Billie steht auf dem Parkplatz eines K-Marktes

Mitten im Kreisverkehr vor der Raststätte zur »Big Banana« in Coffs Harbour ist sie mit ihrem Motorrad gestürzt, was ihr einen ziemlichen Schrecken eingejagt hat. Während sie im Sitzen ruhiger zu atmen versucht und die Leute an ihr vorbeiströmen, schweifen ihre Gedanken ab zu der besorgniserregenden Menge Unterwäsche, die es auf der Welt geben mußte und zu der Frage, wo die wohl alle endete.
Ihre Großmutter, erinnerte sich Billie, kochte ihre abgetragenen Unterhosen immer aus und benutzte sie als Staubtücher. Machten die Leute so etwas noch? Billie war sich sicher, daß heutzutage niemand mehr darauf wartete, bis die Unterwäsche fadenscheinig war, bevor sie ausrangiert wurde, obwohl ihre Kenntnis dieses Themas lückenhaft war. Ihre Mutter hatte keine Zeit für Unterwäsche und Billie ebenso wenig, abgesehen von einer kleinen Sammlung, die sie eigens für verführerische Zwecke ausgewählt, aber nun zuhause gelassen hatte.
Womöglich hatte Billies Mutter nie staubgewischt, weil sie nie die Unterwäsche hatte, mit der sie es hätte tun können, und deshalb immer sagte, daß ein bißchen Staub noch nie jemandem geschadet hätte und daß die Staubmenge nicht mehr anwüchse, sobald sich einmal eine bestimmte Stärke in einem Haus angesammelt hätte. Irgendwie mochte Billie diese Staubschicht und das damit verbundene Gefühl einer weichen Landung, das ihre Mutter aufgrund dieser Praktiken umgibt. Bevor sie zu Rosemary gezogen war, hatte Billie gelegentlich staubgewischt und dazu meist ihre Ärmel oder schmutzige T-Shirts benutzt, die auf den Ausflug zum Waschsalon warteten, oder was sonst zur Hand war. Rosemary benutzte einen Staubwedel aus Federn für ihre Bücher und die Zederjalousien in ihrem Arbeitszimmer sowie »Meister Proper« und verschiedene weiche, gelbe Tücher für alles andere, den Eßtisch ausgenommen, für den sie ein spezielles Wachs benutzte, das in Tasmanien hergestellt wurde.
Rosemary behauptete, daß Hausarbeit für sie eine Art Meditation sei. Billie fand das eine ziemlich unerträgliche Bemerkung. Durch eine Anzeige in einer lesbischen Zeitschrift war Rosemary auf »Die schmutzigen Mädchen« aufmerksam geworden, die ins Haus kamen und sich um Fenster, Böden und das Badezimmer kümmerten. Rosemary hatte entschieden, daß es in Ordnung war, Frauen die Schmutzarbeit für sich machen zu lassen, solange sie Lesben waren, weil sie es vermutlich nicht aus einer Position der Unterdrückung heraus machten. Wenn sie in Betracht zog, wieviel sie dafür verlangten, schien es Billie, daß Rosemary recht hatte.
Sie nimmt ihren Helm, steht auf und reckt sich. Kauflustige Alte beäugen sie neugierig. Billie versucht ihr Bestes, nicht hinzusehen. Sie kann den Anblick nicht ertragen: Männer, die wie abgewrackte Kunstledersessel entlangknarren in Shorts über O-Beinen, die mit Venen und verwachsenen Knorpelkringeln überzogen sind, Knorrige Zehen wie von einem Greif, die Gummilatschen erdrosseln. Billie vermeidet es, in die wässrigen Augen zu schauen und versucht, die blutroten Glühwürmchenäderchen, die sich auf Wangen und Nasen drängen, zu übersehen.

So alt werde ich nie, schwört sich Billie. Mir kann das nicht passieren. Eher sterbe ich. Die Frauen anzusehen wagt Billie nicht. Die Männer waren schlimm genug, aber schließlich waren es nur Männer und somit nicht so wichtig. Billie schämt sich bei diesen Gedanken. Sie sagt sich, daß mehr dahintersteckt als der bloße körperliche Verfall, der ins Auge springt, daß diese alten, gebrechlichen Leute ein reiches Innenleben haben. Aber sie glaubt es nicht.

An den Sommerabenden am Strand berührt für eine Stunde ein bestimmtes Licht alles, läßt die Welt erstrahlen und die Schönheit ist schwer zu übersehen, was immer ihr im Wege stehen mag. Der Abend breitet sich vollendet bis zum Horizont aus, und eine hohe, süße Stimme in der Straße beginnt zu singen:

»... to love mankind is our duty,
but I adore your simple beauty.«

Rosemary hört auf zu lesen, und Kristeva, die unaufhörlich die Bücherregale entlanggepirscht ist, bleibt stehen, um zuzuhören und sich zu strecken.
Rosemary geht zum Fenster, aber entdeckt keine Spur der ungewöhnlichen Sängerin, sondern nur einen vorbeirasenden Skateboardfahrer, einen von diesen Jungen, die sich nur am Strand oder in einer alten, australischen Karikatur finden lassen, diese rauhe, sommersprossige Spezies mit dem orangen Haar und ohne Augenwimpern, die noch nie sonderlich amüsant war. Rosemary überkommt ein seltener Moment von Penisneid: Hätte sie einen, würde sie ihn jetzt zücken und auf diesen Kopf pissen, der selbstvergessen wie ein Geschoß daherkam. Statt dessen füttert sie die murrende Kristeva, zieht ein Kleid an, das sie sich zur Aufmunterung gekauft hatte, als sie vor zwei Jahren aus irgendeinem nicht mehr erinnerten akademischen Grund eine Woche in Wagga Wagga festsaß, stellt Alarmanlage und Anrufbeantworter an, geht zu ihrem Auto hinunter und fährt auf der Suche nach etwas Farbe und Bewegung und um ein wenig einzukaufen in die Oxford Street. Sie kauft zwei World-Music-CDs bei Folkways Records und mehrere Liliensträuße beim Loyal Florist. Sie legt die Blumen vorsichtig auf den Rücksitz und fährt zum Taylor Square.

Billie hält an, tankt und beschließt, die Toilette aufzusuchen. Igitt. Ein Fehler. Sie hätte einfach an der Straße halten und in die Büsche gehen sollen. Sie dreht sich um, um wieder hinauszugehen, als die Tür sich öffnet. Eine Frau steht vor ihr, will eintreten, zögert. Ihre Augen wandern von Billie zum Damenschild an der Tür und wieder zurück. Sie vergleicht diesen gezeichneten Klecks mit Rock mit Billie, auf die dieses Erkennungsmerkmal des weiblichen Geschlechts nicht paßt. Da die Frau jedoch auch etwas trägt, das sie wohl Hosen nennen würde, muß es für ihren Zweifel mehr Gründe geben als Billies Kluft.
Sie schließt daraus, in der falschen Toilette zu sein und geht. Billie wäscht sich die Hände und erinnert sich an eine ähnliche Szene - in der Toilette auf dem Flughafen von Singapur: Eine Frau mit einem aufsässigen Kind auf der Hüfte fing im Spiegel ihren Blick auf und erwiderte ihn. Ihre lüsternen, lässigen Blicke, die sich im Spiegel trafen und denen zu folgen weder sie noch Billie imstande waren, aber die beide verstanden hatten.
»Sich zu zeigen bedeutet, es ihnen zu zeigen«, sagt sie zu ihrem Gegenüber in dem verzogenen, fliegenverklebten Spiegel und obwohl sie nicht genau weiß, was sie meint, ist sie zufrieden damit.

Rosemary steht vor einer Reihe Lesbenbücher am hinteren Ende des Ladens. Die Schwulenbücher befinden sich näher am Eingang. Schwule, als eine Männerspezies, haben mehr Geld, und daher ist es vielleicht angemessen, daß sie nicht so weit laufen müssen, um es auszugeben.
Rosemary ist sich nicht sicher, was sie von den Büchern halten soll, vor denen sie steht. Billie kaufte ständig diese Bücher, von denen Rosemary ein paar gelesen hatte. Sie waren schlecht geschrieben und schmalzig, und die Lesben, die sie kennt, sind nicht wie die, die über diese Seiten stolzieren. Sie ziehen nicht durch die Stadt, um Mörder aufzuspüren oder Geheimnisse aufzuklären, und das in erster Linie, so nimmt Rosemary an, weil ihnen nicht so viele Geheimnisse über den Weg laufen, und darüber hinaus, weil jede zurechnungsfähige Lesbe - oder, genau betrachtet, jede zurechnungsfähige Frau überhaupt - wußte, daß es wahrscheinlicher war, daß ein Mörder sie aufspürte als umgekehrt.
Dabei fallen Rosemary Enid Blytons »Fünf Freunde« ein und wie sie während ihres letzten Schuljahres selbst ein »Fünf -Freunde« -Buch mit dem Titel »Fünf nehmen die Pille« geschrieben hatte. Sie hatte das Manuskript in Melbourne in der Straßenbahn liegenlassen, wohin sie an einem Wochenende wegen einer Abtreibung gefahren war; sie hatte ihrer Mutter erzählt, daß sie bei einer Freundin übernachte und ihrem Freund überhaupt nichts. Sie hatte es von dem Geld bezahlt, daß sie mit ihrem Job in den Sommerferien verdient hatte. Jahrzehnte später kann Rosemary sich nicht erinnern, warum sie das Manuskript überhaupt mit nach Melbourne genommen hatte.
Billie, die nie von den »Fünf Freunden« gehört und es auch nie für nötig befunden hatte, sich mit Verhütungsfragen auseinanderzusetzen, hatte gesagt, daß die Qualität der Bücher nicht zur Diskussion stehe. Es sei gut für das Selbstbewußtsein, diese Bücher zu lesen, weil sie eine positive Einstellung gegenüber dem Lesbischsein vertraten, die der ganzen negativen Polemik entgegenwirkte, die sie sonst von allen Seiten zu spüren bekamen. Als sie in ihrer heterosexistischen Schule festsaß, habe das Vorhandensein solcher Bücher sie davor bewahrt zu glauben, daß sie irgend jemandem etwas beweisen müsse, indem sie einen Freund hatte und versuchte, als normal durchzugehen,
»Hallo Rosemary.«
Wer war das bloß? Rosemary, wie immer hoffnungslos mit Namen, mogelte sich höflich durch. Es war Valentine Smith, die Geliebte von Lauren, der Elektrikerin, die letztlich doch zu Rosemarys Party gekommen war.
»Gute Party«, sagt Val. »Gutes Buch«, fügt sie hinzu, zieht eines aus dem Regal und gibt es Rosemary.
Rosemary schlägt das gute Buch auf, während Valentine jegliche Veröffentlichungen einsammelt, die umsonst zu haben sind, denn sie ist auf dem Weg zu einem Freund in der Aids Station von St. Vincent und hat kein Geld, ein unanständiges Buch zu kaufen, weil sie arbeitslos ist.
Blaize sah noch einmal in den Rückspiegel. Das rote Mercedes-Kabriolett war ihr meilenweit gefolgt. Es hatte sich hinter ihr in den Verkehr eingefädelt, als sie ihr Büro in Hollywood verlassen und auf dem Sunset Boulevard in Richtung Strand gefahren war.
Blaize schätzte die Frau um Steuer auf Anfang Zwanzig. Sie hatte kurzgelocktes, blondes Haar, trug eine Ray-Ban Sonnenbrille und hatte eine hochmoderne Stereoanlage in ihrem Wagen, die Blaize hören konnte, wenn sie an der Ampel standen. Lippenstift und Nagellack der Frau paßten zu ihrem auf Hochglanz polierten Auto. Das war alles an Information, nach der sie gehen konnte, aber sie war so daran gewöhnt, Frauen zu taxieren, daß sie sich automatisch vorstellte, was für einen Körper diese hier wohl hätte, und er gefiel ihr.
»Folge mir nicht, wenn du es nicht ernst meinst, Süße«, sagte Blaize.
Rosemary malt sich aus, wie sie vom Parkplatz an der Universität losfährt und lüstern die Augen auf den Wagen vor sich richtet. Sie reiht sich neben dem Auto ein und inspiziert die kurzhaarige Fahrerin mit den Ray Bans - die coole Rosemary mit den schweren Lidern, dem abschätzenden Blick und der Friß-oder- Stirb- Haltung. Und in diesem Fall, läßt Rosemary bedauernd ihre Vision enden, wäre es ein Fall von »Stirb«, denn der Wagen würde sich aller Wahrscheinlichkeit nach als ein weißer Volvo herausstellen, der einen von diesen »Baby-an-Bord« -Aufklebern am Rückfenster prangen hätte.
»Gehst du am Samstag zu Max' und Annies Partnerschaftszeremonie?«
Max und Annie sind Mitglieder der Mountain-Lesbian-News-Gruppe. Rosemary hatte sie kennengelernt, als sie zu einem der vierzehntägig stattfindenden Judy Garland Freundinnen Abende gegangen war, für die ein Flugblatt warb, das sie eines Freitagabends, als sie spät aus der Stadt zurückgekommen war, in einem einfachen, braunen Umschlag unter ihrer Tür vorgefunden hatte. Max hatte Rosemary auf der Straße gesehen und beschlossen, sie aufzuspüren.
»Ich irre mich nie«, hatte sie sich gebrüstet, als Rosemary zögernd das Frauenzentrum in Katoomba betreten hatte, in dem die Treffen stattfanden.
»Nein, ich glaube nicht ...« Rosemary fällt die goldgeprägte Karte ein, die sie zu der Zeremonie einlud und die unbeantwortet auf dem Küchentisch oben in Leura liegt. »Ich kenne Max und Annie eigentlich gar nicht.«
»Ich finde, du solltest kommen. Ich finde, wir alle sollten so einen affirmativen Anlaß unterstützen. Es ist wichtig für unsere Gemeinschaft. Und du hast doch ein Haus da oben, oder nicht? Dann bist du doch sowieso dort.«
Obwohl Hochzeiten nie zu Rosemarys bevorzugten Partys gehört haben, fühlt sie sich durch ihre unbestreitbare Nachbarschaft zu dem unbestreitbar affirmativen Anlaß jeglicher Ausflüchte beraubt und hört sich sagen, daß sie kommen wird. Eine gewisse Schüchternheit, auf die eine Frau in ihrem Alter nicht mehr stolz sein konnte, bereitet ihr dieses flaue Gefühl in der Magengrube, schon als sie zusagt. Sie fragt sich, wie eine solche Zeremonie wohl aussehen würde.
»Gut, dann sehe ich dich ja dort«, sagt Valentine, lädt den Sydney Star Observer und Capital Q auf ihren Stapel von Freiexemplaren und verläßt den Laden, bevor Rosemary daran denkt, sie zu fragen, ob sie denn Max und Annie ein Partnerschaftsgeschenk mitbringen sollte. Aber sie würde das ohnehin tun. Rosemary hat Hunger, und ihre Gedanken schweifen naturgemäß in Richtung Kochbücher und Abendessen ab. Sie stellt das Buch, das sie in der Hand hält, aufs Regal zurück, aber da sie doch wissen möchte, wie Blaize mit der Frau im Auto zurechtkommt, nimmt sie es wieder heraus.
»Gutes Buch«, sagt das Mädchen an der Kasse.
»Das habe ich gehört«, sagt Rosemary.
»Sexy«, sagt das Mädchen, und Rosemary merkt bestürzt, wie sie rot wird. Was ist bloß los mit ihr, und warum ist die Welt plötzlich voller beunruhigender Sechzehnjähriger, die Riemchen aus feingeflochtenem Leder verführerisch um ihren schmalen Hals tragen? Als Rosemary so alt wie dieses Mädchen war, war sie in einer dicken und unvorteilhaften Schuluniform verkleidet und unweigerlich jede Nacht um halb elf alleine im Bett gewesen. Rosemary seufzt ob der Ungerechtigkeiten im Leben, fixiert die Beunruhigende mit zusammengekniffenen Augen und verlangt eine Quittung für ihren Einkauf.

Rosemary saust den Sid Einfeld Drive entlang; Bondi Junction, schwer in der Nacht wie eine verschmähte, schwerfällige Gemahlin auf ihrer rechten, und der helle und rastlose Ausblick zum Hafen hinunter auf ihrer linken. Ein Blitz peitscht durch die Luft, aber den Donner kann sie bei dem Motorenbrummen nicht hören. Rosemary schaltet von der ernsten Monotonie von Radio National, das noch von der nachmittäglichen Fahrt eingestellt ist, um auf 2.JJJ und »You, you've got the right stuff baby and I love the way you turn me on«, was natürlich dazu führt, daß sie daran denkt, wo Billie sein mochte und was sie wohl tat.
Als sie um die Kurve und den Hügel nach Bondi Beach hinunterfährt, sieht Rosemary das Blitzen über dem Meer. Sie kurbelt das Fenster herunter, schaltet die Klimaanlage aus und riecht das trockene Knistern der Elektrizität in der Luft und spürt die dringliche, ruckartige Erregung, die sich auch auf die radschlagenden Jugendlichen auf der Campbell Parade überträgt.
Im Nirvana Liquor Store holt sie sich einen Sechserpack Cascade-Bier und fährt zum Ploy Thai-Restaurant weiter. Im Restaurant ißt sie Yam Pla Goong, trinkt ihr Bier und tagträumt von dem großen, blauen, stumpfnasigen Gebäude gegenüber. Rosemary würde es gerne besitzen. Sie würde es gerne mit einer Gruppe von Freunden und Freundinnen kaufen und in ein Altersheim für Schwule und Lesben verwandeln. Der Krabbensalat ist hervorragend. Rosemary hat versucht, ihn selbst zu machen, und das Resultat war gut gewesen, aber nicht hundertprozentig. Etwas hatte gefehlt. Sie vermutet, es war die Chilimarmelade; damit wird sie es beim nächsten Mal versuchen.
Der Sturm ist herangezogen. Von der heißen Straßenoberfläche steigt Dampf auf, und der heftige Sommerregen überflutet in Sekundenschnelle die Rinnsteine. Rosemary steht im Eingang und schaut zu, wie die dicken Tropfen herunterströmen und wie Kugeln aus purem Silber vom Bürgersteig zurückfedern. Rosemary liebt das alles übertönende Prasseln dabei. In diesem Moment ist sie in sich vollkommen ruhig und glücklich. Sie weiß, daß sie es ist. Es ist einer von diesen Augenblicken.
Billie ist nicht glücklich. Dafür gibt es zwei Gründe. Der erste ist, daß sie viel zu lange ohne Pause gefahren ist, ihre Augen daher trockener sind und mehr Staub enthalten als die Great Sandy Desert, und ihre Augenlider von rostigen Scharnieren offengehalten werden, die sich nicht schließen lassen.
Der zweite ist ihre Mutter. Billie gibt sich selbst ein wenig die Schuld dafür, was heute abend geschehen ist. Sie hätte sich eine weniger strapaziöse Fahrt hier herauf gönnen sollen, so daß sie in einem entspannteren, ausgeglicheneren Zustand angekommen wäre, anstatt völlig gestreßt und staubig. Zuerst war es wie üblich gewesen, Billie und Heather hatten sich umarmt, sich unterhalten, einander erzählt, was passiert war, und waren froh gewesen, sich zu sehen. Aber es hatte nicht lange gedauert, bis sich ein gewisser gereizter Ton eingeschlichen hatte.
Als erstes hatte Billie bemerkt, daß das Haus leicht, aber nichtsdestotrotz eindeutig nach Abwässern roch. Sie konnte nicht umhin, es zu bemerken. Jeder normale Mensch würde es riechen, aber alle hier leugneten es, oder vielleicht waren sie schon so daran gewöhnt. Das kleinste Nasenrümpfen jedoch versetzte Heather sofort in die Defensive und ließ sie lospalavern, was für ein verseuchtes Höllenloch Sydney sei, wo die Luft zu schlecht zum Atmen war, die Straßen zu unsicher, das Wasser zu giftig zum Trinken. Billie konnte es nicht ertragen, die festen Linien der Enttäuschung zu sehen, die sich in diesen Augenblicken um die Augen ihrer Mutter bildeten.
Billie wünscht sich, sie fände die richtigen Worte oder die richtige Geste, um sie wegzuglätten, aber sie kann es nicht.

Ihre Beziehung ist nicht einfach. Billie nimmt ihrer Mutter immer noch übel, daß sie ständig andere Leute in den Arm genommen hatte - schmuddelige Fremde, die dafür zahlten, am Wochenende zu Workshops in ihr Haus zu kommen, die heulenden Teilnehmer entsetzlicher Psychodramen, die Billies Kindheit durchlöchert hatten - aber nie eine Umarmung für Billie übrig gehabt hatte, und wenn, dann hatte es sich unbehaglich angefühlt.
Ihr Bruder Simon empfand das genauso, aber ihm machte es nicht so viel aus, besonders seit er nach Westaustralien gezogen war und selbst ein Baby hatte, das er in einem Tragetuch mit sich umherschleppte.
Der Gedanke an Simons Baby, das sicher in seinem Tragetuch saß, löst in Billie das Verlangen aus, mit Sachen um sich zu werfen und zu weinen, aber sie will jetzt nicht darüber nachdenken, da sie in einer feuchten Jurte in der Mitte einer morastigen Weide gefangen sitzt, pissen muß und zu fertig ist, um aufzustehen. Billie will auf keinen Fall weinen, aber nach einem anfänglichen Brennen stellt sie fest, daß die Tränen ihren Augen guttun, und so weint sie weiter.
Währenddessen kommt ihr der Gedanke, daß ihre Mutter zweifelsohne auch hoffte, daß es diesmal anders wäre und sie entspannt miteinander umgehen könnten, anstatt daß sich schon nach fünf Minuten diese stacheldrahtähnliche Spannung um sie wand.
Billie versucht, auch die guten Dinge in Bundagen zu sehen. Dazu gehört, daß das Land, wenn die Aktionäre es nicht gekauft hätten, längst aufgeteilt und an Spekulanten verkauft worden und mittlerweile mit Sicherheit in Beton versunken wäre und damit die ganze Ostküste im Stil der »Big-Banana«-Geschmacklosigkeiten unwiderruflich verschandelt hätte. Dann fällt ihr ein, wie schön der Strand ist und daß sie hier außerdem keinen Badeanzug tragen muß und es sich fantastisch anfühlt, ohne etwas anzuhaben, eine Welle zu reiten.
Billie versteht nicht und wird möglicherweise nie verstehen, daß das, was ihre Mutter von ihr will, nichts mit der Billigung der Wahl ihres Wohnortes zu tun hat. Heather will nur, daß ihre Tochter sie liebt und endlich aufhört, an allem herumzumeckern. Sie würde nur gerne das Zusammensein mit ihr genießen.
Morgen früh wird alles anders aussehen. Die Sonne wird hell scheinen, der Wind wird die Richtung gewechselt und den fauligen Geruch mit sich genommen haben, und Billie wird zufrieden in einem bunten Sarong ihrer Mutter durch die kleine Bananenpflanzung und die Mangobäume und über die grasigen Kliffkuppen zum Strand laufen. Der einzige Schandfleck in der Landschaft würde der örtliche Polizist mit seinen Kumpeln sein, die in ihrem Vierradantriebfahrzeug den Strand entlangfegen und schreien und rufen und sich in einer Art und Weise betragen würden, auf die Billie gerne verzichten würde.
Das Hauptproblem des Tages, wenn sie zur Mittagszeit nach Hause kommen würde, würde sein, daß Crispin auftaucht, denn Billie und Crispin verstehen sich nicht. Billie sagt sich, daß sie sich viel Mühe mit ihm gibt, obwohl sie es nicht tut, während Crispin, der homophobische Hippie, keinerlei Anstrengung in dieser Hinsicht unternimmt und als Amerikaner auch erstaunt wäre, wenn es ihm irgendwer vorschlagen würde.

»Neue Untersuchungen zeigen, daß die Zahl der Hautkrebsfälle in New South Wales sich in sieben Jahren verdoppelt hat.«
Rosemary ist früh aufgewacht, aber nun wünscht sie sich, sie wäre es nicht. Sie hat jedoch Glück, daß sie nicht in Queensland lebt, denn »die Zahl der tödlichen Hautkrebsfälle ist in Queensland um horrende 50% höher als in New South Wales.«
Rosemary beschließt, dankbar dafür zu sein, was ihr gegeben ist, und mit dem Zeitunglesen aufzuhören; sie macht sich eine Kanne Earl-Grey-Tee, nimmt sie mit zum Fenster und setzt sich, um zu beobachten, wie der Tag Gestalt annimmt.
Gail, die Psychotherapeutin, die im Nachbarhaus in der obersten Wohnung wohnt, überquert mit einer Tasche voller Spielzeug, das sie in ihrer Sandspieltherapie verwendet, die Straße. Und dort ist auch die rastlose Frau wieder. Rosemary hat sie seit über einem Monat nicht mehr gesehen und nimmt an, sie war in einer Nervenklinik und holt jetzt die verlorene Zeit wieder auf. Hager, ruhelos und jenseits jeder Therapie wuselt diese hastende, einer Gespensterheuschrecke ähnelnde Frau von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und womöglich, denkt Rosemary, auch noch nachts entlang am Horizont der Strandvororte in Sydneys Osten. Gail stellt vorsichtig ihr Spielzeug im Sand auf und wird dabei von einem Haufen selbstzufriedener Möwen beobachtet. Die Besessenheit der rastlosen Frau erinnert Rosemary an Daphne, die in ihren grauen, zerschlissenen Wollsachen im Souterrain des Soziologie-Instituts sitzt, obwohl Daphne weiß Gott nie in ihrem Leben auch nur eine Minute Sport getrieben hat. Rosemary erinnert sich an ihre Absicht, diesen Sommer einige Zeit darauf zu verwenden, fitter zu werden. Sie wird heute damit anfangen, zum Pool hinübergehen und ein paar Bahnen schwimmen.
Sie geht zur Kommode und zieht ihren Badeanzug hervor. Eine Kakerlake kommt dabei zum Vorschein. Sie sieht ein bißchen benommen aus, aber für bloße Benommenheit hat Rosemary nicht bezahlt. Daher ruft sie die Leute von der Schädlingsbekämpfung an, die ihr erzählen, sie brauche sich keine Sorgen über noch übriggebliebene Kakerlaken zu machen, da die Chemikalien, die sie benutzt hätten, einen besonderen Bestandteil beinhalteten, der verhindere, daß sie die Geschlechtsreife erreichten und brüteten. Rosemary hat das Gefühl, daß sie dagegen nichts sagen kann, obwohl sie es gerne täte.
So, wo ist nun die Sonnencreme?
Als sie sie findet und sich einzucremen beginnt, klingelt das Telefon: »Guten Morgen, Rose. Hier ist Fiona.«
Himmel! Fiona! Das war Jahre her, seit sie sich zuletzt gesprochen hatten. Fiona war natürlich zurück, um für ihre Bücher zu werben, ihre Mutter zu besuchen und Freunde zu treffen, aber nicht Rosemary, warum also rief sie jetzt an?
»Weil meine Mutter im Sterben liegt, ich sitze bei ihr zuhause . .. das heißt, ich habe nichts zu tun, die Krankenschwestern machen alles Notwendige, es ist nur so, weißt du, daß sie nach mir verlangt hat. Hier bin ich nun also, und ich bin mir nicht sicher, ob sie weiß, daß ich da bin, denn sie ist bis zur Nasenspitze vollgepumpt mit Drogen, und ihr Geist wandert, wie sie sagen - obwohl es in ihrem Fall nicht so sehr ein Wandern ist, als vielmehr ein Nachholen verlorenerer Zeit und das im Galopp. Sie bittet immer wieder jeden, der zuhört - und das ist natürlich jeder, denn jeder in diesem Mausoleum wird dafür bezahlt zuzuhören - bittet sie immer wieder, ihre wertvollen Kinder nach Hause zu schicken. Nun, wie wir alle wissen, bin ich das einzige Kind und auch nicht besonders wertvoll als solches. Wie dem auch sei, ich bin gerade durch den Garten geschlendert und habe über alles nachgedacht, und dann habe ich das Telefonbuch genommen und deine Nummer nachgeschaut, und da habe ich dich nun.«
»Du bist in Woollahra?« Rosemary hat sofort das Gefühl, daß das eine dumme Frage ist, aber schließlich ziehen Leute ja zuweilen um, und das Haus in Woollahra war zu groß, als daß nur eine Frau darin sterben sollte. In ihrem Hinterkopf kämpft sich beschämt der beunruhigende Gedanke durch, daß sie eigentlich, endlich, froh ist, daß ihre Mutter früh und in recht guter Verfassung gestorben war, so daß Rosemary nicht dem letzten Stadium elterlichen Zerfalls ins Auge sehen mußte, was ihre Freundinnen immer häufiger mitansehen mußten.
Rosemary fällt ein, daß Cyril, Fionas Vater gemeinhin als schillernde Rennbahnpersönlichkeit verschrieen, tot ist. Sie erinnert sich, wie sie die Nachricht über den Gedenkgottesdienst im Sydney Morning Herold gelesen hat und wie alle Kriminellen Sydneys erschienen waren - froh, ihn zu überleben, dachte Rosemary, oder auch nur, um absolut sicherzustellen, daß er nicht zurückkam. Zu seinem Begräbnis war Fiona nicht nach Hause gekommen.
»Woollahra, ja. Ja. Und es ist außerdem sehr merkwürdig. Ich meine, das Haus ist ... nun, du wirst es ja sehen. Wenn du kommst. Du kommst doch, oder?«
»Ja. Wann?«
»Tja, wie wäre es jetzt? Ich nehme an, du hast nicht viel vor?« Vor einem Augenblick noch war Rosemary sehr zufrieden mit ihrem Müßiggang gewesen. Jetzt kam sie sich schuldbewußt vor, weil sie sich nicht um die Probleme der Welt kümmerte. Rosemary erinnerte sich an Fionas Talent, jeden in ihrer Umgebung zu entnerven. Sie hatte gute Lust, nicht hinzufahren.

»Was zum Teufel ist Act Up?« erkundigt sich Crispin, der rückständige Widerling, als er durch Billies T-Shirt, auf dem diese Worte stehen, auf ihre Titten starrt. Crispin weiß, was Act Up ist, und Billie weiß, daß er es weiß, aber sie erzählt es ihm trotzdem, denn sie hatte das Gefühl, daß die Dinge, je öfter sie laut gesagt wurden, desto mehr Macht gewannen, auch wenn sie meistens auf taube Ohren stießen. Sie stellt sich vor, wie sich die unbeachtete Weisheit am Rand der Welt aufstaut und für den bevorstehenden Sturm bereithält, in dem diese Worte herunterstürzen und die ganze Scheiße hinwegfegen werden. Crispin hingegen stellt sich gar nichts vor und hält sie schlichtweg für verrückt. Crispin sehnt sich nach der guten alten Zeit. Er hätte gerne ein nochmaliges Abspielen der sechziger Jahre arrangiert, als die Mädchen noch ihre Stellung im Leben kannten.
Während er an all die verschiedenen Mädchen denkt, die er in jede Stellung gebracht hatte, die ihm gefiel, hört er kaum, was sie sagt. Eine Aids-Koalition, die Macht entfesseln soll? Ketten aus Anfangsbuchstaben strömen an ihm vorbei: AZT D4T GM-CSF ddl. Zu seiner Zeit gab es keine Unschicklichkeit, die sich nicht mit einer oder zwei Spritzen Penicillin wieder hätten ausbügeln lassen. Crispin kommt sich alt und ausgeschlossen vor, während doch erst vor einer Minute er und seine Belange geradewegs im Mittelpunkt der Welt gestanden hatten.
Er kann Billies Besuche nicht ausstehen, sie machen ihn verrückt. Und sie regen ihre Mutter auf. Und wo ist Heather währenddessen? Sie ist in dem Raum, den man als Küche bezeichnen würde, und denkt über Billie nach. Auf der einen Seite bewundert sie sie. Heather weiß, daß es wichtig ist, gegen veraltete Einstellungen vorzugehen. Es mochte wie Schattenboxen sein, aber es war eine Runde, die gekämpft werden muß. Auf der anderen Seite sind die Vorurteile ihrer Tochter nicht bewundernswert, und wenn es um sie selbst geht, furchtbar fehl am Platz. Billie weiß so gut wie gar nichts von Heathers Leben in dieser Gemeinschaft, und doch nimmt sie sich die Freiheit, sich darüber zu lustig zu machen, Heather sieht sich nicht veranlaßt, sich Billie gegenüber zu rechtfertigen, aber der Hohn ihrer Tochter schmerzt sie. Wenn sie sich zum Beispiel ihr Zuhause ansieht: Billie mag es verachten, aber diese Jurte ist ihre, und es ist nicht so einfach für eine Frau, überhaupt einen Teil dieser Welt zu besitzen. Sie hört, wie Billie, unter Crispins abgewürgtem Protest, das Konzept des Sichbekennens zur Homosexualität verteidigt. Zu was für einer arroganten jungen Frau ihre Billie sich entwickelt hat. Die Welt war nicht so einfach, wie sie einem Mädchen erscheinen mochte, das auf dem Weg in irgendeine Chefetage ist, ob sie es nun glaubt oder nicht. Aber sie wird es schon noch lernen, denkt Heather wie so manche Mutter vor ihr. Heather bedauert, daß einige der Lektionen, die Billie würde lernen müssen, hart sein würden. Heather war immer betrübt über die Härte der Welt, während Billie dabei zu gedeihen schien, die Dinge von sich abprallen ließ und Zwietracht säte, wohin sie nur ging. Die Liste der Themen, gegen die sie seit ihrem ersten Atemzug Partei ergriffen hatte, war endlos. Wie zum Beispiel Männer.
»Du kannst sie haben«, brüllt Billie, während sie in die Küche und wieder hinausstürmt, um frische Luft zu schnappen, doch erst muß sie sich aus den Muschelsträngen befreien, die an einer Stelle aufgefädelt sind, wo in einem ordentlichen Haus eine Tür zu erwarten war. Billie schwört sich, daß sie nie in einem Haus leben wird, das nicht eine anständige Tür zum Zuschlagen hat.
Heather, die ein Mangolassi zum Trost für Crispin macht, der in der Ecke schmollt und droht, nach Nimbin zurückzuziehen, fragt sich, warum sich Billie so sehr über jemanden wie Crispin erhitzt. Er war schließlich nur ein weiteres Mitglied des Stammes der verlorenen Jungen, die unseren Teil der Erde bevölkerten und die ruhig gehalten und gelegentlich besänftigt werden mußten, aber sicherlich nie so ernstgenommen werden durften, wie Billie es tat. Heather mochte Crispin, aber sie behielt die Perspektive. Sie reicht ihm sein Lassi und erhält dafür von Crispin ein widerwilliges Lächeln. Er verspürt oft das dringende Bedürfnis, einfach auszubrechen, aber er nimmt Kräuter dagegen.
Heather schaut auf das Foto, das ihr Sohn Simon in seinen Weihnachtsbrief gelegt hat und das jetzt am Korknotizbrett über der Sitzbank hängt. Simon, seine Frau Patrice und das Baby Jake. Heather lächelt. Simon ist so einfach, verglichen mit seiner Schwester. Ist das ein Witz? Nein, es ist wahr.
Billie, für die nichts einfach ist und nie sein wird, so hofft sie, springt in großen Sätzen durchs Gebüsch in dem Bestreben, sich daran zu erinnern, wer genau sie ist und in welche Welt sie gehört, und zu diesem Zweck muß sie die Telefonzelle finden, die mit Sicherheit hier irgendwo hinter einem Baum verborgen liegt. Billie stellt fest, während sie durch den Busch tappt und versucht, eine Verbindung mit der Außenwelt herzustellen, daß sie ein Handy braucht. Sie findet die Telefonzelle und beantragt ein R-Gespräch zu Rosemary, aber das bringt sie nicht weiter, denn Rosemary ist nicht zuhause, und die Vermittlung läßt sie nicht umsonst eine Nachricht auf den Anrufbeantworter sprechen. Deshalb versucht sie es bei Jo Jo in Glebe und einigen anderen, aber alle sind außer Haus.