...in jenem Frühsommer: sie gewann 30.000 Dollar beim Keno-Spiel im Hakoah-Club, und sie verliebte sich in eine Frau, die viel jünger war als sie. So trat sie überglücklich in ihr einundfünfzigstes Lebensjahr.
Seit kurzem tauchte Billie am Strand auf und parkte ihr Motorrad vor Rosemarys Haus. Manchmal kam sie mit Freunden und manchmal alleine. Eines Abends sah Billie sich von einem trägen Muskelprotz belästigt, der einen Steifen hatte und wissen wollte, woher sie ihre Muskeln und ihr Gebaren hatte. Während Billie noch überlegte, was sie mit ihm anfangen sollte, warf ihr eine wilde und bucklige Welle Rosemary vor die Füße. Billie ergriff die Gelegenheit, reichte ihr die Hand, half ihr auf und küßte sie auf eine Art, die der halbstarke Jüngling und alle anderen, die wie Teebeutel zwischen den Badefähnchen auf und ab dümpelten, keinesfalls als schwesterlich mißverstehen konnten.
Natürlich können solch verwegene Anfänge in ganz unterschiedliche Richtungen führen. Es ist alles eine Frage des Timings, und in diesem Fall kam Billie gerade richtig. Rosemary war gelangweilt. Sie war lustlos und hatte dies gründlich satt, wenngleich die Lustlosigkeit ihren Zweck erfüllt hatte, indem sie auch noch die letzten Reste von Verlangen abgestumpft hatte, die zurückgeblieben waren, nachdem Lyn im letzten Jahr nach Amerika zurückgegangen war. Sie wußte, daß diese neue Geschichte ihr Schmerz bereiten würde. Sie schien ihr Pech und sie schien ihr Glück zu verheißen.
Warum ich? war die Frage, die sie hatte stellen wollen, aber natürlich war es besser, in solch rauschhaften Momenten keine Fragen zu stellen, auf die du die Antwort nicht schon weißt. Sie sparten sich jegliches Ritual - das heißt, ein Mittagessen beispielsweise oder den Austausch ihrer jüngsten Bettgeschichten - gingen einfach zu Rosemary nach Hause und taten es.
Von nun an trafen sie sich heimlich. Sie trafen sich leidenschaftlich. Rosemary nahm ab, vernachlässigte ihre Freundinnen und Freunde, trank ein bißchen zu viel, war ständig feucht zwischen den Beinen und hatte sich nie im Leben besser gefühlt, jedenfalls seit langem nicht.
Dann rief Billie eine Woche lang nicht an und kam auch nicht vorbei, was in Ordnung war, aber dann wurden zwei Wochen daraus, und das war nicht mehr in Ordnung. In diesen vierzehn Tagen beaufsichtigte Rosemary die Renovierung ihres Hauses, die sie dank des Kenogewinns durchführen ließ, und bei ihrer Arbeit näherte sich das Jahr dem Ende. Unterdessen dachte sie darüber nach, was sie über Billie wußte: Sie hatte nach vier Semestern ihr Jurastudium abgebrochen, jobbte nun als Kellnerin in einem Café in Darlinghurst und sang manchmal in einer Funkband.
Eines Abends klingelte spät das Telefon. Billie wollte, daß Rosemary in diesen Club käme. Sie beschrieb ihr den Weg.
»Kannst du nicht herkommen?«
»Nein. Komm doch einfach, hörst du? Wir müssen miteinander reden.«
»Wir können doch hier reden.«
»Nein.«
Rosemary fuhr schließlich hin. Sie parkte und ging zum Club hinüber. An dem schäbigen Eingang zahlte sie für ihren Einlaß, und die Junglesbe an der Tür, die ein T-Shirt mit der Aufschrift: Ich kam, ich sah, ich war gelangweilt trug, griff ihre Hand und drückte ihr einen Stempel aufs Handgelenk.
»Was steht da? Lesbe?«
»Nur bei bestimmtem Licht« war die Antwort. Rosemary hätte sich gerne weiter erkundigt, was das bedeuten mochte, aber,sie war zu sehr darauf aus, Billie zu treffen. Sie war nicht an der Bar. Sie suchte die überfüllte Tanzfläche ab. Dort war sie, und sie hatte Rosemary auch schon gesehen. Sie faßte ihre Tanzpartnerin am Arm und deutete dabei auf Rosemary. Die Frau lachte. Rosemary lächelte. Sie lehnte sich an die Wand und wartete. Sie war fünfzig. Sie konnte warten.
Billie und Rosemary setzten sich an einen Tisch. Billie erzählte ihr, daß sie fortgeblieben war, weil sie sich darüber klar werden wollte, was sie von dieser Beziehung wollte. Sie wollte am Morgen neben Rosemary aufwachen können, ins Kino oder zum Einkaufen mit ihr gehen, ihre Freundinnen treffen, und wenn sie all das nicht haben konnte, würde die Sache eindeutig nirgendwo hinführen, und dann könnten sie ebenso gut gleich damit aufhören.
»Es muß nicht aufhören«, sagte Rosemary, und Billie nahm ihre Hand und führte sie in einen dunklen Raum mit einer Matratze auf dem Boden, und Billie flüsterte: »Darling, heb die Hüfte an«, so daß ihr ihre Lippen und Zunge das Vergnügen bereiten konnten, das beide suchten.
Manchmal, wenn Rosemary alleine zuhause ist, fragt sie sich, wer diese unbekannte Frau mittleren Alters ist, die sie flüchtig das leere Zimmer durchqueren sieht, wenn die Nacht die Fenster in Spiegel verwandelt: Wer nur steckte in dieser Hülle aus Haut?
Sie nimmt einen Tiegel mit goldenem Deckel und beginnt, ihr Gesicht für die Silvesterparty zurechtzumachen. Ihr Leben und ihr Haus sind im Lot. In diesem Augenblick schläft Billie in Rosemarys Bett hier im Schlafzimmer, und in der Küche ist alles vorbereitet: nichts Kompliziertes, ein paar einfache und köstliche Sachen, die sie am Morgen auf dem Fischmarkt gekauft und am Nachmittag mit Hilfe des japanischen Kochbuchs, das ihre Freundin Gin ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, zubereitet haben. Sie ist besonders zufrieden mit dem Tintenfisch und dem Spargel in der leichten Senfmisosauce, die sie in zierlichen Portionen auf den feinen, muschelförmigen Tellern angerichtet hat, die sie so gerne mag.
Rosemary stellt den Tiegel ab und glättet mit dem Handrücken ihren Hals und die Haut unter dem Kinn. Bedächtig trägt sie ihr Make-up auf. Sie schminkt sich nicht täglich, aber wenn sie es tut, macht es ihr Spaß. Sie hofft, daß es hält. In letzter Zeit neigt ihr Gesicht dazu, nach ein paar Drinks rosa und fleckig zu werden und seine Konturen zu verlieren.
Kristeva plumpst vom Bücherregal, wo sie damit beschäftigt war, irgendeinen unschuldigen Gegenstand mit ihren Krallen zu bestrafen. Sie sieht sich um, ob Rosemary ihr zugeschaut hat, und schleicht dann durch das Zimmer, um sich in den Falten der Musselinvorhänge zu verstecken, die weich auf den Boden fallen.
Billie öffnet die Augen, beobachtet Rosemary und kommt zu dem Schluß, daß sie noch nie so glücklich war, niemals. Sie erinnert sich daran, als sie klein war und ihrer Mutter zugesehen hatte, wenn sie sich zum Ausgehen zurechtmachte und ebenso vertieft darin war wie Rosemary gerade. Damals war sie sehr klein gewesen, noch bevor ihre Mutter sich in einen Hippie verwandelt und ab dann alle Schönheitspräparate gemieden hatte, weil sie aus Walen oder sonst was gemacht wurden.
»Du siehst hinreißend aus.«
Rosemary dreht sich um. »Wirklich?«
Billie steht auf, geht zu Rosemary und küßt sie leicht auf die frisch gemalten Lippen. »Will ja nicht dein Make-up ruinieren.«
Rosemary sagt, daß es ihr im Grunde genommen gar nichts ausmachen würde, wenn Billie ihr Make-up an den Wänden verschmierte und sie Glied für Glied auseinanderrisse, aber daß sie andererseits nun einmal Gäste erwarten.
»Natürlich«, sagt Billie. »Deine Freunde werden bald hier sein, nicht?«
»Deine auch.« Rosemary stellt sich vor, wie Billies Freundinnen in Vorbereitung auf den Abend ihre Besen schmirgeln, das Leder wienern und die Sporen polieren. Wie sie in letzter Minute Pailletten an die Fruit-of-the-Loom-Unterhosen nähen, Ecstasy schlucken und darauf warten, daß die Glückseligkeit einsetzt. Rosemary hofft nur, daß sie sich nach all der Mühe nicht verfahren. Billies Freundinnen wurden leicht mißmutig und verwirrt, wenn sie aus ihren Hexenzirkeln im inneren Westen in die östlichen Stadtteile gerufen wurden. Das war zu schwierig, zu weit und, schlimmer: zu bourgeois, obwohl Rosemary nicht glaubte, daß sie dieses Wort verwendeten. Sie weiß nicht, mit welchen Worten, aber sie würden in jedem Falle klarstellen, was sie empfanden. Sie waren eine so stachelige Truppe, sowohl was ihre Meinungen - wenn du eine aus ihnen herauslocken konntest als auch ihr Aussehen anging. Was würden ihre Freunde von Billies und was würden Billies von den ihren halten?
»Jo Jo fährt mein Motorrad her.« Billie hat ihre Surfbretter, den Surfanzug und die Flossen bei Rosemary, aber das Motorrad hat sie bei ihrer Freundin Jo Jo in Glebe gelassen. Es hatte ja keinen Sinn, es am Strand zu haben, wo es nur rostete, und in der Stadt fuhr Billie nicht oft damit. Sie zog es vor, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen oder sich Rosemarys Auto auszuleihen.
»Manchmal, so wie jetzt gerade, erinnerst du mich an meine Mutter«, sagt Billie.
»An deine Mutter? Wieso?«
»Kann ich nicht genau erklären. Du weißt schon. Ich hatte nur so ein Gefühl, als ich dir zugesehen habe.«
Etwas regt sich in Rosemarys Magen. Sie weiß, daß Schmerz im Anzug ist. Eine große schwarze Musikerin arrangiert die Melodie schon in ihrem Kopf: There's a great pain coming, Lord, Lord.
Als die unbekümmerte Billie das Zimmer verläßt, um duschen zu gehen, weiß Rosemary, daß der Todesengel in diesen wenigen Sekunden surrealistischen Freiraums, ausgelöst durch Schock, das Zimmer betreten hat und fest in ihrer Welt steht, die Füße weit auseinander, die Arme in die Hüften gestemmt, die Flügel angelegt.
Diese dunklen Flügel haben Rosemary schon früher unbefohlen gestreift, wie sie jeden im Laufe eines Lebens streifen. Rosemary hatte bei verschiedenen Gelegenheiten knappe Zusammenstöße mit ihnen gehabt: bei einem Schwimmfest in der Schule, als sie sieben war, an einem nassen Novemberabend 1978 in Ontario, als ein Autoreifen platzte, und acht Jahre zuvor auf einem Hausboot, das auf der Themse in der Nähe von Oxford vertäut lag, und vor vier Jahren schließlich beim Tauchen am Cod Hole im Great Barrier Reef. Und dann gab es das eine Mal, an das sie sich nicht erinnerte, weil sie im Unterschied zu den anderen Begebnissen gar nicht gewußt hatte, was geschah, als der Tod sich in einer Single-Bar in Tacoma an sie geschmiegt und ihr ins Gesicht geschnattert hatte. Er war in der Verkleidung eines Massenmörders gekommen, der ihr einen Drink gekauft und dann beschlossen hatte, daß er sie nicht wollte, weil ihr Akzent ihn aus dem Konzept brachte. Der Engel weiß selbst, daß es sich heute um einen weiteren Fehlalarm handelt. Er wird oft durch eine zufällige Bemerkung herbeizitiert, die Angst und Verlust an die Oberfläche hat sprudeln lassen. Er begnügt sich dann damit, einfach zu lauschen, während die Nagespuren der Krokodilsangst sich in ausgewachsene, blutige Bisse verwandeln. Sie könnte mich wegen einer anderen verlassen. Niemand hat Rosemary in all diesen Jahren konstanter Monogamie wegen einer anderen verlassen. Sondern Rosemary hat sie verlassen. Voller Mitgefühl und Unterstützung und einmal sogar erst, nachdem sie mehrere Partnerberatungen durchgestanden hatten, die ohne Zweifel bewiesen hatten, daß sie und die betreffende Geliebte ernste, einfühlsame Menschen waren, die beide wirklich wollten, daß es funktionierte, und daher auseinandergehen konnten, ohne daß eine sich schuldig fühlen mußte. Rosemary vergißt geflissentlich all die, mit denen es ganz und gar nicht so war, diejenigen, die jenseits der Grenze der Erinnerung immer noch knurren und wild um sich schlagen. Sie ist stolz, daß mehrere ihrer Geliebten jetzt Freundinnen sind und daß selbst diejenigen, die es nicht sind, nicht würgen, wenn sie ihnen im Theater oder sonst wo über den Weg läuft. Sie könnte mich wegen einer Jüngeren verlassen. Sehen wir der Tatsache ins Auge, Rosemary, die ganze Welt ist jünger als du. Sieh doch hinaus, wie sie alle vor Leben nur so strotzen. Sogar der Premierminister ist jünger als du: zwar nicht viel, aber jede Sekunde zählt. Sie könnte mich wegen einer Jüngeren und daher Attraktiveren verlassen. Genau. Vielen Dank, das ist es: eine, die attraktiver ist und nicht so wie ihre Mutter. Rosemary geht zur Glastür. Sie öffnet sie und tritt auf den schmalen Balkon, von dessen Seite eine kleine Brücke zum Garten hinunterführt. Kristeva wickelt sich aus den Vorhängen und kommt zu ihr. Der Engel folgt vorsichtig. Er mag Gärten nicht. Sie veranlassen die Menschen, länger auf dieser Erde zu verweilen, als sie es anderenfalls würden. Gott allein weiß, was die Leute in ihnen alles anstellen seit jenem ersten Fick der Geschichtsschreibung. Rosemary betätigt einen Schalter, und hinter der Brücke wird ein kleiner, dicht bewachsener Garten im Flutlicht sichtbar. Rote fleißige Lieschen glühen wie Kohlen im Dunkeln, und die weißen scheinen daneben kühl und leuchtend zu schweben. Jasmin schäumt über die Seitenzäune, und die Schatten der Kentiapalmen wedeln leicht über die gekalkten Mauern.
Lauren, die Elektrikerin, hat bei der Außenbeleuchtung gute Arbeit geleistet und eigentlich auch bei der Innenbeleuchtung. Rosemary hofft, daß sie heute abend kommt, aber Lauren war nicht sicher gewesen, da ihre Geliebte vielleicht schon andere Pläne für den Silvesterabend haben könnte. Sie hatte gesagt, sie würde anrufen und Rosemary Bescheid geben, hatte es aber dann nicht getan.
Rosemary hatte es gefallen, Lauren im Haus zu haben. Ihre leichte, tüchtige Gegenwart war nach der bleiernen guten Laune der männlichen Handwerker, die monatelang hier gewesen waren, eine Erleichterung gewesen. Aber vor allem hatte sie mit leichtem Voyeurismus genossen, Lauren dabei zu beobachten, wie sie in ihren kurzen, ausgefransten Jeans auf die Leiter gestiegen war und wie die Arbeitsschuhe übertrieben ihre langen Beine betont hatten, und dann denkt Rosemary daran, wie vor noch weniger als einer Stunde Billie ihre Beine um sie geschlungen hatte, und der Tod, dem durch Gärtnern, Sex und die bevorstehende Gesellschaft von Freunden ein Strich durch die Rechnung gemacht wird, breitet seine Flügel aus und tritt ab.
Alan würde als erster eintreffen. Er ist stets zu früh oder zu spät, denn er hat kein Auto, und der öffentliche Nahverkehr befördert ihn immer auf die eine oder andere Seite der verabredeteten Stunde, aber nie genau ans Ziel. Er beschwert sich ständig über die Kapriolen von Bussen und Fähren, aber aus irgendeinem Grunde hat er nie den Führerschein gemacht.
Rosemary geht durch den Flur zum Wäscheschrank. Der arme Alan, denkt sie wie jemand, der Liebe gefunden hat und an jemanden denkt, der nicht so glücklich ist. Sie nimmt einen Stapel Strandtücher heraus. Nach Mitternacht würden alle zum Strand hinübergehen und im Felspool schwimmen. Rosemary zuliebe geht niemand in die Wellen. Sie möchte niemanden auf dem Gewissen haben, der berauscht oder betrunken ertrinkt.
Ob Billies Freundinnen wohl mitkämen oder lieber zurückbleiben und ihr Haus ruinieren würden? Rosemary kann kaum glauben, was sie gerade gedacht hat. Was ist bloß los mit ihr? Sie ist in letzter Zeit in vielen Dingen sonderbar geworden: Diese Jungen etwa, die ihre Baseballkappen verkehrtherum tragen, machten sie rasend. Wußten sie denn nicht, wie blöde sie aussahen? Sie würde sie ihnen am liebsten vom Kopf reißen und in den Mund stopfen.
Es klingelt. Rosemary umarmt Alan und küßt ihn auf die Wange. Kristeva rollt ihm auf dem rosenroten chinesischen Teppich vor die Füße. »Ich hasse Katzen, besonders Modekatzen.« Alan tippt Kristeva mit dem Fuß an, und sie rollt sich hin und her und schnurrt und umkrallt seinen Schuh. »Du hast ja viel gemacht, das Haus sieht wundervoll aus, Sehr schick.« »Mein Bruder bezeichnet es als Hollywoodkitsch.« »Das sieht ihm ähnlich. Der arme Richard.« »Er ist schon in Ordnung.« »Du bist abgeklärter geworden. Muß an all dem materiellen Komfort liegen.« »Muß wohl.«
Rosemary spürt hinter den Worten ihres Freundes einen kleinen Stich Eifersucht. Rosemary weiß, daß hinter ihren positiveren Gefühlen für den älteren Bruder der Tod ihres Vaters steht, der für beide die Notwendigkeit beseitigt hatte, um seine Aufmerksamkeit buhlen zu müssen. Rosemary sagt es nicht, aber wird es womöglich bei anderer Gelegenheit nachholen, denn Alan ist ein guter Freund und an solchen Dingen interessiert.
»Dieses Jahr war halt mein Glücksjahr«, sagt sie nur.
Rosemary sieht sich mit einem Gefühl des Unwohlseins in ihrem schönen Zimmer um. Glück. Pech. Was hieß das? Mußte denn für alles ein Preis gezahlt werden? Sie war alt genug, um Billies Mutter sein zu können. Billie selbst hatte das gesagt oder jedenfalls etwas sehr Ähnliches.
»Wie geht's der Kleinen?« fragt Alan mit einem Schmunzeln, das er wahrscheinlich als Lächeln bezeichnen würde. Kann er ihre Gedanken lesen? Draußen auf der Straße werden Autotüren zugeschlagen, und auf den Stufen wird geplaudert. Hier gibt es gleich eine Party. »Los geht's«, sagt Alan und läßt den ersten Sektkorken des Abends knallen.
Rosemary hat ihr erstes graues Schamhaar entdeckt. Sie entfernt es mit der Augenbrauenpinzette, geht zum Fenster, öffnet es und läßt das Haar fliegen, das in Richtung des Cafés zwei Häuser weiter schwebt und sanft auf einem italienischen Weißbrot mit eingelegten Artischockenherzen, Salami, Olivencreme und den allgegenwärtigen sonnengetrockneten Tomaten landet, das dort auf einem der Tische steht.
Der Tag poltert zur Tür herein. Durchdringender Straßenlärm und Meeresgeräusche. Das Meer ist groß an diesem Morgen. Die Wellen überschlagen sich, sind so groß wie Wohnhäuser, Am Horizont sind Containerschiffe wie Ziele an einem Schießstand aufgereiht. Die langen, hohen Wellen werden von Surfern zerfetzt, eine Regenbogengischt hinter sich herziehend. Rosemary schaut ihnen zu, wie immer erfreut über die Verwandlung dieser schrecklichen Muskelprotze in eine ganz eigene, graziöse Rasse, wenn sie wie Krieger in ihren vielfarbigen Gummianzügen an den Strand kommen und ihre heiß gewachsten Bretter durch die stampfenden Wasser feuern und sich ihren Weg durch die Gischt hinauspeitschen.
Es war eine gute Party. »Die beste überhaupt«, wie Alan, der als erster kam und als letzter ging, gesagt hatte, als er mit ihnen beiden im Arm über den Bürgersteig auf das wartende Taxi zutanzte. Rosemary war froh, daß Alan und Billie sich so gut verstanden hatten, entgegen Alans Behauptung, daß er eigentlich niemanden, der in den Siebzigern geboren war, ernst nehmen könne. Rosemary hatte amüsiert festgestellt, daß Alan sich auf einen neueren Stand gebracht hatte; sonst waren die entsprechenden Leute in den Sechzigern und noch davor in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert geboren worden. »Übrigens, Mädels«, hatte Alan gebrüllt und den Kopf aus dem Fenster gesteckt, als das Taxi abfuhr, »ich kaufe mir ein Auto. Gerade entschieden, Neujahrsbeschluß! Tschüß!«
»Ich nehme mir nichts für das neue Jahr vor«, hatte Billie gesagt. »Wenigstens nicht, bis ich zurückkomme.«
In der Telefonzelle vor dem Haus hatte ein sehr großer und verschwitzter Südseebewohner »Frohes Neues Jahr« ins Telefon gegrölt. »Zurück?« »Kaputt. Kaputt. Kaputt«, hörte man den Insulaner schluchzen. Rosemary fragte sich, ob er sich auf das Telefon bezog oder auf sein Herz. Er übergab sich in den Hörer, und Rosemary verlor sofort jegliches Interesse am Zustand seines Herzens. Und sie schwor sich, nie wieder dieses oder irgendein anderes öffentliches Telefon zu benutzen.
»Von wo zurück?«
»Ich weiß, ich hätte es dir früher sagen sollen. Ich wollte es ja, aber ich wußte nicht, wie.«
»Macht ja nichts, sag's mir jetzt.« »Ich gehe fort. Für ein paar Wochen. Solange, wie ich brauche. Ich bin mir nicht sicher.« Kakerlaken, so groß wie Parkbänke, hielten im Rinnstein eine Versammlung ab. »Mit wem?« »Mit niemandem. Ich gehe weg, um darüber nachzudenken, was ich als nächstes tun soll. Die beiden letzten Jahre waren für mich etwas durcheinander, das heißt, ich hatte eine gute Zeit. Eine großartige Zeit eigentlich. Aber ich muß über die Zukunft nachdenken, weißt du.« »Ich werde dich vermissen.« »Ich dich auch. Das weißt du doch.« »Du rufst doch an, oder? Schreibst mir eine Karte?«
Billie zog Rosemary an sich heran. Sie küßten sich.
»Verfluchte, dreckige Lesben«, schrie der Mann in der Telefonzelle.
Rosemary hätte weinen wollen. Sie hielt die Augen geschlossen, um die Tränen zurückzuhalten. Sie hatte den Mann in der Telefonzelle um sich schlagen hören. Sie hatte gehört, wie die Tür aufgesprungen war, und gesehen, wie er auf Billies Motorrad zutorkelte, das am Bordstein geparkt war. Er hatte die Hand ausgestreckt, um es zu berühren. Schlechter Zug. Billie hatte ihn innerhalb von Sekunden auf den Rücken geworfen, mit dem Stiefel sein Handgelenk auf den Boden festgenagelt, so daß seine Finger sich auf der anderen Seite wie abgetrennte Spaghetti wanden. »Ahhh«, hatte er geschrien. »Aaaaahhh!« Und dann hatte Rosemary die Augen geöffnet, und was sie sah, war etwas ganz anderes. Der Mann taumelte über die Straße zur Bushaltestelle. Billie sah ihm nach.
»Der arme Kerl«, hatte sie nur gesagt, und Rosemary hatte sich geschämt. Wo sie bloß ein niederträchtiges Scheusal in einem geschmacklosen Hemd erblickt hatte, hatte Billie einen Mitmenschen gesehen, haltlos in einer gnadenlosen Welt, eine Marionette, die von Kräften herumgeschleudert wurde, die so weit außerhalb seines Einflußbereichs lagen wie der Planet Jupiter. Ein Mann, der dank Leuten wie Rosemarys Vorfahren ein zerrüttetes Opfer der nachkolonialen Verhältnisse war. Aber was, hatte Rosemary wie so oft innerlich gerufen, was kann ich daran machen?
An diesem schönen Morgen jedoch sitzt sie auf der breiten Fensterbank und schaut auf die orangen Dächer der Telefonzellen. Auf der anderen Seite der Straße zum Strand liegt der Park mit seiner Miniatureisenbahn und den Münzgrills und diesen verrückten Schutzhütten mit den Kegeldächern, die überall auf der Rasenfläche verstreut sind. Am Rand trennt eine niedriger liegende Fahrspur den Park von der Straße, auf der die Busse ihre Reise vom Hauptbahnhof beenden und dort solange warten, bis es an der Zeit ist zurückzufahren.
Die Hautkrebsleute stellen am Strand ihr Informationszelt auf. Der Typ von der Strandwache, den Rosemary flüchtig kennt, weil er im Café oben an der Straße herumsitzt, wenn er nicht gerade den Verschmutzungsgrad des Ozeans mißt, schlendert mit seinem Glasbehälter, der an einer Schnur hängt, den Strand entlang, bleibt hin und wieder stehen, um mit dem einen Ende seines Kulis im Sand zu stochern und dann mit dem anderen etwas auf sein Notizbrett zu schreiben. Rosemary hofft nur, daß er nie das falsche Ende in den Mund nimmt. Sie hat ihn einmal gefragt, wonach er denn sucht. »Schmierige Klümpchen, Kondome und Slipeinlagen.« Das hätte eigentlich reichen sollen, es ihr und allen anderen bis ans Lebensende zu verleiden, im Meer zu schwimmen, aber irgendwie tat es das nicht.
Die mobile Polizeistation fährt gerade auf das Parkgelände und bezieht ihren Standort neben dem Surfclub. Der Strand ist heutzutage ein komplizierter Ort, denkt Rosemary, während sie ihren Orangensaft nippt und hofft, daß der leichte, bohrende Kopf schmerz hinter dem linken Auge, mit dem sie aufgewacht ist, sich bis zum Nachmittag von selbst geben würde. Schwimmen würde vielleicht helfen. Billie ist schon zum Strand gegangen. Rosemary beschließt, daß Schmerzmittel einfacher sind, und dann fallen ihr die Tabletten ein, die ihre Ärztin ihr letztes Jahr gegen Rückenschmerzen verschrieben hat. Sie sucht nach der Flasche und nimmt die zwei übriggebliebenen Pillen plus drei Panadolkapseln, was eigentlich eine gewisse Wirkung haben müßte,
Wo blieb Billie? Rosemary hofft, daß sie nicht in die Strömung geraten, auf eine Nadel getreten oder auf einer Slipeinlage ausgerutscht ist. Für Rosemary ist die Welt, über der sie thront, heute voller Unbehagen. Die Telefonzelle ist voller Erbrochenem, das Meer voller Dreck, der Park voller Leute, und Billie geht fort. Sie beobachtet, wie mitgliederreiche Großfamilien sich über den Rasen zu den Grills vorkämpfen; sie haben, so scheint es, ihren halben Möbelbestand dabei und jede Menge Dinge zu essen und zu trinken, die Rosemary für ausgesprochen ungesund hält.
Genau unterhalb ihres Fensters, neben dem Fußgängerübergang, machen zwei Autofahrer Anstalten, für den letzten unerlaubten Parkplatz in der Straße zu sterben. Die Insassen des Wagens, der den Platz ergattert hat, bleiben darin kauern, während der Fahrer des erfolglosen Fahrzeugs und seine Mitfahrer hinausdrängen und beginnen, gegen das andere Auto zu treten und es zum Schaukeln zu bringen. Drei Kinder plärren auf dem Rücksitz. Rosemary fragt sich, woher diese Leute kommen und warum sie bereit sind, die geistige Gesundheit ihrer Kinder wegen eines Parkplatzes aufs Spiel zu setzen. Durch den Schmerz in ihrem Kopf lammfromm geworden, fragt sie sich, was aus der Idee von einem gottgefälligen Leben geworden ist.
Tim, ihr Nachbar, der halbtags Bootsdesign an der Volkshochschule unterrichtet, kommt aus dem Haus und geht mit seinem kleinen, krummbeinigen Sohn Sam über die Straße in den Park. Tim hatte eine Kampagne für Anwohnerparkplätze ins Leben gerufen. Rosemary hielt das nicht für eine gute Idee. Sie war nicht zu dem Treffen der besorgten Anwohner gegangen und hatte auch nicht die Petition an den Gemeinderat unterschrieben, weil sie nicht glaubte, daß das die Leute davon abhielte, dort zu parken, wo sie wollten, und dann wären alle nur doppelt entrüstet, wenn jemand auf ihrem Platz parkte. Sie hatte mit den ansässigen Ladeninhabern gesprochen, und die hatten es auch nicht gewollt. Sie waren davon abhängig, daß die Strandbesucher in der Nähe ihrer Läden parken konnten. Sie konnten nicht nur von den
Anwohnern als Kunden leben, die ihren Großeinkauf in den Supermärkten erledigten, auch wenn die kleinen Läden praktisch für die Morgenzeitung waren oder wenn die Milch ausgegangen war. Die besucherreichen Sommerwochenenden und die Schulferien bildeten nun einmal ihre Existenzgrundlage.
Rosemarys Zunge erspürt die merkwürdige Stelle an der Unterlippe, die ihr von Zeit zu Zeit Sorgen macht: einen kleinen, rauhen Fleck, der nicht weggehen will. Zweifelsohne ein Erbe ihrer endlosen Kindheitssommer zu einer Zeit, als Sonne gut für dich war, wie die ständige, müde Ermahnung ihrer Mutter geklungen hatte: »Warum spielt ihr Kinder denn nicht draußen?«, und Hüte etwas waren, das Erwachsene lediglich zu Pferderennen und Hochzeiten trugen. Sie mußte die Lippe untersuchen lassen. Sie verstand nicht, warum sie es ständig aufschob. Es sah ihr gar nicht ähnlich, die Wahrheit nicht wissen zu wollen. Für so eine Selbstvernachlässigung gehörte sie zur falschen sozioökonomischen Schicht.
Jetzt kommt Billie vom Strand zurück, durchquert den Park, läuft leichtfüßig durch die Flut der Beladenen. Sie verschwindet zwischen den Bussen, die an der Endhaltestelle parken, taucht dann wieder auf, steigt die Stufen zur Straße hinauf, und jetzt ist sie hier, feucht und salzig, und küßt Rosemary auf den Hals.
Morgen würde Billie aufbrechen und die Küste hinauffahren, um ihre Mutter zu besuchen, die in einem Ort namens Bundagen wohnte, von dem Rosemary noch nie gehört hatte. Dann würde sie weiterfahren nach Byron Bay, um bei einer Freundin, die dort eine Ferienanlage betrieb, zu bleiben und vielleicht sogar eine Zeitlang dort zu arbeiten. Diese Freundin schien eine Art Vorbild für Billie zu sein, auch wenn sie sie bisher noch nicht erwähnt hatte. Es bestand auch die Möglichkeit, daß Billie noch weiter in den Norden fuhr, vielleicht sogar bis nach Cairns. Nichts stand fest. Alles hing von den Reiseplänen eines holländischen Mädchens ab, der Kusine eines Jungen, mit dem Billie sich während eines Schüleraustauschs in Holland angefreundet hatte.
»Mußt du heute etwas Bestimmtes tun?« fragt Billie. »Kommt jemand vorbei? Müssen wir jemanden besuchen? Oder können wir den ganzen Tag im Bett verbringen?« Das Telefon klingelt. »Hätte ich bloß nichts gesagt.«
Der Anrufbeantworter schaltet sich an, aber der Anrufer entscheidet sich, keine Nachricht zu hinterlassen. Rosemary fällt ein, daß sie gestern abend mit Sara und Susan verabredet hat, heute nachmittag ins Kino zu gehen. Sie wird sie anrufen und es verschieben, bis Billie fort ist. Rosemary nimmt abrupt die Hand von Billies Brust. »Was ist los?« Aber Rosemary kann Billie nicht erzählen, daß sie Angst hat, alleine zu sein, nicht unbedingt in der unmittelbaren Zukunft, aber auf lange Sicht. Alt und alleine. Krank und einsam. Heute morgen will ihr scheinen, daß Leute, die sie immer als bemitleidenswert abgetan hatte, womöglich recht hatten. Bleib verheiratet und lebe länger. Bleib zusammen und lebe. Demnächst werden sie es auf Autoaufkleber drucken. Nun hör schon auf, sagt sich Rosemary. Du schaffst dir eine Katze an, und du schaffst es schon. Oder einen Hund, wenn's sein muß. Ein Hund freut sich immer so, wenn du von der Arbeit nach Hause kommst. Sie braucht einen Drink. Sie weiß, daß Alkohol ein Sedativum ist, aber ehrlich gesagt, auf kurze Sicht erfüllt er durchaus seinen Zweck. Glücklicherweise gab es noch eine Flasche Sekt im Kühlschrank. Sie öffnet sie und reicht Billie ein Glas. »Auf deine Reise«, sagt sie und trinkt. »Prost, Geliebte«, sagt Billie. Und Rosemary erinnert sich daran, daß sie lieber tot wäre, als in Handschellen und als Zweiergespann zum Grab zu tapsen.
Rosemary ruft Sara und Susan an, und Billie geht ins Bett, um auf sie zu warten. Als sie den Badeanzug auszieht, breiten sich überall Spuren vom Strand aus. Billie bemüht sich, sie, so gut es geht, wieder einzusammeln. Rosemary wird es bestimmt merken, aber sie tut es nicht, oder jedenfalls beklagt sie sich nicht, denn Sand im Bett ist gar nichts verglichen mit dem Dorn des Selbstzweifels, der an ihr nagt. Statt dessen denkt Rosemary, als sie die Beine spreizt, daß sie einen Krebsabstrich machen lassen sollte, denn der letzte ist schon lange her. Billie schaut auf und lächelt ihr strahlendes Lächeln, bei dem Rosemary immer das Herz stehenbleibt.
»Es ist weg: dein kleines, silbernes Haar. Es war so hübsch, ich mochte es sehr.« Rosemary fragt sich, warum Billie es wohl mochte. Sie möchte wissen, ob es sie auch an ihre Mutter erinnert, will aber nicht fragen.
Am Ende der Siebenuhrnachrichten auf ABC schauen sie sich den Wetterbericht an, und Rosemary wünscht sich insgeheim, daß es nirgendwo auf der Landkarte Regen gäbe, denn ihr Kopf ist voll von Bildern tragischer Schleudermanöver und dem verbeulten Chrom von Motorrädern, die im Regen herumwirbeln.
Billie braust die gebührenpflichtige Autobahn nach Norden entlang und denkt über gestern nachmittag und die letzte Nacht und Rosemary nach. Ihr fallen all die öden Schwärmereien ein, die ihre Freundinnen für ältere Frauen hatten und sogar immer noch haben, alle heiß, unerwidert und letztlich beschämend, und hier war sie: angebetet, akzeptiert, sexy und sicher in den Armen der Erfahrung. Nicht, daß es immer leicht wäre. Manchmal fühlte sich Billie unsicher. Wie etwa auf der Party, kurz bevor sie der Abordnung von Rosemarys Freundinnen gegenübertreten sollte: den Vorsitzenden von Untersuchungskommissionen von denen gab es jede Menge - den Ärztinnen, Anwältinnen, Künstlerinnen, Akademikerinnen und dergleichen, und sie nur auf den Haufen Kleider vor sich starren konnte und in Panik geriet, was sie anziehen sollte. Was würden sie tragen? Die von den Kommissionen, zum Beispiel. Trugen sie ihre Schulterpolster auch auf Partys oder nur zum Mittagessen? Wahrscheinlich trugen sie sie auch im Bett. Sie konnte sich vorstellen, wie sie alle zahnlos murmelnd auf der Veranda irgendeines zukünftigen Altersheims für verwelkte Feministinnen aufgereiht waren und die dürren Arme weit auseinanderwarfen, um ihre bebende Behauptung zu untermalen, daß sie einmal Schulterpolster getragen hatten, die so groß waren.
Billie hatte schließlich einen schwarzen Minirock und ein Oberteil aus ihrem Stapel gezogen, ihr einziges Paar geile Pumps gefunden, das Haar mit Gel zurückgekämmt, den Nasenstecker wieder eingesetzt und sich unter die Partygäste gesellt. Nur um sofort von zwei kalten Augenpaaren bemerkt, herausgefordert zu werden - einem grünem und einem blauen, und welches Susan und welches Sara gehörte, war Billie scheißegal. Sie hatten in der Küche herumgeturtelt und dabei die blauen Terrazzoarbeitsflächen bewundert, als Rosemary mit Billie hinübergegangen war, um sie einander vorzustellen. Ihr vereinter Blick, dachte Billie, hatte besagt, daß Rosemarys neue Küche ein Traum, ihre neue Geliebte aber ein schwerer Geschmacksverstoß war.
»Billie. Billie? Ist das eine Abkürzung von Wilhelmina?«
Billie war nach einer englischen Schauspielerin benannt worden, die ihre Mutter bewundert hatte. Billie fand es einen ausgezeichneten Namen, obwohl sie zuweilen Schwierigkeiten damit gehabt hatte, in der Schule zum Beispiel. Mit solch offenem Gerede konnte sie umgehen, aber der eisige Müll, den die beiden hier austeilten, war nicht so einfach. Wie hätte Rosemary es wohl verkraftet, wenn sie begonnen hätte, ihre dürren Freundinnen in altbewährter Spielplatzmanier durch die Küche zu schleudern?
Billie hatte ihnen erzählt, daß ihre Mutter den Namen in dem Augenblick ausgesucht hatte, als Billie in die Welt gepurzelt kam und der Arzt sie hochgenommen und gesagt hatte: »Herzlichen Glückwunsch, es ist eine prächtige, stramme Lesbe!« Billie hatte beobachtet, wie die feinen Linien der Verwirrung auf Saras und Susans Gesichtern sich langsam zu einem knappen und ordentlichen Lächeln arrangierten, bevor sie sich höheren Dingen zuwandten: Ob es wirklich notwendig sei, ein Bidet zu installieren, und sie kamen zu dem Schluß, daß es, ja, absolut notwendig war, Gespräche über Inneneinrichtung langweilten Billie. Rosemary hing immer über Heften von Vogue Living oder Interiors. Einmal hatte Billie Rosemary in der Badewanne gefunden, wie sie eine Ausgabe von Vogue Interiors las samt einer Sonderbeilage über Küchen. »Oho, Hausporno!« hatte sie geflüstert, ihren Rock gehoben und sich gerieben, um das Gesagte zu erläutern, und Rosemary hatte sie zu sich ins Bad gezogen und die Sache zu Ende geführt, während um sie herum europäische Herdplatten und Eismaschinen baden gingen.
Billies Mutter, die am Ende dieser langen Straße auf sie wartet, hat kein Geld, und auch Billie hat noch keines, aber sie beabsichtigt, das zu ändern. Billies Mutter klammert sich törichterweise, obwohl sie diesem Alter längst entwachsen ist, noch immer ans Hippiedasein und hat kein Geld, aber sie hat einen zerbeulten Holden-Kingswood-Lieferwagen. Außerdem hat es in ihrem Leben eine Reihe von Männern gegeben, von denen sie jeweils als »mein Alter« sprach, was für Billie einst merkwürdig geklungen hatte, aber jetzt auf diese alten Männer mit ihren mickrigen, grauen Pferdeschwänzen wörtlich zutraf. Billie läßt sich die Frage des Geldes und die Haltung ihrer Mutter dazu durch den Kopf gehen. Es genügte einfach nicht, so lässig mit Geld umzugehen. Billie konnte nicht verstehen, wie irgendeine Frau so bereitwillig Machtlosigkeit akzeptieren konnte, aber ihre Mutter schien beinahe stolz darauf. »Ich bin nunmal ein Kind der Sechziger«, pflegte sie dann zu sagen, so als ob das etwas wäre, dessen sie sich rühmen könnte. Geld ist gleichbedeutend mit Macht und Freiheit, glaubt Billie, aber es mußte andere Wege geben, an Geld zu kommen, als sich seinen Weg dem Licht entgegenzukrallen, das durch die Glasdecke im oberen Stockwerk irgendeiner männlichen Institution schien. Billie will keine Gleichberechtigung, Billie will eine andere Welt.
In ihren letzten beiden Schuljahren waren unter intelligenten, jungen Frauen zwei Krankheiten weit verbreitet: Magersucht und der brennende Wunsch, Anwältin zu werden. Jura gehörte nicht zu Billies längerfristigen Ambitionen, aber als ihr Abschlußzeugnis gut genug war, um die Wahl zu haben, hatte sie sich doch dafür entschieden und das Studium als leicht und mechanisch empfunden, nachdem sie einmal den Dreh heraushatte. In ihrem zweiten Studienjahr war sie überhaupt nicht mehr zu den Vorlesungen gegangen. Statt dessen war sie mit ihrer Geliebten Robin, die einen Dokumentarfilm über Aids drehte, nach Uganda gereist. Dort waren sie in einem Dorf im Norden des Landes auf eine alte Frau mit magischen Kräften gestoßen, die ein großes Loch in den Boden gegraben und dort ein Aids Behandlungszentrum aufgemacht hatte. Die Kranken bekamen eine Handvoll Erde und wurden wieder fortgeschickt, Auch nicht so viel anders als bei uns, denkt Billie. Sie legt eine Madonna-Kassette ein und dreht die Lautstärke auf. Billie liebt es, Madonna in ihrem Helm zu haben.
Keine Bullen weit und breit. Sie gibt Gas. Wrrumm, saust sie davon. Der Wind peitscht das Lachen von Billies Lippen. Auf geht's, Billie, auf!
Rosemary ruft die Schädlingsbekämpfungsfirma an und verabredet einen Termin für die kommende Woche. Beim Saubermachen nach der Party hatte sie im Mikrowellenherd eine ganze Familie von kleinen, hellbraunen Kakerlaken gefunden. »Deutsche Kakerlaken sind das«, sagt der Mann am Telefon, und Rosemary ist noch eifriger darauf bedacht, sie auszurotten. Dann fährt sie zur Universität hinaus, nicht weil sie unbedingt müßte - Rosemary hat sich entschieden geweigert, in diesen Ferien einen Sommerkurs zu unterrichten - sondern um ihren Stuhl abzuholen und zu sehen, was ihre Freundin Daphne so treibt. Sie nimmt den kleinen, übelriechenden Lift ins Souterrain des Soziologie-Instituts und geht den Korridor entlang. Wie immer ist die Hälfte der Lampen aus, weil die Birnen entweder kaputt sind oder fehlen. In diesem Verlies geht nicht viel vor sich, obwohl der Parkplatz fast voll war und sie die Autos einiger Kollegen erkannt hatte.
Ein starker Geruch nach Zigarettenqualm, der unter einer fest verschlossenen Tür hervorkommt, verrät, daß Daphne in ihrem Zimmer an der fensterlosen Seite des Korridors arbeitet. An der Tür hängt ein Schild mit der Aufschrift: Überall erkennen Frauen aufs neue die Göttin. Hatte ihr das jemand zu Weihnachten geschenkt? War Daphne zu Weihnachten aus ihrem Büro hervorgekommen? Rosemary war sich da nicht so sicher. Zu Neujahr kam sie nie hervor; Rosemary fragte sie jedes Jahr, und jedes Jahr weigerte sie sich. Jemand könnte den Flur entlanggeschlichen sein und das Schild als Überraschung angebracht haben, Nun, denkt Rosemary, während sie nach dem Schlüssel zu ihrer Bürotür sucht, wenigstens braucht sich Daphne nie Sorgen über Hautkrebs zu machen.
Ihr Büro ist stickig und in dickes, gelbes Licht getaucht. Die Bücherregale quellen über. Kisten mit Büchern und Papieren, die an der Wand gestapelt sind, warten darauf, daß sie etwas mit ihnen anfängt. In der Ecke, teils durch die Tür verdeckt, liegt ein Haufen internationaler Zeitschriften: bröcklig und vergilbt, ungelesen.
Sie überfliegt ihre Post, aber nichts Wichtiges ist dabei. Dann verstellt sie die Jalousien, um das grelle Licht abzublenden, schiebt ihren Stuhl ans Fenster, setzt sich eine Minute hin und starrt auf die staubigen, einheimischen Pflanzen in den unansehnlichen Betonkübeln, die die erbärmliche Fläche umsäumen, die von jenen Schwachköpfen, die das Gebäude entworfen hatten, als unterer Innenhof bezeichnet wurde. Rosemary dreht sich auf ihrem Stuhl um, um die Feuergefahr hinter der Tür ins Auge zu fassen. Was sollte sie damit anfangen?
Früher einmal hatte Rosemary all diese Zeitschriften gelesen, jede einzelne und Wort für Wort, aber sie hat es aufgegeben, denn je mehr sie liest, desto mehr bekommt sie das Gefühl, daß ihr alles schon einmal begegnet ist. Soviel zu den Leuten, die die Vergangenheit nicht kennen und daher dazu verdammt sind, sie zu wiederholen - was war aber mit denen, die die Vergangenheit nur allzu gut kannten und dennoch dazu verdammt waren, sie zu wiederholen? Dort hinter der Tür lugten all die alten Themen hervor: Gleichberechtigung, Lohngleichheit, Abtreibung, Zensur, Todesstrafe, Rassismus, Sexismus. Warum sollte Rosemary das, was ihr noch verblieb vom Leben - und danach, wie die komische Stelle an ihrer Lippe sich auszubreiten schien, war das womöglich gar nicht mehr so lang - damit verbringen, diesen Leuten zuzusehen, wie sie durch das ausgetretene Dickicht des Déjà-vu trampelten, um einen Wald von Schlußfolgerungen, die von vornherein feststanden, zu erreichen? Besser war es, einfach ihren Stuhl zu nehmen und zu gehen.
Aber zunächst noch Daphne.
Rosemary geht zu ihrer Tür. Klopft. Ein polterndes Geräusch, dann Stille. Rosemary öffnet die Tür. Daphne kauert grau und unwirsch zwischen überquellenden Aschenbechern. »Was willst du?« Eigentlich hätte Rosemary sie gerne um Hilfe mit ihrem Stuhl gebeten, aber sie wußte, daß einer solchen Bitte nur Mißerfolg beschieden wäre. »Nichts.« »So, und was machst du dann hier?« »Nun, ich dachte nur ... wenn es irgend etwas - du weißt schon - irgend etwas gibt, das ich tun kann, einfach ...« Rosemarys Stimme wird immer leiser beim Aufzählen einer ganzen Liste von wenig wahrscheinlichen Dingen, die sie für Daphne tun könnte. »Aha, verstehe. Nun, es gibt nichts. Danke.« Letzteres sehr unwirsch. Ach, hol dich doch der Teufel, denkt Rosemary, lächelt höflich, als sie die Tür zuzieht, nimmt ihren Stuhl und fährt nach Hause, um zu sehen, wie die Kakerlaken ihre letzten Tage verbringen.