Die letzte Stimme, die man hört, bevor die Welt
untergeht, wird die Stimme eines Experten sein,
der versichert, daß dies gar nicht möglich ist.
Peter Ustinov
Die Bomben von Palomares (1986)
Bericht einer Reise nach Australien und Neuseeland
Der Kampf um einen atomwaffenfreien Pazifik (1984)
In den letzten Monaten bildete die Stationierung, von amerikanischen Mittelstreckenraketen in Europa die Triebfeder für unsere Friedensbewegung und nicht etwa die katastrophalen Atomwaffenversuche der Franzosen im Pazifik oder die der Briten in der südaustralischen Wüste Maralinga oder die vielen Kriege in der Dritten Welt (fast 150 seit Ende des Zweiten Weltkrieges, vier davon Stellvertreter-Kriege). Die großen Hungerkatastrophen, die in der Regel durch Menschen und nicht durch die Natur verursacht sind, waren bis jetzt auch nicht eine Triebfeder für unsere Friedensbewegung. Wie kürzlich in der »Entwicklungspolitischen Korrespondenz« zu lesen war: »Es scheint so, daß mit dem territorialen Näherrücken von Problemen, sprich der Mittelstreckenraketen, unsere Sensibilität, unsere Angst und unsere Bereitschaft, dagegen anzugehen, gewachsen sind. Doch diese Bereitschaft, dagegen anzugehen, heißt auch, sich intensiver mit den Ländern der Dritten Welt, zum Beispiel im Pazifik, zu beschäftigen. Wir müssen die Situation von Ländern in der Dritten Welt nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern auch die waffentechnisch-strategischen, die ökonomischen und auch die machtpolitischen Faktoren analysieren. Wir geraten sonst in eine eurozentrische Verengung.«
Auf der einen Seite wissen wir, daß die neuen amerikanischen Mittelstreckenraketen in Europa auch die Funktion haben, die Sowjetunion bei Eingriffen in der Dritten Welt in Schach zu halten, und daß mit solchen Mittelstreckenraketen auch eine Interventionspolitik betrieben wird. Wir wissen auch, daß die Dritte Welt das kriegerische Experimentierfeld für Industriestaaten geworden ist, und wir wissen, daß die Aufrüstung tötet, schon jetzt in der Dritten Welt. Doch die atomare Bedrohung, vor der uns angst geworden ist, ist für den pazifischen Raum seit langem Realität. Eine durch Atomtests strahlenverseuchte Umwelt mit drastischen Folgeschäden ist Teil der dortigen Realität. Eine andere, hier erst langsam wahrgenommene, bildet die Tatsache, daß im pazifischen Raum sehr, sehr viele Atomwaffen stationiert sind und weit mehr, als wir denken, bald dort stationiert werden. Während meines Besuchs mit Gert Bastian in Australien und Neuseeland habe ich gelernt, daß im Kriegsfalle zwischen den USA und der Sowjetunion es als sicher gilt, daß viele Nationen in Asien einschließlich Australien durch die Anwesenheit ausländischer Militärstützpunkte Teil eines Nuklearangriffes wären. Amerikanische Stützpunkte, z. B. in Australien, haben inzwischen eine entscheidende Rolle übernommen, die die Wahrscheinlichkeit einer globalen Katastrophe vergrößert.
Die neuen Verteidigungsrichtlinien von Präsident Reagan (wie in der »New York Times« 1982 veröffentlicht) schenken dem eventuellen Kriegsschauplatz in Asien eine große Bedeutung, konkret mit der Forderung, die US-amerikanische Unterstützung in dieser Region zu vergrößern, Japans Aufrüstungsprogramm mitzutragen, Militärhilfe für Südkorea und China zu bewilligen (auch zivile atomare Anlagen) mit dem Ziel, Stützpunkte aufzubauen und damit mehr Macht in den Raum des Indischen Ozeans zu verlagern, um von dort aus den weiteren Ausbau der Rapid Deployment Force (RDF-Schnelle Eingreiftruppe) für Operationen im Nahen Osten zu ermöglichen. Die Rapid Deployment Force kann entweder über Europa oder Asien in den Nahen Osten vordringen.
Uranfrage
Zur Zeit wird der Parteitag der australischen Labour Party vorbereitet, auf dem die entscheidende Frage des weiteren australischen Uranabbaus und Uranexports entschieden wird. Wir haben uns in Australien über die genaue Form der Verflechtungen des australischen Uranabbaus mit ausländischen, insbesondere mit den deutschen Urangesellschaften beschäftigt. Wir waren in der Lage, lange und detaillierte Gespräche mit deutschen und australischen Vertretern der Deutschen Urangesellschaft zu führen. Australien wird künftig bei der Uranversorgung der Bundesrepublik eine wichtige Rolle spielen: Der Anteil Australiens war 1968 bis 1980 nur circa fünf bis sechs Prozent. Bis 1990 wird eine Steigerung auf über vierzig Prozent erwartet! Allein schon diese Zahl macht Australien und die australische Antiuranbewegung zu einem wichtigen Gesprächspartner für uns; das heißt, auch hier müssen wir Solidarität im internationalen Rahmen beweisen.
Ende 1983 hatte das australische Parlament die Ausweitung des Uranabbaus genehmigt, obgleich dies nach den Wahlkampfaussagen der jetzt regierenden Labour Party hätte unterbleiben sollen. (So ist Bob Hawke mit seiner Pro-Uran-Position mit Helmut Schmidt und seiner Pro-Stationierungs-Position und anderen Sozialisten zu vergleichen; man sieht eine Spaltung der australischen Labour Party bei dieser Uranfrage sehr deutlich.) Zur Zeit setzen sich zum Teil auch die Gewerkschaften für die Ausweitung des Uranabbaus ein, um so angeblich Arbeitsplätze zu erhalten. Der jetzt genehmigte Regierungsplan sieht u. a. die Inangriffnahme des Abbaus der großen Erzvorkommen in Südaustralien vor (Roxby Downs, wo Kupfer, Silber, Gold und Uran gewonnen werden). Der Regierungsplan ermöglicht es bei den bereits in Betrieb befindlichen Uranbergwerken, zusätzliche Lieferverträge abzuschließen. An der Uranausbeutung sind ausländische Gesellschaften wie Shell, Rio Tinto Zink und die Deutsche Urangesellschaft wesentlich beteiligt. Um sich noch besseren Zugriff auf Uranvorkommen zu sichern, plant die Europäische Gemeinschaft in Zukunft verstärkt Explorationstätigkeiten in Förderländern.
Japan hat solche Aktivitäten in Australien schon eingeleitet, und die Bundesrepublik hatte 1981 insgesamt schon circa 35 Millionen Dollar für Uranexplorationen im Ausland ausgegeben. Ebensoviel wie die USA und mehr als Japan! Grundsätzlich, so betonten immer wieder australische offizielle Vertreter uns gegenüber, besteht Australien bei der Lieferung von Uran auf Kontrollen, die eine rein zivile Nutzung sicherstellen sollen. Doch die Position Australiens wurde in den letzten Jahren zunehmend abgeschwächt - aufgrund entsprechenden Drucks von wichtigen Abnehmerländern. So gab Ende 1980 der australische Außenminister nach sehr kontroversen Auseinandersetzungen die grundsätzliche Zustimmung dafür, daß Brennstoff aus australischem Uran wiederaufgearbeitet werden darf. Es ist klar und deutlich mir gegenüber erklärt worden, auch von seiten der Deutschen Urangesellschaft, daß sonst das Interesse der BRD und anderer Länder, die voll auf Wiederaufarbeitung setzen, zweifellos sehr gesunken wäre. (Die Wiederaufarbeitung muß, ebenso wie die Anreicherung und die Weitergabe an dritte, jeweils im konkreten Fall von Australien genehmigt werden.) Doch die Position Australiens den Abnehmerländern gegenüber wird jedenfalls solange schwach bleiben, als keine Uranknappheit besteht. Die Laufzeit der EG-Australien-Sicherheitskontrollen-Abkommen beträgt dreißig Jahre und sieht eine Überwachung von EURATOM und IAEO vor. Doch wer sich mit dieser Thematik beschäftigt hat, weiß, daß die IAEO im EG-Bereich bei Kontrollen wenig Kompetenzen hat und daß das Kontrollsystem von EURATOM lückenhaft ist und zum Beispiel den Einsatz von spaltbarem Material für militärische Forschung nicht ausschließt. So werden möglichst betreiberfreundliche, inspektionsökonomische »SafeGuards« und Sicherheitskontrollen entwickelt, und es steht nicht die Verbesserung der Kontrollen im Vordergrund, sondern deren Anpassung an die Bedürfnisse der Betreiber. Während unserer Vortragsreise in Australien kam es zu vielen phantasievollen, gewaltfreien Aktionen in australischen Häfen, in denen Uran verladen wurde oder vor Urangruben.
Man bat uns um weit mehr Grüne-Unterstützung in konkreten, gewaltfreien Aktionen vor den Urangruben und Botschaften sowie auch um mehr Solidaritätstelegramme aus der Bundesrepublik, wenn solche Aktionen stattfinden. Eine internationale Blockade vor der Roxby Downs-Grube wird nun bald geplant. Es sei nicht ganz zu vergessen, daß Australien weiterhin Lieferland für eine ganze Reihe wichtiger metallischer Rohstoffe ist, zum Beispiel von Zirkon. Dieses wird für die Herstellung von Hüllrohren für Brennelemente von Leichtwasserreaktoren benötigt. Der Besuch von Otto Graf Lambsdorff letztes Jahr in Australien sowie der Besuch von Präsident Rodenstock (Arbeitgeberverbände) machen deutlich, was sich auf wirtschaftlicher Ebene alles tut. Zur Zeit verhandeln deutsche Wirtschaftsminister der Länder in Australien über den U-Boote-Bau. In den vielen Diskussionen und Interviews sowie auch bei meinen Vorträgen in Australien haben wir immer wieder darauf hingewiesen, daß Schnelle Brüter und Wiederaufbereitungsanlagen und Urananreicherungsanlagen es ermöglichen, den größten Teil des Weges zur atomaren Bewaffnung zurückzulegen, ohne offen einzugestehen, daß damit auch militärische Absichten verfolgt werden können. Als einziger »Nicht-Atomwaffen-Staat« weigert sich die Bundesrepublik, ihre eigenen zivilen Atomprojekte durch die Internationale Atomenergiebehörde IAEO kontrollieren zu lassen. 1995 läuft der Atomwaffen-Sperrvertrag aus. 1994 soll die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf oder Dragahn in Betrieb genommen werden. Und Australien möchte bis dahin vierzig Prozent Anteil Uran in die Bundesrepublik liefern!
Ureinwohner
Wir haben viele Ureinwohner in der australischen Wüste in der Nähe von Alice Springs kennengelernt und waren Zeugen ihrer mystischen Lebensweise, die eine enge Verbindung zur Natur bedeutet. Sie sind wahrlich Freunde der Erde, und wir hier in der Bundesrepublik haben sehr wenig getan, um auf die Finger der deutschen Urangesellschaften zu schauen, die durch den Uranabbau in Gebieten der Ureinwohner nicht nur die Gesundheit dieser Ureinwohner gefährden, sondern auch den letzten großen Angriff auf ihre Menschenwürde damit starten. Wir dürfen die Umweltprobleme des Uranabbaus nicht vergessen: Der radioaktive Schlamm, der als Rückstand beim Abbau anfällt und der auf der Erdoberfläche gelagert wird, und die riesigen Erdwälle, die aufgeschüttet werden, um ein Becken für den Schlamm zu schaffen. Im Bereich der Ranger-Grube, an der die Deutschen beteiligt sind, treten heftige Monsunregen und verheerende Wirbelstürme auf. Wenn die Erdwälle ausgewaschen werden, ergießt sich eine Flut tödlicher Gifte über das Land. Und so kann es zu schleichenden Verseuchungen kommen durch das allmähliche Versickern; Krankheiten werden bei den Aborigines entstehen sowie auch die Tier- und Pflanzenwelt gefährden. Die Ranger-Urangrube liegt im Quellgebiet des Alligator-River-Tales, das ein seit Tausenden von Jahren unberührtes, reiches Tier- und Pflanzenleben aufweist. Insgesamt liegen rund zwei Drittel der Uranvorräte in Reservatsgebieten der Aborigines. Bis jetzt ist unser Protest vor den Toren der deutschen Urangesellschaften oder vor der Botschaft Australiens schwach geblieben, und wir müssen weit mehr tun, um unsere Freunde und Freundinnen in den Ureinwohnergebieten zu unterstützen. Dazu dient zum Beispiel die von Ureinwohnern und amerikanischen Indianern gemeinsam initiierte Unterschriftensammlung, die zur Zeit in allen Ländern der Erde in Umlauf gebracht wird.
Atomkolonialismus
Wir haben in Australien und Neuseeland besonders bei den Ureinwohnern und bei der einheimischen Bevölkerung viele Menschen angetroffen, die alle mit großen Sorgen und Befürchtungen erklärt haben- Wir haben Angst vor einer erfolgreichen Friedensbewegung in Europa oder den USA, die zum Beispiel ein atomwaffenfreies Europa erkämpfen können, und dann landen die Atomwaffen bei uns auf U-Booten und auf den Stützpunkten in unserer Nähe. Die Botschaft der vielen Einheimischen in der Pazifikregion ist eine klare und deutliche: Machen wir uns nicht nur stark für ein atomfreies Europa oder für atomwaffenfreie Teile Europas, sondern auch für eine atomfreie Erde. Kein Wunder, daß der ehemalige US Botschafter aus Fidschi die Bewegung für einen atomwaffenfreien Pazifik als »die potentiell zerstörerischste Entwicklung für die Beziehungen der USA zur südpazifischen Region« bezeichnet. Die pazifische Bewegung für einen atomfreien und unabhängigen Pazifik ist stark, und diese Stärke bekam auch Japan zu spüren, als es den strahlenden Müll aus seinen 24 Atomkraftwerken im Pazifik versenken wollte. Wegen weltweit unterstützten Widerstands mußte dieser Plan verschoben und für die nahe Zukunft aufgegeben werden.
Die pazifischen Inselstaaten Nauru und Kerebati setzten zum Beispiel auf der Londoner Konferenz über Atommüllversenkung im Februar 1983 mit Unterstützung der skandinavischen Länder einen zweijährigen Versenkungsstopp durch - gegen die Stimmen der europäischen Atommüllversenkungsnationen wie Großbritannien, Niederlande und die Schweiz. Das Interesse der vielen Basisinitiativen im Pazifik gilt auch der Entkolonialisierung des Pazifiks. Denn solange die Inselbewohner nicht unabhängig sind, können sie den atomaren und militärischen Aktivitäten der Supermächte nicht wirksam entgegentreten. Die Atommächte USA (auch Großbritannien in der Vergangenheit) und Frankreich mißbrauchen diese Inseln als Atomwaffentestgelände, für militärische Stützpunkte und für Anti-Guerilla Trainingscamps. Nur zwei Beispiele davon: Mikronesien mit nur 130 000 Menschen steht noch immer unter der UN-Treuhandschaft der USA. 66 Atomwaffentests führten die USA zwischen 1946 und 1958 dort durch. Neuentwickelte Trägerraketen von Atomwaffen wie die MX-Raketen werden auch jetzt in Mikronesien getestet. Frankreich verwaltet »Französisch-Polynesien«, wo es bereits über hundert Atom- und Neutronenbomben explodieren ließ, und das nickelreiche Neu-Kaledonien als »seine Überseegebiete«. Nach Vorstellung der arroganten Atommächte sollen diese Inselstaaten nur beschränkte Unabhängigkeit erlangen. Präsident Mitterrand, der sich auf der einen Seite für ein unabhängiges Nicaragua ausspricht, spricht von »Autonomie« der Pazifikstaaten, jedoch nicht von ihrer »Unabhängigkeit«. Mitterrand versprach vor seiner Wahl ein Referendum in Tahiti, doch seit seiner Wahl hat er kein Wort mehr darüber gesprochen.
Die »Selbständigkeitsbewegung« auf diesen pazifischen Inseln hat einen schweren Stand. Die Ansiedlungspolitik der sogenannten Schutzmächte, aber auch das Wahlverfahren haben die Einheimischen auf Neu-Kaledonien, Guam und andere zu Minderheiten auf ihren eigenen Inseln gemacht. Ihnen ergeht es damit ähnlich wie den Ureinwohnern von Hawaii, Neuseeland, den USA und Australien. Es gibt ein wichtiges Koordinationsbüro in Hawaii, um die Zusammenarbeit zwischen den Anti-Atom-Bewegungen im Pazifik mit zu koordinieren. Über das Zentralbüro in Hawaii werden Nachrichten von Aktionen auf verlassenen Inseln weltweit verbreitet; Aktionen, die früher von den »Schutzmächten« spurlos unterdrückt worden wären! Doch wir in der Friedensbewegung in Europa müssen der pazifikweiten Koordination etwas mehr unter die Arme greifen und ihnen helfen, so daß sie die finanzielle Hauptlast nicht alleine tragen müssen. Der Atomkolonialismus in diesem Teil der Dritten Welt muß weit mehr in die Friedens- und Ökologiebewegung bei uns einbezogen werden. Hier haben wir in der Bundesrepublik vieles nachzuholen.
Die schwarzen Wolken von Maralinga
Während unseres Aufenthalts in Alice Springs haben wir Ureinwohner angetroffen, die durch die geheimen Atomtests der Briten ab 1953 in der australischen Maralinga-Wüste krank geworden sind. Einige, die wir angetroffen hatten, waren krebskrank oder blind. Doch erst jetzt, 31 Jahre nach Beginn der britischen Versuche auf dem Gelände ihres Commonwealth-Partners Australien, erfährt die Öffentlichkeit, was sich damals in der Wüste abgespielt hat. Es ist ein bißchen ironisch, denn auf der einen Seite protestieren die australischen Regierenden lautstark, wenn die Franzosen Atomversuche vor ihrer Haustür in der Südsee veranstalten und drohen Paris sogar mit einem Uranlieferstopp aus den australischen Minen. Doch auf der anderen Seite haben sie sehr wenig über die möglichen Folgen der britischen Nuklearexperimente im eigenen Land gesagt, und es herrschte sehr lange verdächtiges Schweigen. Die damalige liberale Regierung unter Fraser sowie auch die Labour-Abgeordneten auf der Oppositionsbank interessierten sich für das Problem herzlich wenig, trotz eines Berichts, der 1979 vorgelegt worden war in bezug auf Hinweise auf mögliche radioaktive Verseuchungen von Eingeborenengebieten.
Es gibt makabere Gedenksteine für die Atomtests in der Maralinga-Wüste, doch gibt es keine Gedenksteine für die toten Ureinwohner, die an den Folgen des radioaktiven »Fallouts« gestorben sind und auch nicht für die, die jetzt mit Krebs und Leukämie dahinsiechen. Die britische Regierung hat vor einigen Monaten geheime Dokumente freigegeben, die zeigen, wie wenig sich die Engländer um Sicherheit scherten und wie sie ihre eigenen Soldaten wie auch andere Menschen als »Versuchskaninchen« mißbrauchten. An einem Kraterrand wurden tote Aborigines gefunden, und in der Zeit nach diesen Atomversuchen fand man mißgestaltete Kaninchen und Känguruhs im Testgelände. An zwanzig Stellen dieser Wüste, dicht unter der sandigen Oberfläche, wurden radioaktive Abfälle und auch Plutonium vergraben. Was aber ein Wüsten- und Sandsturm damit macht, was die Tiere in dieser Wüste damit machen: darauf ist man nicht eingegangen. Die Regierung des Bundesstaates Südaustralien hat soeben das 76000 Quadratkilometer große Gebiet von Maralinga seinem Besitzer, dem Yalata Stamm, zurückgegeben. Heute aber fragen sich die Ureinwohner, die vor den Tests aus diesen Gebieten evakuiert wurden, ob sie jemals, wie versprochen, in das Land ihrer Ahnen und Heiligtümer und zu einem traditionellen Lebensstil zurückkehren können. Angeblich wurde 1979 in Maralinga in Bottichen vergrabenes Plutonium geborgen und heimgeflogen, das heißt nach Großbritannien.
Doch bis heute liegt weiterhin Plutonium auf diesem ehemaligen Testgelände, und keiner weiß genau, wie viele Menschen an diesen britischen Atomversuchen in Süd-Australien gestorben sind. Auch hier müssen wir weit mehr Aufklärung fordern und auch an Aktionen denken, die klar und deutlich machen, was wir von solchen atomaren Mächten wie Frankreich und Großbritannien halten, die unentwegt Atom-Kolonialismus betreiben.
Wir waren sehr froh, daß nach meiner Rückkehr aus Australien zwei Angehörige der Umweltschutzorganisation Greenpeace stundenlang den Big Ben, das Wahrzeichen der britischen Hauptstadt, besetzt hatten, um auf die britischen Atomtests hinzuweisen und um ein Ende solcher Atomtests im Pazifik zu fordern. Mitglieder von Greenpeace hingen, versorgt mit Lebensmitteln, für eine Woche, für die Polizei unerreichbar, in Seilen an dem Gerüst, das gegenwärtig den renovierungsbedürftigen Turm umgibt. Auch unsere Phantasie wird hier gefordert.
Unterstützung der amerikanischen Nuklearstreitkräfte
Für Aufregung hat auch die Veröffentlichung eines geheimen Verteidigungsdokuments in Australien gesorgt, kurz vor unserer Abreise Anfang Mal 1984. In einigen wesentlichen Punkten weicht dieses Verteidigungsdokument, das uns von grünen Sympathisanten im Kabinett Hawke zugeschoben worden war, von der Labour-Plattform ab, die nach Parteiregeln für die Regierungspolitik verbindlich ist. Besonders auffallend für ein sozialistisches Kabinett sind die Betonung des engen Verhältnisses mit Washington und die Forderung, nukleare Waffen zu entwickeln, falls ein Nachbarland in diesem Bereich Initiativen ergreift. Das Dokument stellt fest, daß der fünfte Kontinent sowohl von den Angriffen der kommunistischen Großmächte als auch von der Gefahr nuklearer Strahlung verschont bleiben dürfte. Doch zugleich wird erklärt, daß die Satellitenbeobachtungs- und Kommunikationsstationen sowie die Landerechte der Amerikaner militärische Schläge der Sowjetunion anziehen würden. Wie paradox! Dennoch wird eine Verdünnung der Zusammenarbeit mit den USA in der ANZUS-US-Allianz nicht empfohlen, und in diesem Verteidigungspapier wird vielmehr festgestellt, daß Australien den Ausbau der amerikanischen Nuklearstreitkräfte unterstützt, u. a. durch Anlegerechte für nuklearbewaffnete Kriegsschiffe sowie Landerechte für Bomber vom Typ B 52 und die Erlaubnis für die Erweiterung der Abhörstationen, die das Pentagon u. a. mit Satelliten sowie mit U-Booten und anderen Kriegsschiffen im Pazifik und im Indischen Ozean verbinden.
Das ANZUS Bündnis mit Amerika und Neuseeland wird als wertvoll bezeichnet, doch gleichzeitig weist das Strategiepapier darauf hin, daß die USA beim wahrscheinlichsten unter allen denkbaren Konflikten (einer Auseinandersetzung mit Indonesien) Australien nur widerstrebend und begrenzt zu Hilfe kommen könnten. So kann die »Schutzmacht« USA nicht beschützen; durch die Anwesenheit der Kommunikations- und Satellitenstationen, durch die US-Basen Pine Gap, Nurrungar und Northwest Cape wird Australien erst recht zu einem nuklearen Ziel.
Australien und auch Neuseeland hatten schon mehrmals Pläne für nuklearfreie Zonen im Südpazifik vorgestellt. Doch atomfrei hat in den Köpfen der Regierung eine andere Bedeutung. Atomfrei soll ein Verbot erstens der Lagerung nuklearen Abfalls und zweitens der Stationierung atomarer Waffen bedeuten. Die Pläne Australiens berühren weder den Transit nuklear bewaffneter oder betriebener Schiffe noch deren Anlegen in Häfen der Region. Es handelt sich also um relativ gemäßigte Vorschlage, die mit bestehenden Sicherheitsvereinbarungen, etwa dem ANZUS-Vertrag ebensowenig kollidieren würden wie mit der Existenz amerikanischer Stützpunkte und Kommunikationsstationen auf dem fünften Kontinent, die zur Zeit ausgebaut werden. Da Sicherheitsvereinbarungen und die Bewegungsfreiheit von Kriegsschiffen und Flugzeugen durch diesen Plan für eine nuklearfreie Zone nicht berührt werden, erwartet man nun von den Vereinigten Staaten weniger Widerstand als 1975, als Neuseeland seinen Plan vorgelegt hatte. Der ehemalige Botschafter in Fidschi, William Bode, hat in einem Beitrag in der »New Zealand International Review« darauf hingewiesen, daß eine atomfreie Zone die USA vor ernsthafte Probleme stellen würde und nicht akzeptabel wäre, wenn dazu ein Transitverbot für nuklearbetriebene Schiffe und U-Boote sowie ein Überflugverbot für Flugzeuge mit Atomwaffen gehören sollten. Welche Arroganz einer Supermacht!
Immerhin gibt es jetzt ein klein bißchen Hoffnung, da in Neuseeland die engagierte Abgeordnete Marilyn Warren (Abrüstungs- und Frauenfragen) von der offiziellen Parteilinie der Nationalpartei abgerückt ist und mit der Opposition für ein Verbot von Flottenbesuchen fremder Kriegsschiffe mit Atomwaffen gestimmt hat. Hals über Kopf muß sich nun Neuseeland in den Wahlkampf für die vorgezogenen Neuwahlen am 14. Juli stürzen. Ministerpräsident Sir Robert Muldoon löste das Parlament in Wellington auf, nachdem Marilyn Warren ihm die Gefolgschaft verweigert und in der Frage der atomwaffenfreien Zone damit die Mehrheit der regierenden Konservativen in Frage gestellt hatte. Ob dann die Labour Party Neuseelands wieder alles verrät, was sie versprochen hat, sollte sie die Wahlen gewinnen - das steht alles noch ungeschrieben.
Als 1983, im November, 800 Frauen aus ganz Australien vor dem Zaun der US Militäranlage Pine Gap ein Friedenscamp durchführten, da wußten wir in Europa sehr wenig darüber. Die australischen Frauen bezogen sich auf Greenham Common und auf Comiso. Pine Gap liegt inmitten einer Wüste, etwa 30 Kilometer von Alice Springs entfernt, und die Frauen mußten ihr Camp besonders sorgfältig vorbereiten, Wasserlieferungen veranlassen und die medizinische Versorgung sichern. Doch mit dieser Aktion hatten sie sehr viele Menschen in der australischen Öffentlichkeit erreicht und hoffen nun, weitere solcher Friedenscamps vor den Radar- und Satellitenstationen der Amerikaner (des CIA) aufzubauen. Die australischen Politiker schweigen sich aus über das, was die Amerikaner dort genau tun, doch geben sie zu, daß diese amerikanischen Basen in Australien ein nukleares Erstschlagsziel würden, wenn es zum Krieg käme. Betreten werden darf das Gelände der Base Pine Gap nur, wer eine besondere Erlaubnis des Ministers hat. Ein Spezialgesetz droht jedem sieben Jahre Gefängnis an, der ohne Erlaubnis hineingeht. Doch am 13. November 1983 verließen 130 Frauen ihr Friedenscamp und betraten das verbotene Gelände, nachdem sie einen Zaun durchschnitten hatten. 200 Frauen blieben draußen und sangen: Take the toys from the boys (Nehmt den Jungs das Spielzeug weg). 111 Frauen wurden verhaftet und wurden dann in die Polizeistation von Alice Springs gefahren. 109 von ihnen gaben an, Karen Silkwood zu heißen; Karen Silkwood, die seit 1974 tot ist und unter nicht geklärten Umständen gestorben ist. Wir bewundern Mut und Phantasie der australischen wie neuseeländischen Friedensbewegung und hoffen, daß sie in Zukunft mehr internationale Solidarität erfahren.
Stillegen!
Rede in Cattenom (1986)
Wir sind alle hierhergekommen, um gewaltfrei und grenzüberschreitend gegen die Ende des Jahres geplante Inbetriebnahme des AKW Cattenom zu protestieren. Wir zusammen müssen die französische Regierung aus der Ruhe bringen - bis jetzt hat keine Bonner Bundesregierung auch nur einen Konflikt, auch nur eine Kraftprobe mit Paris wegen Cattenom gewagt. Von Frankreich die Übernahme deutscher Standards für Cattenom zu verlangen, bringt uns nicht weiter. Das ändert nichts an dein Risiko aller Atomanlagen.
Wir sollten in diesen nächsten Wochen nicht vergessen, daß sich am 6. August 1986 zum 41. Mal der Abwurf der Atombombe »Little Boy« auf die japanische Stadt Hiroshima jährt. Das politische Startsignal für das Programm »Atoms for Peace« gab der damalige Präsident Eisenhower am 8. Dezember 1953 mit einer Rede vor der UNO, in der er die »Atome für den Frieden« vorstellte. Hier handelte es sich um einen taktischen und machtpolitischen Schachzug. Es war der amerikanischen Regierung klar, daß die Atomforschung nicht aufgehalten werden konnte, und deswegen räumte das Programm »Atoms for Peace« die Möglichkeit der Erforschung der sogenannten friedlichen Nutzung der Atomenergie ein. Aber es gibt keine friedliche Nutzung der Atomenergie.
Wie untrennbar die sogenannte zivile Nutzung der Atomenergie von der militärischen tatsächlich von Anfang an war, zeigte sich bereits bei dem allerersten Atomkraftwerk in Shippingport, Pennsylvania. Dieses AKW war eine Demonstrationsanlage für die Erforschung atomgetriebener Flugzeugträger. Die USA drängten ihre westeuropäischen Verbündeten zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM). Im ersten Euratom Forschungsprogramm setzten die USA den von ihnen entwickelten Leichtwasser-Reaktor durch und gaben zur Finanzierung von drei europäischen Atomkraftwerken Kredite in Höhe von 135 Millionen Dollar. Und dann ging es Schlag auf Schlag, und ein AKW nach dem anderen ging in Bau.
Und nun, im April 1986: Tschernobyl also. Nicht Sellafield, nicht Stade, nicht Biblis, nicht Malville, nicht Cattenom, nicht Ohu. Der Super-GAU buchstabiert sich in kyrillischen Buchstaben. Tschernobyl ist überall - die radioaktiven Wolken nehmen keine Rücksicht auf Blockgrenzen oder Ideologien. In den NATO-Staaten waren sich die Regierenden einig, es hatte so kommen müssen: Eine solche atomare Katastrophe kann sich »nur« in der Sowjetunion ereignen, denn dort geht man ja schlampig mit den Sicherheitsvorkehrungen und so nachlässig mit Umwelt und Menschenleben um. US-Senator Steven Symes aus Idaho ging so weit und erklärte, mit einem Unterton von Schadenfreude: , »Zu dumm, daß das Ganze nicht näher am Kreml passierte.«
Wer sich die Mühe macht, genauer hinzuschauen, wird feststellen, daß die Regierenden in beiden Blöcken mit denselben wahnsinnigen Argumenten ihre AKW-Programme forcieren. Was den Bau von AKWs in dicht besiedelten Gebieten angeht, sollten gerade die Westeuropäer den Mund nicht allzu voll nehmen. Bei uns in Europa wurden Mitte 1985 insgesamt 137 in Betrieb befindliche AKWs gezählt. In der Sowjetunion waren es 45. Frankreich ist zu 59 Prozent vom Atomstrom abhängig und die Bundesrepublik zu 31 Prozent - die Sowjetunion zu 10 Prozent. Europa, der am dichtesten besiedelte Erdteil der Welt, hat die meisten Atomkraftwerke und ist am stärksten abhängig von der Atomenergie. Seit 1972 gab es in den westlichen Ländern 151 nennenswerte dramatische Störfälle in Atomkraftwerken. Eine internationale kriminelle Vereinigung aus Regierungen, Kapital, Technokraten verharmlost diese Bilanz als »Restrisiko«. Der Atomstaat ist Wirklichkeit geworden, gerade auch hier in Frankreich. Es gehört zum Wesen des Atomstaates in Ost und West, eine beschwichtigende Desinformationspolitik zu führen und jede Kritik an der Atompolitik einzuschüchtern. Und man geht selektiv, menschenverachtend hier in Frankreich vor - bereits im Planungsstadium von Cattenom beschwichtigten die französischen Behörden die eigene Bevölkerung mit der Behauptung, daß bei eventuellen Unglücken die Hauptwindrichtung ohnehin moselabwärts Richtung Bundesrepublik sei. Der beschleunigte Bau von vier AKW Blöcken in Cattenom (der größte Atompark Europas) dient nicht der Versorgung der Region Lothringen - auch nicht der Versorgung des französischen Inlandes - vielmehr scheint der Stromexport in die Bundesrepublik und die Gewinnung von Plutonium aus den abgebrannten Brennstäben für Schnelle Brüter und Atomwaffenproduktion für den Ausbau von Cattenom maßgebend gewesen zu sein! Die Klage der saarländischen Landesregierung unter der Führung von Oskar Lafontaine ist unzureichend. Sie zielt lediglich auf Anpassung der radioaktiven Abgaben und auf technische Verbesserungen ab, die jedoch am hohen Störfallrisiko des AKW Cattenom nichts ändern werden! Deshalb fordern wir, daß die Klage des Saarlandes auf die Nicht-Inbetriebnahme alter vier AKW-Blöcke in Cattenom abzielen muß. Und wir fordern die Baden-Werke, die Energieversorgung Schwaben und den Chemiekonzern Bayer nachdrücklich auf, von geplanten Stromimporten aus Frankreich Abstand zu nehmen! Die europäische Atomlobby sitzt im Glashaus. Und deshalb beteuert sie jetzt lautstark, westliche Atomkraftwerke seien viel sicherer, und wenn man sie jetzt alle abschalten würde, bräche die Energieversorgung zusammen.
Daß das eine glatte Lüge ist, wissen wir! In der Bundesrepublik bildet sich, quer durch alle Bevölkerungsschichten, eine neue Mehrheit, die in kürzest möglicher Frist, sofort und kompromißlos den Ausstieg aus der Atomenergie fordert. Wir setzen dabei nicht nur auf Wahlen und auf Parteien, sondern wir setzen dabei auch auf geplante Volksbegehren (Volksentscheid) auf Landes- und auf Bundesebene für die sofortige Stillegung aller Atomanlagen. Wir müssen unsere Protestformen erweitern. Wir müssen uns demokratische Instrumente erkämpfen, die uns nicht länger zu Bittstellern und Bittstellerinnen gegenüber der *jeweiligen Regierung machen. Ich muß zugeben, daß ich etwas sentimental werde und mich mit einigen schmerzvollen Gedanken an die Anti-AKW-Demonstrationen in den 70er Jahren erinnere. Auch damals war Jo Leinen dabei, und wir haben viele Demonstrationen gemeinsam erlebt. Heute ist Jo als Minister einer sozialdemokratischen Regierung anwesend. Und so schwer es für einige vielleicht hier ist, müssen wir lernen, einander zuzuhören. Wenn wir hier einander nicht mehr zuhören können, wo denn sonst? Wir werden genau hinhören, ob den Worten von Jo Leinen Taten folgen. Aber laßt uns hinhören und miteinander nicht so intolerant umgehen. In den Zeiten der 70er Jahre gab es noch die absolut wahnwitzigen Energiezuwachsprognosen von einem Atom-Bundeskanzler Schmidt, einem Atom-Minister Matthöfer und vielen anderen Sozialdemokraten. Diese Energie Zuwachsprognosen sind, gottlob, wie Seifenblasen geplatzt. Lange genug haben uns gerade Minister der SPD sowie auch Minister der CDU/CSU und FDP, nahezu dreißig Jahre, vorgegaukelt, daß die zivile Atomtechnik von der militärischen Atomtechnik eindeutig zu trennen sei und daß wir auf die zivile Atomtechnik niemals verzichten könnten. Ich gebe zu, daß ich froh bin, daß wenigstens Willy Brandt den bisherigen atomaren Irrweg zugibt und das ja seiner Partei zur sogenannten friedlichen Nutzung der Atomenergie als einen Irrtum bezeichnet. Und ich bin auch froh, daß Oskar Lafontaine und Jo Leinen als grüne Aushängeschilder innerhalb der SPD mit ihren Forderungen nach einem Ausstieg aus der Atomenergie noch etwas weiter gehen als die Herren Brandt und Rau. Aber: was heißt eigentlich Einstieg in die Plutoniumwirtschaft? Sogar die Deutsche Gesellschaft für Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen erklärte, mit dem Bau des ersten Atomkraftwerkes sei der Eintritt in die Plutoniumwirtschaft bereits erfolgt und nicht erst mit dem Bau eines Schnellen Brüters in Kalkar. Am 5. Juni 1986 wollten wir die SPD im Deutschen Bundestag beim Wort nehmen.
Die zivile Atomenergie ist weder sicher noch notwendig
Rede vor der «Oxford Union Society» in einem Streitgespräch
mit der britischen Atombehörde (1986)
Wir müssen die weltweiten Ungleichgewichte, die zum Krieg und zu militärischen Eingriffen führen, mindern. Wir müssen jene Energietechnologien abschaffen, welche die Mittel zur Herstellung von Atombomben beschaffen und den »Bombenfabriken« eine harmlose Tarnung bieten. Die meisten Atomanlagen können in Bombenfabriken umgewandelt werden und stellen Bedrohungen dar, welche andere veranlassen, den Besitz eigener Bomben anzustreben. Gewaltlose Energiestrategien sind nicht nur für uns in den entwickelten Ländern wichtig; sie sollten auch für die Entwicklungsländer von großer Bedeutung sein. Und sie sollten den Schwerpunkt auf die Diversifizierung der Energieträger legen, um eine dezentrale Kontrolle und Verantwortlichkeit, eine Flexibilität bei der Energieversorgung, zur Vermeidung von katastrophalen Stromverlusten, um die Entwicklung von Energietechnologien (die sich auf örtliche Hilfsquellen stützen) zu ermöglichen. Dabei sollten die handwerklichen Fähigkeiten der Menschen umfassend genutzt und den „Niedrigkosten« Energieträgern zur Einsparung des knappen Kapitals und zur Minderung der Korruptionsmöglichkeiten die Priorität eingeräumt werden.
Eine Neuauslegung von Artikel IV des Nichtverbreitungsvertrags und die Einführung gewaltloser Energiestrategien in den Entwicklungs- und Industrieländern bleiben der einzige Ausweg aus der Zwiespältigkeit dieses Vertrags, welcher die Weiterverbreitung von Atomwaffen erlaubt und gefördert hat. jedes Land, das sich auf eine gewaltlose Energiestrategie einläßt und sich der Atomkraft entledigt, zeigt seinen Nachbarn und Freunden ebenso wie seinen Gegnern, daß es nicht in eine heimliche Herstellung von Atombomben verwickelt ist. Vergessen wir nicht, daß Länder mit Nuklearanlagen auch das Risiko eines Präventivschlags seitens ihrer potentiellen Gegner eingehen, die sie der »Nuklearisierung« verdächtigen. Im Rahmen der NATO-Strategie wissen wir auch, daß das Abwerfen von konventionellen Bomben auf Atomkraftwerke katastrophale nukleare Niederschläge verursachen würde, und auch dieses Arguments sollten wir uns bedienen, wenn wir die Errichtung von Atomkraftwerken in so dicht besiedelten Gebieten, wie z.B. in Europa, ablehnen. Wir brauchen nicht einmal Nuklearwaffen, um einen nuklearen Holocaust auszulösen; das einzige, was wir dazu brauchen, sind Atomkraftwerke und konventionelle Bomben. Die NATO hat tatsächlich einmal erklärt, Europa sei nicht zu verteidigen wegen der großen Anzahl von Atomreaktoren, die zur Zielscheibe werden könnten! Seit nunmehr dreißig Jahren verkauft die Atomkraftindustrie - besonders jene des Westens - Ländern der Dritten Welt das Material und das Knowhow zur Herstellung von Atomwaffen. Bis 1990 werden Israel, Irak, Libyen, Indien, Pakistan, Taiwan, Südkorea, Brasilien, Argentinien und Südafrika in der Lage sein, Atomwaffen zu produzieren. Mindestens die Hälfte dieser Länder ist bereits heute dazu fähig, meine ich. Die zivile Atomkraft bietet die Mittel und den »harmlosen Deckmantel« für die Herstellung von Atombomben.
Die Atomkraft kann aber in einem sogenannten »freien Markt« nicht überleben, und ich glaube, daß der drohende globale Kollaps dieses Marktsystems eine einzigartige - falls baldige - Gelegenheit für die Reduzierung der Energiekosten und die Einstellung der nuklearen Weiterverbreitung bieten kann. Die friedliche und die militärische Nutzung der Atomenergie und -technologie sind völlig miteinander verflochten - sie sind siamesische Zwillinge. Die Schrecken von Hiroshima und Nagasaki waren ein schmerzlich-anschaulicher Beweis für das Zerstörungspotential der Atomenergie, während die sogenannten »friedlichen« oder zivilen Nutzungsarten der neuen Kraftquelle zu Beginn nichts anderes waren als Prognosen und Spekulationen. 1968 waren die Prioritäten schon völlig umgekehrt worden, und der US-Botschafter Arthur Goldberg sagte in einer Rede vor den Vereinten Nationen zur Unterstützung des NV-Vertrags, es wäre eine »unannehmbare Entscheidung«, ja geradezu »undenkbar« zu beschließen, daß die Nicht Nuklearstaaten »nicht in den Genuß dieser äußerst verheißungsvollen Energiequelle, der Atomkraft, kommen sollten - nur weil wir kein vertragliches Mittel besitzen, um diese Energie für den Frieden zu wahren«. Die sogenannten zivilen »nuklearen Pflugscharen« wurden dann in den 60er und 70er Jahren weltweit verbreitet, selbst wenn sie leicht in Schwerter umgewandelt werden konnten. Traurig sind die Geschichte der Internationalen Atomenergie-Organisation und von EURATOM. Die den Kontrollen zugrunde liegende Philosophie ist auf die Begünstigung der potentiellen Empfänger nuklearer Unterstützung ausgerichtet, indem vereinbart wird, daß die Sicherheitsmaßnahmen den freien Fluß des nuklearen Know-how und der Substanzen nicht behindern sollen, von denen behauptet wird, sie dienten »friedlichen« Zwecken.
So steht beispielsweise in Artikel 2 der Satzung der Internationalen Atomenergie Organisation, daß die Organisation »danach streben solle, den Beitrag der Atomenergie zum Frieden zu beschleunigen und auszuweiten« und »soweit es ihr möglich ist, sicherzustellen«, daß sie nicht zur Förderung irgendwelcher militärischer Zwecke genutzt werden soll. Aber, wenn die Organisation nicht in der Lage ist, dies sicherzustellen, wie kann sie dann die Verbreitung der Atomenergie beschleunigen? Desgleichen besagt der NV Vertrag (Artikel III 3), die Sicherheitsmaßnahmen müßten eine »Behinderung« der internationalen Zusammenarbeit auf dein Gebiet der friedlichen nuklearen Betätigung vermeiden«. Und unsere eigene Regierung hat mit Hilfe von Franz Josef Strauß und des Sozialdemokraten Willy Brandt in eine den NV Vertrag damals begleitende Regierungsnote eine Erklärung eingefügt, wonach die Schaffung und der Aufbau einer »nuklearen Supermacht Europa« durch den NV Vertrag nicht behindert werden solle. Dies bedeutet, daß noch heute die Option offensteht, die britischen und französischen Nuklearkräfte zusammenzulegen und ein europäisches Nukleargremium zu schaffen, in dem z. B. die Bundesrepublik Deutschland das Recht hätte, über den Einsatz von Atomwaffen mitzubestimmen. Jahrelang wurde die Behauptung verbreitet, daß Plutonium aus Atomreaktoren normalerweise zur Herstellung von Bomben nicht geeignet sei. Es ist nicht recht verständlich, warum so viele technisch versierte Menschen dazu beitrugen, diese falsche Auskunft zu verbreiten. Viele westeuropäische Länder wurden zu einer Unterschätzung der Risiken verleitet, die von dem aus Atomreaktoren stammenden Plutonium ausgehen.
Die Trennungslinie zwischen der sogenannten friedlichen und der militärischen Nutzung der Atomenergie wurde tatsächlich in unbedachter Weise verwischt. Ich glaube, daß es eine derartige Trennungslinie nie gegeben hat. Aber warum wurde, zum Beispiel, der Versuch unternommen, abgebrannten Brennstoff durch die Purex-Methode wiederaufzubereiten? Diese Purex-Methode wurde nämlich entwickelt, um besonders reines Plutonium zu gewinnen. Zu welchem Zweck? Um Bomben herzustellen! Diese Purex-Methode wurde durch die US-Atom-Energie-Kommission in der ganzen Welt verbreitet. Wie läßt sich ein derart verantwortungsloses Verhalten erklären? Warum erhoben sich damals so wenige warnende Stimmen?
Aber der Mythos war entstanden, wonach die Aufgabe der Überwachung der Atomtechnologie insgesamt, ungeachtet der verwendeten Materialien und technischen Verfahren, einer internationalen Organisation anvertraut werden könne. Was machte es, daß das wiederaufbereitete Plutonium sehr schnell zu einer Bombe verarbeitet werden konnte? Die Wiener Organisation konnte ja die Überwachung sicherstellen. Was machte es, daß hochangereichertes Uran in manchen Ländern in großer Menge gespeichert wurde? Es unterlag ja den Sicherheitsmaßnahmen der Organisation.
Die US-Atomic-Agency und ihre Nachfolger verloren den Bestand von Hunderten Kilogramm Plutoniums und hochangereicherten Urans völlig aus den Augen. Die Rüstungskontroll- und Abrüstungsagentur mußte wiederholt energisch nachhelfen, um zu erreichen, daß mit der Zusammenstellung aktualisierter Daten begonnen wurde. Und - was die Dinge noch schlimmer machte - wann immer eine deutliche Verletzung der Bedingungen der US-Hilfe zu verzeichnen war - wie im Falle der Atomexplosion in Indien im Jahr 1974, brachten sich manche Bürokraten in Washington vor Eifer fast um bei der Interpretation der zwiespältigen Bestimmungen, um die ausländische Regierung, die sich über die Pläne des Kongresses hinweggesetzt hatte, von jeder Schuld freizusprechen.
In einer Untersuchung von Albert Wohlstetter und anderen wurde festgestellt, bis 1985 besäßen fast vierzig Länder in dem abgebrannten Brennstoff aus ihren zur Stromerzeugung genutzten Reaktoren genügend chemisch trennbares Plutonium für die Herstellung einiger Bomben. Ungefähr die Hälfte dieser Länder hatte bis dahin eine Kapazität geplant, die es ermöglichen sollte, mindestens diese Menge an Plutonium aus ihrem abgebrannten Brennstoff zu gewinnen.
Aber nehmen wir mal an, es wäre zu Lebzeiten Christi ein Atomkraftwerk betrieben worden. Die Betreiber hätten den radioaktiven Abfall in riesigen gepanzerten Kanistern aufbewahrt. Wir hätten dann heute diese Abfälle für weniger als ein Prozent der Zeit aufbewahrt, die sie zum Abbau ihrer Radioaktivität benötigen.
Die von der Atomkraft ausgehenden Gefahren sind unmittelbar spürbar und langwirkend. Sie sind unheimlich und bisher einzigartig. Das Risiko katastrophaler Unfälle, wie in Tschernobyl, die Freisetzung von giftigen Substanzen, Niedrigstrahlung (sogar im Normalbetrieb), Sabotageakte, die Herstellung von Atombomben durch Terroristen, dies sind nur einige der schrecklichen Möglichkeiten. Trotz dieser unmittelbaren Gefahren behauptet die Atomindustrie, wir bräuchten Hunderte von Atomkraftwerken in ganz Europa, um einen hohen Lebensstandard zu wahren. In Wirklichkeit geschieht folgendes: Verbrecherische Regierungen und korrupte Nuklearlobbys bedrohen uns, indem sie uns sagen, wenn wir uns den Ratschlägen und Wünschen des nuklearen Establishments nicht fügten, würden wir unsere Arbeitsplätze verlieren, unsere Lebensmittelversorgung würde schrumpfen, und wir würden insgesamt wieder in die Steinzeit zurückfallen. Tatsächlich hat unser Bundeskanzler Helmut Kohl vor kurzem seine Argumente zugunsten der Atomkraft genau in diesem Sinne erläutert (er sprach von »Verelendung"). Zumindest Schweden, Holland, Österreich, Jugoslawien, Mexiko, die Philippinen und weitere Länder beginnen zu begreifen, daß man mit diesen Lügen nicht weiterkommt, und sie fangen an, ihre nuklearen Pläne und Alpträume aufzugeben. Bisher sind die Lobbys der Elektrizitätsgesellschaften stets für einen unbegrenzten Energiekonsum eingetreten. Und nur in sehr wenigen Fallen wurden echte Energiesparprogramme entwickelt, die auch von den Versorgungsbetrieben ernstgenommen werden. Die bisherige Befürwortung eines unbegrenzten Energieverbrauchs in unseren Ländern deutet auf eine sehr verwerfliche Vermutung: daß die Gesellschaft nur da sei, um der Wirtschaft zu dienen, und nicht umgekehrt. In Großbritannien gibt es 16 Atomkraftwerke (36 Reaktoren). Zu diesen gehören elf Magnox Anlagen und fünf hochmoderne gasgekühlte Reaktoranlagen. Außerdem gibt es Prototyp Reaktoren für Versuchszwecke; den dampferzeugenden Schwerwasserreaktor und den Prototyp-Schnellbrüter-Reaktor. 1983 lieferten die Atomkraftwerke 17,67 Prozent des elektrischen Stroms Großbritanniens, und es wird erwartet, daß der Anteil der Atomenergie auf ca. 25 Prozent steigen wird, wenn in den nächsten Jahren noch weitere Atomkraftwerke in Betrieb genommen werden. Am gesamten Energieverbrauch in Großbritannien beträgt der Anteil der Atomkraft sechs Prozent. Wir in der Bundesrepublik Deutschland haben mehrere Szenarios darüber ausgearbeitet, wie wir möglichst zügig und bald ohne Atomenergie auskommen können, und diesem Anliegen sollte auch hier in Großbritannien eine Priorität eingeräumt werden.
Ich glaube, daß die Atomkraft stufenweise abgeschafft werden kann, wenn wir jetzt, und zwar möglichst bald, damit beginnen, ohne die Energieversorgung, zu gefährden und ohne den hohen Bedarf im Winter einschränken zu müssen. Es muß zu einer Verbindung zwischen kreativen Maßnahmen zur Elektrizitätseinsparung und zur Wiederaufwertung der bestehenden Kohlekraftwerke kommen; letztere sollten sicherer gemacht werden, und wir sollten alle erneuerbaren, weichen Energieformen erschließen, die sich uns bieten. Wer sich ein Bild von den Kosten der Atomkraft macht, wer die Kosten der Stromerzeugung aus Atomkraftwerken betrachtet, muß sich klar darüber werden, daß man es mit einem völlig irren finanziellen Subventionsspiel zu tun hat. Viele nuklearwirtschaftliche Kalkulationen lassen absichtlich die Kosten für die anfängliche Forschung und Entwicklung unberücksichtigt, sie klammern den nuklearen Brennstoffzyklus aus, der zum Beispiel dann beginnt, wenn Großbritannien von Kanada, den USA, Australien und Namibia Uran ankauft. Auch am Anfang des nuklearen Brennstoffzyklus, wenn in den Wohngebieten einheimischer Bevölkerungen, wie den amerikanischen Indianern und den australischen Ureinwohnern, Uran abgebaut wird, entstehen hohe menschliche »Kosten«. Dieser Uranabbau führt in den erwähnten Gebieten zu vielen ernsten Gesundheits- und Umweltproblemen. Und man muß die Kosten für die Stillegung von Atomkraftwerken und für die Entsorgung mitberechnen, die für eine sehr, sehr lange Zeit anzulegen ist. Infolgedessen sind die uns von der Nuklearlobby gelieferten Zahlen falsch. Wir müssen mit der Erschließung erneuerbarer Energiequellen, wie dem Sonnenlicht, der Windenergie, der Biomasse, der Wellen- und Gezeitenenergie, der Stromerzeugung aus Wasserkraft und Erdwärme - der geothermischen Energie - beginnen. Großbritannien ist ebenfalls mit erneuerbaren Energiequellen gut ausgestattet. Es erhält im Laufe dieses Jahres einen bedeutsamen Anteil an Solarenergie. Dies könnte weitgehend zur Deckung des Raumund Wasserheizungsbedarfs eines gut geplanten Hauses ausreichen. Die britischen Windverhältnisse gehören zu den beständigsten der Welt, und es gibt hier ein sehr großes Potential an Wasser- und Gezeitenenergie.
Und es gibt auch ein Potential an Biomasse, besonders aus Abfällen. Der Energiegehalt der biologisch abbaubaren Gemeinde- und lndustrieabfälle, die üblicherweise weggeworfen werden, entspricht etwa sieben Prozent des primären Energieverbrauchs - einem höheren Anteil als dem der Atomenergie. Und es gibt auch erschließbare Energie in land- und forstwirtschaftlichen Rückständen. Ein großes Potential liegt ferner im Inneren des Erdbodens, unterhalb der Humusschicht: die Erdwärme. Bisher war aber die Unterstützung von Regierungsseite für die Erschließung der erneuerbaren Energien, wie in unserem Land, sehr begrenzt und sehr, sehr bescheiden, im Vergleich zu den Zuschüssen für andere Hochtechnologien. Eine Zahl, die mir vor kurzem genannt wurde, besagt, daß 1984 der Schnelle Brutreaktor und die Kernfusionsforschung in Großbritannien Beihilfen in Höhe von 124 Millionen Pfund beziehungsweise 30 Millionen Pfund erhalten hätten- dagegen hätten die Subventionen für sämtliche erneuerbaren Energien nur 18 Millionen Pfund betragen. Wir müssen den politischen Willen aufbringen, das zu ändern. Ich möchte jetzt zum Thema der radioaktiven Strahlungen kommen. Es hat sich herausgestellt, daß von allen Geschöpfen auf dieser Welt die Menschen für krebsauslösende Wirkungen der Strahlungen am anfälligsten sind. In Deutschland ist Krebs die Todesursache jeder vierten Person. Es wird geschätzt, daß einer von drei heute lebenden Amerikanern oder Europäern irgendwann einmal an Krebs erkranken wird. Die Strahlungen lösen nicht nur Krebs aus; sie verursachen auch genetische Mutationen. 1927 erhielt Dr. H. J. Muller den Nobelpreis für seine Entdeckung, wonach die Röntgenbestrahlung zu einer Steigerung der Zahl derartiger Mutationen bei Taufliegen führe. Strahlungsbedingte rezessive Mutationen treten möglicherweise nicht sofort in Erscheinung. Ein Kind mag einen normalen Eindruck machen, aber Träger des zerstörischen Gens sein und es auf die nächste Generation übertragen. Zuckerkrankheit, Muskelschwund, Bluterkrankheit, bestimmte Formen der geistigen Retardation und die zystische Fibrose gehören zu den 15000 heute bekannten rezessiven genetischen Krankheiten. Die Strahlung kann auch in einem Spermium oder in einer Eizelle einen Chromosomenbruch verursachen. Eine damit zusammenhängende Krankheit ist das Down-Syndrom. Wir sind alle ständig irgendwelchen Strahlungen in Form der natürlichen »Hintergrund"Bestrahlung ausgesetzt, welche die Erde seit Milliarden Jahren erreicht. Der Hintergrundstrahlung sind wir weiterhin ausgesetzt. Man vermutet, daß diese Form von Strahlung für einen Teil aller Krebserkrankungen und genetischen Störungen verantwortlich ist, an denen wir heute leiden (Dr. Helen Caldicott). Die natürliche Hintergrundstrahlung verursacht unsere schrittweise Alterung, und eine Verstärkung dieser Hintergrundstrahlung wird den Alterungsprozeß beschleunigen. Aber hier müssen wir offen und ehrlich über die von Menschen geschaffene künstliche Bestrahlung sprechen, der die meisten von uns auch ausgesetzt sind. Künstliche Bestrahlung kann ebenfalls Krebs und genetische Mutationen auslösen. Die medizinischen Röntgenstrahlen waren im wesentlichen die Strahlenquelle, die uns in der Vergangenheit bekannt war. Dr. Carl Morgan, ein medizinischer Physiker, schätzt, daß 40 bis 50 Prozent aller ärztlichen Röntgenstrahlen unnötig sind. Und wir kennen die außerordentlich wertvollen Arbeiten von Dr. Alice Stewart auf diesem Forschungsgebiet.
Die Erzeugung von Atomenergie und die bei der Herstellung und der Erprobung von Atomwaffen verwendeten Verfahren sind die zweitwichtigste Quelle allgemeiner Bestrahlung. Diese Verfahren führen zur Entstehung Hunderter radioaktiver Elemente, die beginnen, die Lebensmittelkette zu verseuchen, und bis in die Flüsse, Seen und Meere gelangen; hier werden diese radioaktiven Elemente von Fischen verzehrt und in die biochemischen Systeme aufgenommen, wo sie in tausendfacher Konzentration auftreten. Bei Kühen, die auf verseuchtem Gras weiden, konzentriert sich die Strahlung noch stärker, und schließlich übertragen sie die Verseuchung durch die Milch und das Fleisch tuf uns. Eine hervorragende Stelle nehmen unter den radioaktiven Elementen bei der Erzeugung von Atomkraft die Betastrahler ein, wie das Jod 131, Strontium 90 und Caesium 137. Das Jod 131 hat eine Halbwertzeit von acht Tagen. Aber es wandert durch das Blut in die Schilddrüse und kann dort 12 bis 50 Jahre später Krebs auslösen. Strontium 90, das eine chemische Ähnlichkeit mit dein Calcium aufweist, wird in das Knochengewebe aufgenommen, wo es Leukämie und osteogene Sarkome (bösartigen Knochenkrebs) verursachen kann. Caesium 137 mit einer Halbwertzeit von 30 Jahren wird in Tiermuskeln und Fischen konzentriert. Mit der menschlichen Nahrung eingenommen, lagert es sich in den Körpermuskeln ab und bestrahlt von dort aus die benachbarten Organe.
- Ob natürlich oder künstlich: jede Art von Bestrahlung ist gefährlich,
und es gibt keine unschädliche Menge radioaktiver Substanzen
oder unschädliche Strahlendosen.
Warum? Diese Frage sollte ich der Gegenseite stellen. Weil aufgrund der Art des durch Strahlen erzeugten Schadens ein einziges radioaktives Atom, eine einzige Zelle und ein einziges Gen schon den Krebs oder den Mutationszyklus auslösen können. jede Bestrahlung ist daher ein gefährliches Spiel mit den Lebensmechanismen. In der Untersuchung der Weltgesundheitsorginisation über den Reaktorunfall von Tschernobyl wird sehr deutlich erklärt: »...es wird allgemein vermutet, daß es keine Schwellendosis gibt, unterhalb derer Langzeitwirkungen nicht eintreten können...« Fast alle Genetiker sind sich darin einig daß es keine auch noch so geringe Strahlendosis gibt, die keine Mutation hervorrufen kann. Der unmittelbare Zusammenhang zwischen Krebs und sogar minimalen Strahlenmengen wurde am besten von Dr. Alice Stewart bewiesen, die herausfand, daß eine einzige diagnostische Röntgenbestrahlung durch den Bauch einer Schwangeren bei den Nachkommen das Risiko, an Leukämie zu erkranken, um 40 Prozent steigert. Jedes medizinische Lehrbuch das sich mit den Auswirkungen der Strahlungen befaßt, warnt davor, daß es keinen unschädlichen Bestrahlungsgrad gibt. Trotzdem haben die verbrecherisch handelnde Atomindustrie und die ebenfalls verbrecherisch handelnden ausführenden Regierungsorgane Dosiswerte festgelegt, von denen sie behaupten, daß sie für die Arbeiter und die Öffentlichkeit ungefährlich sind, wobei sie sich auf die Aussagen von Wissenschaftlern beriefen, die glauben, es gebe eine Schwelle, unterhalb welcher geringe Dosen einer ionisierenden Bestrahlung harmlos sein könnten. Die Internationale Strahlenschutzkommission (ICRP) schlug ursprünglich »zulässige« Bestrahlungshöchstgrenzen für die Industrie vor, gab dabei jedoch zu, daß diese möglicherweise nicht wirklich unbedenklich seien. Zugegebenermaßen räumte sie der Förderung der Atomkraft die Priorität ein. Die ICRP stellte in ihrer Empfehlung im Jahre 1966 fest: »Diese Begrenzung stellt zwangsläufig, einen Kompromiß zwischen schädlichen Wirkungen und gesellschaftlichem Nutzen dar... es wird davon ausgegangen, daß dieser Wert einen vernünftigen Spielraum für den Ausbau der Atomenergieprogramme in absehbarer Zukunft bietet.
Es muß betont werden, daß die Grenze in Wirklichkeit nicht einen angemessenen Ausgleich zwischen dein möglichen Schaden und dem vermutlichen Nutzen darstellt.« Diese Denkweise macht uns alle zu Versuchstieren bei dein Experiment zur Feststellung, wieviel radioaktive Stoffe in die Umwelt eingeleitet werden können bevor größere Krebs und Leukämieepidemien sowie genetische Anomalien ihren Tribut fordern. Als Untersuchungen über die ionisierende Bestrahlung in geringen Dosen aufzeigten, daß geringere Strahlenwerte als die zugelassenen Krebs verursachten, wurde zum Beispiel durch US-Regierungsgremien versucht, diese Ergebnisse zu unterschlagen. Einer dieser Fälle betrifft die von Dr. Thomas Mancuso durchgeführte Studie. Dabei sollte festgestellt werden, ob niedrigwertige Strahlungen bei Nukleararbeitern in zwei der ältesten und größten Atomreaktoren in den USA (Hanford und Oak Ridge) zu biologischen Auswirkungen führten. Das wachsende Maß der Bestrahlung, denen die Arbeiter und die Öffentlichkeit seitens der Atomindustrie ausgesetzt werden, hat tragische Folgen für viele Menschen. Die Skandale von Sellafield und Dounreay hier in Großbritannien zeigen uns deutlich, womit wir es zu tun haben. Und während wir uns wegen der Atomindustrie Sorgen machen, tun die biotechnische und die genetische Industrie ihr Bestes - und ich meine dies ironisch - um zu versuchen, in der Zukunft die menschlichen Wesen wieder instand zu setzen, die infolge der Bestrahlung genetische Schäden erlitten haben. Atom-Staat und Gen-Staat: beides verwerfen wir. Wir dürfen nicht vergessen, daß die Latenzzeit für Krebs oft zwischen zehn und vierzig Jahren liegt und daß genetische Veränderungen oft erst nach Generationen erkennbar werden. Wir beginnen erst, Erfahrungen zu sammeln über die Wirkung, welche die Bestrahlung auf uns ausüben kann. Die Auswirkung der Radioaktivität auf uns selbst, auf unsere Kinder Lind auf unseren Planeten ist unumkehrbar, und daher müssen wir jetzt mit Entschlossenheit handeln. Wir stehen vor einem Todeszyklus: Abbau von Uranerz, Verarbeitung und Anreicherung des Urans, Herstellung von Brennstoff, Betrieb von Atomreaktoren, Wiederaufbereitungsanlagen, Schnelle Brutreaktoren, nuklearer Abfall, Stillegung von Atomkraftwerken. jedes Atomkraftwerk wird auf einem radioaktiven Müllhaufen enden, weit die Anlage nur 20 bis 30 Jahre lang betrieben werden kann; sie wird dann so radioaktiv, daß sie sich nicht mehr reparieren oder weiter betreiben läßt. Die Kosten für die Stillegung sind katastrophal hoch, und die Durchführung derartiger Projekte dauert zwei bis drei Jahre. Und was soll man mit dem tödlichen Erbe an nuklearem Abfall tun? Die Hochrechnungen der Atomindustrie sehen vor, daß bis zum Jahr 2000 152 Millionen Gallonen (1 Gallone = 4,546 Liter) an hochradioaktiven Rückständen anfallen werden.
Die Kosten für die Vorbereitung der bisherigen 83 Millionen Gallonen auf die geologische Entsorgung werden schon auf 20 Milliarden Dollar geschätzt. Selbst wenn es unzerbrechliche, korrosionsfeste Behälter gibt, selbst wenn es unterirdische Lagerstätten gibt, so werden sie ständig von unbestechlichem Wachpersonal kontrolliert und von moralisch einwandfreien Politikern verwaltet werden müssen, die in einer stabilen, kriegsfreien Gesellschaft leben, und sie dürfen während Tausenden von Jahren weder durch Erdbeben, Naturkatastrophen noch durch sonstige Eingriffe einer höheren Gewalt zerstört werden (Helen Caldicott). Seaborg, der Entdecker der Isotopen, schätzte, daß bis zum Jahr 2000 1,6 Millionen (engl.) Pfund Plutonium produziert werden wird. Über einen Teil dieses Plutoniums, vielleicht zwei Prozent oder mehr, kann keine Rechenschaft abgelegt werden; vermutlich wird diese Menge während der Wiederaufbereitung, während des Transports oder bei anderen Tätigkeiten in die Ökosphäre ausweichen. Wenn aber nur zwei Prozent die Umwelt verseuchen, dann - so John Gofman - »können wir sicherlich die Zukunft der Menschen aufgeben«. Das National Center for Atmospheric Research in Colorado gab 1975 bekannt, mehr als fünf metrische Tonnen Plutonium seien infolge der Atombombentests, des Wiedereintritts von Satelliten in die Erdatmosphäre bzw. ihrer Verbrennung, des Entweichens aus nuklearen Wiederaufbereitungsanlagen, von unfallbedingten Bränden, Explosionen und Lecken in einer dünnen Schicht über die Erde verstreut. Nun stelle man sich einmal vor, was geschähe, wenn »SDI« verwirklicht würde und Atomraketen hoch über uns zur Explosion kämen. Die aus der Zerstörung dieser Atomwaffen stammende Strahlungsmenge wäre in höchstem Maße katastrophal. Ob nun die Raketen auf uns hinabgeworfen oder in der Atmosphäre, sehr hoch über uns, explodieren würden - wo läge der Unterschied?
Die Vision der Atomkraft in ihrer sogenannten zivilen Form als einer zuverlässigen Energiequelle verflüchtigt sich recht schnell. 1965 kündigte die US-Regierung an, im Jahr 2000 würden 1000 Atomreaktoren in Betrieb sein. Aber die Aufträge für den Bau neuer Atomkraftwerke sind im Jahr 1974 in den USA sehr schnell steil abgesunken und erreichten 1977 den Nullpunkt. Wir sollten auch darüber nachdenken, welche Art von Gesellschaft entsteht, wenn versucht wird, die Atomkraft angeblich »sicher« zu machen und »unter Kontrolle« zu halten.
Die Atomkraft bedingt den Polizeistaat! Einige haben viel mehr Erfahrung als wir mit Polizeistaaten, z. B. die Menschen in den osteuropäischen Ländern. Aber auch wir, die wir eine viel größere Freiheit genießen, erleben »Atomkraft« umgeben von Stacheldraht, mit polizeilicher Überwachung der Anlagen, Arbeiter und ihrer Familien, mit privaten Schutzleuten, mit wachsender Gewalt und Gegengewalt bei den jüngsten Demonstrationen. Die Atomkraft ist keinesfalls vereinbar mit einer demokratischen und dezentralisierten Gesellschaft. Das britische Programm zur Entwicklung der Atomenergie sieht eine Verdoppelung der Energiekapazität Großbritanniens vor, während die Fragen der Sicherheit, Gesundheit sowie wirtschaftliche und politische Faktoren unberücksichtigt bleiben. Das gehäufte Auftreten von Kinderleukämie in der Umgebung von Sellafield und am gegenüberliegenden Ufer des Irischen Meers sind ernste Warnzeichen, selbst wenn es kein Tschernobyl gegeben hätte. Atomenergie ist und bleibt lebensfeindlich! »Wir müssen der Atomkraft jetzt Einhalt gebieten. Irren wir uns (so David Brower für POE), so können wir etwas anderes tun. Irren die anderen sich, so sind wir tot!"
(Rückübersetzung aus dem Englischen)