Über Aufrüstung

Es muß allerdings festgestellt werden, daß die
Schraube des Wettrüstens zumeist vom Westen
weitergedreht worden ist. Nicht nur in der An
zahl der einsatzbereiten nuklearen Gefechtsköp
fe lag der Westen stets vorn, auch die wichtig
sten Rüstungsschritte bei der Einführung
neuartiger Waffensysteme, Einsatzmittel und
Lenkverfahren wurden immer zuerst von den
USA getan und erst danach, mit zum Teil mehr
jährigem Abstand, auch von der UdSSR vollzogen.
Gert Bastian

Gegen Erstschlag- und Massenvernichtungswaffen
in Ost und West

Rede auf dem Nürnberger Tribunal, initiiert von
P. Kelly und G. Bastian (1983)

Diese letzten Bemerkungen erlauben mir, auf
eine Kritik zu antworten, die sicherlich ohne
böse Absicht eine Pariser Zeitung erhoben hat:
"Welch ein seltsames Gericht: es gibt Geschworene
und keine Richter!« Das ist wahr, wir sind nur
Geschworene, wir haben weder die Macht zu verurteilen,
noch irgend jemanden freizusprechen. Folglich gibt es
auch keine Staatsanwaltschaft.
Es gibt im eigentlichen Sinne des Wortes nicht
einmal eine Anklageschrift. Herr Matarasso,
Präsident der juristischen Kommission, wird Ihnen eine
Liste der Beschwerdepunkte vortragen, die erhoben
werden, und die Geschworenen werden am Schluß der
Tagung sich darüber auszusprechen haben,
ob diese Beschwerdepunkte berechtigt sind oder
nicht jedoch: Richter gibt es überall, es sind die
Völker, insbesondere das amerikanische.
Und gerade für sie arbeiten wir.
Aus der Eröffnungsrede von Jean-Paul Sartre
auf dem Bertrand-Russell-Tribunal,
Stockholm, am 2. Mai 1967

Was Hiroshima widerfuhr, kann uns
allen geschehen. Die ganze Welt ist ein
Hiroshima, das die Bombe noch nicht getroffen hat.
Bei uns allen liegt die Entscheidung, ob die
Menschheit zusammen sterben muß oder zusammen leben
kann.
I. Moritaki

Wir leben im friedlosen Frieden. NATO-Nachrüstung, Neutronenbombe, Pershing II Erstschlagwaffen, Cruise Missiles und SS-20-Raketen, Megatonnen atomare Sprengkraft, die auf uns gerichtet sind, und wir als mögliche Opfer, gezählt nach Megatoten - es hat nichts mehr mit unserer Vorstellungskraft zu tun. Das atomare Wettrüsten hat eine neue Eskalation erreicht. Bert Brecht hatte recht, als er 1952 geschrieben hat: »Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer. Die Beschreibungen, die der New Yorker von den Greueln der Atombombe erhielt, schreckten ihn anscheinend nur wenig... diese Abgestumpftheit ist es, die wir zu bekämpfen haben, ihr äußerster Grad ist der Tod.« Wir sind in Nürnberg zusammengekommen, um gegen diese Abgestumpftheit gewaltfrei zu kämpfen. So viele von euch gehören zu den Menschen, die mich motiviert haben, die mir Kraft gegeben haben, den Kampf, den gewaltfreien Kampf gegen Nuklearisierung und Militarisierung in beiden Blöcken fortzusetzen. Dieses Tribunal findet in Nürnberg statt, weil Nürnberg zu einer Symbolik für Tribunale und Prozesse geworden ist. Kaum eine Stadt hat ihren Ruf so eng und schicksalshaft mit der Tyrannei verbunden, wie »des Reiches Schatzkästlein«. Nürnberger Reichsparteitage, Nürnberger Rassengesetze, Nürnberger Prozesse, Julius Streicher und der »Stürmer«.
Die Grünen haben als Partei und Bewegung in ihrem Saarbrücker Bundesprogramm vor zwei Jahren folgende Forderung aufgestellt: »Weltweite Anprangerung aller Politiker, Wissenschaftler, Militärstrategen und Militärtechniker, welche zu Massenvernichtung und Völkermord anwendbare Techniken wie Waffensysteme planen, errichten, betreiben oder unterstützen. Im Anwendungs- oder Kriegsfalle Verantwortung vor einem internationalen Gerichtshof, um dessen Einrichtung wir uns bemühen wollen.« Dieser internationale Gerichtshof, den wir von uns aus hiermit in Nürnberg mit initiieren, muß sehr bald aktiv werden, so daß wir uns gemeinsam auf den Weg machen können, die Verbrechen an der Menschheit wirksam zu verhindern. Ein New Yorker Jurist formulierte es vor einigen Monaten in der »zeit": »Heutzutage müssen wir internationales Recht vor dem Ereignis durchsetzen, wenn wir überleben wollen. Es wird kein Nürnberger Tribunal geben, das über Verbrechen gegen die Menschheit urteilt, weil es nach einem Atomkrieg keine Sieger geben wird.« Die Grünen hatten 1981 eine Strafanzeige gegen Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher und Hans Apel erstattet unter dem Gesichtspunkt des Friedensverrats wegen »Vorbereitung eines Angriffskrieges« (§ 80 a StGB). Im Strafgesetzbuch steht unter »Friedensverrat": »Wer einen Angriffskrieg (Art. 26, Abs. 1 GG), an dem die Bundesrepublik Deutschland beteiligt sein soll, vorbereitet und dadurch die Gefahr eines Krieges für die Bundesrepublik Deutschland herbeiführt, wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht unter 10 Jahren bestraft.« Das Grundgesetz der Bundesrepublik, Art. 26, sagt folgendes: »Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.«
Durch den Beschluß der Außen- und Verteidigungsminister der NATO-Staaten in Brüssel vom 12. Dezember 1979, in Westeuropa und insbesondere auf dein Gebiet der Bundesrepublik weitreichende und zu offensiver Kriegsführung geeignete neuartige amerikanische Atomraketen zu stationieren, ist die NATO offenkundig und eindeutig aus dem Stadium eines Verteidigungsbündnisses herausgetreten und hat den Charakter einer Militärallianz mit offensiven, auch einen Angriffskrieg riskierenden Absichten angenommen. Da die neuen US Waffen, die dieses Jahr in der Bundesrepublik aufgestellt werden sollen, ausschließlich und eindeutig die Eigenschaften von Erstschlagwaffen besitzen, die das bislang herrschende, sogenannte atomare Gleichgewicht durchbrechen, macht sich die deutsche Bundesregierung durch ihre Zustimmung zu diesem Stationierunsbeschluß der Vorbereitung eines Angriffskrieges schuldig. Doch wir klagen auf diesem Tribunal nicht nur die Bundesregierung an, sondern die Regierungen aller Nuklearmächte, seien es die USA, die Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich, China und Indien, sowie alle Staaten, die sich insgeheim in den Besitz von Atomwaffen gebracht haben. Wir klagen die Nuklearmächte an, da sie durch ihre Bereitschaft zur Anwendung von Atomwaffen dem Völkerrecht und den Menschenrechten die Grundlage entziehen, da sie durch die Drohung mit Atomwaffen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts brechen, da sie die eingegangenen Verpflichtungen zur atomaren Abrüstung nicht eingehalten haben, da die waffentechnischen Entwicklungen ohne politische Kontrolle einen Atomkrieg unausweichlich machen und damit allen lebenden und künftigen Menschen der Erde das Grundrecht auf Leben und Sicherheit zerstören. Philip Berrigan hat einmal kommentiert: »Wir bewegen uns in Richtung Massenselbstmord. Totalvernichtung, alles im Namen der sogenannten Legalität. Regierungen, die das Gesetz ständig brechen, auf nationaler und internationaler Ebene. Die Regierungen verhalten sich anarchistisch, illegal und unkontrolliert ... ohne den Deckmantel der Legalität könnten die Regierungen diesen atomaren Wahnsinn nicht so betreiben. Und darum müssen wir unsere Aktionen gewaltfreien, bürgerlichen Ungehorsam nennen, obwohl sie doch in Wirklichkeit bürgerlicher Gehorsam sind...«
Am 18. Februar, heute vor vierzig Jahren, brüllte Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast: »Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt noch vorstellen können?« »Ab nach Dachau« - das war die makabre Anspielung auf die Konzentrationslager im Nürnberger Faschingszug des Jahres 1936, der sich durch die Gassen und Straßen von Nürnberg bewegt hatte. Auf dem Pferde Festwagen standen Männer in Häftlingskleidung.
Der Hauptankläger bei den Nürnberger Prozessen, Robert H. Jackson, hatte bei der Eröffnung des Prozesses vor dem internationalen Militärtribunal in Nürnberg 1945 folgendes gesagt: »Lassen Sie es mich deutlich aussprechen: dieses Gesetz wird hier zwar zunächst auf deutsche Angreifer angewandt, es schließt aber ein und muß, wenn es von Nutzen sein soll, den Angriff jeder Nation verdammen, nicht ausgenommen die, die jetzt hier zu Gericht sitzen.« Die Grünen nehmen hiermit diese Aussage sehr ernst, denn der Rüstungswettlauf, sei er atomar, chemisch oder konventionell, ist uneingeschränkt zu verurteilen.
Die ungeheuren Summen, die zur Herstellung und Lagerung von Waffen verwendet werden, stellen eine wahre Unterschlagung von seiten der Führungskräfte der großen Nationen oder der begüterten Bündnissysteme dar. Der klare Widerspruch zwischen der verschwenderischen Überproduktion an Rüstungsmaterial und der Summe unbefriedigter Lebensbedürfnisse (Entwicklungsländer und die Randgruppen in unserer Wohlstandsgesellschaft) ist schon ein Angriff auf jene, die seine Opfer sind. Ein Angriff, der zum Verbrechen wird: selbst wenn man die Waffen nicht tatsächlich anwendet, allein schon durch ihre Kosten töten sie die Armen, denn sie verurteilen diese zum Hungertod. Ob die atomaren Waffen ganz oder teilweise eingesetzt oder nur angedroht werden, durch sie wird die Abschreckung bis zur Erpressung getrieben und zur Norm der zwischenstaatlichen Beziehungen. Das System der atomaren Abschreckung beruht auf Angst, Gefahr und Unrecht und stellt eine Art kollektiver Hysterie dar. Die Grünen sagen als Bewegung und Partei schon sehr lange, daß der Rüstungswettlauf sinnlos ist, weil er seinen Zweck verfehlt. Auch der SPD-Vorsitzende Willy Brandt, der nun begründen will, daß er alles tun wird, um die Stationierung neuer Nuklearraketen auf deutschem Boden überflüssig zu machen, spricht nun inzwischen von der Aufrechnung des Gleichgewichts zwischen Ost und West als einer »kollektiven Geisteskrankheit«. Das erste Urteil von Nürnberg versuchte zum ersten Mal nach der Katastrophe eines Zweiten Weltkrieges, die verantwortlichen politischen und militärischen Führer einer Nation juristisch zur Rechenschaft zu ziehen und ihre Taten zu sühnen. Das Statut des Internationalen Gerichtshofes, der 1946 in Nürnberg zusammentrat, ermächtigte zu Anklagen wegen Verbrechen gegen den Frieden, wegen Kriegsverbrechen und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Prozeß von Nürnberg eröffnete eine neue Ära des Völkerrechts; Staatsmänner und Militärs sollten bei zukünftigen Entscheidungen nicht mehr damit rechnen dürfen, daß ihre Taten ohne weiteres hingenommen werden. Sie müssen auf die Erhaltung des Friedens, die Menschenrechte und die Achtung vor der Würde des Menschen verpflichtet werden. Aber die weit gesteckten Ziele des Nürnberger Prozesses hinsichtlich einer zukünftigen Rechtsordnung mit einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Angreifers hatten schon bei der Einleitung des Verfahrens keine Aussicht auf Verwirklichung und sind in der Folge auch nicht erreicht worden. Unterdessen sind vor den Augen der Weltöffentlichkeit auch seit 1946 Kriege vom Zaun gebrochen und so viele Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt worden. Die Kontroverse der Nürnberger Prozesse, anfangs so scharf geführt, schlief zu Beginn der 50er Jahre allmählich ein, und als der Nürnberger Prozeß aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwunden war, versickerte auch die Diskussion unter den Juristen. In den späten 60er Jahren gewann die Frage von Kriegsverbrecherprozessen dann neuerlich brennende Aktualität. Der Krieg in Vietnam machte die alten »Nürnberger Fragen« nach der Verantwortung für die Entfesselung eines Angriffskrieges unmittelbar relevant. Man stritt darüber, ob das amerikanische Vorgehen in Vietnam mit dem der Angeklagten von Nürnberg verglichen werden könne. In Stockholm verurteilte Bertrand Russell die amerikanische Politik, und die amerikanische Führung wurde gebrandmarkt im Sinne von Kriegsverbrechern. Wir wollen mit diesem Tribunal an die Bertrand-Russell-Tribunale anknüpfen, denn der Völkermord geht weiter. Viele Opfer vergangener Kriegsverbrechen sind unter uns, so die Schriftstellerin Krystyna Zywolska, die als 20jährige polnische Jüdin den Gaskammern von Auschwitz entrann, so Frau Ogura und Herr Shinohara aus Hiroshima und Tokio/Japan. Ich denke an das Unrecht, das tagtäglich an Indianern und Ureinwohnern verübt wird, in Kanada wie in Brasilien, wie in EI Salvador und Guatemala. Ich denke an das vierte Russell-Tribunal, das im November 1980 in Rotterdam stattfand und den indianischen Völkern Amerikas die Möglichkeit gab, vor einer unabhängigen Jury das ganze Ausmaß ihrer Verfolgung, und Vernichtung darzustellen. Ich denke hier an die Krebskranken und ihre Verwandten, die wegen der amerikanischen überirdischen Atomtests in den 50er und 60er Jahren nun gegen die amerikanische Regierung klagen. Auch die britischen Atombombenversuche der 50er Jahre in der Nähe der australischen Wüste Maralinga haben möglicherweise bei vielen der Beteiligten eine tödliche Krebserkrankung ausgelöst.
Ich denke auch an die Opfer der französischen Atombombenversuche in Französisch-Polynesien. Die gesundheitlichen Schäden für die Bevölkerung im Pazifik sind unabsehbar und führen zu überproportionalen Krebs- und Leukämieerkrankungen.
Dieses Tribunal ist kein förmlicher Gerichtshof und hat keinerlei Macht, seine Entscheidungen zu erzwingen. Diese Schwäche macht jedoch andererseits seine Stärke aus. Ohne Macht, Sanktionen aufzuerlegen, appelliert dieses Tribunal an das Gewissen und an die Vernunft der Menschen. Wir bedauern, daß die angeklagten Regierungen der Aufforderung, sich gegen die ihnen zur Last gelegten Vorwürfe zu verteidigen, nicht gefolgt sind. Dieses Schweigen und die fünf leeren Stühle, die die fünf Regierungen der Atommächte symbolisieren sollen, sprechen für sich selbst. Vertreter der amerikanischen, der bundesdeutschen sowie der sowjetischen Regierung wurden angefragt und eingeladen, doch blieb jegliche positive Antwort aus. Es kommen sehr schwere Zeiten auf uns zu, wie im neuen Buch von Robert Scheer »Und brennend stürzen Vögel vom Himmel« beschrieben, in dem detailliert dargestellt wird, daß der amerikanische Präsident Reagan und seine Berater davon ausgehen, daß die USA in der Lage sein müssen, einen Nuklearkrieg zu führen und zu gewinnen. Auch bei uns gibt es sehr aggressive Äußerungen. In einem Bericht der »Frankfurter Rundschau« vom 14. Februar 1983 wird zum Beispiel Franz Josef Strauß wie folgt zitiert. »Er, Strauß, habe keinerlei Verständnis für die törichten Äußerungen der amerikanischen Bischöfe, und er habe das auch deutschen Bischöfen gesagt.« Mit dieser Schärfe hat der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß die katholischen Bischöfe wegen ihres Vorhabens angegriffen, im Frühjahr in einem Hirtenbrief die Ächtung aller Atomwaffen zu fordern. In der »Frankfurter Rundschau« vom 15. Februar 1983 wird berichtet, daß sich die Londoner Regierung zur Zeit um den Ankauf von Rohstoffen aus Südafrika bemüht, um ein strategisches Vorratslager für den Kriegsfall anzulegen. Mehrere südafrikanische Firmen sollen Bestellungen für Chrom, Mangan und andere Stoffe erhalten haben, »die für die Industrie von vitalem Interesse sind oder für die Waffenherstellung gebraucht werden«. Die ersten Abschlüsse sollen sich auf 20 bis 40 Millionen Mark belaufen, die Gesamtsumme werde aber sehr viel höher liegen. Die Zeiten werden immer finsterer angesichts der Warnung des bayerischen Innenministeriums in bezug auf die atomwaffenfreien Zonen. Das bayerische Innenministerium hat die bayerischen Kommunen jetzt vor solchen Schritten, wie zum Beispiel sich als atomwaffenfreie Zonen zu bezeichnen, gewarnt, da sie einen - Zitat - »unzulässigen Übergriff in die ausschließliche Zuständigkeit des Bundes« darstellten. Es wurde darauf hingewiesen, daß derartige Beschlüsse »rechtswidrig« seien, weil sie Dinge beträfen, die nicht zu den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft gehören. Die bayerischen Gemeinden Nürnberg, Lindau und Eching bei Freising, die sich bislang im Freistaat Bayern formell gegen die Lagerung von Atomwaffen auf ihrem Gebiet ausgesprochen haben, müssen ihre Entscheidung demnach zurücknehmen, wollen sie nicht eine »förmliche Beanstandung« in Kauf nehmen. Ich glaube aber, das bayerische Innenministerium irrt, wenn es Beschlüsse von Gemeinden als unzulässig und rechtswidrig bezeichnet, in denen diese die Lagerung von Atomwaffen auf ihrem Gebiet ablehnen. Nach unserer Auffassung gehört zur Verpflichtung der Gemeinden, daß sie sich über Umfang der Stationierung und Lagerung von Massenvernichtungswaffen sowie eine mögliche Gefährdung der Bevölkerung unterrichten lassen. Wenn der Schutz der Bevölkerung nicht garantiert sei, ist es die Verpflichtung der Gemeinden, den Abzug der ABC-Waffen und ein Verbot ihres Transportes zu fordern. Der im Grundgesetz verankerte Auftrag der aktiven Friedenspolitik sowie die gern. Art. 2 GG bestehende Schutz- und Fürsorgepflicht, Leben und körperliche Unversehrtheit der Bürger zu schützen, verpflichtet alle politisch Verantwortlichen zu entsprechendem Handeln. Für uns fängt die Demokratie von unten an, und deswegen besteht für die kommunalen Gebietskörperschaften nicht nur die Berechtigung, sondern die Verpflichtung, Bedenken wegen der Gefährdung ihrer Bürger, ihrer Lebensmögllchkeiten und ihres Gebietes ernst zu nehmen.
Wir haben leider Grund, fast zu verzweifeln, wenn ich zum Beispiel an die Meldung der Frankfurter Rundschau vom 13. Januar 1982 denke: »Blockade ist Gewalt«. Gewaltfreie Blockaden, bei denen Demonstranten den Fahrzeugverkehr unmöglich machen, sind keinesfalls als gewaltfrei zu bezeichnen - dies erklärte Justizminister Heinz Eyrich (CDU) vor Richtern und Staatsanwälten in Freiburg. Im Jahre 1969 hat der Bundesgerichtshof entschieden, daß das Sitzen auf Straßenbahnschienen Gewalt ist und den Tatbestand der Nötigung erfüllt. Eine neue politische Dimension gewinnt die exzessive Auslegung des Gewaltbegriffs dadurch, daß die Justiz ihn jetzt gerade gegen diejenigen verwendet, die ausdrücklich im Zeichen der Gewaltfreiheit, der Friedfertigkeit angetreten sind - gegen die gewaltfreien Gruppen der Friedensbewegung. Unsere Maxime ist es, und wird es auch immer sein, lieber Unrecht und Gewalt zu erleiden, als sie dem Gegner zuzufügen - sich selbst, und nicht den Gegner der Duldung von Leid auszusetzen. Also auch unsere Frage: Soll nur noch ein solches Verhalten als gewaltfrei gelten, das Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht zu tolerieren belieben? Können wir es wollen, daß der Tradition und politischen Kultur der Gewaltlosigkeit durch bloßen Richterspruch ihre moralische Integrität abgesprochen wird? Vor kurzem wurde vom Bundesarbeitsgericht in Kassel das Land Bayern verurteilt, eine junge Lehrerin als Fachlehrerin im Angestelltenverhältnis zu beschäftigen, die der Deutschen Friedensgesellschaft angehört. Zur Begründung erklärte das Bundesarbeitsgericht, von den bayerischen Schulbehörden seien keine objektiven Umstände vorgetragen worden, die eine Ablehnung der Lehrerin rechtfertigen könnten. Die Tätigkeit in der Friedensbewegung sei nicht automatisch als verfassungsfeindliche Tätigkeit anzusehen. Während die Richter über die Verfassungsfeindlichkeit der Friedensbewegung beraten, hat das Töten in unserem Jahrhundert, das sich rühmt, das Zeitalter der Technik zu sein, einen neuen Charakter bekommen. Das Opfer ist nicht mehr sichtbar, und sein Todesschmerz ist nicht mehr hörbar. Mit dem Knopfdruck, der die Bombenklappen öffnete und die Atombombe freigab, ist das Töten vollends zu einem verdinglichten Vorgang geworden: nicht mehr der Gegner wurde getötet, sondern eine Bombe geworfen. So wird der Tötende unfähig, sich selbst noch als Vollstrecker des Todes zu verstehen. Auch wenn die Fähigkeit des Täters zur Schuldeinsicht verschwindet, so gilt doch der Satz Robert Jungks, daß die Atombomben auch den treffen, der sie anwendet. Sie zerstören zwar nicht seinen Körper, häufig auch nicht einmal das gute Gewissen, aber sie zerstören sein Mensch-Sein.
Das, was die Piloten in erster Linie zu Mördern werden ließ, war Gehorsam und Unterordnung; die Ausklammerung der Fragen nach dem Was, Warum und Wozu, als sie den Massenmord hundertfach probten. Sie wurden zu willfährigen Werkzeugen, zu unmündigen Geschöpfen.
Robert Jungk schrieb im Sommer 1982: »Wenn es gelingen sollte, die letzte Epidemie, den Dritten Weltkrieg zu verhindern, dann deshalb, weil wir endlich beginnen, auf die Verwundbarkeit und die Schwäche der Menschen zu setzen, statt auf die eigene Stärke. Auch die Entscheidungsträger in den Regierungen und Generalstäben müssen erkennen, daß sogar die wenigen, die ihnen noch glauben und sich ihren Befehlen beugen, nicht mehr alle zuverlässig sind, weil auch sie von dem Menschenbeben erfaßt werden, das unsere Epoche schüttelt. Die Opfer von Hiroshima und Nagasaki haben nicht umsonst gelitten, weil wir uns von ihrem warnenden Schicksal endlich erschüttern lassen.« Auschwitz und Hiroshima, diese beiden Namen stehen für die Schrecken des 20. Jahrhunderts. Auschwitz und Hiroshima: Sie waren die beabsichtigte Folge menschlichen Tuns. Auschwitz und Hiroshima zeigen, was Menschen zu tun vermögen und zu tun wagen. Der Atombomberpilot Paul Tibbetts und der Vater der Wasserstoffbombe, Edward Teller, beide haben wir eingeladen, haben uns eine Absage erteilt. Edward Teller hat sein Bestes gegeben in einem Interview im Dezember 1982: Die Verhütung eines Krieges insbesondere eines Atomkrieges - ist die wichtigste Aufgabe. Sollte es trotzdem zu einem Atomkrieg kommen, würde zwar eine erschreckende Zahl von Menschen dabei umkommen, aber viele würden auch überleben. Vielleicht ist das Schrecklichste an den gegenwärtig existierenden falschen Vorstellungen, daß sie die Ängste und Leiden der Überlebenden unnötig vergrößern würden.« Eine weitere These von Edward Teller ist folgende: »Nehmen wir einmal den krassen Fall an, in der Atmosphäre würden 5000 Kernwaffen mit einer Sprengkraft von je ein bis zwanzig Megatonnen zur Detonation gebracht. Dann wäre die Ozonschicht vermutlich über der Nordhalbkugel der Erde im ersten Jahr danach zur Hälfte abgebaut. Sie hätte sich aber schon innerhalb weniger Jahre wieder auf 80 Prozent ihrer normalen Stärke regeneriert ... man kann als sicher annehmen, daß die Menschheit überleben würde.« Aus diesen Aussagen von Edward Teller entnehme ich die Politik der nuklearen Konfrontation, die uns zu einem Meta-Wahnsinn verpflichtet: Um die Freiheit zu verteidigen, müssen wir bereit sein, das gesamte Leben selbst zu zerstören. Wir richten Atombunker ein mit Heftpflaster und Dauerwurst, obwohl wir den Bunker im Ernstfall nie erreichen werden. Das Gehirn selbst schaltet sich - selbst das Gehirn eines Edward Teller - wie ein pannensicherer Reifen gegenüber der Erkenntnis ab, daß es dabei ist, sich selbst zu zerstören. Wir haben die Wahl zwischen dem plötzlichen Tod im atomaren Holocaust und dem schrittweisen ökologischen Selbstmord. Wir müssen die Verschwörung des Schweigens endlich durchbrechen.
Die Würfel waren zum Beispiel schon längst zugunsten der Entwicklung von Cruise Missile und Pershing II gefallen, als Helmut Schmidt 1977 die sogenannte Mittelstreckenraketenlücke entdeckte. Treibende Kräfte waren die von Air Force, Navy und Army protegieren amerikanischen Rüstungskonzerne wie Boeing, General Dynamics und Martin. Schon 15 Monate vor dem offiziellen Doppelbeschluß der NATO-Politiker vom Dezember 1979 in Brüssel hatte die US Army angekündigt, sie werde eine Brigade mit Pershing II-Raketen in der Bundesrepublik stationieren. Das sind eben jene 108 Präzisionsraketen, auf die sich eineinhalb Jahre später die Politiker einigten.
Die Verteufelung des Gegners muß eine umfassende Kriegsvorbereitung rechtfertigen helfen. Es gilt jederzeit bereit zu sein, das Schlimmste zu tun, um das Böse zu verhindern. Einfacher gesagt: Die absolute Waffe setzt einen absoluten Feind voraus. Massenvernichtungswaffen ersetzen Politik. Roger Molander, ehemaliger Experte für Atomstrategie, beschrieb, wie es in den Zentren der Macht zugeht: »Es gab eine Menge kindisches Verhalten im Weißen Haus, eine Menge Leute, denen bei jeder Gelegenheit die Nerven durchgingen. Das Büro der Atomkriegsplaner im Weißen Haus war eigentlich der letzte Ort, an dem ich Leute antreffen wollte, die die Kontrolle über sich verlieren. Aber hier gab es die hemmungslosen Wutanfälle gegen Regierungsbeamte anderer Staaten, gegen Aktenordner und Staatsoffiziere, gegen beinahe alles, was man sich nur denken kann...« Und wie die »Stuttgarter Nachrichten« am 26. Juli 1982 berichtet haben: »An einem Samstag im Januar dieses Jahres lag das Schicksal der Welt in der Hand eines betrunkenen amerikanischen Luftwaffenoffiziers. In einem streng geheimen Befehlsbunker in der Nähe von Plummerville in Arkansas saß er vor einer Konsole mit den Abschußköpfen für eine Atomrakete des Typs Titan 11. Theoretisch hätte er eine Rakete mit der tödlichen Sprengkraft von einer halben Million Tonnen (rund 50mal soviel wie die Atombombe von Hiroshima) in ihr vorbestimmtes Ziel irgendwo in Ostblock jagen und damit vielleicht aus Versehen einen großen Atomkrieg und das Ende der Menschheit auslösen können.« Am 15. Februar 1983, vor einigen Tagen also, wurde berichtet, daß der Computer auf dem von einer argentinischen Exocet-Rakete versenkten britischen Zerstörer »Sheffield« auf Raketen sowjetischer Bauart programmiert war und einem Bericht zufolge den heranrasenden Flugkörper französischer Bauart für »befreundet« hielt. Der mögliche Computerirrtum bei dem Luftangriff auf die »Sheffield« am 4. Mai kostete 20 britischen Seeleuten das Leben. Und während ich Ihnen dies erzähle planen Militärpsychiater, für den Ernstfall sogenannte »Panikpersonen« zu eliminieren. Militärpsychiater sind auf die Idee gekommen, Personen, die zur Auslösung, solcher Paniken im Kriegsfalle beitragen könnten, rechtzeitig beiseite zu schaffen. Die Paniken, so Dr. Nils Perkson, wie sie im Vorfeld eines Verteidigungsfalles entstehen könnten, sind Spannungszustände, die in unserer Gesellschaft erwartet werden, und Eliminierung von Menschen, die zu solchen Paniken beitragen könnten, wird als eine der wichtigsten Aufgaben angesehen. Dr. Perkson erklärte in einem Interview mit dem »Vorwärts« (6. Januar 1983): »EIiminierung heißt die Beseitigung durch Pharmaka oder durch das Verbringen in Lager, Gefängnisse oder auch in psychiatrische Kliniken.«
So gehen wir sicher dem weltweiten Konzentrationslager und dem weltweiten Holocaust entgegen. Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, daß sich vom 18. bis 22. Februar 1983 die Festnahme und Hinrichtung der Geschwister Scholl zum 40. Male jährt und daß wir diesen historischen Anlaß auch bei dem Nürnberger Tribunal in seiner ganzen Bedeutung darstellen wollen. Sophie Scholl hat in ihren Briefen und Tagebuchaufzeichnungen immer wieder geschrieben: »Man sollte überhaupt den Mut haben, nur an das Gute zu glauben. Ich meine damit nicht, an Illusionen zu glauben, sondern ich meine, nur das Wahre und Gute zu tun...« (9. November 1939). Und so begrüßen wir ganz besonders das Wahre und Gute, das zur Zeit die amerikanischen Bischöfe mit ihrer Fassung des Hirtenbriefes tun, und wir begrüßen auch die Initiativen des anglikanischen Bischofs John Baker und seiner Amtsbrüder, die in einem leidenschaftlichen Appell »The Church and the Bomb« erklärt haben, daß der Besitz von Atomwaffen weder strategisch gerechtfertigt sei noch vereinbar mit christlicher Moral.
»Es sei ein Irrtum, daß gegenseitige nukleare Abschreckung einen stabilisierenden Faktor für den Frieden darstelle.« (NN 12.113. Februar 1983.) Doch Alois Mertes, ein christlicher Politiker einer christlichen Partei, spricht in dieser Hinsicht von »selektiver Ethik« und greift, wie sein Parteikollege Franz Josef Strauß, diese Stellungnahmen der Kirchen an. Es gibt auch mutige Vertreter der Kirchen in Österreich, wie Josef Kardinal König, der auf einer Konferenz mit anderen einen Appell veröffentlich hat, in dem es heißt: »Wir glauben, daß es keine Sache gibt, die Tod und Zerstörung, wie sie von einem Kernwaffeneinsatz ausgelöst werden, moralisch rechtfertigen würde. Wir weisen die Behauptung zurück, daß irgendeine Seite einen nuklearen Krieg gewinnen könnte...« Vielleicht sollten wir hier und jetzt auch die Kirche in der Bundesrepublik auffordern, eine eindeutige Stellungnahme in bezug auf die Vernichtungsmaschinerie zu verabschieden. Eine eindeutige Stellungnahme, in der ausgesprochen wird, daß auch die Androhung mit solchen Massenvernichtungswaffen ein Verbrechen darstellt. Unter uns sind so viele Menschen, die mir Hoffnung machen, unter anderem Pater George Zabelka, der im August 1945 Militärseelsorger der Einheit war, die dann die beiden Atombomben auf japanische Städte werfen sollte. Er wurde aus der Luftwaffe entlassen, und während der nächsten zwanzig Jahre begann er zu erkennen, daß das, was er während des Kriegs getan und geglaubt hatte, falsch war und daß er nur Christ sein konnte, wenn er auch Pazifist war. Und Daniel und Philip Berrigan erklärten am 17. Mai 1968 vor dem Wehrersatzamt Nr. 23 in Catonsville im US-Bundesstaat Maryland: »Verzeiht, daß wir Akten statt Kindern verbrennen. Wir gehen mit Napalm gegen Einberufungsakten vor, weil Napalm in Vietnam, Guatemala und Peru Menschen verbrannte, und wir nehmen es, weil es vielleicht eines Tages gegen amerikanische Ghettos eingesetzt wird. Wir vernichten die Einberufungsakten nicht nur, weil sie ein Ausdruck des Machtmißbrauchs sind. Die Macht der herrschenden Klasse bedroht den Frieden der Welt; sie entzieht sich Widerspruch und parlamentarischer Kontrolle...« Und die Berriganbrüder erklärten deutlich, daß das militärische System das ökonomische System unterstützt, indem es sich mit den kommerziellen und politischen Sektoren verbündet, um das Triumvirat der Macht in diesem technokratischen Bereich zu bilden. »Wir glauben, daß sich im Krieg nichts legitimiert außer der Weigerung des Menschen, Mensch zu sein und unter Menschen zu leben. Wir sagen, daß die Menschen mit dem Krieg Schluß machen müssen, oder der Krieg wird mit dem Menschen Schluß machen. Wir mißbilligen entschieden die heißen und kalten Kriege unseres Landes und sein Verbrechen gegen die oft unwilligen und machtlosen Opfer, die in diesen Akten erfaßt sind.«
Dieses Tribunal der Grünen ist ein Versuch, Schwerter in Pflugscharen umzuschmieden. Wir meinen, daß jeglicher Einsatz mit Massenvernichtungswaffen illegal ist, so auch die Drohung mit dem Einsatz von solchen Massenvernichtungswaffen. Wir haben auf diesem Tribunal Klageschriften verfaßt und eine internationale Jury von Juristen und Politologen zusammengesetzt. Verschiedene Expertengruppen werden angehört und werden Fragen beantworten. Am Ende des Tribunals wird die Jury darüber befinden, ob die Klagepunkte der Grünen zu Recht bestehen. Wir haben auch die angeklagten Staaten ersucht, Rede und Antwort zu stehen, doch keiner der angesprochenen Staaten entsandte einen offiziellen Vertreter. Wir meinen, wir brauchen kein neues Völkerrecht. Das gültige Völkerrecht ist gut, doch wir brauchen endlich Regierungen, die ihrer Pflicht nachkommen, das Völkerrecht zu achten. Ich denke an die vielen sogenannten Helden, die in Südostasien mit Napalm mordeten und überall in der Welt, sei es im Osten oder im Westen, mit Orden geehrt werden, weil sie getötet haben. Diejenigen, die gewaltfreien Widerstand geleistet haben, werden dagegen zu Verbrechern erklärt. Wo Recht zu Unrecht wird, wird gewaltfreier Widerstand zur Pflicht!

Gewaltfrei widerstehen

Rede im Deutschen Bundestag 1983

Frau Kelly (Grüne):

Liebe Freundinnen und Freunde!

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU)

Die parlamentarischen Mehrheiten stoßen an moralische Grenzen. Herr Geißler, ich möchte zu Ihnen ganz gewaltfrei sagen: Lernen Sie Bekehrung, und lernen Sie die Umkehr, denn Sie haben Todesstrukturen und sehr viel Liebloses heute aufgebaut. Ihre Sprache stellt den Tod des Denkens dar, denn was machen Sie mit der Verantwortung, die die Wähler Ihnen als Minister, der für die Jugend verantwortlich ist, gegeben haben?

(Dr. Ing. Kansy CDU/CSU: Sie haben ihn hier niedergebrüllt!)

Unter uns war heute der argentinische Friedensnobelpreisträger Perez Esquivel anwesend; vielleicht hätte er einen Teil Ihrer Redezeit benutzen dürfen, Herr Geißler, um hier seine Vorstellungen vom Frieden darzustellen.

(Beifall bei den Grünen)

Vielleicht haben Sie noch nicht begriffen, daß strukturelle und persönliche zerstörende Gewalt unserem innersten Wesen fremd ist. Wenn wir gewaltfreien Widerstand, sei es durch Rüstungssteuerboykott, sei es durch solche Friedensfeste wie den Evangelischen Kirchentag, leisten, so berufen wir uns auf die Worte von Erzbischof Hunthausen, der über diese atomaren Waffen und die Androhung, sie einzusetzen, gesagt hat - ich zitiere -: Das ist das Auschwitz der Menschheit.

(Kittelmann CDU/CSU: Ihre Interpretation wird sich der Erzbischof verbitten!)
 
Der atomare Rüstungswettlauf, immer wieder und wieder von der NATO initiiert - die NATO ist ja bekanntlich zuerst gegründet worden -, von der amerikanischen Administration sowie auch durch die Rüstung der Sowjetunion vorangetrieben, ist der wahnsinnige Versuch von Menschen, Herr Geißler, Gott noch einmal umzubringen. Wir berufen uns auch auf die Worte von Papst Leo XIII. - ich zitiere -: »Wenn aber die Staatsgesetze sich offen gegen das göttliche Recht auflehnen ... dann ist Widerstand Pflicht, Gehorsam aber Verbrechen.« Die NATO verzichtet nicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen. Warum beantworten Sie, Herr Wörner, nicht die Frage, warum die Pershing II nicht auch in anderen europäischen Ländern stationiert wird? Sie wollen, Herr Wörner, so sagten Sie, die »Politik der Abschreckung« überwinden. Doch die Mittel für die Friedensforschung in diesem Lande sind geringer als die Mittel für den Werbeetat der Bundeswehr.

(Beifall bei den Grünen und bei Abgeordneten der SPD)

Es gibt keine eindeutigen sittlichen Grenzen in der Abschreckungsstrategie mehr, Herr Geißler. Während die gewaltfreie Friedensbewegung schon in den Anfängen des Krefelder Appells 1980 ständig kriminalisiert und diskriminiert worden ist mal war es Verteidigungsminister Hans Apel, mal war es Helmut Schmidt, mal ist es wieder ein christlicher Politiker - verhalten sich die NATO Regierungen und auch Helmut Kohl mit seiner Regierung formal zwar legal, tatsächlich aber anarchistisch, illegal und menschenfeindlich. Ohne den Deckmantel der Legalität könnten unsere Regierungen den atomaren Wahnsinn mit Erstschlagwaffen nicht betreiben. So bewegen wir uns in Richtung Massenmord und Selbstmord - alles im Namen der Legalität. Sollte jemals ein amerikanischer Präsident oder sowjetischer Kreml-Chef auf den Knopf drücken und die menschliche Geschichte beenden, so wird auch das legal sein - legal im Rahmen der herrschenden Vorstellungen und Gesetze. Doch ich erinnere daran, Herr Geißler, daß es der Grundsatz von Hitler war, immer wieder zu sagen: »Gesetz ist Gesetz.« Hitler mußte seine Verbrechen legalisieren und alle Andersdenkenden damals kriminalisieren.

(Zuruf von der CDU/CSU: Geschichte sechs!)

Weil das Gesetz Gesetz, also das Gesetz des Staates einziger Maßstab für das Gewissen war,

(Schwarz CDU/CSU: Eine Unverschämtheit!)

mußte daraus folgen, saß es kein höheres Gesetz geben könne, daß man sich nicht auf ein Gesetz des Gewissens berufen dürfe. Wir alle - in Europa, in Amerika wie auch in den Ostblockstaaten - die sich solchen Entwicklungen von unten widersetzen, stehen außerhalb des herrschenden Gesetzes,

(Klein München CDU/CSU: Sie sind doch Parlamentarierin! - Bohl CDU/CSU: Aha!)

und zwar in dem Maße, in dem wir ernsthaften und gewaltfreien Widerstand im Sinne von Martin Luther King, und Gandhi leisten.

(Beifall bei den Grünen)

jede staatliche Macht, Herr Geißler ist relativ. Wenn man Gehorsam als Stück gelebter Gemeinschaft versteht, dann hat Loyalität dort ihre Grenze, wo die Gemeinschaft aufs Spiel gesetzt und gefährdet wird. Das ja zum Staat ist immer nur ein bedingtes ja. In allen diesen Ländern ist man dabei, Massenmord zu legalisieren und Andersdenkende zu kriminalisieren. Das verbindet uns mit der Friedensbewegung von unten in der DDR. So werden wir untereinander loyal, niemals aber den Militärblöcken gegenüber.

(Beifall bei den Grünen)

Ihre Politik, meine Herren, sei es die Gewaltanwendung in der Wirtschaft durch Rohstoffkriege, Schnelle Eingreiftruppe oder US-Interventionspolitik in Lateinamerika, sei es die Gewaltanwendung in der Politik - kürzlich sprach man ja in Kopenhagen, wo auch das neueste »NATO-Mitglied« Japan dabei war, von der »Diplomatie der Abschreckung« - schafft das Umfeld von Gewalt, in dem wir leben müssen. Sie, Herr Geißler, sprechen von einer Mauer durch beide Teile Deutschlands. Aber es gibt auch Mauern in Irland-Süd und -Nord und auch zwischen Nord- und Südkorea. Es gibt Mauern in beiden Blöcken. Wenn Sie dann auch noch, Herr Geißler, in Ihrer »Friedensrede« von der Gewalt gegen ungeborenes Leben sprechen, dann sollten Sie auch über die Politik der finanziellen Unterschlagung sprechen, warum 16 Millionen Kinder in der Dritten Weit jährlich sterben und warum zum Beispiel Männer nicht in unserem Strafgesetzbuch beim § 218 vorkommen und Sie lieber dazu übergehen, uns Frauen zu bestrafen - wenn Sie allerdings von dieser Gewalt sprechen.

(Beifall bei den Grünen)

Wir werden uns an diese Gewalt, an diese Ungerechtigkeit nicht gewöhnen. Aber am allerwenigsten - an die Adresse von CDU/CSU und FDP - können wir es hinnehmen, daß die Gewalt durch die Androhung von Massenvernichtungswaffen als ein Erfordernis des Glaubens dargestellt wird, als Rettung humanistischer und christlicher Werte, die verteidigt werden müssen. Die sogenannte Sicherheitspolitik, die Sie uns verkaufen, macht uns unsicher. Im Zeichen des Kampfes gegen das »Zentrum des Bösen«, so Herr Reagan, den Kommunismus, benutzen Sie dieselben Waffen und dieselben Methoden, deren Gebrauch Sie der anderen Seite vorwerfen. Sie planen also weiterhin Bösartigkeiten, um Bösartigkeiten zu verhindern. Die Atomwissenschaftler zusammen mit Gustav Heinemann hatten 1956 appelliert: Wir dürfen nicht das Leben von Millionen Menschen bedrohen, auch nicht um der Freiheit und sozialen Gerechtigkeit willen. Hat auch Gustav Heinemann damals zur »geistigen Verwirrung« beigetragen? Ist das Ihre Meinung, Herr Geißler? Das ist die Absage an westliche wie östliche Rechtfertigung von Massenvernichtungswaffen in gleicher Weise, auch die Absage an den Vorbehalt, daß es nötig sein könnte, eine letzte Zuflucht zu solchen Waffen zu nehmen. Das umfaßt auch die Absage an Frau Thatcher, die am 8. Juni 1983 erklärt hat, sie würde nicht zögern, den Einsatz britischer Atomwaffen anzuordnen, und betont hat, nukleare Abschreckung setze voraus, daß man bereit sei, auf den Knopf zu drücken. Aber die innere und äußere Aufrüstung geht voran. Im »Bayernkurier« steht geschrieben, daß wir im Herbst nicht nur friedliche Massendemonstrationen organisieren, sondern auch das mit unseren Schlägertrupps tun würden. Und von den sogenannten christlichen Parteiangehörigen wie von Herrn Pachmann ist zu hören, daß eine Bürgerwehr organisiert wird, um gewaltfreie Demonstranten in Schwäbisch Gmünd höchstpersönlich zu entfernen. Die »FAZ« berichtete, daß amerikanische Soldaten auf Demonstranten schießen dürfen, wenn diese eine militärische Einrichtung in der BRD blockieren. So zeigt sich, wie unsere Gesetze die Bombe schützen und nicht die Menschen. Vielleicht aber sollten gerade christliche Politiker den Art. 25 im Grundgesetz noch einmal lesen, in dem steht: Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten für alle Bewohner... Das heißt, Herr Wörner: Das Verbot, sich an der Vorbereitung militärischer Angriffswaffen zu beteiligen, und das Verbot, den Ersteinsatz von Massenvernichtungswaffen zu planen, das sind völkerrechtliche Pflichten, die nicht nur den Staat BRD,

(Klein München CDU/CSU: Was ist das für ein Staat?)

...sondern auch jeden seiner Bewohner unmittelbar binden. Sehen Sie nicht den offenkundigen Gegensatz zwischen Völkerrecht und NATO-Planung? - Gewiß nicht, denn Sie beginnen ja mit den Vermessungs- und Stationierungsarbeiten, noch ehe die Genfer Gespräche beendet sind. In Neu-Ulm, Heilbronn und Mutlangen vermessen Soldaten die künftigen Feuerstellungen und installieren die elektronische Ausrüstung. Eingesetzt für die Vorbereitungen sind auch bundesdeutsche Dienste wie der MAD, der Vorsorge zu treffen hat. Leitende Polizeibeamte haben schon die Bauplätze für die Stationierung besichtigt. Das US-Hauptquartier in Heidelberg hat Verstärkung der US-Landstreitkräfte angefordert, und Bundeswehreinheiten sollen Bewachungsringe um die Stationierungsorte ziehen. Während wir unseren gewaltfreien Widerstand planen, wird auch das Demonstrationsrecht verschärft. Doch laut Nordatlantikvertrag ist die NATO entschlossen ich zitiere -, die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten Doch 1974 walzten die griechischen Obristen das, was die NATO gewährleisten und schützen soll, mit ihren Panzern nieder, angeleitet vom US-Geheimdienst CIA Nicht weniger brutal herrschen heute die NATO-Generäle in der Türkei. Und die Bundesrepublik leistet es sich immer noch, ihnen weiterhin Militär- und WrtschaftshiIfe zu gewähren, nachdem sie einst die portugiesischen Diktatoren und dann die griechischen Obristen unterstützt haben. Die USA sind dabei, die Zahl ihrer Stützpunkte in der Türkei zu vergrößern und die vorhandenen auszubauen. Die NATO betrachtet die Basen auf türkischem und kurdischem Territorium als besonders wichtig für die Stärkung für die Süd-Ost-Flanke der NATO. Aber ist Ihnen nicht bekannt, daß die türkische Militärjunta wie auch die polnische und all die anderen in Ost und West gegen viele internationale Abkommen verstößt, z. B. gegen die Charta der Vereinten Nationen, gegen die Deklaration von Helsinki, gegen die Menschenrechtskonvention? Ich erinnere daran gerade Sie, die immer von Polen und Afghanistan sprechen. Sie sollten doch wissen, daß bei der Güterabwägung zwischen einer Stärkung der militärischen Südflanke der NATO und der Erhaltung elementarer Menschenrechte wir uns für die Menschenrechte entscheiden müssen. Was für ein glatter Hohn, wenn das Kommuniqué der Ministertagung in Paris von den freundschaftlichen Beziehungen und vom Wohlergehen in der Dritten Welt spricht und sogar erklärt - ich zitiere - Die Staaten der Dritten Welt sollten sich politisch und sozial und wirtschaftlich ohne Einmischung von außen frei entwickeln können. Die Bündnispartner rufen zur Respektierung von Souveränität und echter Blockfreiheit auf. Nennen Sie es »ohne Einmischung von außen frei«, wenn führende Geheimdienstvertreter der Reagan-Regierung und hochrangige amerikanische Beamte gute Chancen für eine Niederwerfung der Sandinisten-Regierung in Nicaragua bis zum Jahresende voraussagen?

(Klein München CDU/CSU: Was ist mit den Mesquito-Indianern?)

Ist es freundschaftlich und friedlich und fördert es das Wohlergehen in der Dritten Welt, wenn William Casey, zur Zeit Direktor des CIA, in Ihrer Zeitung »Die Welt« am 8. Mai erklärt hat: Wir müssen ihre Kommunikationssysteme - die der Dritten Welt - sowie ihrer Geheimdienste ausbauen. Wir brauchen eine Änderung unserer Gesetze, damit wir im Notfall Waffen schneller liefern können. Herr Casey meint weiter: Unsere NATO-Verbündeten und Japan Japan ist ja neuestes NATO Mitglied seit der letzten Tagung in Paris, wie ich höre - müssen eine gemeinsame Strategie entwickeln, um Investitionen in der Dritten Welt zu fördern. Vielleicht sollte Herr Lambsdorff - aber er ist nicht da - das hören, was Herr Casey, Direktor des CIA, erklärte: Die Sowjets sind hilflos, wenn sie in diesen Ländern mit dem Privatkapital konkurrieren müssen. In aller Offenheit verkündeten ja die Tageszeitungen wie auch der CIA-Chef in Ankara, der jetzige Vertreter im Nationalen Sicherheitsrat, Paul Henze, daß die Türkei ein Modell für die Länder der Dritten Welt ist. Sie wird - ich zitiere - »wie Chile zu einem Hort von Stabilität«. Leider spricht auch die SPD in ihrem Antrag von der Türkei als einem uns in der NATO eng verbundenen Partner Am Beispiel Türkei kann man sehen, daß in der NATO nicht nach moralischen Maßstäben, sondern nach Zweckmäßigkeit gehandelt wird. Auch im Europaparlament war man schon dabei, darüber zu entschließen, daß durch den Ausbau ihrer Flotten die EG-Länder den Schutz der Seewege selber in die Hand nehmen können. Hier manifestiert sich eine neue Strategie der USA sowie der NATO. Denn die Regionen des Persischen Golfs und der Anliegerstaaten sind von militärischem Interesse, um ihr Einflußgebiet zu sichern und neue Absatzmärkte zu erobern. Und soeben haben im Befehlsbunker in Großbritannien, von wo die Befehle im Falkland Konflikt ausgegangen sind, die NATO-Marinekommandeure einen Mangel an Kriegsschiffen aller Art entdeckt - trotz ihres dichten US-Marine-Stützpunkt rings rund um die Welt. Als allerletztes: Auf der Ministertagung des NATO-Rats in Paris wurde auch verkündet: Einzelne Mitgliedsregierungen, die dazu in der Lage sind, werden sich bemühen, souveräne Staaten, deren Sicherheit und Unabhängigkeit bedroht sind, auf deren Ersuchen hin zu unterstützen. Es heißt weiter: Diejenigen Bündnispartner, die in der Lage sind, die Verlegung von Streitkräften nach außerhalb des Vertragsgebiets zu erleichtern, können dies aufgrund nationaler Entscheidungen tun. Was heißt das eigentlich? Was sind das für Gedanken in diesem Kommuniqué? Ich glaube, die Politik wird immer deutlicher. Man zeichnet ein Feindbild, das man braucht. Dann führt man einen amerikanischen Interventionskrieg - morgen am Persischen Golf oder vielleicht sogar bald einen atomaren in Europa. Ich komme zum Schluß. Das Feindbild sieht ganz merkwürdig aus: Wo immer es unterdrückte und ausgebeutete Menschen gibt, steckt nach Ansicht des Herrn Reagan und der NATO die Sowjetunion dahinter. Doch man schweigt über die Vorgehensweise der amerikanischen Konzerne in der Dritten Welt, man schweigt gegenüber dem Apartheid-Regime in Südafrika, man schweigt und bedauert die 120000 verschwundenen Menschen in Zentral- und Lateinamerika.

(Klein München CDU/CSU: Und in Sibirien!)

Wir wollen nicht ebenfalls zum amerikanischen Hinterhof werden.

Vizepräsident Stücklen: Frau Abgeordnete Kelly, kommen Sie bitte zum Schluß.

Frau Kelly (Grüne):

Wir wenden uns gewaltfrei gegen diese Politik.
Meine Damen und Herren, es ist deutlich, daß fast alle in diesem Saal an ihre eigenen moralischen Grenzen gestoßen sind.

(Beifall der Grünen)

Für ein Solidarnosc des Friedens

Rede auf der Bonner Friedenskundgebung (1983)

Liebe Ungehorsame!
Diese blockfreie systemsprengende Friedensbewegung besteht nicht nur aus vielen Brüdern, sondern auch aus vielen mutigen Schwestern, die nicht nur gegen den großen Krieg der Männer, sondern auch gegen den kleinen Krieg der männlichen Vorherrschaft jeden Tag Widerstand leisten. Eine Friedensfrau meint: »Die Bedrohung ist immer so groß, daß nie Zeit kommt für unseren Kampf... wenn wir jetzt keine Zeit haben, von Verweigerung zu sprechen, wann dann?« Wir trauen den Männern nicht - auch nicht einer Frau Thatcher - an der Macht, denn die gewaltsamen Herren im Weißen Haus und im Kreml spielen mit Massenvernichtungswaffen wie mit Kriegsspielzeug und machen uns zu kollektiven Geiseln der Supermächte. Die da oben beweisen immer wieder, daß sie zuviel Panzer und zu wenig Hirn haben. In Vorbereitung meiner Rede habe ich Ihnen, Herr Brandt, einen großen Vertrauensvorschuß gegeben - ich glaube aber, daß dieser Vertrauensvorschuß leider verraten wurde! Vor einem Jahr hatte ich einen Offenen Brief an Sie gerichtet, in der Hoffnung, daß Sie bald ein klares Nein zur Stationierung und zu den verlogenen Verhandlungen aussprechen würden. Heute aber, und ich zitiere einige Beispiele aus Ihrer Rede, haben Sie gesagt, »daß wir nicht mehr Mittel der Massenvernichtung«, sondern »weniger brauchen«! Herr Brandt - wir in der BRD und in Europa brauchen keine Massenvernichtungswaffen - Sie sprechen auch von dem Auftrag der Bundeswehr - wir aber wollen die Soldaten in der Bundeswehr vor diesem Auftrag im Atomzeitalter in Schutz nehmen. Und Sie sprechen davon, daß die Blöcke überwunden werden müssen, und weil es diese Blöcke gibt, gehören wir in das westliche Bündnis. Doch warum gibt es überhaupt die NATO, die vor dem Warschauer Pakt gegründet wurde? Ein Nein zu den Waffen und ein ja zur NATO ist absurd. Wir müssen erste kalkulierte Schritte leisten, um diese Blocklogik zu überwinden, weil die NATO sich zunehmend offensiv darstellt. Und Sie sagen, Herr Brandt, »ernsthaft verhandeln« doch wie meinen Sie das konkret, und glauben Sie immer noch an das Instrument von Aufrüstungsbeschlüssen und verlogenen Verhandlungen in Genf?
Sie haben ein Nein zur Raketenstationierung heute ausgesprochen, dies war längst überfällig, doch dies war kein Nein ohne jedes Wenn und Aber! Dieses Nein hat uns nicht ausgereicht! Wir haben uns ein Nein ohne Wenn und Aber von Ihnen gewünscht als ein Stück Wiedergutmachung einer bisher sehr schwankenden SPD-Führung, die ja auch in erster Linie für die unselige Stationierungsentschließung vorn 12. Dezember 1979 verantwortlich war. Und als Wiedergutmachung auch an der von führenden Sozialdemokraten jahrelang diffamierten Friedensbewegung. Denn es gibt ja keinen nennenswerten Unterschied zwischen dem Zimmermann-Faltblatt heute, mit dem die kommunistische Steuerung der Friedensbewegung behauptet wird, und dem Schaubild, mit demein sozialdemokratischer Verteidigungsminister vor zwei Jahren dieselbe Lüge publiziert hat. Und es ist auch gerade erst zwei Jahre her, daß ein sozialdemokratischer Kanzler vor der ersten großen Friedensdemo in Bonn einen Unvereinbarkeitsbeschluß herbeiführen wollte, der alle teilnehmenden Sozialdemokraten mit dem Parteiausschluß bedrohen sollte. Es ist an der Zeit, daß Willy Brandt heute den verloren gegangenen Anschluß der Parteiführung an die Parteibasis wiederherstellt. Wir hoffen, daß die SPD ihre Wende in der Sicherheitspolitik als Wiedergutmachung eines atomaren Irrweges versteht und nicht als Strategie der Integration einer eigenständigen Bewegung, um sie anschließend wieder einmal zu verraten. Suchen Sie mit uns einen Weg aus der Politik der Abschreckung und schaffen Sie mit uns Drohpolitik und Auf- und Nachrüstungsbeschlüsse sowie verlogene Nulloptionen als Mittel und Instrument der Politik ab. Es geht nicht darum, welcher Kanzler seinen Einfluß gegenüber den USA besser nutze, sondern es geht darum, das Instrument eines Aufrüstungsbeschlusses, um angeblich abzurüsten, kompromißlos abzulehnen. Ihr Nein, Herr Brandt, muß noch viel weitergehen, wenn wir uns nicht wieder getäuscht fühlen sollen. Auch das Gleichgewichtsdenken ist längst überholt, weil beide militärischen Blöcke unterdessen in der Lage sind, die Welt mehrfach in die Luft zu sprengen. Einseitige Abrüstungsschritte und das Ablehnen der neuen eurostrategischen Erstschlagwaffen Pershing II und Cruise Missile, die eine zweite Kuba-Krise auf dem Schlachtfeld Europa einleiten, reduzieren das »Overkill« auf beiden Seiten, um einmal weniger tot zu sein. Willy Brandt betonte in seiner Nobelpreis-Rede, daß es hilfreich sei, »wenn junge Menschen aufbegehren gegen das Mißverhältnis zwischen veralteten Strukturen und neuen Möglichkeiten...« Das tun wir! Uns allen hier, die gewaltfreien Widerstand leisten, weil Recht zu Unrecht geworden ist, und die diesen zivilen Ungehorsam weit in das nächste Jahr hineintragen müssen, ist klargeworden, daß wir uns durch die Blocklogik in Richtung Massenselbstmord und Totalvernichtung bewegen - alles im Namen der sogenannten Legalität.
Aus den Antworten der Bundesregierung geht hervor, daß unsere Regierung nur sowjetische Atombomben für bedrohlich hält, nicht jedoch amerikanische, englische und französische, die im Kriegsfall ebenfalls die Bundesrepublik und Europa bedrohen. Doch die Bundesregierung räumt ein, daß es im Kriegsfall dazu kommen kann, daß NATO-Atomwaffen gegen Ziele bei uns eingesetzt werden; räumt ein, daß im NATO-Bereich nicht nur die C-Waffen-Abwehrfähigkeit zu verbessern sei, sondern daß es auch eine »Repressalien-Kapazität« geben muß - also chemische Kampfstoffe und Nervengas als Vergeltungs- und als reine Angriffswaffen. Unsere Regierungen im NATO-Bündnis sind es, die das Gesetz der Moral und die völkerrechtlichen Bindungen ständig brechen. Es sind die fünf Atommächte sowie die Regierungen, die bereit sind, ABC-Waffen zu stationieren, die sich illegal und unkontrolliert verhalten. Mit ihren Gesetzen schützen sie die Bombe, nicht uns. Ohne den Deckmantel der Legalität könnten die Regierungen diesen atomaren Wahnsinn nicht so betreiben. Wir halten unseren zivilen Ungehorsam in der Tradition von Martin Luther King, Dorothy Day und Cesar Chavez für legitim, da die Erhaltung des Friedens und der Schutz der Grundrechte wie Leben, Frieden und Gesundheit einen höheren Wert für uns darstellen als die Einhaltung der Straßenverkehrsordnung, gegen die wir verstoßen und weswegen wir auch Strafen in Kauf nehmen. Wir klagen alle Atommächte an, wie auch unsere eigene Regierung, die zu einer Waffenschmiede geworden ist. Kriegsgerät aus unserem Land ist seit Jahren bei fast jedem Krieg auf der Erde dabei.
Die ungeheuren Summen, die zur Herstellung von Rüstung verwendet werden, stellen eine wahre Unterschlagung von seiten der Bündnissysteme dar. Dies ist ein Angriff, der zum Verbrechen wird - selbst wenn man die Waffen nicht tatsächlich anwendet. Die 15 Millionen toten Kinder jährlich in der Dritten Welt sind Opfer der Rüstungshaushalte''. Wir müssen Gehorsamsverweigerung auf vielen Ebenen leisten, da die Gewaltanwendung in der Wirtschaft durch Rohstoffkriege, durch die militärische Interventionspolitik in Lateinamerika und Afghanistan das Umfeld von Gewalt und viele Leichen schafft im Hinterhof des Westens und im Hinterhof des Ostens. Wir nehmen nicht länger hin, daß die Gewalt durch die Androhung von ABC-Waffen, daß ein atomares Auschwitz als ein Erfordernis des Glaubens dargestellt werden - als Rettung »Christlicher, freiheitlicher Werte«, die verteidigt werden müssen.
Im Zeichen des Kampfes gegen den Kommunismus (Zentrum des Bösen) benutzen die westlichen Regierungen dieselben Waffen und Methoden, deren Gebrauch sie der anderen Seite vorwerfen. In dieser tiefgründigsten Auseinandersetzung der Bundesrepublik stoßen die parlamentarischen Mehrheiten an moralische Grenzen. Die Legitimität des Staates und die Loyalitätspflicht der Bürger sind nicht unbedingt und unbegrenzt. jede staatliche Macht ist relativ. Wenn wir Gehorsam als ein Stück gelebter Gemeinschaft verstehen, dann hat die Loyalität dort ihre Grenzen, wo die Gemeinschaft aufs Spiel gesetzt und gefährdet wird. Wir wählen die Mittel der Gewaltfreiheit, die unserem Ziel entsprechen. Gewaltfreiheit bedeutet nicht Mangel an Entschlossenheit oder Illusionen, sondern das Entgegensetzen einer positiven Kraft. Helmut Simon (Verfassungsrichter) sagte auf dem Kirchentag: »Noch leben wir in einer Übergangszeit, in der sich Ethik und Recht nicht mehr voll decken. Doch unser Prozeß zielt darauf ab, den Gebrauch von ABC-Waffen zum Gegenstand des Unabstimmbaren zu machen.« Unser Weg und Ziel Achtung der Massenvernichtungswaffen, Entmilitarisierung sowie Auflösung der Blöcke - bleibt in der besten Tradition der Demokratie. Unser Weg ist der beste Verfassungsschutz!

  • Unser Ziel ist nicht nur die Verhinderung der sogenannten NATO-Nachrüstung, sondern auch eine Politik, die durch einseitige, kalkulierte Schritte die Auflösung von NATO und Warschauer Pakt ermöglicht. Zu Waffen nein und zur NATO ja zu sagen ist absurd, da die NATO zu einem offensiven, weltumspannenden antikommunistischen Machtinstrument der amerikanischen Regierung geworden ist. Die Vorstellungen im Konzept der Airland Battle und der Schnellen Eingreiftruppe sind aufschlußreich genug (Robert McNamara erklärte am 9. Oktober 1983, daß die Bundesrepublik verwüstet wird, wenn sie sich weiterhin an die NATO-Strategie hält).
  • Wir fordern die Ächtung und Beseitigung aller ABC-Waffen, denn die Androhung damit ist völkerrechtswidrig und kriminell.
  • Wir fordern einseitige Abrüstung in jedem Land, auch im konventionellen Bereich. Wir fordern die Sowjetunion auf, unabhängig von einem Ergebnis oder Scheitern in Genf genauso zu einseitigen Abrüstungsschritten und Einstellung der Atomwaffenversuche bereit zu sein, wie wir dies ebenfalls von westlichen Regierungen fordern.
  • Wir fordern den völligen Verzicht auf zivile und militärische Nutzung der Atomenergie sowie Umwandlung der Rüstungstradition in Produktion sozial nützlicher Güter.
  • Wir fordern uneingeschränktes Recht auf Verweigerung aller Kriegs- und Ersatzdienste.
  • Wir fordern die Supermächte auf, jede militärische Intervention in der Dritten Welt zu unterlassen und die Emanzipationsbestrebungen nicht unter dem Vorwand des Ost-West Konflikts ersticken zu lassen.
  • Wir sind gegen Mitspracherecht und Veto-Recht, welches uns mitverantwortlich macht für die Entscheidung des Ja und Nein zum Atomwaffeneinsatz. Wir sagen nein zu einer europäischen Atomstreitmacht.
  • Wir fordern von den Politikern in West und Ost, daß sie die Friedensbewegung in ihrem eigenen Land nicht länger als von der anderen Seite lanciert diffamieren. Wir fordern sie auf, die Repressionen und die Kriminalisierung vis-à-vis der unabhängigen Friedensbewegung zu beenden. Die Mächtigen müssen wissen und spüren, daß wir untereinander loyal sind und nicht den Militärblöcken gegenüber.
  • Wir fordern die Entwicklung und den Einsatz alternativer, gewaltfreier Formen nichtmilitärischer Verteidigung (soziale Verteidigung).
  • Wir haben jetzt die Chance, die Anfänge einer gewaltfreien Gesellschaft zu leben. Wir haben am 21. November die Chance, überall im Lande die Arbeit demonstrativ eine Stunde lang niederzulegen - ein Solidarnosc für den Frieden, nicht nur in Polen.

Zu viele »Staats-«, zu wenig »Zivilmenschen«

Rede auf dem Bundeskongreß »Wege zur Sozialen
Verteidigung« (1988)

Soziale Verteidigung, ein Verteidigungskonzept auf der Grundlage von gewaltfreien Widerstandsmethoden ist für mich die radikalste und notwendigste Alternative zum bestehenden militärischen Drohsystem. Roland Vogt schreibt mit Recht: »Das Konzept der Sozialen Verteidigung läuft auf eine Entkoppelung der Politik zu militärischer Gewalt hinaus und eröffnet so den Weg zu einem nichtmilitärischen Friedensbegriff.« (Soziale Verteidigung, Sonderheft/ Graswurzelrevolution)
»Gewalt antun« - ist auf keinen Fall natürlich, aber »Gewalt antun« ist zur zweiten Natur geworden - in der Wirtschaft, in den Armeen, in der Kirche von oben, in vielen sozialen und politischen Beziehungen. Erich Fromm sagte einmal, daß mit wachsender Zivilisation die Häufigkeit und die Grausamkeit der Kriege zugenommen hat. Um das »Kriegerische« abzubauen, brauchen wir in allen Bereichen der Gesellschaft »Emanzipationsbestrebungen«.
Ich möchte ganz kurz etwas zu der militärischen und politischen Bedrohungslage in Europa sagen - eigentlich in Europa vor der »Ära Gorbatschow«, und ich möchte auch etwas über die Rolle von Feindbildern sagen - von dem Verfolgungswahn auf beiden Seiten -, von dem großen Gegner vor uns und in uns. Paul Warnke, amerikanischer Abrüstungsexperte, hat öfters erklärt, daß die Sowjetunion unsicher ist und entsprechend handelt. Und warum ist die Sowjetunion bis jetzt unsicher gewesen? Robert McNamara, Gert Bastian, Andreas von Bülow und Andrew Cockburn haben schon lange die Antworten darauf gegeben, denn wenn man für sich allein die absolute Sicherheit anstrebt, bedeutet das, daß die Sicherheit vieler anderer aufs Spiel gesetzt wird. Robert McNamara wie auch Gert Bastian haben schon seit langem darauf hingewiesen, daß der Westen ständig die Stärke der sowjetischen und der Warschauer-Pakt-Streitkräfte überzeichnet und die eigene Starke der NATO untertrieben hatte. Die Verteufelung des Außenfeindes hat die Funktion der psychischen Entlastung. Vielen bei uns in der Bundesrepublik kam lange genug das offizielle Russenfeindbild gelegen, um den Druck einer schweren Selbstwert-Belastung loszuwerden. Horst-Eberhard Richter nannte es das Verdrängen von Hitler in uns selbst. Die Feindbildfixierung verhinderte die Einsicht, daß Frieden zuallererst von unserem Wollen abhängt und nicht von bestimmten Waffen oder bestimmten Verhandlungen.
Die »Sicherheit« ist innerhalb der NATO zum Götzen geworden. Wie sonst soll man es nennen, wenn z.B. ein Trident-U Boot der Amerikaner »Corpus Christi« getauft wird? In der Zeitschrift »junge Kirche« las ich ein Plädoyer für eine ökumenische Zukunft, und ich möchte einige Gedanken daraus ansprechen, denn hier geht es uni das Umkehren vom Götzendienst. Wir brauchen eine Umkehr in der Gesellschaft auf vielen, vielen Ebenen, darunter möchte ich aber einige konkret nennen: Wir brauchen eine Umkehr im militärisch-industriellen Bereich, d. h. die Umrüstung auf zivile, ökologisch verträgliche, sozial nützliche Güter und eine ökonomische Förderung solcher Konversion durch nachfragefördernde und steuerpolitische Impulse. Wir brauchen eine Umkehr im umweltpolitischen Bereich, d. h. Entfeindung und konsequente Abrüstung, aber auch Vorleistungen zur Vertrauensbildung. Das, was z.Zt. Michail Gorbatschow an neuen Ideen für Entfeindung und Abrüstung bringt, muß uns viel Hoffnung machen. Ferner brauchen wir eine Umkehr im gesellschaftlichen Bereich, und d. h. die Entwicklung eines toleranten, integrativen, nicht ausgrenzenden Denkens und Handelns. Die Umkehr von der Abgrenzung hin zu einer offenen Struktur der Gesellschaft sowie die Entwicklung Sozialer Verteidigungsstrategien. Und genau an dieser Stelle muß auch die Grüne Partei lernen, Umkehr zu praktizieren - Umkehr von der Abgrenzung hin zu einer offenen Struktur der gesamten gewaltfreien grünen Bewegung. Und wir, DIE GRÜNEN, müssen »nicht ausgrenzendes« Denken und Handeln intern praktizieren. Wir brauchen eine Umkehr im persönlichen Bereich, d. h. eine Umkehr vom Mißtrauen zum Vertrauen, und die Förderung von Zivilcourage und mehr Sensibilität. Wir müssen es schaffen, auf ein striktes Rüstungsexportverbot hinzuarbeiten - denn nur dies, gekoppelt mit der Umstellung von Rüstungsproduktion auf die Produktion von alternativen, zivilen Gütern, kann die Voraussetzung schaffen für eine menschengerechte Gesellschaft und menschengerechte Welt, in der Waffen nicht länger exportiert werden, um irgendwo auf der Welt zu töten.
György Konrad, Schriftsteller und Philosoph aus Ungarn, schrieb in einem Beitrag: »jeder kann das Salz der Erde sein.« Und ich glaube, auch das hat sehr viel mit Sozialer Verteidigung zu tun - jeder kann das Salz der Erde sein! Die Institutionen, so György Konrad, sind so klug oder so dumm, so höflich oder gewalttätig, wie wir selbst es sind. Wir möchten in einer zivilen Gesellschaft leben, so György Konrad, doch hier bei uns, sagt er, gibt es viele Staats- und wenige Zivilmenschen. Nur wenige versuchen, so zu leben, als lebten sie in einer zivilen Gesellschaft.
Frieden, wie wir alle wissen, ist kein Zustand, sondern das Werk eines kreativen Entwicklungsprozesses, einer Kommunikation, eines Nachsinnens, eines besseren Verstehens. Leider findet dieser kreative Entwicklungsprozeß so gut wie nicht mehr innerhalb der Grünen Partei statt, und wir haben einen großen Nachholbedarf, uns selbst um unseren inneren Frieden zu kümmern. Hier stoße ich auf eine Frage, die bis Jetzt viele Realos innerhalb der Grünen Partei nicht beantworten konnten, und es ist eine Frage, die auch wesentlich ist für die Soziale Verteidigung: Wie gedenken DIE GRÜNEN umzugehen mit dem traditionellen Gewaltmonopol des Staates - d.h. kann es ein non-violentes Verhalten im Bereich der Polizei, der Justiz und der Verteidigungspolitik geben? Hierzu muß eine Diskussion in Gang gesetzt werden innerhalb der Grünen Partei, ehe wir uns den Kopf über die Teilhabe an der Macht, an der etablierten Macht von oben, zerbrechen. Wir brauchen klare Äußerungen und Stellungnahmen über die Legitimität des zivilen Ungehorsams in der Demokratie sowie auch klare Stellungnahmen zur Frage der Gewaltanwendung bei Demonstrationen, sei es auf seiten der Polizei oder sei es auf seiten des »schwarzen Blocks«, der »Autonomen«, die immer wieder Soldat spielen wollen, sei es mit Steinen oder Molotow-Cocktails.
Ich möchte die Menschen, die Gewalt anwenden, um angeblich eine gewaltfreie und hierarchielose Gesellschaft anzustreben, überzeugen, daß ihr Weg falsch ist, doch ich kann sie nicht in unsere Reihen miteinschließen, wenn sie immer noch von der Anwendung der Gewalt überzeugt sind. Und ich denke, auch dies muß auf einer solchen Podiumsdiskussion deutlich gesagt werden. Als »gewaltfrei« bezeichne ich Handeln, bei dem grundsätzlich und bewußt auf Formen verletzender Gewalt verzichtet wird. Gewaltfreiheit, gewaltfreie Aktionen und ziviler Ungehorsam benötigen eine große Portion Zivilcourage - man verfolge nur die Beispiele der Berrigan-Brüder, die Beispiele der tapferen Menschen in der amerikanischen Gruppe »Schwerter zu Pflugscharen«, die Rüstungsgüter symbolisch beschädigen. Ich erinnere an die verschiedenen Pflugschar-Aktionen innerhalb der Rüstungsbetriebe in den Vereinigten Staaten. Das sind für mich mutige, gewaltfreie Aktionen. Wir haben hier in der Bundesrepublik noch einen sehr großen Nachholbedarf, um eine wirklich gewaltfreie Kultur und Gesellschaft aufzubauen.
Bernhard Häring schrieb in seinem Buch »Heilkraft der Gewaltfreiheit«, daß wir eine wohlvorbereitete, diszipliniert durchgeführte gewaltfreie Soziale Verteidigung brauchen. Doch wir alle wissen, daß Soziale Verteidigung im Sinne planvollen, vorbereiteten gewaltfreien Widerstands einer Nation in der Geschichte niemals stattgefunden hat. Doch es gibt eine Fülle von hoffnungsvollen Beispielen nicht-militärischen Widerstands mit gewaltfreien Verteidigungsformen.
Irgendwo habe ich doch noch ein bißchen Hoffnung, denn die Institution der Sklaverei wurde auch überwunden, wenigstens in vielen Teilen der Welt, und die Hinnahme des Krieges ist auch zu überwinden, wenn wir den Mut aufbringen, konsequent die Soziale Verteidigung als einzige Alternative zum Militär aufzubauen. Ich denke, daß Krieg und gewalttätige Auseinandersetzungen nicht ein unvermeidliches Schicksal darstellen. Wir müssen eine Art »Weltinnenpolitik« fordern als Alternative zur militärischen Blockpolitik. Wir müssen, wie Bernhard Häring schreibt, von der verletzenden Drohpolitik zur heilenden Sozialen Verteidigung kommen. Der Welt der Atombomben, der Gen-Technik und der Abschreckungspolitik kann man nichts anderes mehr entgegensetzen als die Revolution der Gewissen.1950 schrieb George Orwell, daß nur eine radikale Bekehrung zur Gewaltlosigkeit Europa retten kann.
Ansätze der Sozialen Verteidigung wurden z. B. praktiziert in Martin Luther Kings Bürgerrechtsbewegung oder in der Bewegung der Obstplantagenarbeiter von Caesar Chavez. Es gibt eine Reihe von Beispielen, die wir einfach näher kennenlernen müssen.
Die gemeinsame Erklärung der Bischöfe Irlands zu Krieg und Frieden im Atomzeitalter vom Juli 1983 macht Hoffnung. Darin steht u. a. die Forderung: »Unterstützung der Untersuchung und Anwendung von Methoden gewaltloser Verteidigung, politischer Veränderung sowie der Geisteshaltung, auf der aktive Gewaltlosigkeit wirklich beruht. Auch den amerikanischen Bischöfen zufolge ist die Gewaltlosigkeit nicht der Weg der Schwachen, Feigen oder Ungeduldigen. Gewaltfreie Mittel des Widerstandes verdienen eine viel größere Aufmerksamkeit als bisher. Sie können viele Formen annehmen, und die Prinzipien, auf denen sie basieren, müssen Teil jeder christlichen Friedenstheologie sein...«
Auf dieser Podiumsdiskussion sollten wir uns auch die Frage stellen, wie konkret wir Wege zur Sozialen Verteidigung aufbauen können. Ich hoffe, daß es eines Tages möglich sein wird, daß DIE GRÜNEN eine Reihe von regionalen, dezentralen Trainingszentren zur Einübung der Sozialen Verteidigung aufbauen werden. Dies hatte ich mir Anfang '83 gewünscht - da DIE GRÜNEN die einzige Partei im Bundestag sind, die auf Soziale Verteidigung setzen - oder sollte ich vielmehr sagen: noch setzen?
Christine Schweizer stellt in einem Beitrag über Soziale Verteidigung einige Fragen, die wir hier auch diskutieren sollten. Sie fragt: Gegen wen oder was verteidigen wir uns heute? Und sie fügt hinzu, daß fast alle gewaltfreien Aktionen und Bewegungen einen defensiven Charakter haben, denn fast immer geht es um Verteidigung gegen katastrophale Gefährdungen, z. B. Umweltkatastrophen oder Krieg. Sie fragt, ob es möglich ist, ein umfassenderes Verständnis von Sozialer Verteidigung zu haben, z. B. die Soziale Verteidigung der Lebensweise, wenn wir an die ethischen Minderheiten denken, an die Ureinwohner, an die Indianer, an die Sinti und Roma. Hier komme ich zurück auf das, was Johan Galtung geschrieben hat: »Territoriale Verteidigung bedeutet, daß Gebiete verteidigt werden, sozusagen Quadratmeter; Soziale Verteidigung ist die Verteidigung dessen, was man als Lebensweise bezeichnen könnte.« Doch trotz alledem muß geklärt werden, wo die Formen von gewaltfreien Aktionen aufhören und wo die Einübung der umfassenden Sozialen Verteidigung anfängt. Wir brauchen auf jeden Fall ein äußerst großes Maß an Demokratisierung, auch im Rahmen der Vorbereitungsphasen, sollten wir den Weg der Sozialen Verteidigung gehen. Es gibt in vielen Teilen Europas, in vielen Teilen der Welt und auch hier bei uns hoffnungsvolle Beispiele der gewaltfreien Aktion, viele Beispiele des zivilen Ungehorsams, die uns ein Stück weiter auf dem Weg zur Sozialen Verteidigung bringen können. Aber wir sollten nicht so tun, als ob hier und da vereinzelte gewaltfreie Kampagnen schon die Antwort wären. Es reicht bei weitem noch nicht!
Die Frage, die wir jetzt beantworten müssen, ist folgende: Wo sind die überzeugten Frauen und Männer, die an einer konsequenten Umstellung auf Soziale Verteidigung mitwirken würden? Und wann bauen wir endlich regionale Netzwerke für die Soziale Verteidigung blockübergreifend auf? DIE GRÜNEN haben hier eine historische Aufgabe, doch z.Zt. sind DIE GRÜNEN stur und selbstlähmend in ihren eigenen Machtblockkategorien und Denken verwickelt, und dies macht mich sehr traurig. Was wir brauchen, ist eine Verknüpfung von zivilen und staatsfreien Strukturen - Roland Vogt nennt es »Zivilität« als einen Gegenbegriff zum Militärischen. Vor uns baut sich eine westeuropäische Super-Atomstreitmacht Schritt für Schritt auf, und wir werden überall Zeugen dieses Prozesses. Dies bedeutet für uns eine neue Chance, und wir brauchen wieder langen Atem und viel Kraft, um andere überzeugen zu können, daß ein solches Westeuropa keine Antwort auf die Supermächte ist. Und so ist dieser Zeitpunkt des Ersten Bundeskongresses über Soziale Verteidigung ein strategisch ganz wichtiger. Ich möchte mich zum Abschluß ganz herzlich bei den Friedensfreunden und -freundinnen in Minden bedanken für ihre wertvolle Vorbereitungsarbeit und Initiative: Ohne Waffen - aber nicht wehrlos!
Danke.

Der Pferdefuß des INF- Vertrages

Rede im Deutschen Bundestag zur Beratung
des Inspektionsübereinkommens (1988)

In den Artikeln 11, 12 und 13 des INF-Abkommens vom 8. Dezember 1987 wird ein System von Inspektionen sowohl innerhalb der Grenzen des Territoriums der anderen Seite als auch in den Stationierungsländern vereinbart, ein Verbot der Störung technischer Kontrollmittel der anderen Seite sowie von Tarnmaßnahmen, die die vereinbarten Kontrollen erschweren würden, festgeschrieben und eine Sonderkontrollkommission gebildet, um Verstöße gegen die Vereinbarungen auszuschließen. Auch der Gesetzentwurf der Bundesregierung, von dem heute hier die Rede sein Soll, dient dem Zweck, eine lückenlose Überwachung der im INF-Vertrag von beiden vertragschließenden Mächten eingegangenen Verpflichtungen zu ermöglichen. Diese gute Absicht kollidiert allerdings in gefährlicher Weise mit den offensichtlichen Tatsachen. Pershing II- und Cruise-Missiles-Verbände werden bis zum Abzug einsatzbereit gehalten! Das Bedienungspersonal wird nicht automatisch abgezogen! Viele Einrichtungen der Pershing II und Cruise-Missile-Infrastruktur werden nicht unbrauchbar gemacht! Mit dem Übereinkommen vom 11. Dezember 1987 über die Inspektionen soll die Einhaltung des INF-Abkommens garantiert werden. Trotz aller hierzu festgelegten Details fehlt für mich leider die wichtigste Grundvoraussetzung: Die Vertragstexte enthalten keine Bestimmungen über die Entsorgung des in den Atomwaffen enthaltenen Plutoniums. Die verbreitete Annahme, das amerikanisch-sowjetische Abkommen über die Abschaffung von landgestützten Mittelstreckenraketen sehe auch die Vernichtung der entsprechenden nuklearen Gefechtsköpfe vor, ist irrig! Zwar werden die Trägersysteme und Abschußvorrichtungen unter Aufsicht der jeweils anderen Partei »gesprengt, zermalmt, zerschnitten oder geteilt« und so unbrauchbar gemacht, die Gefechtsköpfe mit ihren Zündanlagen jedoch nimmt der Vertrag aus. Jede Seite kann mit den Atomsprengköpfen anfangen, was sie will. Die Vertragsparteien können beliebig über die atomaren Gefechtsköpfe der Mittelstreckenraketen verfügen. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages meint dazu auf Anfrage: »Die Vertragsparteien haben bewußt davon abgesehen, eine Vernichtung der Gefechtsköpfe zu vereinbaren. Insbesondere wäre das Problem der Verifikation kaum lösbar gewesen. Die Befolgung einer solchen Vereinbarung könnte nicht zuverlässig überprüft werden, zumal für Kurzstreckenwaffen und für strategische Waffensysteme weiterhin atomare Gefechtsköpfe hergestellt werden dürfen. Solange das erlaubt ist, wäre eine Vereinbarung, atomare Gefechtsköpfe für andere Trägersysteme zu vernichten, gleichsam unsinnig.« Das aber ist genau der Pferdefuß des ganzen komplizierten Kontrollsystems mit all seinen Inspektionen. Das, was in erster Linie zu kontrollieren wäre, entzieht sich offensichtlich jeder Kontrolle, weshalb man lieber von vornherein auf seine Beseitigung verzichtet. Während meiner Vortragsreise in den USA vor wenigen Wochen erfuhr ich von den leidenschaftlichen Debatten im amerkanischen Kongreß zu dieser Problematik. Senator John Glenn aus Ohio sagte zum Beispiel während einer Anhörung im Verteidigungsausschuß des Senats, er sei erschrocken, wie wenige es wissen, daß der INF-Vertrag und alle ihn begleitenden Abkommen nicht einen einzigen atomaren Sprengkopf beseitigen. Der amerikanische Verteidigungsminister Carlucci erklärte John Glenn gegenüber, daß dies auf amerikanische Veranlassung hin so vereinbart worden sei. In einer früheren Phase der Verhandlungen, fügte ein Staatssekretär hinzu, sei überlegt worden, die Sprengladungen zu demontieren, in ihre Komponenten zu zerlegen und das spaltbare Material auszusondern. Doch nach den Aussagen von Robert Barkers, Assistent von Carlucci, werden die Sprengköpfe nicht in ihre Bestandteile zerlegt, sondern als Ganzes wiederverwendet. Die Argumente Carluccis für die Wiederverwendung der INF-Gefechtsköpfe wurden immer abenteuerlicher, als er darauf verwies, daß das Energie-Department aus Furcht vor möglichen Engpässen bei* der Herstellung von neuem Plutonium in den 90er Jahren die Wiederverwendung der nuklearen Sprengköpfe empfehle: zum Beispiel die Pershing II Gefechtsköpfe für das Nachfolgesystem der Lance-Rakete und die Cruise-Missiles Gefechtsköpfe für das Nachfolgestystem der seegestützten Marschflugkörper. Während wir uns hier über möglichst wirksame Inspektionen zur Verwirklichung des INF Abkommens unterhalten, bleibt festzustellen, daß die Atomgefechtsköpfe der abgezogenen Raketen mit ihrem Plutonium auf neue, sogenannte modernisierte Waffensysteme wandern oder in den großen Plutoniumlagern der Supermächte auf eine Neuverwendung im Abschreckungssystem warten. Die am 8. Dezember 1987 geweckten Hoffnungen der Menschheit auf einen ersten bescheidenen Anfang bei der Verminderung der Atomkriegsgefahr werden also schwer enttäuscht. Ich stimme Dr. Leipold, Leiter der Greenpeace-Kampagne für atomwaffenfreie Meere, zu, wenn er feststellt: »Das Abrüsten landgestützter Raketen wird dadurch entwertet, daß gleichzeitig die Bewaffnung zur See mit Interkontinentalraketen und Marschflugkörpern ausgebaut wird.«
Tatsächlich hat die internationale Abrüstungsdebatte die Nuklear-Armada auf den Ozeanen kaum berücksichtigt. Die Atom-Marinen der USA, der Sowjetunion, Großbritanniens, Frankreichs und Chinas verfügen über rund 16000 Atomsprengköpfe. Trotz dieser Gefahr haben sie sich bisher allen Rüstungskontrollvereinbarungen entziehen können. Das ist umso unverständlicher, als die Raketen der Atom-U-Boote keine elektronischen Schlüssel besitzen, die von der politischen Führung kontrolliert werden könnten. Sie können an Bord scharf gemacht und abgefeuert werden. Auch bei uns freilich wird ganz im Gegensatz zu dem von dieser Debatte vermittelten Eindruck mehr der ungebremsten Aufrüstung als ihrer Kontrolle und Eindämmung das Wort geredet. So nannte Dr. Wörner die Verstärkung der konventionellen Kampfkraft unbedingt notwendig und erklärte: »Wer bei uns einen Modernisierungsverzicht fordert, fordert die einseitige Abrüstung.« Und der CDU-Militärstratege Lothar Rühl verwies darauf, daß Atomwaffen auf deutschem Boden langfristig unersetzlich sind. Das paßt gut zu der Erklärung der 16 NATO-Staats- und Regierungschefs vom 3. März 1988, die NATO halte am Konzept der atomaren Abschreckung fest. Im Westen also, trotz Inspektionsgerede, noch immer nichts Neues, auch wenn man nunmehr verharmlosend von einer »differenzierenden, abgestuften Abschreckung« spricht. Nicht weniger schlimm ist es, daß während wir uns hier den Kopf über Inspektionsdetails, über Befugnisse der Inspektoren und über die Anzahl der jährlich gestatteten Inspektionen zerbrechen, die NATO, durch keine Inspektionen gehindert, neue, als »Modernisierung« getarnte Aufrüstungsschritte beschließt. Ein Grund für diese Planungen ist auch die Absicht, während der Ratifizierungsdebatte die Kritiker des INF-Abkommens zu beruhigen. Welche Ironie liegt doch in der Tatsache, daß ein noch so bescheidener Abrüstungserfolg mit insgesamt mehr Rüstung auf atomarem, chemischem und konventionellem Gebiet erkauft werden muß!