und weicht den großen Tonnen Pflanzenöl aus, die dort gestapelt liegen. Ein Ausrutscher, und sie würde darunter festgenagelt und tagelang nicht entdeckt, und die Kakerlaken würden Nester in ihren Augen bauen. Theresas Tür ist angelehnt. In der Wohnung verhüllen fettige Vorhänge die Fenster. Es ist dunkel, unheimlich geradezu, und dann bemerkt Rosemary, daß sie nicht alleine ist. Eine ganze Menge Leute stehen still und schweigend im Raum. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, findet Rosemary sich in der Gesellschaft von Heiligen wieder.
Rosemary erkennt die heilige Martha, Rita, Theresa, Katharina und Klara von Assisi. In der Ecke lauert die heilige Rosa von Lima; ihr Gesicht mit dem bösartigen Ausschlag ihrer Hautkrankheit ist glücklicherweise zur Wand gedreht. Aber wo ist Unsere Liebe Frau? Rosemary hätte es raten können: Unsere Liebe Frau ist im Schlafzimmer bei Theresa, die auf ihrem Bett in eine Decke eingewickelt liegt und sich vor- und zurückwiegt, in einen geheimen Schmerz versunken. Es liegt ein komischer Geruch in diesem Zimmer, nicht unmittelbar mit Fisch und Pommes verwandt.
Rosemary setzt sich neben Theresa auf das Futonbett. Rosemary hält Futons für einen Witz; das mußten sie doch sein, oder etwa nicht? Rosemary hatte sehr wohl bemerkt, daß die Leute, die einen haben, ihn ernst nahmen, aber sie änderte ihre Meinung trotzdem nicht. Sie streckt die Hand aus und tätschelt Theresas sich hin und her wiegende Schulter. Theresa platzt wie ein Geschwür.
»Was?« »Woher soll ich das wissen. Das mußt du mir sagen. « Rosemary wird langsam sauer. Ihr Leben ist plötzlich voller uneinsichtiger, jämmerlicher Gestalten: Daphne, Alan, Fiona und jetzt Theresa. Midlife-Crisis, denkt Rosemary. Die Schwerkraft siegt. Sie zieht dich herunter, also paß auf.
Sie schaut zu Unserer Lieben Frau um Rat, aber die ist auch nicht besonders hilfreich, was Rosemary nicht weiter überrascht.
»Ich habe dich nicht hergebeten, also verschwinde.« »Nun, wenn du meinst. Du weißt, wo ich zu finden bin, falls du mich brauchst«, fügt Rosemary hinzu und fragt sich, warum sie sich gezwungen fühlt, so etwas Offensichtliches zu sagen. Sie sollte etwas tun. Ihr fällt ein, daß es einen Bruder von Theresa gibt.
»Gibt es jemanden, den ich für dich anrufen soll? Deinen Bruder vielleicht? Um ihm zu sagen, daß du dich nicht wohl fühlst? «
Theresa springt vom Bett, teilt einen Hieb aus, ohne Rosemary zu treffen, und scheint dann abgeneigt, es noch einmal zu versuchen, und das ist Rosemarys Glück, denn sie ist an so etwas nicht gewöhnt und hat keine Ahnung, wie sie sich verteidigen soll.
Wo war Billie? Billie könnte die Sache in Ordnung bringen. Als sie einmal in Balmoral am Strand spazierengingen, war sie gezwungen gewesen, eine Bande homophobischer Collegejungen wieder zur Vernunft zu bringen. »Schwuchteln«, hatte der größte und entschlossenste von ihnen gerufen und sie von hinten angegriffen. Nachdem Billie ihn sanft in den Sand geworfen hatte, hatte sie sich neben ihn gekniet und ihn ruhig darauf hingewiesen, daß er die falsche Schmähung benutzt hatte..Während er mit den Tränen gekämpft und überraschend süß und unterwürfig zu ihr aufgeschaut hatte, hatte sie eine so starke Vision von seiner Zukunft aus Panik, Flucht, Schmerz und Verleugnen gehabt, daß sie ihn umarmt und dann freigelassen hatte. Er war im Gefolge seiner flüchtenden Freunde davongehumpelt, und dann hatte er sich umgedreht und ihr in einer obszönen Geste zwei Finger entgegengestreckt.
»Lesbe!« »Nur weiter so, Junge«, hatte Billie gelacht. Sie mochte Jungen, die lernwillig waren und Kampfgeist bewiesen, besonders wenn sie auf dem besten Wege waren, Ärger zu bekommen.

Sogar Crispin hat es erwischt, dabei ist er Amerikaner und versteht das Spiel überhaupt nicht. Australien braucht einen Lauf, um gleichzuziehen, und zwei, um zu gewinnen. Der Schlagmann schwitzt in der Mitte des großen Stadions, niedergedrückt von der Last der überzogenen Erwartungen seiner Landsleute. »Wette zehn Dollar, daß er beim nächsten Ball raus ist«, sagt Billie. »Da halte ich gegen«, sagt ihre Mutter. »Ssst«, macht Crispin unerwartet. Billie sieht ihn an und lacht. Das ist schade, denn deshalb verpaßt sie den nächsten Ball, der in der Tat so ausfällt, wie sie vorhergesagt hat. »Ach, der Arme«, sagt Heather. »Was für ein Versager«, sagt Crispin. »Nun, er hat's versucht, das ist die Hauptsache.« »Nein, das ist es nicht«, sagt Billie, die gelangweilt ist vom tapferen, kleinen australischen Mann. »Gewinnen ist nicht alles.« »Doch, ist es«, sagt Crispin.
Auf dem Bildschirm wimmelt es von karibischen Spielern, die überschwenglich herumtollen. Billie spürt die Tränen kommen. Sie findet Erfolg unerklärlich rührend.
»Was bist du, Kleine? Eine Hexe oder was?« will Crispin wissen, während Heather in ihrer Handtasche mit den Wildlederfransen herumwühlt, einen Zehndollarschein findet und ihn Billie gibt. »Du hast den armen Kerl doch mit Sicherheit verhext. Woher hast du es gewußt?« »Nervenversagen«, sagt Billie. »Cinderella-Komplex. Auf einer gewissen Ebene wollte er verlieren. Ich habe es ihm an den Schultern angesehen.« »An den Schultern.« Crispin strafft die seinen.
Heather könnte sich an diesem Punkt sehr aufregen. Sie beschließt, es nicht zu tun, weil sie sich danach immer so zerschlagen fühlt. Eine neue Brutalität scheint sich in der Welt auszubreiten. Heute abend ist im Long House ein Gemeinschaftstreffen, bei dem Teams gebildet werden sollen, um die Lantana-Büsche zu attackieren, die alles überwuchern und ersticken, was gut und natürlich und einheimisch ist. Heather hatte darüber nachgedacht, es zu schwänzen, aber jetzt überlegt sie es sich anders. Irgend jemand muß schließlich für Australien eintreten. Die erfolgreiche, opportunistische Lantana ist eigentlich eine Metapher, denkt Heather, während sie ihren beiden eigenen Lantanas zuhört, die munter in der Ecke vor sich hinplaudern. Sie tritt sozusagen einen Schritt zurück, was nicht einfach ist, da es um jemanden geht, den sie geboren hat. Mit zusammengekniffenen Augen entwirft sie eine Zukunft, in der Billie über den Globus schreitet, als wäre er ein gigantischer Spielplatz, nur zu ihrem Amüsement und ihrem materiellen Vorwärtskommen geschaffen. Wenn sie es sich recht überlegt, war auch ihre eigene Mutter so gewesen, versessen auf die Anschaffung von automatischen Toastern, Stehgrills und anderen kleineren elektrischen Gerätschaften. Vielleicht ein engerer Bezugsrahmen, aber dieselben Symptome. Es wird doch gesagt, daß Charaktereigenschaften oft eine Generation überspringen.
Auf dem Bambusregal steht ein Foto von Heather, das vor einem Vierteljahrhundert auf einer Anti-Vietnam-Demonstration aufgenommen und im Toowoomba Chronicle abgedruckt worden war. Darauf trägt sie ein T-Shirt mit der Auf schritt: Make Love, Not War. Heather ist stolz auf das Bild und was es repräsentiert, aber als Billie es sah, hatte sie nur gesagt: »Gott, du bist soviel älter geworden. Es ist erstaunlich.« Und kein Wort über die Themen. Heather erinnert sich an einen Streit, den sie einmal hatten, als sie bei Billie in Sydney zu Besuch war. Der Golfkrieg war gerade vorbei. Sie hatten um Mitternacht in Glebe hinter dem Haus gestanden und sich über die Mülltonne gestritten. Heather hatte wissen wollen, warum Billie nicht die Flaschen, Dosen und Zeitungen getrennt für die Müllabfuhr herausstellte. Billie hatte gemurmelt, daß ihr das zuviel wäre. »Warum denn bloß?« hatte ihre Mutter sie angeschrien. »Was soll das schon?«
Heather hatte zu einer Abhandlung über die Notwendigkeit des Recyclings angehoben, aber Billie hatte das meiste davon schon in einer Broschüre der Gemeinde gelesen, die sie im Briefkasten vorgefunden hatte. Sie hatte es wirklich nicht alles noch einmal hören wollen.
»Mum«, hatte sie geklagt, »in Kuweit lodern fünfhundert Ölquellen, und du regst dich immer noch darüber auf, ob ich nun die Flaschen herausstelle. Die Welt ist so dumm, und du bist so ... so ...« Unfähig zu verhindern, daß sie sich anhörte und benahm wie eine Zwölfjährige, gab sich Billie keine Mühe mehr, sich zurückzuhalten, »... und du bist auch dumm, Mum. Mach dir doch nichts vor, Mum. Die ganze Welt ist im Arsch. Es ist nicht meine Schuld.«
Damals war Heather zum Weinen zumute gewesen, und ebenso geht es ihr jetzt. Warum konnte sie nicht eine Tochter haben, die sich etwa freiwillig meldete, um nach, nach nun, es standen schließlich genug Orte zur Wahl - zu gehen, anstatt einer, deren Hauptanliegen es war, nach Byron Bay zu kommen, um zu surfen und mit ihren Freundinnen herumzuziehen, und die in nächster Zukunft, nämlich jetzt, beabsichtigte, Crispin zu überreden, mit ihr nach Bellingen in die Kneipe zu gehen. Crispin, so stellt sie fest, war sofort zu überreden. »Du kommst doch auch mit, Babe, oder? Wir nehmen den Lieferwagen.« »Nein, danke«, sagt Heather und erhebt sich von den Sitzkissen - oh Gott, wie furchtbar steif sie sich in letzter Zeit fühlt, vielleicht sollte sie die Sitzkissen durch etwas ersetzen, was Billie einen ordentlichen Stuhl nennen würde - »gleich ist ein Gemeindetreffen, zu dem ich gehen sollte.«
Heather sieht zwar nicht die aufflackernde und schnell unterdrückte Amüsiertheit zwischen Crispin und Billie, aber kann sie sich genau vorstellen. Sie ist traurig und geht.
»Sieht wohl so aus, als ob wir dein Motorrad nehmen müssen«, sagt Crispin munter. Seine Worte schweben durch die offene Tür zu Heather hinaus. Sie hebt die Augen gen Himmel und fühlt sich gleich bestätigt. Es ist eine schöne, samtene Nacht, daran besteht kein Zweifel; so samten in der Tat, daß man sie in die Hand nehmen und sich ihre Sanftheit durch die Finger gleiten lassen könnte; so fein, daß Heather eine Handvoll nehmen und sie durch ihren Ehering fädeln könnte, wenn sie einen hätte. Das Mondlicht fließt wie Milch aus einer Flasche und verteilt sich über die Jurte. Nun, man brauchte die Welt doch nur anzuschauen, um sie für wert zu befinden, gerettet zu werden, oder etwa nicht?

In der Kneipe diskutiert Billie genau dieses Thema mit einer Koalabärin, die einen Eimer voller Geld umkrallt hält, den sie während des Tages in der Einkaufspassage gesammelt hat. Die Unterhaltung klingt grün. Die Koalabärin sagt, sie will die Welt für ihre Kinder retten und für deren Kinder. Billie glaubt, daß sich innerhalb dieser Masse unechten Fells eine feige und konservative Person versteckt, bar jeder Phantasie und ohne jegliche natürliche Neugierde darauf, was als nächstes kommt. Diese blöde Bärin hätte wahrscheinlich selbst das Rad abgelehnt, wenn sie bei dessen Erfindung dabei gewesen wäre. »Schon mal was von Evolution gehört?« »Ja«, sagt Mama Bär. »Nun, vielleicht ist grün nicht die geeignetste Farbe. Was ist schon so großartig an grün? Vielleicht ist grün nicht die Farbe, die zum Überleben bestimmt ist. Warum nicht umdekorieren?«
»Tangerine people and marmalade skies«, singt Crispin, der sich an eine Zeit erinnern kann, als die Welt viel bunter war. Die Koalabärin beschließt, daß Crispin passé ist, und sagt, sie macht sich Sorgen um ihre Kinder und muß nach Hause. Billie bietet ihr an, sie nach Hause zu bringen, was die Bärin dankend annimmt, denn sie ist den ganzen Tag auf den Beinen gewesen. Weil sie ein bißchen getrunken hat und weil sie glaubt, die Geste würde ihrer Mutter gefallen, schmeißt Billie die zehn Dollar, die sie von Heather gewonnen hat, in den Eimer, ergreift ihn dann und macht noch eine schnelle Runde durch die Bar, bevor sie gehen.
Als sie zur Bärin nach Hause kommen, bietet sie Billie eine Tasse koffeinfreien Kaffee an, und Billie akzeptiert. Sobald sie drinnen sind, zieht die Bärin ihren Anzug aus und stellt sich als eine junge, untersetzte Frau namens Amber heraus, die sich ihren Weg durch einen Haufen Spielzeug bahnt, um den Kessel aufzusetzen. Während sie darauf warten, daß das Wasser kocht, leert Amber den Eimer auf dem Tisch aus und zählt die Tageseinnahmen. Zwei kleine Jungen in der Ecke versuchen, sich gegenseitig umzubringen. Einer boxt den anderen in den Bauch, ein Tiefschlag, den der Empfänger für unakzeptabel hält. »Warum hast du das gemacht?« »Weil du einfach nie hinsiehst. Du kapierst es einfach nicht, oder?«
Billie fragt sich, ob womöglich die ganze Familie verrückt ist. Und ob es nicht eine gute Idee wäre, alle Leute, die gerne Nachwuchs möchten, einer Prüfung zu unterziehen. »Nicht schlecht«, sagt Amber. »Wenn du es dir ausrechnest, dann sind das etwa zehn Dollar die Stunde, steuerfrei.«
»Die Bären werden dankbar sein.« »Zum Teufel mit den Bären. Das ist für mich und die Kinder. Schon mal versucht, als alleinstehende Mutter von der Sozialhilfe zu leben?« »Nein.« »Nein. Tja, dann wüßtest du nämlich, wie man sich fühlt, eine vom Aussterben bedrohte Art zu sein.«
Die Jungen in der Ecke beißen sich gegenseitig. Billie würde am liebsten ihr Geld zurückfordern. Theoretisch weiß Billie, daß sie nicht werten sollte, aber sie stellt fest, daß sie es nun einmal tut, und so trinkt sie hastig ihren Kaffee aus und geht.
Billie ist auf dem Rückweg zur Kneipe, um Crispin abzuholen, und stellt sich folgendes vor: Wenn wir die Welt bis zu dem Punkt versaut haben, daß die Meere violett werden, die Flüsse zu fließen aufhören und die Sterne herunterfallen, könnte eine gedrungene, knurrende, vielzahnige, androgyne Kreatur aus einer dunklen Spalte schlüpfen und die Welt übernehmen. Bevor sie dies weiter vertiefen kann, sieht sie Crispin vor sich auf der Hauptstraße, an eine Telefonzelle gelehnt und ruhig rauchend. Als sie die Fahrt verlangsamt, schnippt er den Zigarettenstummel in einem Funkensalto auf die Straße und lächelt. Auf seine Art, denkt Billie, sieht er gut aus, wie aus einem Schwarzweißfilm. Sie kann verstehen, was ihre Mutter an ihm findet. Was Heather wohl von Rosie halten würde, sollten sie sich einmal treffen? Heather mußte sie einfach mögen, sie akzeptierte jeden. Billie fühlt sich noch immer auf unklare Weise um eine Erfahrung gebracht, da ihre Mutter kein Theater gemacht hatte, als sie ihr sagte, daß sie lesbisch war. Angesichts der Dramen, die ihre Freundinnen beschrieben, wenn sie ihr Coming-out hatten, kam Billie sich immer farblos und unwichtig vor.
Crispin schwingt sich aufs Motorrad, und sie fährt mit ihm nach Bundagen zurück, wo sie feststellen, daß Heather noch aus ist, und so spazieren sie in der hellen Nacht durch die kleine Bananenpflanzung und die Mangobäume und über die grasigen Kliffkuppen an den Strand und tanzen im Mondlicht Hand in Hand am Wasser.
»Ich wünschte, ich hätte einen Schweif«, sagt Billie. »Ich wollte immer einen haben, solange ich denken kann«, und sie drapiert ihren Phantasieschweif elegant über den Arm, damit er im Wasser nicht naß würde. »Wer hätte das gedacht«, sagt Crispin. Er und Heather stehen Seite an Seite und sehen zu, wie Billie auf dem staubigen Weg davonfährt.
»Was gedacht?«
»Daß ich traurig sein könnte, wenn sie fährt.«
Heather wischt sich eine Träne weg. Sie verbucht diesen Besuch als Erfolg, obwohl sie sich nach wie vor wünscht, daß sie Billie nicht so schwierig fände. Crispins Rat war, sich zu entspannen und es nicht so ernst zu nehmen, aber das ist sein Rat in allen Angelegenheiten, dem er selbst nie folgt.
Crispin erzählt ihr die Geschichte von der alleinstehenden Mutter im Koalaanzug.
»Ich glaube, die Kleine war ziemlich schockiert«, sagt er, und Heather hört das gerne und nimmt es als ein gutes Zeichen, daß sie in Billies Erziehung wenigstens etwas richtig gemacht hat. »Immerhin«, fügt Crispin hinzu, »es ist eine schnelle Methode, ein paar Dollar zusammenzubekommen, wenn's hart auf hart kommt.« Heather stimmt zu. Es hatte in ihrem Leben Zeiten gegeben, in denen sie sich gewünscht hätte, soviel Nerven zu haben.
Crispin meint, er sollte zurückfahren, um sich um seinen Wasabi zu kümmern. Er hat nicht die Absicht, in einen womöglich anstehenden Kampf gegen die Lantana-Büsche hineingezogen zu werden. Sie sind ja verrückt, es ist viel zu heiß. Heather lächelt, legt den Arm um seinen Hals und küßt ihn.
»Dann fahr nur, Liebster«, sagt sie. Er kommt sich entlassen vor. Normalerweise schmollt sie ein bißchen, besonders wenn sie vermutet, daß er sich drücken will, aber heute ist sie so heiter. Er schreibt es Billies Abreise zu, aber die Wahrheit ist, daß Heather und ein Neuankömmling in diesem Lande, ein reizender Junge namens - sie hat vergessen, wie er heißt, wodurch es ihr irgendwie noch besser geht - sich gestern abend, kaum ein paar Meter von Billie und Crispin entfernt, auf die feine, unberührte Matratze einer Sanddüne gelegt und geliebt hatten. Diesen gesunden und muskulösen Körper zu spüren, der den ihren hielt, und diese wunderbar junge Haut einzuatmen, hatte sie so erregt wie schon seit Jahren nicht mehr. Dieser Junge hatte nach Honig und Thymian und, ja, nach der anderen Zeit gerochen. Er hatte alle Zeit der Welt für die Liebe gehabt und sie mit ihr geteilt und eine Aura der Lust zurückgelassen, die anhielt. Sie hatte diesen Jungen wie Medizin genossen, wie ein Elixier. Nicht, daß sie sich danach sehnte, ihre eigene Jugend zurückzuhaben. Das Leben war eine Reise mit einem Beginn, einer Mitte und einem Ende, ohne Bedauern, ohne Hormonbehandlung und, sollte dieses Unglück ihr widerfahren, auch ohne Chemotherapie. Heather war eine starke Frau. Es mochte Mut verlangen, sanft zu sein, aber wie Heather sagen würde, jede andere Herangehensweise wäre lärmende Zeitverschwendung.

Nach der Beerdigung geht Rosemary vom Friedhof in Waverley, der nur einen Steinwurf entfernt ist, zu Fuß nach Hause, doch an diesem Nachmittag ist ihr Gang merklich bleiern. Warum werden wir geboren, warum leben wir, wie wir leben, verhalten uns, wie wir uns verhalten, arbeiten, wie wir arbeiten, lieben, wie wir lieben, und sterben zuletzt, wie wir sterben?
Diese trüben Warums und Wozus kreisen in Rosemarys Kopf, und die Antworten sind so fern wie stets in diesen Fällen, sofern nicht das Göttliche eingreift. Der Nachmittagshimmel ist herrlich, aber er trägt kein Zeichen von Offenbarung. Sie bleibt auf einem Felsvorsprung stehen, einer gefährlichen Ansammlung ausgewaschener Felsbrocken, und schaut auf den Ozean, der unter ihr in großen, weißen Blüten aufbricht. In der Hand hält sie ein beunruhigend dickes Buch, ein Leseexemplar der Hexenstunde von Fiona Faraday, und es handelt von den Wechseljahren. Fiona hatte es ihr heute morgen im Haus vor der Beerdigung gegeben, und Rosemary hat es den ganzen Tag mit sich herumgeschleppt. Auf einer Beerdigung ein Buch über die Wechseljahre zu erhalten kam ihr genauso vor wie bei einer Hochzeit den Brautstrauß zu fangen - du bist die nächste. Sie ist versucht, das Buch in die Wellen zu schleudern, aber der lästige Respekt, den sie für das geschriebene Wort hat, hindert sie daran. Sie weiß, daß sie es lesen wird, weil sie das Gefühl hat, daß sie muß, genauso wie sie weiß, daß sie eine höfliche Glückwunschkarte an die Autorin schicken wird, wenn sie es gelesen hat. Die Jungen drängen sich immer noch um das Videospiel vor dem Waschsalon. Rosemary bleibt stehen und schaut einen Moment zu. »Ja«, schreien die Jungen, hüpfen auf und ab und bejubeln Siege, die sie nicht sehen kann, und ihre Stimmen klettern die Tonleiter hinauf: »Ja, ja, ja, ja, ja, jaaa!«
Wo sind die Mädchen, was machen sie, und wo verbringen sie ihre Zeit? Von ihrem Fenster sieht Rosemary auf den Park, sie sieht den Strand und das Meer, und sie sieht, wie die Jungen an diesen öffentlichen Plätzen den Raum mit ihren Spielen und ihrem Streben einnehmen, aber selten nur sieht sie Mädchen.
Heute abend sollte sie eigentlich zum Square-Dance ins Imperial Hotel in Erskine gehen, aber sie ist nicht in der richtigen Stimmung, und außerdem ist sie schon so lange nicht mehr dort gewesen, daß sie fürchtet, sie hat vergessen, wie es geht. Statt dessen ruft sie die Betreffenden an, entschuldigt sich und begibt sich, nur mit einem Wischtuch bewaffnet, auf die Suche nach Verfall. Sie putzt die Fenster und scheuert dann das Bad, die Toilette und das Waschbecken mit einem kratzfreien Schaumreiniger. Von ihrer Sterblichkeit getrieben, putzt Rosemary die Fußböden und wachst sie, macht den Kühlschrank sauber, ordnet sämtliches Besteck in den Schubladen und setzt sich dann auf die hübschen, blaßblauen Dielen ihres Küchenfußbodens und mustert die verstörte und erstaunte Kristeva, die ahnt, daß etwas im Gange ist. Rosemary nimmt sie auf, greift nach dem Tiershampoo und taucht sie unter Protest ins Badewasser.
Daphne hatte Rosemary einmal erzählt, wie die Psychotherapeutin, bei der sie in Behandlung war, ihr geraten hatte, viel Sport zu treiben, weil körperliche Aktivität das Gehirn dazu veranlaßt, eigene Antidepressiva zu produzieren. Rosemary weiß jedenfalls, daß es ihren Geist mit Sicherheit beeinflußt, wenn ihr Haus in Ordnung gebracht ist, und als sie sich aufs Bett fallen läßt und die feuchte, versöhnliche Katze kommt, sich auf ihren Bauch setzt und sie mit diesen stacheligen, kleinen Pfoten zu kneten beginnt, kommt es Rosemary in der Tat so vor, als hätte sie die schwarzen Abgründe ein wenig zurückgedrängt.
Die Hexenstunde zwinkert ihr vom oberen Bücherregal zu. Sie schiebt Kristeva auf den Boden, nimmt das Buch herunter, hält es auf Armeslänge von sich, sammelt ihr schwindendes Augenlicht und beginnt. Das Telefon klingelt. Billie. Es mußte Billie sein. Jedenfalls sollte es Billie sein. Sie ist es nicht. Es ist Daphne, die ihr erzählen will, daß sich die Notizbücher als Enttäuschung erwiesen.
Hör dir das an«, gebietet Daphne. »>Noch ein warmer Tag. Im Büro viel zu tun, Blieb lange dort, nachdem die anderen schon alle gegangen waren - wie sie lahm vor sich hintrödeln und Ausflüchte machen -, und las die Zeitung, um die überfüllten Busse zu vermeiden. Fuhr nach Hause.< Und dann am nächsten Tag, einem Samstag: >Wachte früh auf. Hoffte auf schönes Wetter. Regen. Das Vogelbad ist voller Kot. Muß es säubern. Mutter liest laut die Todesanzeigen aus der Times vor, die sie die ganze Woche aufspart. Briet uns Koteletts.< So geht es Seite für Seite. Tage, Wochen, Monate, Jahre. Was hat uns das zu sagen?« »Daß sie viel zu tun hatte, einsam und gelangweilt war. Hört sich für jede von uns manchmal so an.« »Manchmal, ja, okay. Aber Jahrzehnt um Jahrzehnt und obendrein verschlüsselt. Warum? Und in all dem erwähnt sie nur einmal meine Mutter. Dabei schrieb sie der verdammten Ethel die ganze Zeit, und ich bin mir sicher, daß die alte Kuh auch zurückgeschrieben hat. Nun ja, einigermaßen sicher. Wie du weißt, nahm Isobel jeden Fetzen Papier, den sie zu greifen bekam, mit sich, als sie in Flammen aufging.«
»Wie hat sie sie erwähnt?«
Langes Schweigen.
»Daphne?«
»Moment. Ja, hier: das ist das einzige Mal in ihren ganzen öden Notizen. Hör zu. >Ein Aerogramm von meiner jungen Vagabundin heute, das ans Büro geschickt wurde. Die Vagabundin ist auf Abwege geraten und hat wohl vor ein paar Monaten eine Tochter geboren. Was soll aus ihnen werden? Sie kann kaum darauf hoffen, sich selbst und ihr Kind durch ihr Schreiben zu ernähren, und sie hat es geschafft, sich mit jedem zu zerstreiten, der womöglich hätte überredet werden können, ihr zu helfen.< Dann geht's zurück zu den verbrannten Koteletts und der Vogelscheiße.« Daphnes Stimme ist auf gewühlt. »Es tut mir leid. Ich wünschte, du wärst hier. Du hörst dich wirklich an, als könntest du eine Umarmung gebrauchen.« Und das, denkt Rosemary, galt auch für Isobel: Feuerschluckerin, Trapezkünstlerin, Schriftstellerin, Mutter und Außenseiterin. »Danke. Ich habe einfach das Gefühl, daß die ganze Sache eine Zeitverschwendung war.« »Was gibt es noch, das etwas Licht auf die Sache werfen könnte?« »Tja, da ist das alte Haus von Edith Black in den Blue Mountains. Haben sie daraus nicht ein Literaturhaus oder so etwas gemacht? Vielleicht findet sich dort ein Hinweis. Dabei sind einige von Blacks Tagebucheintragungen genauso bedauerlich. >Habe den ganzen Nachmittag damit zugebracht, die Küchenschränke zu putzen< zum Beispiel. >Um vier Uhr nachmittags kam Nebel auf. Schrieb einen Brief an Mutter und brachte ihn zur Post. Arg müde. (Isobel hat mich im Sommer oft mit dorthingenommen, als ich klein war. Ich habe vage Erinnerungen an Frauen mit Hüten unter Bäumen und ein Stimmengewirr wie von Bienen. Es ist nicht weit von deinem Ferienhaus, weißt du.«
Rosemary weiß das. Sie weiß auch, was als nächstes kommt, und es kommt. »Wann fährst du denn hoch?« »Samstagmorgen.« »Das ist zu früh für mich.« »Nun, dann komm doch nach, wenn du fertig bist.« »Großartig, werde ich tun. Es wird gut sein, Wir können ein bißchen herumwandern, ein Gefühl für die Gegend bekommen.« »Ein paar Nachmittage damit zubringen, die Küchenschränke zu putzen.« Das gehörte wirklich zu Rosemarys Plänen. Sie behält ihren jüngsten Putzanfall für sich.
»Arg lustig. Ich komme mit dem Zug, und ich bringe mein Fahrrad mit. Wie wär das?« Rosemary, die die überraschende Tatsache auf sich wirken läßt, daß Daphne überhaupt so etwas wie ein Fahrrad besitzt, sagt eine Sekunde lang nichts. »Okay?« hilft Daphne nach. »Ja, prima.« Und das wird es wahrscheinlich. Eigentlich mag Rosemary Daphne sehr gerne, und sie kommt nicht umhin zu denken, daß es gut für sie sein wird, ein bißchen an die frische Luft zu kommen. Rosemary schiebt den Gedanken beiseite, daß es sehr unwahrscheinlich ist, daß die Luft um Daphne lange frisch bleibt.