Heutzutage ist Miss Marple allgemein bekannt. Auch denjenigen, die noch nie einen Kriminalroman von Agatha Christie gelesen haben, ist diese Figur ein Begriff, vielleicht sogar eher als Hercule Poirot, Lord Peter Wimsey oder Chandlers Philip Marlowe. Tatsächlich gibt es in der Welt der Kriminalliteratur nur eine Gestalt, die noch berühmter ist: Sherlock Holmes, der stärker als Miss Marple in die Alltagssprache einging, und zwar nicht nur als Name für eine literarische Figur, sondern auch für eine bestimmte Art des Handelns, Denkens und Verhaltens. Sicherlich ist Miss Marple, wie Michael Cavie am 27. Dezember 1987 in der Londoner Zeitung Observer feststellt, der bekannteste weibliche Detektiv - nicht zuletzt wegen ihres Weiterlebens auf Bühne und Bildschirm: am Weihnachtsfeiertag vor dem Erscheinen des Artikels hatte die halbe britische Nation im Fernsehen 16 Uhr 50 ab Paddington gesehen. Am Weihnachtstag 1989 sah ein ebenso großes Publikum in BBC 1 Karibische Affäre, einen Film, in dem Chris Petit Regie führte und Miss Marple von der 84jährigen Joan Hickson dargestellt wird. Diese Schauspielerin kommt nach Meinung der Familie Christie der Vorstellung der Autorin von ihrer Heldin am nächsten und gilt nun offenbar allgemein als die definitive Miss Marple. Karibische Affäre ist der letzte Film in einer Reihe, die Agatha Christies altjüngferliche Detektivin berühmt und bei Millionen von Menschen beliebt gemacht hat.
Vor Joan Hickson verlief Miss Marples Karriere auf der Bühne und in Film und Fernsehen eher Wechsel voll, und offenbar mußte erst die BBC mit ihrem Geschick bei der Besetzung und bei der Darstellung der Zeitatmosphäre kommen, bevor Miss Marple auf zufriedenstellende Weise vom geschriebenen Wort ins Bild übertragen werden konnte. Was die Bühne angeht, so war ihr erfolgreichster Auftritt wohl in einer Dramatisierung von The Murder at the Vicarage, die Agatha Christie selbst besorgt hatte. Es handelte sich um eine Produktion von Moie Charles und Barbara Toy, die im Dezember 1949 im Londoner Playhouse Theatre Premiere hatte und vier Monate lang lief. Barbara Müllen trat in der Rolle der Miss Marple auf, und die Regie bei diesem Stück hatte Reginald Täte, der auch Laurence Redding spielte. Laut Charles Osborne (C. Osborne, The Life and Crimes ofAgatha Christie, 1982, S.55) war das Stück an einen zeitgenössischen Nachkriegsschauplatz versetzt worden, was seiner konservativen Flucht vor der Wirklichkeit sicherlich einen modernen Anstrich verlieh. Das Stück wurde von Laienensembles und Repertoiretheatern regelmäßig gespielt und in London 1975 auf der Bühne des Savoy Theatre wiedererweckt, erneut mit Barbara Müllen in der Rolle der Miss Marple. Dieses Mal lief das Stück zwei Jahre lang, ein eindeutiger Erfolg, wenn auch ein kleiner im Vergleich zu Die Mausefalle. Auch Ein Mord wird angekündigt fand 1975 den Weg auf die Bühne, war aber weniger erfolgreich, denn seine komplizierte Handlung enthält viele Charaktere, die einander auf der Bühne verwirrend ähneln. Der etwas unglaubhafte Schluß, bei dem Miss Marple die Stimme einer toten Frau aus einem Schrank nachahmt, wirkte laut Osborne lediglich komisch, und auch in der Verkörperung der Miss Marple sah er eine unglückliche Mischung aus Hilda Doolittle und einer aufdringlichen Großmutter und nicht die aufmerksame, kluge, damenhafte Detektivin aus den Romanen.
Die offenbar häufiger auftretenden Probleme bei der Darstellung Miss Marples auf der Bühne und im Fernsehfilm hängen vielleicht mit der Schwierigkeit zusammen, das Alter in der Komödie darzustellen. Bis zu einem gewissen Grad hat Agatha Christie durch ihre Beschreibung einer zittrigen alten Dame, deren Unschlüssigkeit und ständiges Abweichen vom Thema einen kühlen, scharfen Verstand maskieren sollen, selbst zum Klischee der lächerlichen alten Närrin beigetragen. Margaret Rutherford, die erste Verkörperung von Miss Marple auf der Kinoleinwand und ihre Darstellerin in den vier MGM-Filmen der frühen Sechziger Jahre, betonte die lächerlichen Elemente dieser Figur, erfaßte aber zweifellos auch die Ruhe und Geistesschärfe, die in den Romanen angelegt ist. Rutherford war sehr viel herrischer und rechthaberischer als die Miss Marple der Romane, was in 16 Uhr 50 ab Paddington (engl. Murder, She Said, 1961), dem ersten der MGM-Filme, besonders deutlich wird. Unter der Regie von George Pollock spielte Margaret Rutherford die Miss Marple als energische, exzentrische und etwas verwirrte alte Jungfer von sechzig Jahren mit der Ausstrahlung eines Generals, die, anders als ihr gebrechliches Gegenstück im Roman, keine Lucy Eyelesbar-row benötigt, die ihr die Spurensuche abnimmt. Sie läßt sich als Haushälterin im Hause Crackenthorpe anstellen, wo sie das Geschehen in einer Weise beherrscht, wie das bei Miss Marple im Roman keineswegs der Fall ist. Die Times kommentierte, es sei ein anspruchsloser Film geworden, der aber »den ungeheuren Vorteil hat, daß die Handlung von einem Experten geschrieben ist. Vielleicht nicht gerade eine klassische Agatha Christie, aber doch so genial wie immer, mit einer Fülle echter und falscher Fährten«. Tatsächlich hatte Agatha Christie das Drehbuch gar nicht selbst geschrieben und fand es »ziemlich schlecht«: »Ich hätte es viel aufregender machen können« (J. Morgan, Agatha Christie, 1984, S.328). Dennoch widmete sie ihren nächsten Roman Mord im Spiegel Margaret Rutherford, weil sie in 16 Uhr 50 ab Paddington zumindest eine vergnügliche Vorstellung geboten hatte, wenn sie auch »Miss Marple nicht sehr ähnlich« war (ebd., S.335). Aber den nächsten Marple-Film der MGM, Der Wachsblumenstrauß (Murder at the Gallop), fand Agatha Christie »unglaublich dumm«; er basiert auf dem im Deutschen gleichnamigen Poirot-Roman (engl. After the Funeral). Miss Marple, die die Stelle von Poirot einnimmt, sich in einer Reitschule einquartiert, um den Tod eines älteren Eigenbrötlers zu untersuchen. Der Stil dieser Komödie paßt zwar zu der derben und übertriebenen Art der Schauspielerei von Margaret Rutherford, ist aber in keiner Weise eine getreue Wiedergabe der Romanfigur. Die Times fand, daß »das Ganze bestens dazu geeignet ist, Ausländer wieder einmal davon zu überzeugen, daß alles, was sie über die Engländer gehört haben, absolut richtig und nur etwas untertrieben ist«. Das gleiche Rezept von Pollock-Rutherford, Marple statt Poirot, wurde in einem dritten Film wiederholt, Vier Frauen und ein Mord, der sich vage an dem im Deutschen gleichnamigen Roman (engl. Mrs. McGinty's Dead) orientiert. Über den englischen Filmtitel Murder Most Foul [Ein äußerst scheußlicher Mord] sagte Agatha Christie: »Können Sie sich einen banaleren Titel vorstellen?« Aber für den nächsten Marple-Film, Mörder Ahoi! (Murder Ahoy!, 1964), schrieben David Pursall und Jack Seddon ein Originaldrehbuch, in dem Miss Marple sich an einem äußerst unwahrscheinlichen Schauplatz wiederfindet - auf einem Ausbildungsschiff der Royal Navy. Agatha Christie war entsetzt: »Daß eigene Romanfiguren in den Film eines anderen eingebaut werden, erscheint mir ungeheuerlich und in höchstem Maße unmoralisch« (ebd., S.335). Der Kritiker der Times bemerkte, daß »Marple-Fans Einwände haben dürften, aber Rutherford-Fans nicht«. Die Entwicklung zur Posse und die Überschattung einer Romanfigur durch die Persönlichkeit der Schauspielerin endete 1964, als der Vertrag mit der MGM aufgelöst wurde, weil Agatha Christie schließlich empört war über den Vorschlag, Poirot in »eine Art Gorilla oder Privatdetektiv« zu verwandeln, »sehr gewalttätig und brutal« (ebd., S.337). In einem vielzitierten Interview mit Francis Wyndham 1966 brachte sie ihr unverblümtes Mißfallen über die Behandlung ihrer Romane durch die MGM zum Ausdruck:
Ich habe mich jahrelang von Filmen ferngehalten, weil ich dachte, daß sie mir zuviel Kummer machen würden. Dann verkaufte ich die Rechte an die MGM in der Hoffnung, sie würden sie fürs Fernsehen nutzen. Aber sie entschieden sich für Kinofilme. Es war einfach schrecklich! Sie nahmen zum Beispiel einen Poirot-Roman und bauten Miss Marple ein! Und die Höhepunkte waren so schwach, man konnte sie schon meilenweit kommen sehen! Der Gedanke daran, daß die Filme keinen Erfolg haben, bereitet mir sündhafte Genugtuung. Für den letzten, Mörder Ahoi!, haben sie ihr eigenes Drehbuch geschrieben, mit dem ich überhaupt nichts zu tun habe. Einer der dümmsten Streifen, die jemals gedreht wurden! Ich darf mit größtem Vergnügen sagen, daß er sehr schlechte Kritiken bekam. (Zit. in C. Osborne 1982, S.203)
Es gab noch zwei weitere Versuche mit Miss Marple-Spielfilmen, ehe die Romane zu einer BBC-Fernsehserie verarbeitet wurden. Das Team, das Tod auf dem Nil und Mord im Orientexpress produziert hatte, versuchte einen entsprechenden Kassenschlager auch mit Mord im Spiegel (1980) unter der Regie von Guy Hamilton. Der Erfolg der früheren Filme lag teilweise an der packenden Handlung, aber mehr noch am Einsatz bekannter Stars wie Peter Ustinov, Bette Davis, Jacqueline Bisset und Lauren Bacall, oft in Nebenrollen, und den luxuriösen und nostalgischen Schauplätzen eines Vorkriegs-Nildampfers und einer internationalen Eisenbahn. Das gleiche wurde in Mord im Spiegel versucht; die wohlhabende, neurotische Schauspielerin in ihrer fünften Ehe wird treffenderweise von Elizabeth Taylor gespielt, Rock Hudson ist ihr gegenwärtiger Ehemann. Geraldine Chaplin, Kim Novak und Tony Curtis haben kleinere Rollen, und Edward Fox ist der Polizeiinspektor. Angela Lansbury spielt Miss Marple, vielleicht etwas jung und rundlich (in den Romanen wird Miss Marple als groß und dünn beschrieben), aber nicht unannehmbar, außer daß sie von dem schlechten Drehbuch und dem recht langsamen und beschaulichen Fortschreiten der Handlung behindert wird.
Der letzte Marple-Film, Karibische Affäre, wurde fürs Fernsehen gedreht, mit Helen Hayes als einer noch niedlicheren Miss Marple. Sogar ein gewisses romantisches Interesse wird angedeutet, sowohl bei dem Mordopfer Major Palgrave, der hier kein Glasauge mehr hat, als auch bei Mr. Rafiel, der nicht der todkranke Mann aus dem Roman ist, sondern sich in einen springlebendigen, blumenstraußschwingenden Verehrer verwandelt hat. Am wenigsten Christie-ähnlich ist die Stelle, als Miss Marple für ein Maskenfest ein Piratenkostüm anlegt.
Im Vergleich zu diesen verschiedenen grotesken und possenhaften Verarbeitungen hält sich die Fernsehserie der BBC erfrischend nahe an die Romanvorlagen und gibt auch auf geschmackvolle Weise eine plastische Schilderung vom Leben der gutbürgerlichen Mittelschicht in einem kleinen Dorf, dem üblichen Schauplatz der Romane. Neben den Fernsehbearbeitungen von drei Lord Peter Wimsey-Romanen Dorothy L. Sayers', den Albert Campion-Romanen Marjorie Allinghams und einigen von Agatha Christies Poirot-Geschichten paßt auch die Marple-Fernsehserie in die gegenwärtige nostalgische Sehnsucht nach der Zeit zwischen den Weltkriegen und der Nachkriegszeit, und sie bestätigt außerdem die anhaltende Beliebtheit des klassischen Detektivromans.
Die Atmosphäre der Marple-Serie in der BBC zeigt sich schon in der wehmütig-fröhlichen Kennmelodie und den gezeichneten Illustrationen, die den Vorspann begleiten. Joan Hicksons Miss Marple ist eine ernste, in Tweed gekleidete Dame mit leiser Stimme, die gelegentlich auf vornehme Art etwas verwirrt und unlogisch wirkt, aber die Zuschauerinnen dennoch von ihrer Intelligenz und moralischen Stärke überzeugen kann. Joan Hicksons besonderer Beitrag zur Anlage der Figur ist ihr kluger, forschender Blick, bei dem sie den Kopf zur Seite neigt, was vielleicht einen eindringlicheren und beunruhigenderen Eindruck macht als Miss Marples Blick, wie er in den Romanen beschrieben wird. Bisher gibt es zehn filmische Umsetzungen, und alle halten sich eng an Agatha Christies Dialoge, die allgemein als eine ihrer größten Stärken gelten. Bei den Änderungen im Handlungsablauf wurde darauf geachtet, den Zuschauerinnen die wesentliche Linie der detektivischen Untersuchung deutlich vor Augen zu führen, so daß beispielsweise in Mord im Pfarrhaus die Nebenhandlungen um Dr. Stone und Griseldas Affäre mit Redding gestrafft wurden. Im Gegenzug wird der dörfliche Schauplatz in liebevollen Einzelheiten vorgeführt, mit Aufnahmen von der Kirche, Mrs. Lestranges Haus und Miss Marple selbst in ihrem Garten, der sich behaglich nah am Pfarrgarten mit dem Künstleratelier befindet. Die komische und unangebrachte Feindseligkeit, die Inspektor Slack Miss Marple gegenüber zeigt, wird aus Die Tote in der Bibliothek (dem ersten ausgestrahlten Teil) in diese Folge übernommen und erhält in dem späteren Ein Mord wird angekündigt noch eine Variante durch Inspektor Craddocks Mißtrauen und seine letztliche Kapitulation. In der Fernsehfassung von Bertrams Hotel entfaltet die Nostalgie ihre volle Wirkung in den langsamen Eröffnungsszenen, wo die Zuschauerinnen die ehrwürdige Einrichtung, den perfekten Service und die für das England König Eduards VII. typischen Speisen dieses betrügerischen Hotels genießen dürfen (»altmodischen Beefsteak-Pudding ... große Rinderlenden und Hammelrücken, auf altmodische Art zelebrierten englischen Tee und ein wunderbares englisches Frühstück«). Ebenso erfolgreich, vor allem durch die ausgezeichnete Besetzung, ist Alibi, bei dem Alan Plater für die Adaption und David Giles für die Regie verantwortlich zeichneten.
In gewisser Hinsicht sind die Fernsehfassungen der BBC sogar noch wirkungsvoller als die Romane. Während sie sich an die Romanhandlung halten und den Schauder der klassischen Detektivgeschichte nicht unterschlagen - die Bedrohung des Eigentums, die saubere Gewalt des Mordes, der unbekannte Verbrecher mitten unter uns und die Störung der etablierten Ordnung -, bemühen sich diese Bearbeitungen vor allem um Zeitkolorit, ein Anspruch, den die Romane nicht verfolgen. Das gibt den Verfilmungen eine zusätzliche Dimenson von Nostalgie und Sicherheit. Zum traditionellen Spaß an der detektivischen Handlung kommt noch das visuelle Vergnügen an Autos und Kleidern aus einer vergangenen Zeit, an Häusern ohne Fernsehantennen (ein hübsches Detail), an den Menschentypen, von denen wir glauben, daß es sie damals gab, insbesondere aber an dem Charakter der alten Dame, die jedermanns Lieblingstante oder -oma ist. Wo die Romane eine Phantasie der Wiederherstellung von Ordnung durch den Einsatz von Logik und Kategorisierung bieten, wird diese Phantasie durch den »Realismus« der Fernsehfassungen noch verstärkt. Das Fernsehen gibt, insbesondere mit den hochwertigen Produktionen, die die Marple-Serie so beliebt machten, der unwirklichen Welt des Kriminalromans Substanz. St. Mary Mead ähnelt einem wirklichen Dorf und nicht dem klischeehaften Schauplatz, den Agatha Christie lediglich als notwendigen Ausgangspunkt für die Handlung verwendet hat. Das Dorf ist vielleicht ein sentimentales Produkt unserer Einbildung, aber das Fernsehen macht uns dieses Bild in der Bequemlichkeit des eigenen Wohnzimmers anschaulich, zerstört es kurzfristig durch die Taten eines Verbrechers und setzt es dann vor unseren Augen in all seiner gedachten Harmonie wieder zusammen, ohne daß der mühsame und drstanzierende Akt des Lesens dazwischenliegt. Die Vorstellung vom Detektiv im Lehnstuhl hat eine neue Dimension bekommen.
Miss Marple lebt nicht nur in den Fernsehbearbeitungen weiter, sie hat außerdem noch ein indirektes Nachleben in der Entwicklung der Frau als Detektivin im Kriminalroman nach dem Zweiten Weltkrieg, besonders seit Beginn der 70er Jahre. Wie wir im ersten Kapitel erläuterten, machten die Autorinnen in der Zeit zwischen den Weltkriegen aus dem Detektivroman ein Genre, das ihnen entsprach. Obwohl keine der bekannten Kriminalautorinnen jener Zeit -Christie, Sayers, Marsh und Allingham - eine erklärte Feministin war, übernahmen sie Sichtweisen, die der Feminismus und die durch den Krieg veränderten Lebensbedingungen für Frauen hervorgebracht hatten. In der Kriminalliteratur fanden sie ein Genre, das an häuslichen, fest umrissenen Schauplätzen gedieh: einer Familie, einem Dorf oder einer ähnlich geschlossenen Gemeinschaft (wie etwa dem Frauen-College in Dorothy L. Sayers' Aufruhr in Oxford). Innerhalb des augenscheinlichen Realismus und der Ehrbarkeit dieser »weiblichen« Welten konnten Agatha Christie und andere Schriftstellerinnen die Faszination der Gewalt und des Bösen und, was noch wesentlicher war, die kontrollierende Macht der Rationalität über Ereignisse und die Schicksale anderer Menschen zur Geltung bringen. Für sie war der Kriminalroman ein Genre, das neue Möglichkeiten eröffnete: Er war rational, humorvoll, befreit von den Verstrickungen des Liebesromans und ein intellektuelles Unternehmen, das es zu erobern galt, um den Männern Konkurrenz zu machen.
Seit jener Zeit hat es eine zweite feministische Bewegung gegeben, und in ihrem Kielwasser scheinen wiederum Frauen im Kriminalroman ein Werkzeug zu sehen, mit dem sie Vorstellungen über Macht und Moral erproben können. Die diesbezügliche Attraktivität des Kriminalromans ist kaum überraschend, denn er ist ein Genre, das sich »intensiv damit beschäftigt, wie gesellschaftliche Regeln etabliert und durchbrochen, wie Schuld und Verantwortung zugemessen werden und wie Prozesse des Richtens und Bestrafens ablaufen« (A. Hennegan, in J. Green 1989, S.3). Alison Hennegan zufolge werden Frauen von der Rechtsordnung selten gerecht behandelt -»nur zu oft gilt ein Recht für Männer und ein anderes für Frauen« -, und daher erscheint eine natürliche Gerechtigkeit, die sowohl der Sünde als auch dem Verbrechen Rechnung trägt, als besonders reizvoll. Der Kriminalroman, der von den Fesseln des Rechtssystems nicht behindert wird, kann die Streitpunkte behandeln, die außerhalb des Gesetzes oder im Gegensatz zu ihm stehen, oder die vor Gericht als unerheblich gelten. Hennegan schreibt, daß sich »zu jedem Punkt, bei dem weibliche Bedürfnisse und Erfahrungen im Widerspruch zu den von Männern gemachten Gesetzen und Systemen stehen, eine weibliche Kriminalautorin finden läßt, die diesen Konflikt untersucht«.
Auch wenn Agatha Christie dieser feministischen These sicher nicht zugestimmt hätte, stellen ihre Romane, wie intellektualisiert und konservativ die Ermittlungen auch verlaufen mögen, das Verbrechen oder die sozialen Umstände, unter denen es geschah, aus Frauensicht dar. Agatha Christies Miss Marple-Geschichten bemühen sich um natürliche Gerechtigkeit, und das ist der Grund, warum wir Miss Marple noch einmal unter einem weiteren Gesichtspunkt betrachten und sie zu den Detektivinnen aus den Romanen der jüngsten Phase der feministischen Bewegung in Verbindung setzen wollen. Es sind ihre Töchter, Enkelinnen und Urenkelinnen, in denen sie ebenfalls weiterlebt.
Was die englischen Kriminalautorinnen angeht, so sind die modernen Nachfolgerinnen von Agatha Christie ganz offensichtlich Ruth Rendell und P.D. James, nicht zuletzt, was die Beliebtheit und den kommerziellen Erfolg angeht. Diese beiden Autorinnen erweitern das Feld des Detektivromans um die psychologische Komplexität ihrer Charakterdarstellung und den sozialen Realismus, der den Hintergrund des Verbrechens bildet. Das spielerische Element wird weniger betont als bei Agatha Christie, und ihre Romane sind sehr viel umfangreicher und »ernsthafter«, als die Romane Christies jemals sein wollten. P.D. James' Roman Vorsatz und Begierde (engl. 1989) ist beispielsweise im Englischen 407 Seiten lang, und die Handlung dreht sich um ein Kernkraftwerk. Wer den/die Mord/e begangen hat, ist in dieser Geschichte weniger wichtig als die Diskussion über Kernkraft und verschiedene gesellschaftliche Themen, insbesondere die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, ein Aspekt, der P.D. James immer wieder beschäftigt.
Adam Dalgliesh ist der Detektiv in diesem Roman von P.D. James, und er ist offensichtlich ihr wichtigster und liebster Detektiv. Allerdings hat P.D. James, anders als Ruth Rendell, auch für Frauen als Detektivinnen Platz gefunden, und eine von ihnen, Cordelia Gray, die zum ersten Mal in dem passend betitelten An Unsuitable Jobfor a Woman (1972) erscheint, kann als eine der ersten neuen »feministischen« Detektivinnen der modernen Zeit bezeichnet werden, zumindest, soweit es die englische Literatur betrifft. Wie Shakespeares Heldin ist Cordelia die mutterlose Tochter eines egozentrischen Vaters, eines herumziehenden Anarchisten, der ihr eine ungewöhnliche, desorganisierte Kindheit bescherte. Sie hat auch zwei detektivische Väter: den gescheiterten Polizisten Bernie, der ihr die ersten Grundlagen der Detektivarbeit beibrachte und ihr eine Detektivagentur hinterließ, und natürlich Commander Adam Dalgliesh. Dalgliesh bildet mit seiner intuitiven, intellektuellen, distanzierten und eher sanften Arbeitsweise Cordelias Maßstab für einen guten Detektiv, auch wenn ihre eigenen Methoden impulsiver, gefühlsorientierter und der Gewalt zugeneigter sind als die seinen.
Cordelia Gray ist wesentlich mehr als Miss Marple eine verletzliche, fehlbare Detektivin; sie führt die von Agatha Christie begonnene Entwicklung fort, die Detektivin auf ein vertrautes Maß zurechtzustutzen und sie den gewöhnlichen Menschen anzunähern. Cordelia hat weniger Kontrolle über die Ereignisse als Miss Marple, und die Indizien sind ihrer Vernunft weniger leicht zugänglich. In^4n Unsuitable Job for a Woman wird sie in einen Brunnen geworfen, und in Ende einer Karriere (engl. 1982) landet sie in einer Meereshöhle, und beide Romane enden sowohl mit ihrem Sieg als auch mit ihrer Niederlage. Hat sie Erfolg, dann keinesfalls in der Art wie die allwissende Miss Marple. Sie ist auch weniger gesetzestreu, denn anders als ihre ehrbare Vorgängerin arbeitet sie nicht immer mit der Polizei zusammen, weil sie noch einen Rest ihrer anarchistischen Erziehung in sich trägt und außerdem der Polizei gegenüber ein wachsendes Mißtrauen entwickelt, das viele spätere feministische Kriminalautorinnen ausgebaut haben. Das hängt zusammen mit ihrer ambivalenten Haltung gegenüber dem Verbrechen, dem Verbrecher und der (männlichen) Autorität im allgemeinen. In An Unsuitable Job for a Woman beispielsweise verschweigt sie die Identität der Mörderin sogar gegenüber Dalgliesh, weil sie ihre Sympathie für eine Mörderin über ihr Berufsethos siegen läßt.
In Der Beigeschmack des Todes (engl. 1986) führt P.D. James eine Polizeikommissarin als Assistentin für Dalgliesh ein, womit sie zweifellos auf die wachsende Anzahl weiblicher Polizistinnen und deren zunehmende Professionalisierung reagiert. Kate Miskin wurde von Dalgliesh ausgewählt, weil sie über jene Eigenschaften verfügt, die er an einem Detektiv am meisten bewundert: »Intelligenz, Mut, Verschwiegenheit und gesunden Menschenverstand«. Er glaubt auch, daß ihre Anwesenheit die »geheime Männerbündelei, die ein reines Männerteam von Polizisten so oft zusammenschweißt«, abschwächen könnte. Kate Miskin selbst steht unter dem typisch weiblichen Druck, die Ansprüche des Berufslebens, in dem sie sich leidenschaftlich engagiert, mit häuslicher Verantwortung zu verbinden, in diesem Fall der Pflege einer kränkelnden und fordernden Großmutter. Kates Polizeiarbeit hat zur Folge, daß ihre Großmutter gewaltsam angegriffen wird und am Ende des Romans stirbt, was vielleicht zeigen soll, daß die Doppelbelastung einer Detektivin in der Arbeit und zu Hause nicht oder zumindest nur sehr schwer zu bewältigen ist. Trotzdem, Kate überlebt, Dalgliesh zeigt Verständnis, und durch diese Entwicklung wird die Detektivin noch viel mehr zu einer Gestalt, mit der sich die Leserin identifizieren kann.
Das ist bei Antonia Fräsers Jemima Shore (Quiet as a Nun, Wl; The Wild Island, 1978) so nicht der Fall. Sie ist eine außerordentlich romantisch dargestellte Detektivin, eine linke Gerichtsreporterin, die dennoch einen luxuriösen, eleganten Lebensstil pflegt und sich, was ihr Sexualleben angeht, ziemlich unprofessionell verhält - bei einer Gelegenheit schläft sie beispielsweise mit einem der Verdächtigen. Sie ist eine Art weiblicher James Bond, und die Fälle, mit denen sie sich beschäftigt, sind ebenso unwahrscheinlich und melodramatisch wie die seinen. Doch trotz ihres extravaganten Benehmens ist Jemima keinesfalls die allwissende Detektivin; weitaus weniger als Miss Marple (und James Bond) hat sie die Ereignisse unter Kontrolle, und sie wird von der Wahrheit eher überrascht, statt sie durch logisches Denken aufzudecken. In dieser Hinsicht ist sie eine, gewöhnliche Sterbliche, und damit verstärkt sich der Trend zum Menschlichen und Fehlbaren, von dem die neuere Kriminalliteratur geprägt ist. Wie Craig und Cadogan feststellen, sind die Ereignisse und Figuren, die in Fräsers beiden Romanen beschrieben werden, »ziemlich widersinnig«, aber dieser verstärkten Phantasie entspricht ein wachsender Realismus der Detektivarbeit: Jemima Shore ist nicht »die mächtige Außenseiterin, die alles unter Kontrolle hat, [und] sie ist ebenso erstaunt wie jeder andere, wenn die Wahrheit ans Licht kommt« (P. Craig and M. Cadogan 1986, S.237).
Weder P.D. James noch Antonia Fräser würden sich als feministische Autorinnen bezeichnen. Die von ihnen entworfenen eigenständigen und unabhängigen Heldinnen sehen ihre Detektivarbeit, so ungewöhnlich ihre Ermittlungsmethoden auch sein mögen, nicht als Ansatz für die Kritik an der patriarchalen Gesellschaft. Deren Anfänge finden sich in den Vereinigten Staaten, wo Amanda Cross in ihren Romanen eine »neue, feministische« Detektivin eingeführt hat. Sie benutzt das eigentlich konservative Genre des Kriminalromans auf ambivalente Weise, will einerseits die Moral und Politik des progressiven Feminismus vermitteln und andererseits einer Form des Widerstands gegen den Druck des heterosexuellen Kapitalismus Ausdruck verleihen. Amanda Cross, Pseudonym der feministischen Literaturwissenschaftlerin Carolyn Heilbrunn, veröffentlichte ihren ersten Detektivroman dieser Art 1964 mit Gefährliche Praxis. Dieser und spätere Romane - beispielsweise The James Joyce Murder (1967), Eine feine Gesellschaft (engl. 1970), Schule für höhere Töchter (engl. 1971), A Death in the Faculty (1981) und A Trapfor Fools (1989) - folgen Dorothy L. Sayers' Vorbild Aufruhr in Oxford und entlarven das Mörderische als einen Widerstand gegen den Feminismus und gegen Frauen allgemein, der im akademischen Umfeld reichlich vorhanden ist. Carolyn Heilbrun räumt in Writing a Woman 's Life offen ein, daß sie in Dorothy Sayers' Schuld steht, und sie bekennt, daß Dorothy Sayers' Roman ihr in einer Phase der Unsicherheit geholfen hat: »Ich war dabei, mich selbst neu zu entwerfen«, schreibt Carolyn Heilbrun; »Für Frauen fällt der Beginn des Schreibens ... mit der Ausarbeitung von Selbstentwürfen zusammen ... Dorothy Sayers lieferte natürlich eine Phantasie - alle Detektivromane sind Phantasien - aber zumindest handelte es sich dabei nicht mehr um die romantische Phantasie, die Frauen so lange verordnet worden war« (Heilbrun 1989, S.52).
Carolyn Heilbruns Detektivin Kate Fansler ist für sie eine ebensolche Wunschvorstellung, wie es Harriet Vane für Dorothy L. Sayers war.
Die neugeschaffene Kate Fansler, kinderlos, unverheiratet, reich, schön und unbeeindruckt von den Meinungen anderer Leute, erscheint mir heute wie eine Gestalt aus Wölkenkuckucksheim. Daß sie heutzutage sehr viel weniger phantastisch wirkt -jetzt wird sie meist dafür kritisiert, daß sie zuviel raucht und trinkt und daß sie geheiratet hat -, sagt mehr über den veränderten Sittenkodex und mein Talent als Prophetin aus als über meine damaligen Absichten. Ich wollte ihr alles geben und abwarten, was sie damit anfängt. Natürlich begab sie sich auf die Suche nach dem Gral (die männliche Handlung), wurde ein Ritter (die männliche Rolle) und rettete eine (männliche) Prinzessin. (Ebd., S.115)
Wie Carolyn Heilbrun verbindet Kate Fansler eine Karriere als Literaturprofessorin mit einem halboffiziellen Job als Detektivin. Damit löst sie eine Welle von Detektivromanen aus (oder setzt sie fort, wenn man Harriet Vane in Aufruhr in Oxford dazurechnet), in denen die Detektivin Dozentin für Englische Literatur ist; die Detektivarbeit scheint eine parallele Tätigkeit zur kritischen Lektüre von Texten oder vielleicht auch eine Metapher dafür zu sein. Dabei bietet sich außerdem die Gelegenheit zur heiteren Vermittlung von Gelehrsamkeit und sogar von virtuosem Können. Amanda Cross' Romane sind äußerst literarisch, und ein Teil ihrer Anziehungskraft liegt in den ständigen Verweisen auf berühmte Texte und Autoren.
Sie sind außerdem in einem quasi-akademischen Stil geschrieben -»voller hypotaktischer Wendungen und rhetorischer Steigerungen, gespickt mit langausgreifenden Satzperioden«, wie Fansler selbst sagt - und das begrenzt vermutlich den Leserinnenkreis auf jene, die solche Anspielungen verstehen können. In The James Joyce Murder beispielsweise ist jedes Kapitel nach einer Geschichte aus Joyces Novellensammlung Dubliners benannt, und die Handlung dreht sich um eine verlorene Kurzgeschichte von ihm, die in einem Heuballen versteckt ist. Kate Fansler ist nicht nur damit beschäftigt, bei der Auflösung dieses Verbrechens zu helfen, sondern muß auch darüber nachdenken, ob sie Präsidentin des Jay College für Frauen werden will und ob sie Reed Amhearst heiraten soll: ein erfülltes Leben, ganz anders als das der Miss Marple. Diese Romane besitzen eine Art geistreicher Klugheit, die sie, trotz all ihrer Geradlinigkeit, elitärer machen als die Agatha Christies. Allerdings haben sie auch eine offen feministische, zumindest aber eine klar frauenzentrierte Stoßrichtung, zu der charakteristischerweise die Entdeckung einer weiblichen Tradition zählt, die oft mit dem Schreiben zu tun hat. Kate Fanslers Ermittlungsarbeit könnte beinahe das literarische Echo von Viginia Woolfs Überzeugung sein, daß wir, wenn wir uns selbst als Frauen und als Schriftstellerinnen verwirklichen wollen, uns »durch unsere Mütter zurückdenken müssen«. So versucht Kate in Cross' siebtem Roman Sweet Death, Kind Death (1984) an einem konservativen College bei der Gründung eines Studiengangs für Frauenforschung zu helfen, während sie gleichzeitig den Tod einer bekannten, exzentrischen feministischen Akademikerin untersucht, deren »Abschiedsbrief« auf den Tod von Charlotte Perkins Gilman, der Schriftstellerin aus dem 19. Jahrhundert, verweist. Dieses Szenario ist weitab von St. Mary Mead und Miss Marples Versuchen, die Vergangenheit zu retten. Auch fehlt Kate Miss Marples Gewißheit in der Unterscheidung von Gut und Böse, und doch würde wohl jede in der anderen jene Kombination aus kaltem Intellekt und moralischer Wachsamkeit wiedererkennen, die sie trotz alledem zu Schwestern macht.
Auch in Valerie Miners Murder in the English Department (1982) wird die geschlossene Dorfgemeinschaft des klassischen Detektivromans gegen die geschlossene akademische Gesellschaft eingetauscht. Nan Weaver, ohne feste akademische Anstellung, aus der Arbeiterklasse stammend und Feministin, hat in der Fakultät für englische Literatur Schwierigkeiten mit dem konservativen Frauenhasser Angus Murchie. Nans Probleme werden noch größer, als sie sich ganz selbstverständlich an einer Kampagne gegen sexuelle Be lästigung beteiligt. All das nämlich erreicht seinen Höhepunkt, als ) Angus Murchie am Sylvesterabend erstochen aufgefunden wird, offenbar von einer Frau, die er zu vergewaltigen versuchte. Die Handlung in diesem Roman ist relativ unkompliziert und ohne die erzählerische Erfindungsgabe Agatha Christies, aber das interessiert Valerie Miner offenbar weniger als die Themen, die sie in ihrer Mordgeschichte behandelt, und den Prozeß der Selbsterkenntnis, den ihre drei weiblichen Hauptfiguren währenddessen durchlaufen.
Sowohl Amanda Cross als auch Valerie Miner sind nordamerikanische Autorinnen; eine britische Version der akademischen Detektivgeschichte findet sich in Joan Smiths vergnüglichen und glänzend geschriebenen Romanen Schmutziges Wochenende (A Masculine Ending, 1988) und Ein häßlicher Verdacht (ebenfalls 1988). Die Detektivin Loretta Lawson ist Dozentin für Englische Literatur an einem College in London, doch die literarischen Anspielungen sind in diesen Romanen feinsinniger und werden seltener eingesetzt. Der englische Titel von Ein häßlicher Verdacht - Why Aren't They Screaming -, stammt beispielsweise aus einem Gedicht von Philip Larkin, »The Old Fools« [Die alten Narren]; ironischerweise sind die Narren in Joan Smiths Roman nicht alte Menschen kurz vor dem Tod wie in Larkins Gedicht, sondern die alte Garde, das Establishment, und vor allem die Polizei, die nicht glauben wollen, daß ein konservativer Abgeordneter einen Mord begangen haben könnte, und die auch nicht mit jenen sympathisieren, die einen Atomkrieg verhindern wollen. Der Roman spielt vor dem Hintergrund der amerikanischen Bombardements in Libyen, der Frauen-Friedenscamps vor den US-Stützpunkten, der Einschüchterung durch die US-Air Force und des Rücktritts von Cecil Parkinson. Loretta, die sich von einem Drüsenfieber erholt, beginnt aus Loyalität zu einem Arbeitermädchen aus dem Friedenscamp den Mord an ihrer Hauswirtin zu untersuchen; aber das Mädchen wird ermordet, und niemand, nicht einmal ihr Ehemann, ein Journalist, schenkt Lorettas Version der Ereignisse Glauben, und der Roman endet damit, daß der konservative Abgeordnete eine Position im Verteidigungsministerium bekommt. Daß Loretta es nicht schafft, den Verbrecher dingfest zu machen, unterscheidet sie von Miss Marple, aber in anderer Hinsicht gibt es Ähnlichkeiten: Obwohl Loretta Akademikerin ist, spielt der Roman in einem Dorf, und seine verwickelte Handlung, der geschickte Einsatz falscher Fährten und die Glaubhaftigkeit und Rationalität der Ermittlungsarbeit erinnern an den klassischen Detektivroman.
Mit Barbara Wilson erreicht der Versuch, ein ganz besonders konservatives, rationales, gesetzestreues und männlich orientiertes Genre in ein Medium für radikalfeministische Ansichten umzuwandeln, eine weitere Stufe. Mord im Kollektiv (1984) zeigt die Widersprüche des liberalen, antirassistischen und antisexistischen Individuums, das dennoch die Autorität genießt, die aus der Rolle der Detektivin und der Entdeckung der Wahrheit entsteht. In einer Mordgeschichte, in der sich zwei radikale Druckerei-Kollektive um eine Fusion bemühen, entdeckt die selbsternannte Detektivin Pam Nilsen, daß sie mit den Lügen ihrer Kolleginnen auch die Arroganz und Rücksichtslosigkeit der Detektivrolle selbst enthüllt. Ihre Annahme, als weiße, liberale, »objektive« Frau könne sie die Situation vollständig verstehen und beurteilen, wird enttäuscht, als sie in den letzten Kapiteln gezwungen ist, sich in den Mörder hineinzuversetzen, den sie der Polizei nicht ausliefert. Miss Marples Erfolg als Detektivin hing mit dem Gefühl für die Aufrichtigkeit ihres Strebens nach Gerechtigkeit zusammen, das sie zu einer Allegorie der Vergeltung machte. Obwohl Pam Nilsen ursprünglich ebenfalls den Wunsch hegte, die Wahrheit herauszufinden, geht ihr Miss Marples Sicherheit, das Richtige zu tun, doch vollständig ab. In einem späteren Roman, Schwestern der Straße (1987), wird diese Entscheidungsunfähigkeit und Verletzlichkeit mit noch viel schmerzhafterer Genauigkeit erforscht. Hier wird Pam, die in den schäbigen Vierteln ihrer Heimatstadt Seattle den Mörder mehrerer Prostituierter jagt, von diesem vergewaltigt, und während ihrer Konvaleszenz in einen schwierigen Prozeß der Selbsterforschung getrieben. Der Porno-Kongreß (1989) stellt Pams lesbische Identität auf die Probe, als sie mit der Möglichkeit konfrontiert wird, daß Lesben genauso gewaltsam und lüstern sein können wie »normale« Mitglieder der Gesellschaft. In diesen Romanen ist die Detektivin zugleich ein zumindest potentielles Opfer, ein Aspekt, den auch die britische Schriftstellerin Rebecca O'Rourke in ihrem Roman Jumping the Cracks (1987) untersucht, wo die Heldin mehr Energie benötigt, um sich finanziell und körperlich über Wasser zu halten, als für die Lösung des Mordfelles, über den sie zufällig gestolpert ist. In einer Kurzgeschichte von Rebecca O'Rourke, »Standing Witness« (in J. Green [Hrsg.]: Reader, I Murdered Hirn, 1989), tut die »Detektivin« nichts anderes, als während der frühen Morgenstunden an ihrem Fenster zu stehen und in ihrer Phantasie zu rekonstruieren, was wohl zu der polizeilichen Aktivität rund um eine Leiche geführt hat, die unten auf der Straße in einem Auto liegt.
Ganz anders ist Helen Keremos, die lesbische Detektivin in Eve Zarembas Romanen. Helen ist professionell: »Helen Keremos. Ich ermittle«, verkündet sie in Beyond Hope (1987), und sie ist auf Marlowe-Art hart und tatkräftig, sowohl in ihrer trockenen Entschiedenheit als auch im Stil ihrer Prosa:
Jetzt mußte eine Entscheidung getroffen werde, und zwar schnell. Ich legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie in eine sitzende Stellung ... Ich zog ihre Beine vom Bett, weil ich hoffte, sie sei imstande, aufrechtzustehen. Es ging nicht. Ihr Körper war so schlaff wie der einer Marionette. Sie mußte getragen werden. Ich legte meine linke Schulter an ihren Bauch, und stöhnend hievte ich sie hoch, damit ich sie tragen konnte wie ein Feuerwehrmann einen Geretteten. Ihr Kopf stieß mir ins Kreuz, und sie fühlte sich so völlig entspannt an, als sei sie gerade gestorben. (E. Zaremba, Beyond Hope, S.84)
Es versteht sich von selbst, daß sich Helens Aktivitäten nicht auf ein Dorf beschränken, sondern in aller Welt stattfinden, und ihre Ermittlungen decken atemberaubende Vorgänge im Zusammenhang mit Terrorismus, Waffenschmuggel, Spionage und Mord auf. Miss Marple würde zweifellos sagen, daß das Leben in den Grenzgebirgen zwischen Kanada und den Vereinigten Staaten dem in St. Mary Mead recht ähnlich ist und der größenwahnsinnige Huber dem Dorfarzt gleicht, aber selbst sie könnte nicht behaupten, daß Helens handfeste Ermittlungsmethoden besonders viel Ähnlichkeit mit denen des klassischen Kriminalromans haben.
Noch hartgesottener und Marlowe-ähnlicher sind die Romane von Mary Wings, Sie kam zu spät (1986) und She Came in a Flash (1988). Die passend benannte lesbische Heldin Emma Victor spricht und denkt mit abgebrühter Gelassenheit - »Vorsichtig berührte ich die Beule unter meinem Auge. Irgend jemand hatte versucht, mein Gesicht umzugestalten, war aber nicht lange genug geblieben, um das Ergebnis zu bewundern« -, wird häufig zusammengeschlagen und kann natürlich das Objekt ihrer Suche nicht schützen. In She Came in a Flash ist das Lana Flax - einst eine brillante junge Physikerin, dann ein Opfer der New-Age-Sekte »Vishnu-Kommune« - die mit einbetonierten Füßen ertrunken aufgefunden wird. Mary Wings' Bücher sind lebendig, gewalttätig und sexy, und könnten vielleicht eher als feministische Thriller denn als Detektivgeschichten bezeichnet werden; mit Sicherheit ordnet sie die detektivische Handlung anderen Themen unter - Liebesaffären, Essen, Kalifornien, Meditation, Tanzen in der Disco und Selbsterfahrung.
Ebenso weit entfernt von Agatha Christies Schreibweise, wenn auch auf eine andere Art, ist Dorothy Bryants geistreicher und anspruchsvoller Roman Killing Wonder (1982), wo der Schwerpunkt eher auf der Beziehung zwischen Frauen und Schreiben als auf der Lösung des Mordfalles liegt. Dorothy Bryants Detektivin Jessamyn Posey ist italienisch-chinesischer Herkunft, und ihre Ermittlungen führt sie, im Gegensatz zum Vorbild des klassischen Detektivromans, mittels psychischer Kräfte. Eine Geschichte wie diese unterscheidet sich so sehr von dem Muster der Romane Agatha Christies, daß es schwerfällt, beide Typen als Detektivromane zu definieren. Dennoch haben sie gemeinsame Merkmale, vor allem eine Detektivin, die es auf sich nimmt, die Wahrheit über das Verbrechen herauszufinden. Bei Agatha Christie ist das Verbrechen einfach ein Mord; in dem modernen feministischen Geschichten ist der Mord nur ein Symptom für andere Verbrechen und andere Rätsel, die gelöst werden müssen, Rätsel, die mit dem Frausein in der spätkapitalistischen Gesellschaft zusammenhängen.
Die Beliebtheit der neuen Frauenkrimis sowohl bei Autorinnen als auch bei Leserinnen findet Beweis und zugleich weitere Unterstützung in dem Umstand, daß die großen feministischen Verlage zu der Veröffentlichung von Kriminalromanen übergegangen sind. Virago und Womens's Press haben etliche Autorinnen des neuen Krimityps fest im Programm. Pandora startete eine eigene Reihe mit Frauenkrimis (Pandora Whodunnits), die, wie die Herausgeberinnen erklärten, darauf abzielte, »die besten vom Markt verschwundenen Bücher älterer Kriminalautorinnen neu aufzulegen und zugleich allen Liebhaberinnen des Genres eine neue Generation von Krimi-schriftstellerinnen vorzustellen. Wir hoffen auch, daß wir neue Leserinnen zur vergnüglichen Lektüre von Detektivromanen verführen können.« Zwar haben nur wenige der nachgedruckten Romane aus früheren Epochen Frauen als Detektivinnen, dennoch zeigen sie, daß es innerhalb dieses Genres eine Tradition von Kriminalautorinnen gibt, und es werden uns solche Leckerbissen wie Christianna Brands Green for Danger (1945) und London Particular (1952) wieder zugänglich gemacht. In ihrem Vorwort zu London Particular erklärt P.D. James, daß sie eine gewisse Verwandschaft zu ihren eigenen Romanen sehe, und lobt die »überzeugenden Figuren ... ein starkes Gefühl für den Schauplatz [und] eine klug angelegte Detektivgeschichte«: wir denken in der Tat durch unsere Mütter zurück.
Diese jüngste Welle feministischer Kriminalromane hat auch zur Veröffentlichung einer ganzen Anzahl von Anthologien geführt, natürlich in Erinnerung an Dorothy L. Sayers Omnibus of Crime (1928), was ein weiterer Beweis für die gegenwärtige Beliebtheit dieses Genres ist. Ein britisches Beispiel ist der witzig betitelte Reader, I MurderedHim (Leser, ich habe ihn ermordet, [1989]), eine Anthologie von Original-Krimikurzgeschichten, die Jan Green herausgegeben hat. In einer ähnlichen amerikanischen Anthologie, Frauen morden besser (1988), bekundet Herausgeberin Irene Zahava, diese neue Kriminalliteratur spiegele das Leben heutiger Frauen auf realistische Weise wider und stelle Frauen als Detektivinnen in die vorderste Front des Genres. »Charaktere wie Cordelia Gray, Kate Fans-ler, Anna Lee, Norah Mulchaney, V.I. Warshawski, Kinsey Millhone und viele andere haben mit dem Macho-Muster gebrochen«, das sich in vielen früheren Kriminalromanen zeigte, und ihre Autorinnen haben neue Themen und Schauplätze eingeführt: Arbeitslosigkeit, Gewalt in der Familie und die Armut in den Großstädten, die im Leben vieler Frauen eine wesentliche Rolle spielen. Eine realistische Tendenz, die im klassischen Detektivroman immer schon angelegt war, hat sich im wenig vornehmen Lebensstil der modernen Detektivinnen und der verletzlichen Normalität ihrer Ermittlungsarbeit nun vollständig entwickelt.
Tatsächlich sind diese Geschichten nicht nur durch ihren »Realismus«, sondern auch durch einen politischen Radikalismus geprägt, der oft in Widerspruch zum traditionellen Muster der Detektivgeschichte steht. In »The Permanent Personal Secretary« von Jane Burke (in Reader, I Murdered Hirn) beispielsweise ist es wichtiger, mit Frauen solidarisch zu sein, als der Polizei die Wahrheit zu sagen, und das trifft auch für »Teddy« von Sue Ward zu. Daß es darum geht, entsprechend den Überzeugungen der Detektivin eine Art natürlicher Gerechtigkeit zu praktizieren, verdeutlichen die Romane von Gillian Slovo, Morbid Symptoms (1984), Death by Analysis (1986) und Death Comes Staccato (1987), wo die Erzählerin zusammen mit Carmen, einer schwarzen Assistentin, eine Detektivagentur führt. Als wahrhaft progressive Detektivinnen untersuchen sie die Vorgehensweise von Firmen, die sich um Aufträge der Londoner Stadtverwaltung und der unabhängigen Bezirke bemühen, im Hinblick auf Rassismus und Sexismus. In diesen Romanen, wie auch in denen von Barbara Wilson, rückt das Engagement gegen Rassismus, Sexismus und Homosexuellenfeindlichkeit in den Vordergrund und gewinnt die Oberhand über die traditionelle Forderung des Genres nach Vergeltung durch das Gesetz. Das setzt eine Entwicklung in Gang, die die ideologischen Grundlagen des klassischen Detektivromans vollständig unterwandert.
Wie wir gesehen haben, sind lesbische Detektivinnen ein wichtiges Merkmal zahlreicher neuer Kriminalromane. War während der Jahre zwischen den Weltkriegen die alte Jungfer die ausgezählte, übriggebliebene und schrullige Frau, deren Außenseitertum sie in der »normalen« Gesellschaft zur erfolgreichen Detektivin machte, so nimmt ihre Rolle jetzt die lesbische Detektivin ein, die den Verbrechen des Patriarchats als Außenseiterin nachspürt und so zur Erkenntnis von Wahrheiten befähigt wird, die anderen verborgen bleiben. Ein besonders amüsantes und erfindungsreiches Beispiel für diese Art neuer lesbischer Detektivliteratur ist die Story »Die Abenteuer der chronischen Ehemänner« von Ellen Dearmore (in Frauen morden besser), in der Gertrude Stein und Alice B. Toklas den berüchtigten historischen Fall Landru untersuchen. Ausgehend von Steins dokumentarisch belegter Liebe zu Kriminalromanen baut Dearmore eine Handlung auf, die auf Alices Versuch beruht, eine Schreibmaschine zu verkaufen, was sie mit Landru in Kontakt gebracht haben könnte. Die beiden Frauen machen sich auf, den Fall zu lösen, und bahnen sich dabei ihren Weg durch Motive, die aus Gertrude Steins Autobiographien stammen - Alice sitzt mit den Frauen der Berühmtheiten zusammen, Gertrude liebt den Boxkampf, sitzt »Knie an Knie« mit Hemingway, Alice ist darob eifersüchtig und so weiter, bis hin zu einem Pasticcio im Stil Gertrude Steins:
Sein Taufname, Henri, der - nach allem, was geschah - nicht gerade christliche Gedanken aufkommen läßt. Aber Henri [Henry/Heinrich]. Fällt einem dabei nicht auch Heinrich der Achte ein, der sechs Ehefrauen hatte und zwei davon umbringen ließ? Diesem unglücklichen Namen wurde der noch problematischere Name Desiri hinzugefügt. Begehren. Das erklärt die 283 Geliebten. Du kennst meine Theorie, was Namen betrifft: To name is to claim, to name is to blame, to name is to determine. [Benennen heißt beanspruchen, benennen heißt beschuldigen, benennen heißt bestimmen.] In diesem Fall handelt es sich offensichtlich um Bestimmung.
In einer lesbischen Neuauflage der Beziehung zwischen Holmes und Watson gehen Gertrude Stein und Alice B. Toklas den Fall auf unterschiedliche, aber gleichermaßen orthodoxe Weise an, Gertrude Stein »denkt Gedanken«, die sie zu generellen Schlußfolgerungen über das Böse im amerikanischen Kapitalismus führen, während Alice B. Toklas, die intuitive, sich mit der Überprüfung von Landrus Horoskop beschäftigt: »Stiere graben gerne in der Erde.« Als sie zu Landrus Villa kommt, bemerkt Alice Lastwagen, die zu Müllhalden fahren, und schließt daraus, daß dort die Mordopfer vergraben sind. Die Geschichte endet damit, daß Gertode diese Entdeckung für sich reklamiert, aber Alice hat das letzte Wort, sie frohlockt darüber, daß Gertrude und Hemingway jetzt ein Gesprächsthema weniger haben. Die Geschichte vermischt Tatsachen und Erfindungen auf gekonnte Weise (wie das auch bei Gertrude Steins Autobiographien der Fall ist), entwickelt eine lesbische Version des Detektivpaars, das in Hol mes und Watson unsterblich geworden ist, und gesteht zwei unter schiedlichen Ermittlungsmethoden, der rationalen und der intuitiven, gleiche Berechtigung zu. Gertrude als die nachdenkende Lehnstuhl-Detektivin im Stil von Holmes und Miss Marple entwirft ein allgemeines Konzept der Misogynie, die in den meisten Verbrechen eine Rolle spielt, während Alice mit Hilfe des irrationalen Mittels der Astrologie die eigentlichen »Fakten« dieses speziellen Verbrechens erahnt.
Gertrude Stein und Alice B. Toklas waren Zeitgenossinnen von Agatha Christie, und es ist interessant zu sehen, wie die Geister die ser Frauen aus der Zeit zwischen den Weltkriegen in der neuesten Phase weiblicher Kriminalliteratur beschworen werden. Vielleicht könnte die nächste Drehung der Spirale eine Wiedererweckung von Miss Marple sein, oder wenn nicht von Miss Marple selbst, so doch von einer altjüngferlichen Detektivin wie ihr, die sich der Verbre chen der letzten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts annimmt. Die überalterte Gesellschaft, die, wie wir allerorten hören, sehr bald eine Belastung für die Wirtschaft werden wird, würde eine solche Figur, die auf fiktionale Weise Rache übt an einer lieblosen und her ablassenden Gesellschaft, sicher zu schätzen wissen. In der Zwi schenzeit macht der Kriminalroman in seinem neuen feministischen Gewand noch immer von sich reden, was zeigt, daß dieses Genre heutigen Autorinnen ebenso zur Untersuchung von Fragen des Rechts und der Moral dient wie damals Agatha Christie, als sie Miss Marple im provinziellen Mikrokosmos von St. Mary Mead das Rätsel menschlichen Verhaltens ergründen ließ.