Dieser grundlegende Neutralitätswunsch (der
Europäer) wird durch die von den gegenwärti
gen Militärbündnissen beeinflußte außenpoliti
sche Phraseologie verdeckt. Doch diese Sehn
sucht nach Neutralität ist die unbewußte
Attitüde der europäischen Identität. Eigentlich
sind alle außenpolitischen Strategien realistisch,
die auf eben diese existenzielle Einstellung bauen.
György Konrad
Warum wir uns ein neutrales und blockfreies Spanien wünschen
Offener Brief an die Spanische Friedensbewegung (1984)
- Unmittelbar nach meiner Rückkehr aus Madrid Mitte März 1984, wo ich an der Erstaufführung des Films "The day after" teilgenommen und zahlreiche Diskussionen mit der Friedens-und Ökologie- und Frauenbewegung geführt habe, habe ich beschlossen, Euch, meinen spanischen Freundinnen und Freunden, diesen Brief zu schreiben. Leider komme ich erst heute dazu.
Jahrelang habe ich in Brüssel bei der EG gearbeitet und weiß sehr wohl, wie es in dieser Gemeinschaft aussieht und daß die armen Regionen nur am Rande der europäischen Politik behandelt werden. Seit vielen, vielen Jahren bin ich in der Ökologie-und Friedensbewegung tätig und weiß von daher das bevorstehende Referendum zum NATO-Austritt oder der weiteren Mitgliedschaft Spaniens innerhalb der NATO richtig einzuschätzen.
Als die Vorgänger-Regierung Calvo Sotelo im November 1981 den Beitritt zum Nordatlantikpakt durch die Rechtsmehrheit des Parlaments beschließen ließ, fühlten sich die spanischen Sozialisten überrumpelt. In ihrem Wahlmanifest kündigten sie an, die Partei werde sich für die Lösung Spaniens aus der militärischen Integration in der NATO einsetzen; im übrigen solle das spanische Volk selbst in einem Referendum über die Mitgliedschaft in der westlichen Allianz entscheiden. Seit Ende 1982 regieren die Sozialisten und Felipe Gonzalez das Land mit absoluter Mehrheit. Und nun hören wir, daß diese Regierung Gonzalez inzwischen überlegt, ob die weitere Mitgliedschaft im Nordatlantikpakt Spanien nicht doch zum Vorteil gereicht und ob sie das Risiko eingehen soll, daß die Mehrheit der Spanier in einer konsultativen Volksbefragung sich gegen diese Mitgliedschaft ausspricht. Diese neue Entwicklung hat mich erstaunt und enttäuscht, obwohl ich als ehemalige Sozialdemokratin, die 1979 ernüchtert die SPD verlassen hatte, um dann die Grünen in der Bundesrepublik mit zu gründen und mit aufzubauen, eigentlich wissen sollte, wie Sozialdemokraten und Sozialisten ihre Ideale vergessen und verraten, sobald sie Macht erworben haben und am Regierungsruder sitzen. In den letzten Monaten habe ich die Kanarischen Inseln besucht, Barcelona, Katalonien und Madrid, und überall ist mir deutlich geworden, mit welcher Skepsis die Spanier der NATO - mit Recht - begegnen.
Meines Erachtens betreibt die sozialistische Partei und Regierung in dieser Frage ein sehr unehrliches Geschäft: Sie spekuliert darauf, durch die fortdauernde NATO-Mitgliedschaft sich günstigere Bedingungen für den EG-Beitritt erkaufen zu können, und scheint bereit zu sein, den von der EG als Voraussetzung für die von Spanien angestrebte Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft geforderten Verbleib Spaniens in der NATO hinzunehmen. Am Beispiel Spaniens zeigt sich, in welch starkem Maße die EG bereits zur NATO-Säule geworden ist. Um so bedauerlicher ist es, daß Ministerpräsident Gonzalez offenbar bemüht ist, das vor den Wahlen gegebene Versprechen aufzuweichen, das spanische Volk selbst in einem Referendum über die Fortsetzung der Mitgliedschaft Spaniens in der NATO entscheiden zu lassen. Die gegenwärtige Entwicklung deutet darauf hin, daß der Sozialist Gonzalez, einst NATO-Gegner, heute zu einem der wichtigsten Verfechter der NATO-Mitgliedschaft Spaniens geworden ist. In meinen Diskussionen, auch mit Mitgliedern aus Regierungskreisen, ist durchgesickert, daß der Text des Referendums nicht die klare Alternative: "NATO-Austritt ja oder nein" stellt, sondern auf eine demagogische Formulierung hinauslaufen wird, die im nachhinein jegliche Interpretation offenläßt. Nicht die NATO-Mitgliedschaft selbst soll demnach zur Debatte stehen, sondern nur der Grad der Integration. Der spanische Außenminister Moran votierte am 7. Februar offen für die Beibehaltung des jetzigen Status quo. Eine andere Option ist die französische Lösung, das heißt, Spanien gliedert sich nicht in die militärische Struktur der NATO ein, nimmt jedoch an konkreten Projekten der Kooperation und Logistik und an den Manövern der NATO teil. Ohnehin bleibt Spanien durch das Militärabkommen mit den USA auf jeden Fall fest in die westliche Verteidigung eingebunden.Ich war enttäuscht, als ich hörte, daß die berühmte, seit langem angekündigte Regierungsstudie über die Notwendigkeit der spanischen Verteidigung nun auf die lange Bank geschoben worden ist. Wie kann man, so fragt eine Tageszeitung in der Bundesrepublik, dem spanischen Volk erklären, daß Spanien allein aufgrund des internationalen Drucks nicht aus der NATO austritt und Spanien darüber hinaus bereits seit 1952 mit der Installierung von US-Basen Ziel sowjetischer Raketen ist? In Regierungskreisen wird wohl die Veröffentlichung gerade dieser Informationen befürchtet, da sie mit Sicherheit in den breiten pazifistischen Reihen in Spanien und in der sozialistischen Partei eine eigene Dynamik auslösen würde, die nicht nur auf den NATO-Austritt, sondern in gleichem Zug auf eine Aufkündigung des amerikanischen Beistandsvertrages drängt. So ist die NATO meines Erachtens zu einer Schicksalsfrage für die sozialistische Regierung geworden. Die PSOE steht am Scheideweg und muß sich entschließen, ob sie eine reelle Demokratisierung Spaniens zulassen wird oder ob sie sich weiter den Interessen der Vereinigten Staaten und der Europäischen Gemeinschaft unterordnet. Ich meine, daß auch moralische und ethische Argumente gegen die NATO in Spanien gelten müssen; sie sind nicht als unpolitisch oder als naiv darzustellen. Entweder ist eine Demokratie auf sittliche Werte gegründet, dann bestimmen diese auch die Richtschnur polotischen Handelns, oder sie verkümmern zu Attributen, nützlich für sozialistische Sonntagsreden, während die Wirklichkeit weitab davon stattfindet.
Gegenwärtig ist Spanien in die politische NATO-Struktur eingebunden, während die militärische Integration bis zum Abhalten dieses Referendums eingefroren wurde. Nichtsdestotrotz werden bereits jetzt zahlreiche Militärs in Spanien in Intensivkursen für die neuesten NATO-Systeme ausgebildet, und die Informationssysteme von Heer, Marine und Luftwaffe haben erste Schritte zur Integration eingeleitet. Der neue Chef des im Dezember 1983 gebildeten obersten Generalstabs, Admiral Liberal, gilt als eindeutiger Befürworter der vollen Einbindung Spaniens in die NATO. Während die kürzlich eingeleitete Militärreform ursprünglich die Zuständigkeit für die Formulierung der Verteidigungspolitik in die Hände des Verteidigungsministers legen wollte, ging in der letzten Fassung des Dekrets die Richtlinienkompetenz auf den Generalstabschef über, womit die faktische politische Autonomie des Militärs auch gesetzlich abgestützt wurde. Der Generalsekretär für Verteidigungspolitik, General Monilla, erklärte im Februar 1984, daß die "Einbindung Spaniens in Westeuropa außer Frage steht und die internationale Situation nicht dazu geeignet ist, daß Spanien ein Referendum abhalten könne". Im NATO-Hauptquartier in Brüssel setzt man, zumindest bis zum Ende dieser Legislaturperiode 1986, die militärische Integration Spaniens aus. Trotzdem nimmt Spanien bereits an den Sitzungen des militärischen Komitees teil.
Alles deutet darauf hin, daß es der Regierung Gonzalez nicht mehr um den Austritt aus der NATO geht, sondern nur noch um das Ausmaß der Kollaboration in und mit der NATO. Spaniens Politik der Blockfreiheit, die in der Teilnahme am Blockfreientreffen in Havanna ihren Höhepunkt fand, geht leider zu Ende! Zwischen Spaniens Armee und dem Bündnis-Hauptquartier herrscht bereits ein reger Informationsaustausch. Spanische Offiziere absolvieren NATO-Anpassungskurse, und die Kontrollgeräte der spanischen Luftabwehr sind auf den Anschluß an NATO-Normen vorbereitet. Die Armeespitze akzeptiert die NATO-Mitgliedschaft. Ablehnung kommt nur von einigen mittleren Kadern, so wurde mir mitgeteilt. Damit ist Spaniens Regierung dort angekommen, wo die NATO-Bündnispartner sie hinlenken wollten. Vor allem für die USA und die Bundesrepublik ist es undenkbar, so unsere führenden Politiker, daß eine mittelstarke europäische Macht sich mit dem EG-Eintritt in den Kontinent eingliedert, doch am Verteidigungsbündnis nicht teilhaben will. Die Regierung Gonzalez hat ihre Ideologie der Blockfreiheit aufgegeben und sich von vermeintlichen Sachzwängen erdrücken lassen. Gonzalez selber hat begonnen, die Verknüpfung der EG mit der NATO zu akzeptieren und sie gegenüber Brüssel zu einem Druckmittel zu gebrauchen. Ich weiß von den Jahren der Frustration wegen des immer wieder verschobenen EG-Eintritts. Nun werden Bedingungen ausgehandelt und ein Fahrplan erstellt, der den Verhandlungsschluß für diesen September vorsieht, so daß der EG-Eintritt voraussichtlich noch am 1. Januar 1986 ratifiziert werden kann. Den EG-Trumpf braucht die Regierung unbedingt, um der Bevölkerung ihren Kurswechsel in der Verteidigungsfrage schimackhaft machen zu können. Nur, unehrlich bleibt sie mit diesem Vorgehen allemal. Zuversichtlich machen mich dagegen die vielen Umfragen, die zeigen, daß die Spanier der NATO weiterhin mit wachsender Skepsis begegnen. Kurz vor Francos Tod, 1975, sprachen sich noch 57 Prozent der Bevölkerung für den NATO-Beitritt aus. Bis 1983 ist die Gruppe der eindeutigen Befürworter auf 17 Prozent zusammengeschrumpft.
Zurück zu den Unehrlichkeiten der sozialistischen Regierung, die auf der einen Seite gewillt ist, formal ihr Referendumsversprechen zu halten, doch auf der anderen Seite dieses so ausgestalten will, daß ein NATO-Verbleib mit ja beantwortet wird, sie also "gewinnt". Die Frage, wieweit die Zusammenarbeit mit der NATO gehen soll, wird nach der Regierungsstrategie möglichst offen gestaltet. Zwei Möglichkeiten werden ins Auge gefaßt. Außenminister Moran wünscht die schwächere Integrationsformel: Die Beibehaltung der bisherigen Situation, die Spanien von den meisten militärischen Kommissionen formal fernhält - doch dies stößt bei den NATO-Partnern auf Widerstand. Als Alternative könnte die französische Formel dienen, die Spanien nur noch von NATO-Kommandostellen ausschließt. Die spanische Bevölkerung muß auf einen subtilen Aufruf im NATO-Jahr gefaßt sein.
Ich freue mich sehr über die vielen Basis-Initiativen und gewaltfreien Aktionen gegen die NATO und gegen die US-Basen in Spanien. Die 50 000 Menschen, die im Februar dieses Jahres gegen NATO und US-Basen marschierten, haben mir Hoffnungen gemacht. Auf Euren Spruchbändern stand groß geschrieben: "Das Referendum werden wir gewinnen!" Am Sonntag, dem 3. Juni, wart Ihr zu Hunderttausenden in Madrid. Bis 1985, dem voraussichtlichen Zeitpunkt des Referendums, wird noch sehr viel an Widerstand zu leisten sein. Vorher wird die Regierung durch das Nadelölhr der eigenen Partei gehen müssen. Der Parteikongreß findet bekanntlich im Dezember 1984 statt. Ich glaube, wir alle innerhalb der europäischen Friedens-und Ökologiebewegung müssen darauf hinweisen, daß Felipe Gonzalez eines seiner wichtigsten Wahlversprechen nicht halten wird. Es ist eine große Verlogenheit, wenn er ein Volk dazu bringen möchte, den Entschluß, in der NATO zu verbleiben, in dem versprochenen Referendum nun endgültig anzunehmen. Immer wieder müssen wir darauf hinweisen, daß er als Gegenleistung zu der Kursänderung den Trumpf des EG-Eintritts vorzeigen möchte. Wenn er diesen Trumpf eines EG-Eintritts ausspielen will, sollte er auch die Beispiele der ärmeren Regionen in der Europäischen Gemeinschaft vorzeigen, Regionen wie Nord- und Südirland, Regionen wie Sizilien, Teile von Italien oder Belgien, wo Menschen in großer Armut leben und denen die Europäische Gemeinschaft wenig an verbesserten Lebens- und Arbeitsbedingungen gebracht hat. Die Gemeinschaft ist die Gemeinschaft der Reichen und Starken, die ständig die Schwachen unterdrücken und ausbeuten, sei es in der Agrarpolitik, sei es in der Regional- oder in der Industriepolitik. Wir kennen die diskriminierenden Vertragsklauseln des EG-Angebots, wonach in den ersten vier Jahren nach Spaniens Beitritt in die EG die Lieferung von spanischem Obst und Gemüse sowie Wein und Olivenöl weiterhin den bisherigen Beschränkungen seitens der jetzigen EG-Staaten unterliegen soll. Und wie sieht es mit den Übergangszeiten für Freizügigkeit der spanischen Wanderarbeitnehmer aus? Wie mit den Regelungen für Kindergeldzahlungen? Trotz eventueller Lasten werden die heutigen starken EG-Länder vom Beitritt Spaniens profitieren. Ihnen öffnet sich ein Markt von 37 Millionen zusätzlichen Verbrauchern in Europa. Wird aber Spanien von diesem EG-Beitritt profitieren?
Wir wünschen uns ein neutrales und blockfreies Spanien, das sich von den militärischen Schauplätzen entfernt hält und so seine derzeitig guten Beziehungen zu den Ländern Lateinamerikas und der Dritten Welt bewahren und ausbauen kann. Es ist interessant, wenn man auch beobachet, mit welchen Interessen die EG-Partner diesen Spanien-Beitritt verfolgen: Am 23. Juni 1982 hat Frankreichs Staatschef Francois Mitterrand in Madrid auf eine freundlich-hoffnungsvolle Tischrede von König Juan Carlos erwidert, daß Spaniens baldiger EG-Beitritt für alle Beteiligten eine Katastrophe wäre. Es schien kaum noch Hoffnungen zu geben. Mitterrand hatte deutlich gemacht, wie die spanische Produktion an Obst und Gemüse und Wein und Olivenöl der französischen Landwirtschaft gefährlich werden könne. Dies scheint inzwischen alles vergessen. Die Veröffentlichung der NATO-Dokumentation des Madrider Verteidigungsministeriums fällt zeitlich zusammen mit dem Bekenntnis des französischen Staatspräsidenten Mitterrand zum spanischen EG-Beitritt. Die Pariser Regierung gewährt seit Ende letzten Jahres den Spaniern bei der Bekämpfung des ETA-Terrorismus im Baskenland praktische Hilfe. Für beides, das EG-Versprechen und die Bekämpfung des Terrorismus, scheint Frankreich nun Gegenleistungen zu erwarten. Die Franzosen hoffen, in einem milliardenschweren Rüstungspaket, ihren AMX 30 Nachfolgepanzer, den Hubschrauber Punia und die Luftabwehrrakete Roland an die spanischen Streitkräfte zu verkaufen. Spätestens jetzt wissen wir, in welchem Interesse dieses ganze europäische Geschäft liegt.
Ich habe auch die Proteste in der spanischen Hauptstadt gegen den US-Luftwaffenstützpunkt Torreion De Ardoz verfolgt. Der Riesenstützpunkt der US-Luftwaffe Torreion, der den USA auch als ABC-Waffen-Zwischenlager und als Basis für militärische Einsätze im Nahen Osten dienen soll, war, so haben spanische Zeitungen berichtet, Ausgangsort für die grauenhafte spanische Lungenseuche, die ausgelöst worden ist durch bakteriologische US-Kampfstoffe. Weit mehr als 500 Spanier und Touristen sind bisher gestorben, so wurde mir mitgeteilt. Die Regionalregierung der spanischen Hauptstadt Madrid hat etwa ein Jahr nach der Erneuerung des spanisch-amerikanischen Stützpunktabkommens gebeten, daß die USA diesen größten militärischen Stützpunkt auf spanischem Boden verlegt. Wird aber etwas getan, oder wechseln Bittbriefe nur die Hände? Und wie steht es mit den iberischen Querelen? Als Spanien vor zwei Jahren der NATO beitrat, der Portugal seit ihrer Gründung angehört, da wurden portugiesische Bedenken laut: Lissabon wehrt sich entschieden gegen ein gemeinsames NATO-Kommando oder gar die Präsenz spanischer Truppen auf portugiesischem Boden. Madrid winkte jedoch ab: Wenn überhaupt, dann sind wir nur an einem gemeinsamen Kommando in der Straße von Gibraltar interessiert, und das betrifft nicht Lissabon. Über diese iberischen Querelen ist auch bei uns zu lesen. Und immer wieder hören wir von dem guten Verhältnis zwischen Lissabon und Washington und von einer zukünftigen Aufstellung von Nuklearwaffen in Portugal. Es wird auch darüber gesprochen, die Madeira-Insel Santo Porto zu einem NATO-Stützpunkt auszubauen. Nach und nach wird die Region um Spanien und Portugal zunehmend militarisiert. Felipe Gonzalez spricht von den politischen, wirtschaftlichen, technologischen und militärischen Realitäten, die er verfolgen müsse. Wie Willy Brandt einst auf der Hofgartenwiese in Bonn im Oktober 1983 gesagt hat, so hält es jetzt auch er: "Die Blöcke mögen unerwünscht sein - sie sind nun einmal da!" Die Regierungen meinen noch immer das alte Europa der Multinationalen, der Großlandwirte, der chemischen und atomaren Industrie sowie die NATO hätten noch eine Zukunft. Wir müssen gemeinsam deutlich machen, daß weder das alte Europa der Zollbarrieren, der Ausbeutung von Ländern der Dritten Welt und der Industriepolitik noch die NATO bei uns eine Zukunft haben. Ein Europa der autonomen, selbstverwalteten und nicht nuklearen Regionen, das auf die ökologischen Herausforderungen dieser Zeit eingeht, das ist unsere gemeinsame Zukunft. Ich wünsche Euch allen viel Erfolg bei Eurer weiteren Anti-NATO-Kampagne und bei dem Aufbau eines neutralen und blockfreien Spaniens.
Eure Petra K. Kelly
»WEU« bedeutet: West-Europäische Rüstungsunion
Rede in Paris vor der Parlamentarischen Versammlung
der WEU (1985)
Ich spreche zu Ihnen heute als überzeugte Pazifistin, nicht als Mitglied einer "5. Kolonne" wie das gestern gesagt wurde, sondern als jemand, der Militarismus und Verletzung der Menschenrechte in Ost und West gleichermaßen verurteilt.
Aus diesem Blickwinkel fand ich es bedrückend, wie gestern in manchen Reden dieser fast ohnmächtigen Versammlung der Ton des Kalten Krieges zu vernehmen war ... in denen nur von den Verbrechen der Sowjetunion gesprochen wurde, während Verletzungen der Menschenrechte im eigenen Lager, im eigenen Hinterhof, wie sie leider tagtäglich geschehen (Türkei, Lateinamerika, Irland, Südafrika, Südkorea und Pakistan), unerwähnt blieben.
Das "Europa", das wir uns vorstellen, umfaßt nicht nur den Westen unseres Kontinents, sondern muß auch jene Länder mit einschließen, die durch die tragische und fortdauernde Blockkonfrontation von ihren natürlichen Nachbarn auf unnatürlichste Weise getrennt sind.
Wir fordern eine Politik, im Rahmen der europäischen Institutionen, die auf eine gewaltfreie Überwindung dieser Trennung abzielt anstatt sie durch den Ruf nach mehr atomarer und konventioneller Rüstung und europäische Teilnahme an aberwitzlgen Rüstungsprogrammen, wie z. B. dem sogenannten SDI-Vorhaben, weiter zu verfestigen. Wir halten nichts von einem "europäischen Europa" - das sich seine Autonomie, seine "Selbstbehauptung", seine Souveränität und seine Unabhängigkeit/Eigenständigkeit lediglich nuklear wie konventionell (innerhalb oder außerhalb der NATO) errüstet!
Der Ruf von Giscard d'Estaing im Sommer 1984 nach einem "Rat der europäischen Hauptquartiere" und einer "Europäischen Truppe der grünen Helme" macht uns Sorgen ebenso der Ruf deutscher konservativer Politiker, die für eine Zusammenlegung der britischen, französischen und amerikanischen Nukleararsenale in Europa eintreten - für ein einheitliches Kommando eines Europäischen Nuklearen Verteidigungsrates, an dem die Bundesrepublik, die angeblich eine Politik des Nuklearverzichts betreibt, beteiligt werden soll.
Den Bürgern Europas - entnervt über Butter- und Milchberge - soll "Westeuropa" über die militärische Integration schmackhaft gemacht werden - "Europäisierung" der Sicherheitspolltik - dieser Begriff soll veriiünftigen Westeuropäern schmeicheln, die sich von den beiden Supermächten emanzipieren wollen ... doch dieser Begriff verdrängt die militärische Vergangenheit Westeuropas und den Kolonialismus. Dieser Begriff ist kei"n Ausweg aus dem Rüstungswettlauf, aus der selbstmörderischen Politik der Abschreckung. Dieser Begriff ist Fortführung der alten Politik in "europäisiertem" Gewande!
Wenn man "mehr Verantwortung für die Verteidigung der Europäer" übernehmen will, so kann das doch nicht einfach heißen: noch mehr Aufrüstung? So kann das nicht heißen, daß die BRD nun die Anschaffung von Flugkörpern anstrebt - von über 70 km Reichweite, die nach den alten WEU-Rüstungsbeschränkungen verboten waren. Nun wird auch schon die Entwicklung eines Abstandflugkörpers großer Reichweite (600 km) (LRSOM) legitimiert.
Die Frage, die gerade hier in diesem Kreis der vielen Männer, der hochdotierten WEU-Beamten, diskutiert werden sollte, ist, ob nun über die Konzeption und über die Verwirklichung einer "Europäischen Union" und über eine wiederbelebte WEU die Voraussetzungen - durch die Hintertür - für eine "europäische Atomstreitmacht" - eine dritte militärische und nukleare Supermacht geschaffen werden sollen?
Mich bedrückt sehr, was man hier unter dem Begriff "Revitalisierung" der WEU - "Wiederbelebung" der WEU - versteht.
Im Dokument über den Stand der europäischen Sicherheit spricht man von den "Anstrengungen zur Schaffung einer echten europäischen Verteidigungsindustrie..."- man betont die "Notwendigkeit" und die "Erfolge" der internationalen Rüstungskooperation, und dabei werden Projekte mit bundesdeutscher Beteiligung genannt, die bis vor kurzem noch unter die Herstellungsverbote der WEU gefallen Sind; man vertrat hier am 21. Juni 1984 die Ansicht, daß das Raumfahrtpotential in der künftigen Kriegsführung eine Schlüsselrolle spielen wird; man ist bestrebt, als parlamentarische Versammlung der WEU die vorhandenen Fachkenntnisse zu nutzen, "um die industrielle Zusammenarbeit auf dem Gebiet der militärischen Nutzung des Weltraums zu harmonisieren und eine westeuropäische Rüstungskontrollpolltik zu entwickeln"; man dachte "durch alle notwendigen Maßnahmen innerhalb des Vertragsgebiets die Verlegung von Streitkräften eines beliebigen NATO-Landes nach außerhalb dieses Gebietes ermöglichen" - im Falle von Entwicklungen außerhalb des NATO-Gebietes, die ihre "lebenswichtigen Interessen berühren"; und man setzt sich ein für eine verstärkte Rüstungszusammenarbeit der westeuropäischen NATO-Staaten untereinander, insbesondere der französischen und westdeutschen Konzerne - dies soll die westeuropäische Rüstungsindustrie gegenüber den USA und natürlich auch im Wettstreit um Absatzmärkte in der Dritten Welt konkurrenzfähiger machen. Und wenn ich den Bericht von Herrn van der Sanden richtig verstehe, soll auch der Neutralitätsstatus Irlands aufgeweicht werden sämtliche EG-Länder sollen in die europäischen Sicherheitsorganisationen eintreten!
Wenn hier von Wiederbelebung der WEU gesprochen wird meint man wohl auch, daß endlich die originären Funktionen ausgefüllt werden, die der WEU zugedacht waren?
Ich stelle die Frage, warum der Rat mit der Errichtung von Organen begann, noch bevor er konkret die Aufgaben festgelegt hatte, die diese Organe erfüllen sollten. Ebenso unklar bleibt, was denn das bisherige Rüstungskontrollamt geleistet hat? Die im WEU-Vertrag vorgeschriebene Kontrolle der britischen und französischen Atomwaffen, deren zahlenmäßiger Bestand vom WEU-Rat "mit einfacher Stimmenmehrheit festgesetzt" werden sollte, wurde ohnehin nie ausgeübt. Obwohl die britischen und französischen Atomwaffen seit Vertragsschluß im Oktober 1954 vervielfacht wurden, hat es völlig vertragswidrig auch nicht eine Abstimmung darüber im WEU-Rat gegeben!
Obwohl das Amt die Bestände der nicht-NATO-gebundenen Streitkräfte überprüfen soll, ist eine Offenlegung der französischen Bestände und Armee-Umstrukturierungspläne sowie der Bildung der französischen "Schnellen Eingreiftruppe" nach dem Rückzug Frankreichs aus dem militärischen Teil der NATO 1966 nie erfolgt. Das Amt für Rüstungskontrolle war bisher einer strengen Kontrolle des WEU-Rates unterworfen, ist dem Rat allein berichtspflichtig gewesen und hat bis heute keinen einzigen autorisierten Bericht über die Durchführung seiner Verifikation vorgelegt - ist das eigentlich die Funktion des WEU-Rates überhaupt? Die Kontrolle der Kontrolleure, um selbständigen Rüstungskontrollansatz zu unterbinden?
Die mangelnde Effektivität des Amts zeigt sich auch im personellen Aufbau - 52 Mitarbeiter; davon nur 15 Personen, die sich um die gesamten Verifikationsaufgaben in der Nichtherstellung und Beständekontrolle kümmern - und denen 2'12 Millionen Soldaten, die gesamte Rüstungsindustrie Europas und Haushaltspläne von sieben Mitgliedsstaaten gegenüberstehen!
De Außen- und Verteidigungsminister der WEU-Staaten betonen immer wieder die Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO - konventionell und nuklear - und versuchen es nun über drei neue Agenturen im Rahmen der WEU.
Wir lehnen diese politischen Konzeptionen ab - denn sie dienen der Blockstabilisierung, der Förderung der europäischen Rüstungsindustrie, zeigen keinen Ausweg aus der Abschreckung, sind der Weg hin zur militärischen Großmacht Europa, der Weg weg von der zivilen europäischen Gemeinschaft, die alle am Ende des Zweiten Weltkrieges gewünscht haben!
Es ist so notwendig, eine Gegenvision ohne Abschreckung zu entwickeln . . . ein »nichtmilitärisches« - Europa . . . ein Europa, das die Konversion der Rüstungsindustrie betreibt - in der Lage ist, endlich eine europäische Abrüstungsagentur mit Kompetenzen einzurichten; in der Lage ist, mit gemeinsamen sozialen und ökologischen Initiativen diesem Europa der Arbeitslosen, der Armen, der vergessenen Randgruppen ein menschliches Antlitz zu geben!
Wir wollen eine drastische Reduzierung der Rüstungshaushalte, einseitige Abrüstungsschritte des eigenen Landes im atomaren, chemischen und konventionellen Bereich, Umstellung der Rüstungsproduktion auf die Fertigung ziviler, nützlicher Güter und eine europäische Abrüstungsagentur - all dieses jetzt beginnend - unabhängig von der anderen Seite! Unsere Alternative zur Europäisierung heißt Überwindung des Blocksystems, eine entmilitarisierte, dezentrale europäische Friedensordnung.
Wie traurig, wenn es eine "Europäische Technologiegemeinschaft" geben muß - als Vehikel für neue europäische Impulse, als Mittel zur Stärkung der europäischen Zusammenarbeit, als Wiederbelebungsdroge für müde Europäer? Reichen nicht die Probleme der Krebskranken, der Behinderten, der Kranken, Arbeitslosen, der Jugendlichen, der Frauen in Europa aus - um eine menschenfreundliche europäische Zusammenarbeit über alle Grenzen hinweg zu beleben?
Die Neutralität bewahren
Offener Brief an unsere irischen Freunde/Innen (1987)
- Wir betrachten uns als gute Freunde des neutralen Irlands und haben uns sehr darüber gefreut, daß uns während unseres kürzlichen Besuchs in Irland so viel Solidarität, Gastfreundschaft und Sympathie entgegengebracht wurden. Mit diesem Offenen Brief wollen wir uns bei unseren zahlreichen Freunden in Irland bedanken i-ind gleichzeitig unseren Bedenken und Befürchtungen im Hinblick auf das anstehende Referendum über die Europäische Einheitliche Akte Ausdruck geben.
Dabei sprechen wir als Mitglieder der Partei der Grünen - einer Partei und Bewegung, die sich international für ökologische und antimilitaristische Prinzipien einsetzt und deren politische Bemühungen darauf ausgerichtet sind, ein Europa zu schaffen, in dem Frieden und soziale Gerechtigkeit herrschen und das frei von Ausbeutung ist. Ein Europa, das nicht nur aus Mitgliedsländern der EG, der NATO oder der Westeuropäischen Union besteht, sondern das weit darüber hinaus bis nach Osteuropa hineinreicht. Einer von uns spricht dabei auch als früherer General der deutschen Bundeswehr und Vertreter der "Generale für Frieden und Abrüstung", einer Vereinigung von fünfzehn Generälen aus verschiedenen NATO-Mitgliedsstaaten.
Wir wenden uns auch hier in der Bundesrepublik Deutschland gegen die sogenannte Einheitliche Europäische Akte. Eine Akte, die aus zwei Verträgen besteht - einem Vertrag zu Fragen aus dem Bereich der Wirtschaft und einem weiteren Vertrag zu Fragen aus dem Bereich der Außenpolitik, Sicherheit und Verteidigung. Wir lehnen diese Akte aus den folgenden schwerwiegenden Gründen ab: In den vergangenen Monaten haben in Bonn, Paris und London zahlreiche Gespräche auf höchster Ebene über eine engere politische und militärische Zusammenarbeit sowie über eine politische Union in der Europäischen Gemeinschaft stattgefunden. Dabei befürworteten einige Stimmen ein zukünftiges Vereinigtes Westeuropa, einen Bund der Europäischen EG/NATO-Mitgliedsstaaten und sprachen sich für eine dritte militärisch und wirtschaftlich starke atomare Supermacht namens Westeuropa aus.
Wir lehnen diesen militaristischen Plan zur Gründung einer dritten atomaren Supermacht in Europa ab. Jüngste Empfehlungen von Mitgliedern der liberalen, demokratischen und reformistischen Gruppe, die das Europäische Parlament dazu aufgerufen haben, als beratende Versammlung der Westeuropäischen Union zu fungieren (die im Moment wiederbelebt wird und als Stützpfeiler des Atlantischen Bündnisses in Europa dienen soll), gehen Hand in Hand mit weiteren derartigen Forderungen einflußreicher Politiker in Europa. Diese Forderungen führen in eine falsche Richtung und dürfen in Irland im Hinblick auf das anstehende historische Referendum nicht ignoriert werden.
Jacques Delors, Präsident der »zivilen« EG-Kommission, hat sich mehrmals leidenschaftlich für eine gemeinsame europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik sowie für eine gemeinsame europäische Waffenproduktion der zwölf Mitgliedsstaaten (einschließlich des neutralen Staates Irland!) eingesetzt. Auch Helmut Schmidt, der frühere deutsche Bundeskanzler, hat sich für eine zukünftige integrierte europäische Armee ausgesprochen; eine Idee, die sein politischer Gegner Franz Josef Strauß bereits seit Jahren befürwortet. Chaban-Delmas und Chirac engagieren sich für einen Stützpfeiler der gemeinsamen europäischen Verteidigung und für eine für die EG-Mitgliedsstaaten verbindliche Charta zur Verteidigung Europas. Und Präsident Mitterrand und der deutsche Bundeskanzler Kohl haben kürzlich gemeinsam für eine "zentrale politische Macht" mit dem Ziel einer engeren Zusammenarbeit und eines größeren Konsenses bei Fragen der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik plädiert. Und Lord Carrington sowie Sir Geoffrey Howe sprechen von der Notwendigkeit einer europäischen Verteidigungsidentität.
Besonders die Regierung der Bundesrepublik Deutschland drängt auf eine engere politische und militärische Union in der Europäischen Gemeinschaft. Dies ist einer der Gründe, weshalb wir das dringende Bedürfnis verspüren, Sie auf unsere Bedenken gegenüber einer zunehmenden Militarisierung der EG, die wir kategorisch ablehnen, aufmerksam zu machen!
Die Einheitliche Europäische Akte (Titel 111) faßt die Zusammenarbeit der EG-Mitgliedsstaaten auf dem Gebiet der Außenpolitik zum ersten Mal in eine formale Vertragsform. ("Die hohen Vertragsparteien - Mitglieder der Europäischen Gemeinschaften sollen gemeinsam bestrebt sein, eine Europäische Außenpolitik zu formulieren und durchzuführen...") Weiter heißt es in der Akte: "Die Vertragsparteien betrachten eine engere Zusammenarbeit bei Fragen der Europäischen Sicherheit als einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung einer europäischen Identität bei außenpolitischen Angelegenheiten. Sie sind dazu bereit, ihre Standpunkte bei den politischen und wirtschaftlichen Aspekten der Sicherheit enger zu koordinieren." Und schließlich heißt es in Titel 111 der von uns zitierten Vertragsbestimmungen: "Die hohen Vertragsparteien sind entschlossen, die für ihre Sicherheit notwendigen technologischen und industriellen Voraussetzungen zu wahren..." Diese abschließende Aussage in Titel 111 der Europäischen Akte bezieht sich zum Beispiel auch auf atomare Infrastruktur für militärische Zwecke wie etwa die Wiederaufarbeitungsanlage in Sellafield, die bei der Produktion nuklearer Sprengköpfe und in der europäischen Rüstun.gsindustrie eine Rolle spielt.
In einem Prozeß von historischer Tragweite, der aufgrund der Initiative von Raymond Crottyo angestrebt worden war, erklärte das Oberste Gericht der Republik Irland den Titel 111 der Europischen Akte für verfassungswidrig. Aber anstatt auf einer Vertragsänderung und Wiederaufnahme der Verhandlungen zum EPZ-Vertrag zu bestehen, erwartet die Republik Irland jetzt von Ihnen eine Verfassungsänderung!
Wir sind der Meinung, daß dadurch die traditionelle Neutralität Irlands und ihre anerkannte Unabhängigkeit in Fragen der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf dem Spiel steht und enorm gefährdet sein wird, wenn die Mehrheit am 26. Mai 1987 einer Verfassungsänderung zugunsten des EPZ-Vertrages (EEA) zustlimmt. Eigentlich müßte genau das Gegenteil der Fall sein: Die besonderen Umstände in Irland, die traditionelle Neutralität und Unabhängigkeit in Fragen der Außenpolitik und der Sicherheit müßten berücksichtigt werden und von den übrigen elf Mitgliedsländern (ausnahmslos NATO-Mitglieder!) in vollem Umfang respektiert werden. Das bedeutet: ein klares Plädoyer für die Wiederaufnahme der EPZ-Vertragsverhandlungen, das die Mitgliedschaft in der EG keinesfalls gefährden dürfte. Für den Beitritt zur EG hat Irland sich bereits 1973 entschieden, und obwohl einige irische Politiker uns das glauben machen wollen, steht diese Entscheidung am 26. Mai 1987 nicht zur Debatte.
Am 26. Mai geht es vielmehr um die Neutralität Irlands und um Irlands unabhängige und humanitäre Stimme bei internationalen Fragen wie Apartheid, Menschenrechte in Ost und West, Rüstungswettlauf und Welthunger. Darüber hinaus geht es um die Frage, ob Irland die gegenwärtige Militarisierung der Europäischen Gemeinschaft unterstützt oder nicht. Allen Politikern, die die Europäische Akte befürworten, muß die Frage gestellt werden, wie Irland eine bedeutsame und aktive Neutralität anstreben und gleichzeitig einen Vertrag unterzeichnen und ratifizieren kann, der das Land dazu verpflichtet, eine gemeinsame Außenpolitik mit Ländern zu betreiben, die ausnahmslos der NATO angehören. Und wo genau soll Irland die feine Grenze ziehen zwischen "politischen und wirtschaftlichen Aspekten" der Sicherheit und militärischen Aspekten auf dem Gebiet der Sicherheit? Und wie wird Irland reagieren, wenn immer mehr Stimmen Irland immer lauter dazu auffordern, der NATO bzw. der Westeuropäischen Union beizutreten, als weiteren "logischen Schritt" für ein Land, das dem Europa der EG angehört?
Die irische Öffentlichkeit muß sehr wachsam bleiben, denn bereits in der Vergangenheit hat der Prozeß der politischen Zusammenarbeit in Europa die Stimme Irlands eher geschwächt als gestärkt. In der jüngsten Vergangenheit ist Irland unserer Meinung nach allzuoft bei wichtigen Schlüsselthemen von seiner Haltung abgerückt und hat nachgegeben, um Dissonanzen mit den anderen EG-Partnern zu vermeiden. Oder Irland hat bei EG-Gipfeln geschwiegen, anstatt öffentlich Einspruch zu erheben. Aber was wird geschehen, wenn es nach einer eventuellen Ratifizierung der Europäischen Akte durch Irland zu einer Harmonisierung und einer weitergehenden Zusammenarbeit der EG-Länder auf dem Gebiet der Waffenbeschaffung, bei Waffenkäufen und Waffenexporteti kommt? Was wird Irland tun, wenn die Europäische Rüstungsagentur gegründet wird? Werden die irischen Arbeiter eines Tages dazu aufgefordert werden, Bauteile für Waffen der NATO herzustellen? Schon jetzt bereitet die irische Beteiligung an einem Europäischen Weltraumkonsortium Definitionsprobleme.
Wir glauben kaum, daß man eine klare Grenze zwischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet "politischer Sicherheit" und »Militärischer Sicherheit« ziehen kann. Das gegenwärtige »Skynet-Ariane-Raumfahrtprojekt/ESA-Projekt« überschreitet diese Grenze, wenn der erste Skynet-Militärsatellit von einem Europäischen Konsortium in den Weltraum gestartet wird, an dem auch eine irische, halbstaatliche Gesellschaft beteiligt ist, die sich der Anwendung von Weltrauimtechnologie »ausschließlich für friedliche Zwecke...« gewidmet hat. Das irische Volk kann einen wichtigen Beitrag leisten, wenn es am 26. Mai mit »Nein« stimmt und damit deutlich macht, daß die irische Neutralität von der EG uneingeschränkt respektiert und berücksichtigt werden muß. Ein klares »Nein« zu der gegenwärtigen Europäischen Akte wird die weitere Militarisierung der Europäischen Gemeinschaft deutlich bremsen und dafür sorgen, daß die subtilen und weniger subtilen »Visionen einer atomaren Supermacht in Europa« gewisser europäischer Politiker die notwendige Beachtung finden. Einige dieser Politiker behaupten bereits jetzt schon ironisch, Irlands Mitgliedschaft in der NATO sei überhaupt nicht erforderlich, solange das Land nur weiterhin sämtliche Aufgaben eines NATO-Mitgliedsstaates akzeptiere!
Die Neutralität Irlands war schon immer ein wertvoller Trumpf in der europäischen Friedenspolitik, und im Atomzeitalter kommt ihr sogar eine lebenswichtige Funktion zu. Die Politik einer aktiven Neutralität kann ein eindrucksvolles Zeichen für das übrige geteilte Europa sein. Neutrale Länder, die keinem Machtbündnis angehören und die gemeinsam auf echte Abrüstung und Menschenrechte hinarbeiten, können einen bedeutenden moralischen und praktischen Einfluß auf die gegenwärtige Politik in Ost und West haben.
Am 26. Mai hat Irland eine Chance für den Versuch, das Entstehen einer militärischen und kolonialistisch- ausbeuterischen atomaren Supermacht zu begegnen, und kann beweisen, daß auch ein kleines Land sich nicht in eine falsche Richtung drängen oder zwängen läßt.
Wir sind schockiert über das Schreckensbild, das zum Beispiel die Deutsch-Irische Handelskammer oder Politiker wie Desmond O'Malley und andere zeichnen, wenn sie behaupten, die Ablehnung des EPZ-Vertrags würde die irische Wirtschaft ruinieren und zu einer größeren Katastrophe führen. Außerdem ist es schon ein wenig erstaunlich, wenn Haughey, der Taoiseach (irische Bezeichnung für Premierminister), erklärt, zuerst müsse die wichtige Frage der EPZ-(EEA)-Vertragsratifizierung vom Tisch, bevor über allgemeinere Fragen diskutiert werden könne. Was jetzt erforderlich ist, ist eine dringende basisdemokratische Debatte, die eben diese allgemeineren Fragen miteinbezieht, bevor irgendeine Gesetzesvorlage unterzeichnet und ratifiziert wird. Dies ist ein echter demokratischer Prozeß.
Und zu guter Letzt: Die Iren sind weder schlechte noch unloyale noch undankbare Europäer, wenn sie am 26. Mal mit "Nein" stimmen! Unserer Meinung nach werden die Iren sogar noch überzeugendere und authentischere Europäer sein, wenn sie mit "Nein" stimmen. Nein zu einer immer weitgreifenderen Koordination mit elf NATO-Mitgliedsländern. Sie sind diejenigen, die die richtige Richtung einschlagen, wenn Sie als neutrales Land energischer für Gerechtigkeit und Menschenrechte und Abrüstung eintreten. Von Ihrem Beispiel müssen die anderen Länder lernen, und es steht zu hoffen, daß sie eines Tages ebenfalls neutral sein werden.
Mit Grüßen für eine blockfreie Zukunft
Petra K. Kelly und Gert Bastian
Vom Brudervolk zu Waffenbrüdern
Rede im Deutschen Bundestag (1988)
Beim Stichwort »deutsch-französische Zusammenarbeit« denken viele Bürgerinnen und Bürger zumeist an Kulturaustausch, an schön klingende Sonntagsreden von Politikern und an ein gemeinsames Europa, was immer das auch sein mag. Doch spätestens seit dem Manöver »Kecker Spatz", das die Bundeswehr gemeinsam mit französischen Truppen durchführte, spätestens seit den Planungen für eine deutsch-französische symbolische Brigade und spätestens seit der Konkretisierung eines deutschfranzösischen Verteidigungsrates ist gerade die militärische Kooperation zwischen der Bundesrepublik und Frankreich zum öffentlichen Thema geworden. Wenn der Bundeskanzler Deutsche und Franzosen heute als »Brüdervölker« bezeichnet, so sollte er lieber gleich auch das Wort »Waffenbrüder« hinzufügen. Dies kommt der Realität leider etwas näher. Oder vielleicht sollten wir es »Militärkumpanei« nennen? Viele Dinge sind in Bewegung geraten, wenn es um die bundesdeutsche-französische Sicherheitspartnerschaft geht: verstärkte Rüstungskooperation, gemeinsame Offiziersausbildung, erste gemeinsame Großmanöver und ein Ringen um rüstungspolitische Großprojekte. Nach dem Scheitern eines gemeinsamen Panzerprojektes versuchten sich Bonn und Paris mit dem »Kampfflugzeug der 90er Jahre", nach dessen Scheitern mit dem Panzerabwehrhubschrauber der 90er Jahre. Ja, viele Dinge sind in Bewegung geraten - da nahmen Francois Mitterrand und Helmut Kohl dankend eine Anregung von Helmut Schmidt auf, und keine deutsch-französische Begegnung verging ohne ein Glaubensbekenntnis zur deutsch-französischen Brigade! Aber wie steht es denn um Versöhnung, um Friedensförderung, Um Annäherung, wenn es um die deutschen und französischen Jugendlichen geht? Die Haushaltskürzungen der vergangenen Jahre im Rahmen des »Deutsch-Französischen Jugendwerkes« haben dazu geführt, daß die Zahl der geförderten Jugendlichen gesunken ist, Herr Bundeskanzler! Waren es in den 60er Jahren noch jährlich 300 000, so wurden letztes Jahr nur 130 000 Jugendliche gefördert! Mit wachsender Unruhe beobachten wir, daß sich in den 25 Jahren des deutschfranzösischen Freundschaftsvertrages (Elysée-Vertrag vom 22. Januar 1963) ein qualitativer Sprung zur Militarisierung der Beziehungen zwischen beiden Ländern vollzogen hat.
Alle anderen Bereiche bei der Zusammenarbeit mit Frankreich kommen viel zu kurz. Lebenswichtige Sektoren wie Umweltschutz und Ökologie, Gesundheitsfragen, Agrarpolitik und soziale Fragen werden kaum erwähnt oder sind von starken Differenzen gekennzeichnet. Von deutsch-französischer Kooperation bei gemeinsamen Abrüstungsinitiativen ganz zu schweigen. Fast die gesamte politische Energie konzentriert sich auf immer mehr gemeinsame Rüstung und auf die Weltraumfahrt. Die praktische Ausgestaltung dieser Art von deutsch- französischen Beziehungen ist nichts anderes als herrschaftsorientiert. Gerade die kleineren Staaten in Westeuropa bleiben also außen vor und werden in die Rolle des »Ja-und-Amen-Sagers« gedrängt. Hinter dem deutsch-französischen Freundschaftsvertrag, und dem soeben ins Leben gerufenen Verteidigungs- und Sicherheitsrat verbirgt, sich Militärkumpanei. Mitterrand wertete den EIysée-Vertrag als den »einzigen Embryo einer gemeinsamen europäischen Verteidigung« und betonte, es gelte ihn weiterzuentwickeln durch Ausdehnung der deutschfranzösischen Zusammenarbeit auf die anderen Länder der EG bis hin zur europäischen politischen Einheit. In der deutsch-französischen Zusammenarbeit sieht Mitterrand den Motor zur Einrichtung Westeuropas als dritte militärische, technologische, wirtschaftliche und auch atomare Supermacht. Man muß nur zwischen den Zeilen lesen: Zum Beispiel bei Herrn Wimmer (verteidigungspolitischer Sprecher der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion), der meint, Westeuropa käme nicht darum herum, aus der Rolle des sicherheitspolitischen Juniorpartners Amerikas herauszuwachsen. Wenn aber das deutsch-französische Duo zu einer zweiten Säule der westlichen Verteidigung in der NATO werden soll, wird man die Frage nach dem Einsatz der französischen Atomwaffen auf Dauer nicht ausschließen können. Und da gibt es wiederum einige sehr unangenehme Fragen, die einfach bis jetzt nicht angeschnitten worden sind: Laut französischer Militärdoktrin sind denn auch die konventionellen Streitkräfte nur ein Anhängsel der atomaren. »Unser Konzept lehnt die Vorstellung eines länger andauernden Kampfes mit konventionellen Mitteln ab.« Die Armee soll mir kleinere Angriffe (attaques mineures) abwehren, etwas Zeit gewinnen und den Feind »testen", bis der Präsident der Republik dessen Absichten erkannt hat und einen atomaren Warnschlag beschließt. Das Heer soll ein paar Tage Widerstand leisten und damit den Feind zwingen, seine Angriffstruppen so zu konzentrieren, daß sie der atomare Warnschlag vernichten kann... Und Jean-Pierre Clévénement hofft auf die Konstituierung einer europäischen Verteidigung, die »vorerst auf dem konventionellen Potential der Bundeswehr und der französischen Armee - das nukleare Element mit eingeschlossen aufbaut«. Und Jacques Chirac hatte sich im Jahre 1983 dafür ausgesprochen, der Bundesrepublik Deutschland in einer westeuropäischen Nuklearstreitmacht eine direkte Verantwortung zu übertragen.
Dies geht wohl Hand in Hand mit den Vorstellungen von Herrn Todenhöfer, Herrn Dregger und Herrn Strauß. In einem Gespräch, das ich im Dezember letzten Jahres mit Valéry Giscard d'Estaing führen konnte, wurde aber - und das ist eine kleine Beruhigung - von ihm eine solche nukleare Teilhabe der Bundesrepublik an einer westeuropäischen Nuklearstreitmacht abgelehnt, mit dem Argument, daß man dies nicht bräuchte. Und da gab es auch einige, so meine ich, Peinlichkeiten mitten in Abrüstungszeiten: Pierre Messmer, Ex-Premierminister, und der ehemalige Verteidigungsminister Charles Hernu machten den Vorschlag, französische Neutronenbomben (würden sie dereinst nach dem Beschluß des Staatspräsidenten gebaut) auf dem Boden der Bundesrepublik zu stationieren. Hinzu kommt natürlich auch, daß die erforderlichen Plutoniummengen für diese Neutronenbomben unter anderem im Schnellen Brüter Super-Pénix von Malville bereits produziert werden - unter westdeutscher Kapitalbeteiligung. Beide hatten sich dafür ausgesprochen, die Hadès-Rakete in der Bundesrepublik zu stationieren und mit der Bundesregierung eine »Zwei-Stufen-Lösung« für den Einsatz dieser Waffensysteme zu vereinbaren. Für viele hier in Bonn waren diese Gedanken »völlig abwegig«. Aber ist denn dies alles wirklich so abwegig? Die Rolle des deutsch-französischen Tandems auf dem Sicherheitsgebiet kann für uns alle sehr verhängnisvoll werden. Und sie ist es schon! Es gibt zum Beispiel eine offene Frage, die hier im Deutschen Bundestag behandelt werden muß, denn gerade hier, von dieser Stelle aus, ist ja so oft betont worden, daß EUREKA ein rein ziviles Projekt bleiben wird. Was sagt die Bundesregierung aber dazu, daß Ende September 1987 die Fachleute der staatlichen französischen Rüstungskonzerne über die Notwendigkeit eines »EUREKA militaire« debattierten?
»EUREKA militaire« als eine weitere militärisch-, forschungs- und technologiepolitische Herausforderung mit deutsch-französischem Kern selbstverständlich! Und als Kernstück eines europäischen Binnenmarktes für Rüstung und Raumfahrt! Wer über deutsch-französische Freundschaft spricht, der muß auch darüber sprechen, daß sich bereits jetzt kleine Völker der Dritten Welt gegen die französische Großmachtpilitik kaum wehren können. Das gilt für Französisch-Guyana, wo vom Raketenbahnhof aus die europäische Rakete Ariane und später die Raumfähre Hermes gestartet werden. Das Gilt für das südpazifische Französisch-Polynesien, wo unter dem Mururoa-Atoll die französischen Atomwaffen getestet werden. Deutschfranzösische Freundschaft kann nicht heißen, daß die Bundesrepublik bei der UNO-Vollversammlung, im Dezember 1986 gemeinsam mit Frankreich gegen die Aufnahme Neukaledoniens in die Liste der zu entkolonisierenden Länder und Völker stimmte, und zwar gegen die große Mehrheit der UNO-Mitgliedsstaaten. Ständig macht sich die Bundesrepublik zum Komplizen einer aggressiven Politik in »europäisiertem« Gewande. Es gibt nach wie vor eine unheilvolle Koalition von CSU bis SPD, die beharrlich davon überzeugt ist, daß die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Frankreich eine Schlüsselfunktion für die westeuropäische Integration und für die europäische Union haben. Aber wo bleibt denn die Perspektive für ein Zukunftseuropa ohne Militärblöcke? Gerade die SPD ist zu fragen, wie sie ihre Forderung nach Abrüstung mit der gleichzeitigen Forderung nach verstärkter militärische Zusammenarbeit in Westeuropa vereinbaren will. Ist die SPD naiv oder unlauter? Egon Bahr und Helmut Schmidt sprechen von der Europäisierung der französischen konventionellen Streitkräfte von einem westeuropäischen Sicherheitssystem mit eigener Strategie und, nach Helmut Schmidts Meinung, von einem französischen Oberbefehlshaber. Soll das alles wirklich friedensfördernd wirken? Was wir brauchen, ist die völlige Entmilitarisierung der deutsch-französischen Beziehungen, und das heißt: keine französischen Atomwaffen auf bundesdeutschem Boden; keine bundesdeutsche Mitverfügung oder Mitsprache über französische Atomwaffen; keine französische atomare Sicherheitsgarantie für die Bundesrepublik; keine deutsch-französische Zusammenarbeit in der Atomindustrie; keine militärische Zusammenarbeit im konventionellen Bereich; auch keine deutsch-französische Brigade oder Sicherheitsrat; keine Kooperation bei Rüstungs- oder militärisch nutzbaren Weltraumprojekten; keine bundesdeutsche Unterstützung für die französische Kolonialpolitik; keine Aushöhlung bestehender Verträge, durch die die Bundesrepublik schrittweisen Zugang zu Atomwaffen erhält; und kein Aufbau einer westeuropäischen Militärorganisation.