Über Menschenrechte

Unsere Generation wird eines Tages nicht nur
die bösen Taten der schlechten Menschen zu bereuen haben,
sondern auch das furchtbare
Schweigen der Guten.
Martin Luther King

Offener Brief an die UnterzeichnerInnen
des Krefelder Appells (1984)

  • Unser Austritt aus der Krefelder Initiative ist von den professionellen Verleumdern der Friedensbewegung als »Beweis« für die von ihnen schon immer wahrheitswidrig behauptete prokommunistische Steuerung der Krefelder Initiative gedeutet worden. Doch laßt Euch davon nicht beirren; die Verleumder lügen auch diesmal!Der Krefelder Appell war und bleibt eine historische Tat, weil er den millionenfachen Protest gegen die nukleare Aufrüstung in unserem Land bezeugt. Mit seiner bewußten Beschränkung auf eine Forderung, die von der für unser Schicksal verantwortlichen Bundesregierung bei gutem Willen hätte erfüllt werden können, nämlich auf die Forderung, die am 12. Dezember 1979 leichtfertig erteilte Genehmigung zur Stationierung amerikanischer Mittelstreckenwaffen auf deutschem Boden wieder zurückzuziehen, war der Appell nicht »einseitig«, sondern maßvoll und vernünftig. Eine kommunistische Einflußnahme auf sein Zustandekommen oder auf die über zwanzig Erklärungen der Krefelder Initiative in den folgenden Jahren, mit denen das Lügengewebe westlicher Rüstungsrechtfertigung bloßgelegt, aber auch von der Sowjetunion die Bereitschaft zum Rüstungsverzicht und zu einseitigen Abrüstungsschritten gefordert worden war, hat es nie gegeben. Wir hätten sie auch nicht geduldet! Wer den Krefelder Appell unterschrieben hat, kann stolz darauf sein, mit dazu beigetragen zu haben, das Nein vieler Millionen zu der von unserer Regierung gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit vollzogenen nuklearen Aufrüstung vor der Geschichte festzuschreiben. Nachdem jedoch Parlament und Regierung den Willen der Mehrheit am 22. November 1983 frivol mißachtet haben, ist der Krefelder Appell mit seiner vor diesem Zeitpunkt begründeten Forderung heute nicht mehr ausreichend. Wir wollten ihm deshalb einen neuen, weiterreichenden Inhalt geben und dabei auch die gleichfalls abzulehnende sowjetische Gegenstationierung sowie die nicht hinnehmbare Unterdrückung von Friedensbewegungen im Osten miteinbeziehen. Das ist jedoch von den anderen Initiatoren abgelehnt worden. Wir haben daraufhin die Krefelder Initiative verlassen, weil sie ohne weiterreichende Forderungen dem Ernst der jetzt eingetretenen Lage nicht mehr gerecht werden kann. Dessen ungeachtet werden wir auch in Zukunft gemeinsam mit allen, die gleichen Willens sind, gegen das Abschreckungsdenken, gegen den Mißbrauch unseres Landes als Abschußrampe für Nuklearwaffen, gegen jede Bedrohungslüge, aber auch gegen jede Unterdrückung von Friedensfreunden und gegen alle Menschenrechtsverletzungen, doch für ein block- und atomwaffenfreies Mitteleuropa kämpfen.

Petra K. Kelly Gert Bastian

Die Vertreibung von Navajo-Indianern verhindern

Rede vor der amerikanischen Botschaft (1986)

Am 4. Juli 1986 wurde die Freiheitsstatue im Schein des Feuerwerks gefeiert: Eine 100Jahr-Feier für das renovierte Monument geriet zur kitschigen Unterhaltungsshow mit unüberhörbaren ideologischen Reagan-Untertönen. Die Freiheitsstatue soll ein Symbol sein für die Größe und die Vielfalt und die Vitalität Amerikas, so der amerikanische Präsident Reagan. Im Amphitheater auf Governor's Island legte eine kleine Vietnamesin vor Ronald Reagan ein Bekenntnis zu Amerika ab. Sie war keine zehn Jahre alt, doch hat sie für diese Feier die Sprache des Präsidenten auswendig gelernt: welch ein erhebendes Gefühl es sei, dem Kommunismus entflohen zu sein, und welch ein prachtvolles Gefühl, als amerikanischer Staatsbürger und freier Mensch aufwachsen zu dürfen. Die »Süddeutsche Zeitung« schrieb am 5. Juli 1986: »Es ist das Leitmotiv dieser Feiern, bei der die Freiheitsstatue eine sehr engumrissene Aufgabe zu erfüllen hat: nämlich klarzustellen, daß die heutige Entsprechung der irischen Hungersnot und der zaristischen Judenpogrome, der Nazi-Herrschaft und der Kriegsnöte der Kommunismus ist - in Ost-Europa, in China, in Vietnam, in Kuba, in Äthiopien, in Nicaragua... »Doch auf dieser 100-Jahr-Feier für die Freiheitsstatue wurde nichts von den katholischen Priestern und Laien gesagt, die den Flüchtlingen aus EI Salvador Unterschlupf bieten, damit sie nicht durch Zwangsausweisung den Todesschwadronen der dortigen Militärs überantwortet werden.
Diese katholischen Priester und Laien standen letzten Mittwoch in Texas vor Gericht. Und wie viele Boat People aus Haiti sind in der Karibik ertrunken oder von Haifischen gefressen worden, weil die US Küstenwache sie ins Meer zurücktrieb? Jede Nacht patrouillieren an der Grenze zu Mexiko Tausende von amerikanischen Grenzbeamten mit Schäferhunden und Infrarotgeräten, um die Mexikaner und Mittelamerikaner zu fangen, die... ins gelobte Land zu kommen trachten. Es ist illegal, so einzuwandern, es ist aber nicht gesetzeswidrig, Illegale zu beschäftigen.« Doch bleiben wir bei der 100-Jahr-Feier für das renovierte Monument. Und bleiben wir bei dem Thema Menschenrechte in den Vereinigten Staaten: In dem Aufruf der Gesellschaft für bedrohte Völker »wir können die Vertreibung von über 10000 Navajo-Indianern noch verhindern!« macht diese Gesellschaft auf die in den USA bevorstehende Vertreibung von Indianerstämmen aus ihren angestammten Wohngebieten aufmerksam. Das US-Gesetz P.L.93531 aus dem Jahre 1974 besagt, daß ein bisher gemeinsam genutztes Gebiet im Hopi/Navajo Reservat zu gleichen Teilen zwischen Hopi- und Navajo-Indianern aufgeteilt werden soll. Das bedeutet, weit über 10 000 Navajo und mehr als 100 Hopi finden sich auf der »falschen« Seite der neugeschaffenen Gesetze wieder und sollen bis zum 8. Juli überwiegend in weiße Städte zwangsumgesiedelt werden. Vordergründig soll mit jenem Gesetz ein angeblich über hundert Jahre währender Landkonflikt zwischen Navajo und Hopi geschlichtet werden. Doch tatsächlich geht es darum, möglichst ungehindert an die in diesem Gebiet liegenden Bodenschätze wie Kohle und Uran zu gelangen. Die Navajo und Hopi haben bisher ohne größere Konflikte zusammengelebt und wehren sich gegen die Zwangsumsiedlung mit aller Kraft und aller Energie. Der 7. Juli ist immer noch offiziell der Zeitpunkt, zu dem die Umsiedlung abgeschlossen sein sollte. Doch das US-Innenministerium - das Büro für Indianische Angelegenheiten (BIA) - hat bekanntgegeben, daß die endgültige Frist für die Umsiedlung verschoben werden wird, da sich die Bereitstellung von neuen Wohnungen verzögert habe.
Mit Rechtsanwälten vom »Big Mountain Legal Defense/Offensive Committee« versuchen landesweite, nicht-Indianische Gruppen Unterstützungsbewegungen zu koordinieren und Druck auf Regierung und Kongreß in Washington auszuüben. Um Zeit zu gewinnen, haben sich auch einige Senatoren dazu bereit erklärt, den Vorschlag eines einjährigen Moratoriums im Kongreß einzubringen. Doch das reicht nicht aus! Es gab schon eine Kompromißvorlage, die die gewaltsame Umsiedlung der Navajo-Indianer verhindert hätte, doch dieser sogenannte Kompromiß wurde von den Ältestenräten der Hopi und Dine als auch vom Unterstützungskomitee abgelehnt, weil dieser Kompromißvorschlag keine Mitsprache der Betroffenen vorsieht und die Ausbeutung der Bodenschätze auf dem umstrittenen Reservatsgebiet festgeschrieben hätte. Wir werden in den nächsten Tagen erfahren, was auf dem gemeinsamen Gebiet der Hopi und Dine geschehen wird. Ob die Reagan-Regierung eine gewaltsame Vertreibung der über 10000 betroffenen Menschen vornehmen wird? Die jetzt defensivere Haltung der US-Regierung wird damit erklärt, daß den Betreibern der Umsiedlung wegen fallender Ölpreise im Moment der Ansporn fehlt, ihr Vorhaben durchzusetzen und die im dortigen Gebiet vermuteten großen Kohlelager abzubauen. Dies ist ein von der US-Regierung zusammen mit Energiekonzernen inszenierter Konflikt, bei dem die Hopi gegen die Navajo ausgespielt werden sollen. Es muß alles getan werden, daß kein Kleinkrieg und keine internen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Stämmen die Lage verschlechtern. Wir wissen, daß die Stammesältesten beider Stämme beschlossen haben, dieses für sie so lebenswichtige Problem gewaltfrei zu lösen. Die Regenbogenfraktion des Europaparlaments hatte einen Entschließungsantrag zur Zwangsumsiedlung der Navajo- und Hopi-Indianer in Arizona am 9. Juni 1986 eingebracht. Dieser Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Sozialisten leider abgelehnt worden. Die geplante Umsiedlung verstößt nach dem Urteil des vierten Russell-Tribunals 1980 offen gegen Deklarationen der Vereinten Nationen, Grundsätze der Schlußakte von Helsinki und gegen die amerikanische Menschenrechtskonvention. Wann werden Politiker begreifen, was Zwangsumsiedlung eigentlich bedeutet: daß praktisch alle Indianer, die zum Verlassen ihres Reservats gezwungen werden, in Wohnorten von Weißen oder in deren Nähe leben müssen. Obwohl diese traditionsbewußten Indianer sich zu 90 Prozent von der Schafzucht ernähren und ihnen bis jetzt kein Lösungsvorschlag vorgelegt wurde, wie sie nun ihre Lebensweise beibehalten können. Ist denjenigen, die solche Anträge ablehnen, klar, daß praktisch alle bereits umgesiedelten Indianer wegen der großen physischen und psychischen und finanziellen Probleme in ihre Heimatreservate zurückkehren wollen? Das sonst so selbständige Volk der Indianer lebt nun entwurzelt, als Flüchtlinge, die auf staatliche Stellen angewiesen sind, um überhaupt überleben zu können. Wie »Natur« im Juli 1986 geschrieben hat: »Die USA, selbsternannter Moralhüter im weltweiten Maßstab, wenn es sich uni Zwangsumsiedlungen, Apartheid und Homelands dreht, betreiben Apartheid-Politik im eigenen Land. Und der Grund: Die Menschen dort stehen dem Abbau von Kohle und Uran im Wege.« Heute läuft die Frist für die sogenannte freiwillige Umsiedlung aus. Nun soll der Zaun vollendet werden, um die Besitzverhältnisse eindeutig zu klären. Wer auf der falschen Seite des Zaunes lebt, muß das Reservat verlassen. Über 400 Kilometer lang soll er werden. Und das bedeutet ja sogar Arbeitsplätze für viele Indianer. In Washington hat man sich die Hände gerieben. Vielleicht hätten wir davon nie etwas erfahren, hätten die Frauen der Dine, wie sich die Navajo selbst nennen, nicht auf dem Hochland von Big Mountain Widerstand geleistet. Der Zaun bedeutet die Zwangsumsiedlung von 10 000 Menschen. »Unsere Leute sind im Weg«, sagt einer von ihnen, »sie wollen das Land, und wir sind im Weg.« »Sie wollen noch mehr Kohle, sie wollen Uran, sie wollen Viehweiden. Also müssen die Leute weg. But we don't go!« Ich denke hier besonders an die Frauen, die so sehr kämpfen. Ich denke dabei auch an Katherine Smith. Im September 1980 stahlen die Frauen die Schlüssel eines Baufahrzeugs. »Zaunpfosten, bereits gesetzt, lagen am Morgen neben den Löchern. Der Widerstand der Hopi und der Navajo (Dine) muß gewaltfrei bleiben. Wir alle hoffen, daß die amerikanische Regierung die Nationalgarde nicht zur gewaltsamen Räumung einsetzt. Eine Weltöffentlichkeit, über alle Grenzen hinweg, kann eine gewaltsame Konfrontation verhindern. Und ich sage dies auch für unsere Freunde in der unabhängigen Friedens- und Ökologiebewegung in der DDR, die die Anliegen der Navajo- und Hopi-Indianer mit unterstützen. Die Verschiebung des sogenannten Endtermins kann keine Lösung sein, es bedeutet eher eine Verlagerung der psychischen Belastung derjenigen Indianer, die umsiedeln sollen. Das umstrittene Gesetz gilt leider immer noch. Und deshalb sind unsere Proteste weiterhin sehr notwendig. Wir fordern von der amerikanischen Regierung die Aufhebung des Gesetzes P.L. 93-531. Wir fordern von der amerikanischen Regierung die Entschädigung der Hopi in anderer Weise als durch die Übertragung von fast 4000 Quadratkilometern Land, die die Heimat Tausender Navajo sind. Und wir fordern die Rückkehrmöglichkeit für bereits Umgesiedelte. Die Behauptung der amerikanischen Regierung, die Navajo wollten »auf keinen Fall weiter mit den Hopi auf demselben Land leben«, ist falsch, nicht zuletzt im Hinblick auf die seit Generationen gepflegten Beziehungen und Freundschaften zwischen diesen beiden Völkern. Es waren Public Relations-Firmen, die den »Konflikt« zwischen Navajo und Hopi mediengerecht präsentieren sollten. Und das ist der Ursprung der sogenannten »Stammesfehden«. Diese gewaltsame Vertreibung bedeutet Entwurzelung - sie bedeutet nicht eine »neue Existenz, die Verwirklichung eines Höchstmaßes an Gerechtigkeit«!
Vor einigen Tagen hat Papst Johannes Paul II. das Recht der indianischen Bauern auf eigenes Land bekräftigt. Und er ermunterte die Landbevölkerung, sich in Verbänden zur Verteidigung ihrer Rechte zusammenzuschließen. Dies muß auch für die Hopi und Navajo gelten! Die traditionellen Führer der beiden Stämme Navajo und Hopi bestreiten vehement, daß es jemals einen solchen Landkonflikt gegeben habe. Es ist nichts als ein inszenierter Indianerkrieg, von weißen Regierungen und Energie- und Mineralgesellschaften manipuliert und in die Welt gesetzt. Die Navajo und die Hopi werden auf ganz üble Weise benutzt! Navajo und Hopi siedelten auf Millionen Tonnen bester Steinkohle, auf Uran und Metallen, für die sich so viele Firmen interessieren. Die Riesenbagger der Bergbaugesellschaft Peabody Coal fressen sich in den Rand des Heiligen Berges. Für viele Hopi und Navajo hat das Ende bereits begonnen. Denn in der Mythologie der Hopi stellt der Heilige Berg des Indianervolkes die Mitte der Welt dar. Wird er zerstört, gerät die Erde aus dem Gleichgewicht. Wir müssen alles tun, um ein drittes »Wounded Knee« zu verhindern. Zusammen mit dem Abgeordneten Ron Dellums in den Vereinigten Staaten fordern wir, daß die Umsiedlungsaktion ganz und gar gestoppt wird. Gestoppt werden muß aber auch der tägliche Ausstoß von Schwefeldioxid und Stickoxid weit über alle gesetzlichen Normen hinaus durch die verschiedensten multinationalen Konzerne in den Reservaten. Gestoppt werden muß auch, daß zum Abbau der Kohle täglich zwölf Millionen Liter Wasser verbraucht werden, die dann ungereinigt in das Grundwasser und in das bedeutendste Trinkwasserreservoir der Navajo geleitet werden (Rio Puerco). Und gestoppt werden muß auch der Abbau von Uran. Im Gebiet der Navajo befinden sich circa 5000 Uranminen, deren Abbau die Ursache der radioaktiven Verseuchung des Grund- und Trinkwassers bilden. Eine Untersuchung der Nationalen Umweltbehörde unterstreicht zudem den Zusammenhang zwischen der hohen Kindersterblichkeitsrate der Navajo und der Kontaminierung des Rio Puerco.
Die »Frankfurter Rundschau« berichtete am 4. Juni 1986: Die Navajo-Indianer Arizonas sind wieder auf dem Kriegspfad.« Und schon wieder werden Billigklischees verwendet. Nicht Indianer sind hier auf dem Kriegspfad, sondern wieder einmal der »Weiße Mann«, den seine Begehrlichkeit nach Land und Bodenschätzen über verbriefte Rechte der Indianer brutal hinweggehen läßt Der angebliche Landkonflikt zwischen Hopi und Navajo ist eine reine Fiktion zur Täuschung der Öffentlichkeit, und dieser Konflikt wurde eigens aufgebaut, um Eingriffsmöglichkeiten der Washingtoner Regierung zu rechtfertigen. Die schlimme Tradition der Vertreibung und Ausrottung der Ureinwohner aus wirtschaftlichen Gründen hat offensichtlich noch immer kein Ende gefunden.

Unser Ziel ist ein blockfreies und menschenwürdiges Europa

Rede auf dem Moskauer Friedensforum (1987)

Lassen Sie mich zunächst sagen, daß ich glücklich darüber bin, daß an dieser Konferenz in Moskau auch unser Freund Andrej D. Sacharow teilnimmt. Ich hoffe, daß Herr Sacharow auch in unser Land reisen können wird, um dort zu den Menschen zu sprechen und uns an seinen Überlegungen teilhaben zu lassen! Ich hoffe zudem, daß er auch in seinem eigenen Land gehört werden kann, nicht nur hier in dieser geschlossenen Sitzung! Ich war empört, daß die sowjetischen Medien nur sehr wenig, wenn überhaupt etwas über die Rückkehr von Professor Sacharow nach Moskau berichtet haben. Heute morgen schien es, als seien wir mit unseren Bemühungen, radikale Lösungen für die Abschaffung der Atomwaffen und aller Massenvernichtungswaffen zu finden, wirklich fünf Jahre hinter den Positionen von Herrn Gorbatschow zurück. Wir müssen noch weit mehr kreative Methoden entwickeln, um immer mehr Wissenschaftler und immer größere Teile der öffentlichen Meinung gegen das Wettrüsten zu mobilisieren. Zu den hoffnungsvollsten Bildern heute morgen gehörte das Bild der Segelboote in Neuseeland, die ein mit Atomwaffen beladenes Schiff blockierten und aufhielten. Bilder dieser Art erfüllen uns mit Hoffnung für die Zukunft! Unser Thema heute nachmittag sind die atomare Abrüstung und die europäische Sicherheit. Lassen Sie mich in wenigen Worten die Position der Grünen darstellen, die bei den letzten Wahlen zum Deutschen Bundestag 8,3 Prozent der Stimmen erhielten. Wir erklären, daß wir weder dem Weißen Haus noch dem Kreml verbunden sind, sondern daß wir einander innerhalb dieser militärischen Blöcke verbunden sind. Wir streben ein blockfreies, nicht nukleares Europa an. Bis heute behandeln die beiden Führungsmächte, die Vereinigten Staaten und die UdSSR, die Länder in ihren militärischen Bündnissen und Einflußbereichen als ihr territoriales Eigentum und beanspruchen das Recht, in ihre inneren sozialen und politischen Angelegenheiten einzugreifen. Diese Rolle, diese Unterwerfung können wir nicht länger hinnehmen. Jede Supermacht begeht in ihrem eigenen unmittelbaren Bereich viele Sünden, und dem muß durch den Druck der öffentlichen Meinung ein Ende bereitet werden. Wir stellen zwischen Frieden, Abrüstung, Umweltschutz und Menschenrechten eine Verbindung her, denn als Voraussetzung für einen äußeren Frieden müssen wir zunächst einen inneren Frieden schaffen. Um in ganz Europa eine Friedensbewegung schaffen und mit Nachdruck ein nuklearfreies Europa fordern zu können, müssen wir das Recht aller Bürger in Ost und West verteidigen und ausbauen, an dieser gemeinsamen Bewegung und an jeder Art Meinungsaustausch teilzunehmen! Viele von uns unterstützen den neuen Weg, den Herr Gorbatschow in der Frage des inneren Friedens beschreitet. Wir hoffen, daß viele positive Aktionen für mehr Demokratisierung, für mehr Menschenrechte, für mehr Transparenz stattfinden werden und daß regionale Konflikte wie der schreckliche Krieg in Afghanistan endlich auf eine hoffentlich gewaltfreie Weise gelöst werden. Die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit, der Basisdemokratie und des Gewaltverzichts sind ebenfalls Ziele, die Hand in Hand mit Abrüstung und einseitigen Schritten gehen. Nur eine blockübergreifende Friedensbewegung kann genügend Überzeugungskraft entwickeln, um wirksamen Druck auf die Regierungen auszuüben! Frauen aus fünf europäischen Ländern, in denen sowjetische und amerikanische Atomraketen aufgestellt wurden, veröffentlichten am 8. März 1985 folgenden Appell: »Es geht uns weder um einen Frieden, der uns unterdrückt, noch um einen Krieg, der uns zerstört Diese Frauen haben deutlich gemacht, daß sie einander besser verstehen müssen und über die Mauer hinweg, die nicht nur unsere Länder, sondern nur allzu oft auch unser Denken und unsere Herzen voneinander trennt, Kontakt miteinander aufnehmen müssen. Schließlich sollten wir bei der Erörterung der europäischen Sicherheit und Abrüstung nicht vergessen, daß einige Politiker in Europa zusätzlich zu dem amerikanischen Weltraumverteidigungssystem ein europäisches SDl-System anstreben. Es waren Politiker wie Franz Josef Strauß und Alfred Dregger in unserem Land, die als erste die Null-Lösung unterstützten, als sie vor einigen Jahren erörtert wurde. Nachdem Herr Gorbatschow diese Lösung nun akzeptiert, lehnen sie sie ab! Wir sollten nicht die Ziele derjenigen vergessen, die aus Westeuropa eine nukleare militärische Supermacht machen mochten; zu diesem Zweck müßten die amerikanischen, britischen und französischen Nuklearstreitkräfte miteinander verbunden werden, und die Deutschen sollen einen Finger auf dem nuklearen Abzug haben! Wir müssen deutlich machen, daß wir eine solche nukleare militärische Supermacht Westeuropa eindeutig ablehnen. Wir müssen in unseren eigenen Köpfen abrüsten - denn es kann nie Frieden geben, wenn wir die andere Seite weiterhin zu Tode denken. Wir müssen den direkten und indirekten Export von europäischen Waffen, Rüstungsgütern und nuklearem Know-how in die Dritte Welt einer ungeheuer kritischen Prüfung unterziehen. Wir müssen klarstellen, daß derartige Waffen- und Nuklearexporte nicht zur Schaffung einer friedlichen Welt beitragen, sondern in der Tat eine der Ursachen für die vielen Kriege und Auseinandersetzungen in der Welt sind. Wir müssen unseren Widerstand gegen jede Politik einer direkten oder indirekten militärischen Intervention deutlicher machen. Wir müssen Geist und Logik der Abschreckung und des Abschreckungsdenkens überwinden. Und wir müssen im Osten wie im Westen das Menschenrecht fördern, die Ableistung des militärischen Wehrdienstes wie auch des zivilen Ersatzdienstes zu verweigern. Das Recht auf Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen muß überall ein Menschenrecht sein. Wir brauchen konkrete Modelle für Rüstungskonversion, und wir müssen die Friedensforschung fördern - vor allem die gewaltfreie Konfliktlösung. Und wir müssen den Zusammenhang zwischen den siamesischen Zwillingen namens Atomenergie und Atomwaffen erkennen. Wir müssen erkennen, wie die zivile Atomenergieindustrie die Proliferation von Atomwaffen gefördert hat. Südafrika, Brasilien und andere Länder, wo zwischen ziviler und militärischer Atommacht ein eindeutiger Zusammenhang besteht, sind dafür ein Beispiel. Wir dürfen die Ereignisse von Tschernobyl nicht vergessen, und ich freue mich, daß so viele Redner heute diese große Tragödie erwähnt haben. Ich möchte Sie auch an diejenigen erinnern, die sich dem Befehl, dort zu arbeiten und am Standort des Reaktors Aufräumungsarbeiten zu leisten, widersetzten. Die Betreffenden wurden streng bestraft und schlecht behandelt. Daran wird das Wesen des Atomstaats deutlich. Ich hoffe, daß in diesem Land immer besser verstanden werden wird, wie gefährlich die zivile Atomenergieindustrie ist und wie aus dem nuklearen Brennstoffkreislauf, der ebenfalls Teil des zivilen Atomenergieprogramms ist, Atombomben entwickelt werden können.

Solidarität mit den Intellektuellen der Türkei

Rede in Bremen (1987)

Zusammen mit Gert Bastian freue ich mich, daß wir hier in Bremen sein können - auf Einladung, von Sanar Yurdatapan und seinen Freunden.
Wir sind froh, der Initiative »Solidarität mit den Intellektuellen der Türkei« angehören zu können. Wir feiern heute das zehnte Jahr des Friedensvereins der Türkei! Ich überbringe Grüße und Solidarität der Grünen Bundestagsfraktion und der Grünen Partei. Wir alle haben tiefen Respekt vor dem Mut und der Zivilcourage der Menschen des türkischen Friedensvereins. Der Zweck des Friedensvereins, gegründet 1977, lautet: »Die Sicherung eines dauerhaften und gerechten Friedens auf der Welt.« Die türkische Friedensbewegung erhielt im April 1977 nach der Unterzeichnung der KSZE Schlußakte in Helsinki in Gestalt des Friedenskomitees der Türkei ihre legale Organisation. Doch führende Mitglieder des Friedenskomitees werden beschuldigt, die bestehende Ordnung zu beseitigen, den Separatismus, die Anarchie und den Terrorismus zu unterstützen, das Volk zu Straftaten aufzustacheln und zu ermutigen. Wir alle wissen, daß diese oder ähnliche Anschuldigungen nicht das geringste mit der Praxis des Friedenskomitees zu tun haben; diese Anschuldigungen entbehren jeder Grundlage. Gegen die Angeschuldigten wurde ein Strafmaß von acht bis fünfzehn Jahren beantragt. Immer noch sind die Angeklagten und ihre Anwälte damit beschäftigt, sich zum dritten Mal vor dem Militärgericht zu verteidigen. Und keiner von ihnen hatte die Möglichkeit, zu uns heute nach Bremen zu kommen. Unter solchen Bedingungen begeht das Friedenskomitee die zehnte Wiederkehr seiner Gründung. Aber es tut sich auch einiges andere, was vielen noch gar nicht bewußt ist: Am 31. Juli 1987 schrieb Erich Hauser in der Frankfurter Rundschau«: »Es ist kein Zeichen souveränen Selbstbewußtseins, wenn die türkische Regierung demnächst die Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft beantragen will, obgleich fast alle EG-Regierungen rechtzeitig auf diplomatische Weise zu verstehen gaben, der Antrag sei gegenwärtig nicht opportun. Auch die Verschärfung der fast traditionellen Spannungen mit dem EG-Mitglied Griechenland durch militärische Kraftproben belegt eher, daß die Regierung Özals, eingeklemmt zwischen den noch immer mächtigen Militärs und einer wachsenden islamisch-fundamentalistischen Bewegung, ihre innenpolitische Schwäche durch außenpolitische Aktivität zu überspielen hofft. Die sogenannte Rehabilitation der Türkei, in der es weiterhin Folter und viele andere Menschenrechtsverletzungen gibt, findet im Europa-Rat statt. Der Europa-Rat, weitgehend in der bundesdeutschen Öffentlichkeit ignoriert, spielte schon immer für die türkische Innenpolitik seit dem Putsch 1980 eine bedeutende Rolle. Es ist ein Skandal, daß das Ministerkomitee des Europa-Rates der Türkei mit der Gewährung der Vizepräsidentschaft des Gremiums zu einem politischen und auch moralischen Sieg verholfen hat. Die Türkei, ein um so größerer Skandal, hat dai-in den turnusmäßigen Vorsitz im Ministerkomitee übernommen. Gegen diese Entscheidung der Mehrheit der Mitgliedsländer hatten Griechenland, Zypern, Malta, Norwegen, Dänemark und Luxemburg gestimmt. Die Parlamentarische Versammlung des Europa-Rates hatte schon im April 1986 die sogenannten »Fortschritte« des angeblichen Demokratisierungsprozesses in der Türkei anerkannt. In einer Resolution im Europa-Rat wurde so mit falscher Befriedigung festgestellt, daß nur noch in fünf der insgesamt 67 Provinzen des Landes das Kriegsrecht besteht. Wo aber bleibt die Kritik an der Verfolgung und an den fortgesetzten Massenprozessen gegen Gewerkschaftsmitglieder, gegen Mitglieder der türkischen Friedensbewegung - wo bleibt die europäische Kritik an der Folter, die immer noch tagtäglich in der Türkei stattfindet? Der Prozeß gegen die Mitglieder der türkischen Friedensvereinigung wurde 1982 eröffnet. Unter ihnen der Vorsitzende Mahmut Dikerdem und der Präsident der Istanbuler Anwaltskammer Orahn Apaydin. Die Ziele des türkischen Friedenskommitees sind u. a.: allgemeine Abrüstung, Verbot von Massenvernichtungswaffen, friedliche Koexistenz von Staaten unterschiedlicher wirtschaftlicher und sozialer Ordnungen und Abschaffung aller Formen von Kolonialismus und Rassendiskriminierung. In der Anklage wurde der Friedensvereinigung die Absicht vorgeworfen, das Abkommen der Türkei mit der NATO unterminieren zu wollen. Den »heiligen Namen« des Friedens hätten sie mißbraucht, um - gesteuert von der Sowjetunion ein marxistisches System in der Türkei zu errichten. (Aus dem Bericht von amnesty international Juni 1985) Von Oktober 1980 bis März 1985 wurden in der Türkei, laut amnesty international, 50 Menschen hingerichtet, über 400 Todesurteile verhängt, mehr als 6000 Todesstrafen beantragt. Mindestens 149 Menschen sind nach Angaben einer Menschenrechtsvereinigung seit 1980 in türkischen Gefängnissen und Polizeikommissariaten gestorben. 97 wurden zu Tode gefoltert. Seit dem Putsch hat die Folter in der Türkei erschreckende Ausmaße angenommen (Elektroschocks, Schläge auf alle Körperteile, Verbrennungen mit Zigaretten, psychische und sexuelle Folter usw.). Was aber passiert in der Bundesrepublik? Da berichtet zum Beispiel der »Vorwärts« am 28. März 1987: »Den Wunsch Bonns, wegen Einschränkungen in der Bundesrepublik militärische Tief- und Übungsflüge in großem Umfang in die Türkei zu verlagern, hat der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Alfred Biehle, CSU, auf einer deutsch-türkischen Fachtagung der Hanns-Seidel-Stiftung in Amerika bekräftigt.« Außerdem bedauerte Biehle, daß bislang nur die Bundesrepublik (mit insgesamt 3,25 Milliarden Mark) und die USA der Türkei Verteidigungshilfe geleistet hätten. Darüber hinaus betonten die CSU-Strategen auf dieser Tagung erneut ihren Wunsch nach Aufnahme der Türkei in die EG! Und Verteidigungsminister Weinberger forderte vor kurzem die USA und andere westliche Industriestaaten auf, der Türkei und Griechenland mehr Unterstützung im Sicherheitsbereich zur Verfügung zu stellen. Ständig werden die Themen Menschenrechtsverletzungen und Demokratisierung den wirtschaftlichen und militärischen Interessen untergeordnet. Wir verurteilen diejenigen, die durch solche europäischen Strukturen wie Europa-Rat oder EG der türkischen Regierung zu einem Durchbruch verhelfen wollen, obwohl wir alle wissen, daß es sich weiterhin nur um eine Scheindemokratisierung handelt. Die anhaltenden Massenprozesse, die Fortdauer der Militärgerichtsbarkeit und das Verbot von Gewerkschaften und Organisationen sind weitere Belege für den »Fassadencharakter« der Demokratisierung in der Türkei. Die Auseinandersetzungen im Deutschen Bundestag, in bezug auf die Türkei haben in manchen fällen zu geringfügigen Verzögerungen der deutschen Leistungen geführt, jedoch nicht zu einer effektiven Verringerung. Die deutsche Verteidigungshilfe besteht nicht nur in der Lieferung von Waffensystemen, sondern man hat sich von deutscher Seite auch darum bemüht, die türkische Rüstungsindustrie zu modernisieren. Ich erinnere mich sehr wohl an den Türkei-Besuch unseres Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Ich habe ihn damals zusammen mit anderen grünen Kollegen/Innen kritisiert. Er hat mit seinem Staatsbesuch das türkische Regime in Ankara aufgewertet und dabei die Chance ausgelassen, klare Worte zu finden. Weder ein klares Wort zur Verfolgung der Kurden noch zu den politischen Gefangenen und den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei. An dieser Stelle möchte ich auch die Rüstungssonderhilfe der Bundesrepublik erwähnen. Dieses Geld (über 600 Millionen Mark) wird nach der jüngsten Einigung in der Frage der Freizügigkeit Reiseverkehr gezahlt, wenn die türkische Militärregierung den Zustrom weiterer türkischer Arbeitssuchender stoppt. Statt an den Ursachen der »Arbeitsemigration« anzusetzen, zieht die Bundesrepublik den für sie einfacheren Weg vor und liefert Waffen an ein Regime, das seine inneren sozialen Konflikte seit Jahren mit der Verfolgung seiner politischen Gegner und Folter zu unterdrücken versucht. Militärsonderhilfe also in Höhe von 600 Millionen Mark; Entwicklungshilfekredite in Höhe von 150 Millionen Mark; zusätzlich unter anderem 150 Leopard I-Panzer sowie Kredite für Industrialisierungsprojekte. Das Präsidium von Pax Christi hat folgende Forderungen an die Bundesregierung gestellt: »Ziehen Sie das Angebot einer Rüstungssonderhilfe in Höhe von 600 Millionen Mark unverzüglich zurück. Beenden Sie jegliche Militärhilfe an die Türkei. Setzen Sie Ihren Einfluß auf die türkische Regierung ein, damit die systematischen Menschenrechtsverletzungen und der Krieg gegen den kurdischen Bevölkerungsanteil beendet werden, und unterstützen Sie mit den vorhandenen 750 Millionen Mark den Aus- und Aufbau landwirtschaftlicher und kleinindustrieller Projekte in der Türkei, damit möglichst viele Arbeitsplätze geschaffen werden können.« Es ist ein so schäbiges und schlimmes Tauschgeschäft: Die Bundesrepublik gibt der Türkei Rüstungssonderhilfe, wenn die türkische Regierung die Zuwanderung weiterer türkischer Arbeitssuchender in die Bundesrepublik stoppt. Die Bundesregierung plant diese Militärsonderhilfe an die Türkei in einer Situation, in der Asylbewerber aus der Türkei trotz politischer Verfolgung - immer seltener in der Bundesrepublik als Asylanten anerkannt werden. Doch für 615 Millionen Dollar sichern sich auch die Vereinigten Staaten ihre Militärstützpunkte in der Türkei. Vor kurzem wurde ein Abkommen unterzeichnet, mit dem die amerikanischen Nutzungsrechte bei türkischen MiIitärbasen bis zum 18. Dezember 1990 verlängert werden. Die 615 Millionen Dollar bedeuten eine Erhöhung der Militärunterstützung für die Türkei um 125 Millionen Dollar jährlich. Für das nächste Jahr sollen die Zahlungen nochmals angehoben werden, und zwar auf 800 Millionen Dollar. Darüber hinaus wurde zwischen den Vereinigten Staaten und der Türkei eine intensive Zusammenarbeit in der Rüstungsproduktion und im »Kampf gegen den Terrorismus« vereinbart. Es gibt eine ganze Reihe von Stützpunkten und anderen militärischen Einrichtungen der Amerikaner in der Türkei. Dazu gehören vor allein die elektronischen Horchposten im Osten des Landes, die sowohl den Iran und die Golfregion als auch große Teile der Sowjetunion abdecken. Hartnäckig wird weiterhin von der türkischen Regierung die Vermutung dementiert, dieser Vertrag enthalte auch eine Klausel, die es den USA erlaubt, bei Bedarf ihre »Schnelle Eingreiftruppe« in der Türkei zu stationieren. Trotz dieser Dementis wurden jedoch in den letzten Jahren zwei Militärflughäfen im kurdischen Teil der Türkei angelegt, die nach Insider-Informationen geeignet sein sollen, auch Großraumtransportern als Landepiste zu dienen. Strategisch bietet sich die Türkei für die USA und für die NATO als logistische Drehscheibe für den Nachschub in einem potentiellen Konflikt im Nahen Osten an. Dies wurde erst vor wenigen Wochen noch einmal deutlich, als Berichte auftauchten, nach denen das Pentagon, falls dem Irak im Golfkrieg eine entscheidende Niederlage bevorstünde, von türkischen Basen aus intervenieren wollte. Denn anders als in Griechenland oder in Spanien bietet sich die Türkei den Amerikanern und der NATO als eine Art Refugium an, von dem aus sie in Richtung Naher Osten fast beliebig schalten und walten können. Die Verlierer bei diesem Spiel der Militarisierung sind die in den türkischen Ostgebieten lebenden Kurden, deren Land weiterhin militarisiert wird. Am 20. Februar 1987 rügte US Verteidigungsminister Weinberger von Istanbul aus die Spanier und kritisierte die Reduzierung der US-Truppen in Spanien. Gleichzeitig sprach er sich für eine Stärkung der Südflanke des westlichen Verteidigungsbündnisses aus. Die USA und andere westliche Industrieländer müßten den drei südlichen NATO-Staaten - Türkei, Griechenland und Portugal - mehr Unterstützung im Sicherheitsbereich zur Verfügung stellen. Die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Türkei werden trotz der traditionellen Freundschaft zwischen beiden Völkern immer tragischer und widersprüchlicher: das türkische Militärregime, die Feindseligkeit rechtsradikaler Gruppierungen in unserem Land gegenüber den hier lebenden Türken und ihren Familien und das ständige Gerede vom gemeinsamen Sicherheitsinteresse, da die Türkei doch der südöstliche Stützpfeiler der NATO sei. Man scheut sich auch nicht, die Türkei mit Lärmexport zu beglücken. Die NATO sucht seit Jahren Übungsgelände, um Bombenabwürfe und die Zerstörung von Radargegenmitteln zu üben. Die Türkei bietet dazu ihren Luftwaffenstützpunkt bei Konya in Südanatolien an. Und die Bundesregierung versucht, die Verlagerung von Tiefflugübungen in die Türkei zu einem NATO-Projekt zu machen. Wir alle in der europäischen Friedensbewegung haben die Pflicht und die Verantwortung, diese Fakten bekanntzumachen und die Menschen in unseren Ländern gegen sie zu mobilisieren. Dazu müssen wir weit mehr Aufklärungsarbeit leisten als bisher. Zum äußeren Frieden gehört auch immer der innere Frieden, beide hängen zusammen.
Dies ist die Botschaft der Friedensbewegung in Europa wie auch die des türkischen Friedenskomitees. Wir alle haben eine gemeinsame Verantwortung für den inneren wie für den äußeren Frieden. Wenn auf der Welt weiterhin Menschenrechtsverletzungen, Folter, soziale Ungerechtigkeit und Militarisierung ihren Lauf nehmen, so haben wir alle hier versagt, denn nur gemeinsam, durch viel öffentlichen Druck, Aufklärung und öffentliches Engagement und Zivilcourage werden wir in die Lage kommen, wirklich etwas zu verändern, um Demokratisierung und Respekt für die Menschenrechte herbeizuführen. Wir müssen die kriminellen Taten der Regierung beim Namen nennen, egal um welche Militärblöcke, egal um welches System es sich handelt. Vor allem müssen wir den phantasievollen, gewaltfreien Weg gehen, um unsere gewaltfreien Ziele zu erreichen.

»In Treue bei den Entrechteten«

Politisches Morgengebet auf dem
Evangelischen Kirchentag (1987)

Im Mittelpunkt dieser Morgenandacht steht, aus Jesaja 42, 1-9: »In Treue bei den Entrechteten«. Wenn ich heute einiges zu dieser Botschaft sagen möchte, so fällt mir der letzte Bericht der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen ein. Dort wird allein für EI Salvador gemeldet: Die Militäreinheiten haben 87 Kinder unter vierzehn Jahren gefangengenommen. Den Kindern wird vorgeworfen, sie seien »Terroristen«. Seitdem sind diese Kinder verschwunden. Die politische Verfolgung in der Welt nimmt keine Rücksicht mehr auf Kinder - Kinder werden gefoltert, Kinder verschwinden und Kinder werden erschossen. Kinder werden gequält, um durch ihre Schreie im Verhör die eigenen Eltern zum Sprechen zu bringen. Sind dies alles traurige Exzesse der Machterhaltung einzelner Diktaturen oder ist nicht viel mehr hinter dieser Grausamkeit, hinter dieser Unterdrückung und Erniedrigung, die überall auf der Welt stattfindet? Das Wort »Menschenrechtsverletzungen« ist eine beschönigende Ausdrucksweise für die Verbrechen, die Regierungen in der grenzenlosen Ausübung ihres Gewaltmonopols begehen; für Verbrechen von Staats wegen. Wenn andere nicht-staatliche Organisationen oder Einzelpersonen die gleichen Werte verletzen, nämlich die Menschenwürde, also Bürger eines Landes entführen, mißhandeln, morden, dann redet man nicht von Menschenrechtsverletzungen, sondern bezeichnet diese Untaten selbstverständlich als Verbrechen. Doch was geschieht, wenn Regierungen, wenn Diktaturen von rechts und links ihr Machtmonopol mißbrauchen und die Würde des Menschen mit Füßen treten durch willkürliche Verhaftungen, Terrorgerichte, Folter, politischen Mord? Wie reagieren wir auf die Verbrechen dieser kriminellen Regierungen? Wie können wir solche Schreckensherrschaft überwinden und die Respektierung der Menschenwürde garantieren? »Es würde in der Welt keine Diktaturen geben, wenn einige Millionen Menschen bereit wären, in ein und derselben Stunde dasselbe zu tun, nicht weit ein Diktator es befiehlt, sondern weil sie von demselben Ideal und Zielbewußtsein durchdrungen sind«, so Mahatma Gandhi. Auf seiten der Herrschenden ist man sich über die aus diesem Satz sprechenden Möglichkeiten häufig klarer als auf seiten der Beherrschten. Ich bin überzeugt davon, daß effektive Methoden des zivilen Ungehorsams, des gewaltfreien Kampfes, international organisiert, den Druck auf Regierungen vervielfachen können. Martin Luther King und der Bus-Boykott in Montgomery 1955, Mahatma Gandhi und der Salzmarsch 1930, die Solidarnosc-Bewegung in Polen, die Suffragetten-Bewegung für Frauenwahlrecht, Dom Hélder Camara, die Bergarbeiterfrauen aus Bolivien, die Nonnen auf den Philippinen, die Mütter von der Plaza de Mayo - sie alle haben uns vorgelebt, wie man am wirksamsten moralischen Druck in politischen Druck umsetzen kann. In einem Menschenrechtsbuch las ich vor kurzem den folgenden Spruch: »wenn Du verstummst, werde ich sprechen / kettet man Dich an, werde ich mich auf den Weg machen / verbindet man Deine Augen, werde ich sehen / wenn man Dich demütigt, werde ich mich erheben / und wenn man Dich foltert, werde ich für Dich schreiben / damit es auch der Taube hört gleich nebenan...« Dies muß auch der Leitsatz der Kirchen werden - der Kirchen von oben und der Kirchen von unten. Ich erinnere mich an die Bischöfe der katholischen Kirche auf den Philippinen, die 1986 erklärt haben: »Der Weg, der uns gewiesen wurde, ist der Weg des gewaltfreien Kampfes für Gerechtigkeit...« Und ich erinnere mich an die Menschen dort, die Teile der Armee schützten, indem sie den Sitz des »abgefallenen Militärs« durch gewaltfreie Menschenbarrikaden umringten. Marcos, wie wir wissen, gab damals auf. Der gewaltfreie Kampf ist dort noch nicht zu Ende, aber aus der Absetzung des philippinischen Diktators Marcos durch gewaltfreie Methoden können wir alle lernen und ermutigt werden. Wenn wir über die biblische Botschaft »In Treue bei den Entrechteten« sprechen, so fällt mir ein, was Elle Wiesel, Nobelpreisträger, in seiner Dankadresse im April 1985 im Weißen Haus gesagt hat: »Ich weiß von der Schuld der Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Liebe ist nämlich nicht Haß, sondern Gleichgültigkeit. Getötet wurden die Juden von ihren Feinden, aber verraten worden waren sie von ihren sogenannten Verbündeten, die politische Vorwände fanden, um ihre Gleichgültigkeit zu rechtfertigen...« Und Elie Wiesel mahnte: »Mir wurde klar, daß in außergewöhnlichen Situationen, in denen es um das Leben und die Würde des Menschen geht, Neutralität zur Sünde werden kann. Sie hilft den Mördern, nicht den Opfern.« Und diesen Gedanken, diese Mahnung von Elie Wiesel darf auch die Kirche von oben nicht vergessen, nicht ignorieren, nicht verdrängen! Wolfgang Huber, und ich stimme ihm hier voll zu, meint: »Die Kirche vergißt, daß sie sich zu einem Herrn bekennt, der als Aufrührer hingerichtet wurde. Die Nachricht, daß sein Reich nicht von dieser Welt sei, war politisches Dynamit: ein respektloser Hinweis auf die Grenzen aller politischen Herrschaft. Der christliche Glaube ist so politisch, wie er persönlich ist. Er betrifft die äußeren Lebensverhältnisse, wie er das Innere des Menschen verwandelt. Er hat es mit dem Frieden der Staaten ebenso zu tun wie mit dem Frieden der Herzen...« Das heißt, eine Kirche zu werden, die sich immer mit denen zusammentut, die zu Opfern gemacht werden, vergessen werden - Flüchtlingen, Armen, landlosen Bauern, Frauen, Kindern! Das heißt für mich, daß wir eines auf jeden Fall lernen müssen unseren inneren, noch sehr deutschen Obrigkeitsgehorsam abzulegen, wenn wir in Treue bei den Entrechteten stehen möchten und wollen! Wie die amerikanische »Schwerter zu Pflugscharen« Bewegung (Phil und Daniel Berrigan, Liz McAlister) oft unter Beweis stellt bei ihren gewaltfreien Aktionen und symbolischen Zerstörungen von Waffen in Rüstungsbetrieben in bestimmten Situationen gilt es, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen. Ziviler Ungehorsam und gewaltfreier Widerstand gehören zur Demokratie, bringen ihr eigenes Erbe in die Demokratie ein. Und die Freiheit des Gewissens steht dabei im Mittelpunkt. Wir müssen uns nicht nur im klaren sein über die Aufgaben des Staates, sondern auch und um so mehr im klaren sein über die Grenzen des Staates! Die Grenzen der politischen Herrschaft! Im großen Werk von Thomas von Aquin steht derselbe Gedanke: »Der Mensch braucht menschlichen Machthabern nur so weit zu folgen, als es die Ordnung der Gerechtigkeit fordert...« Es wäre gut, wenn sich die Kirchenhierarchien mit diesen Gedanken wieder vertraut machen würden. Und in Treue bei den Entrechteten stehenblieben! Ich frage mich, wie können die Kirchen von oben schweigen, so gleichgültig bleiben, wenn zum Beispiel bundesdeutsche Firmen wie Daimler-Benz, MTU, AEG, Dornier, Heckler & Koch, Kolb und Fritz Werner Rüstungsgüter an die kriegführenden Staaten Iran und Irak liefern (z. B. Militärfahrzeuge, Panzergetriebe, Hubschrauber, Munition, Raketenteile). Ein erheblicher Teil dieser Lieferungen stammt aus deutsch-französischer Gemeinschaftsproduktion. Wir müssen die Konsequenzen durchdenken, um in Treue bei den Entrechteten zu stehen: »jeder Arbeitsplatz in der Rüstungsindustrie der Bundesrepublik kostet unzähligen Kindern, Frauen, Soldaten das Leben; jede Rüstungsfirma, jeder Waffenhändler bedroht die Existenz von Volksgruppen und Völkern, jede Hochschule, die Militärs der kriegführenden Parteien ausbildet, macht sich mitschuldig; jeder Politiker, der Rüstungsexporte duldet oder fördert, ist Nutznießer des Krieges; jedes Gericht, das Kriegsflucht oder Vertreibung als nicht asyl-relevant verwirft, billigt die tödliche Logik, die den Irak und Iran in immer neue Schlachten treibt.« (aus: »Flugblatt der Gesellschaft für bedrohte Völker«)
Und warum kein Wort der Kirchenhierarchie über die türkischen Interventionen gegen kurdische Minderheiten in Iran und Irak, denn diese Interventionen werden durch NATO Manöver in Nähe der Kriegsregion abgestützt, an denen auch die Bundeswehr beteiligt ist. Gegenwärtig findet ein derartiges NATO-Manöver »Aurora-Expreß 1987« an der türkischen Grenze zu Iran und Irak unter Teilnahme von 1000 Soldaten der Bundeswehr statt. Die beteiligten türkischen Truppen und Luftlandeeinheiten haben bereits dreimal, zuletzt im März dieses Jahres, im benachbarten irakischen Kurdistan militärisch eingegriffen. Wir müssen diese unbequemen Fragen an die Kirchen und an uns selbst als Steuerzahler, als Mitglieder einer militärischen Allianz, als Konsumenten, als Wählerinnen und Wähler, als freie Bürgerinnen und Bürger, als Christen stellen! Als Boten des machtlosen und machtvollen Christus! Ich zitiere aus einem Brief einer Großmutter von der Plaza de Mayo - Buenos Aires, Argentinien: »Nach Lage der Dinge müßte man verrückt werden. Die Demokratisierung brachte die entsetzlichsten Enthüllungen mit sich, Enthüllungen von so grauenhaften Verbrechen, daß wir manchmal meinen, es nicht ertragen zu können, obwohl wir es doch alle wußten. Wir arbeiten mit all unserer Kraft, denn es gilt jetzt, die endlich hergestellte Öffentlichkeit zu nutzen, damit das Volk uns bei der Suche nach unseren Kleinen hilft... Die Kinder Lamoscov haben wir gefunden, gestern begraben auf dem Friedhof von Boulogne, jedes mit einer Kugel im Kopf, neben den Eltern. Man hat sie exekutiert, sogar ein sechsmonatiges Baby. Nun müssen wir mit diesem unfaßbaren Entsetzen leben. Es ist, als ob man die Hölle von innen betrachten müsse...« In den vielen Jahren meiner Arbeit in der Menschenrechts- und Bürgerrechtsbewegung, in der Arbeit zugunsten krebskranker Kinder und deren Familien, ist mir immer wieder vorgehalten worden, daß Politik die Kunst des Möglichen sein muß. Dies verweist die Politik in den Bereich des Funktionalen und Pragmatischen. Doch ich meine, wenn das Funktionale und das Pragmatische allein die Politik bestimmen, verfällt die Politik in bloßen Opportunismus. Auch innerhalb meiner eigenen Gruppierung wird es immer schwieriger, über das zu sprechen, was wir eigentlich jeden Tag tun sollen - Partei ergreifen für Entrechtete, Ohnmächtige, für Machtlose, für Arme und Kranke, für die verschwundenen Kinder in Lateinamerika, für die krebskranken Kinder überall in dieser Gesellschaft, für Menschen, die in Ghettos in allen Teilen der Welt dahinvegetieren, für die Menschen, die amnesty international in allen Ecken des Planeten Erde betreut, für diejenigen, die in den Gefängnissen die Hölle erleben. Nach dem Vorbild Jesu und seiner Sorge um die Armen, um die Machtlosen und Entrechteten müssen die lebendige Kirche von unten und die vielen gewaltfreien sozialen Bewegungen ein Ferment der Menschlichkeit in den einzelnen menschlichen Beziehungen wie in der Gesellschaft als Ganzes sein. Gerade wir Christen sollten, im Licht unserer Glaubens- und Liebesbindung an Christus, die Mängel an Gerechtigkeit besonders kritisch bemerken und dann auch handeln, um etwas zu verändern. Martin Luther King sprach oft von der Verbindung von Rassismus und Armut und Krieg. Immer wieder sprach er von der internationalen Notsituation, die die Armen, die Besitzlosen und die Ausgebeuteten der ganzen Welt betrifft. Von den Leitgedanken Martin Luther Kings als Christ können wir viel lernen: der erste Leitgedanke - es geht um direkte, gewaltfreie Aktionen. Ein bestimmter Notstand muß dramatisiert werden, und dieser Notstand ist genauestens zu analysieren.
Die Aktion braucht die Sympathien derer, die nicht an ihr teilnehmen, aber sie beobachten. Und man darf sich dabei niemals auf vage Gerüchte und subjektive Eindrücke verlassen. Und der zweite Leitgedanke: Zu Taten soll man erst übergehen, nachdem so lange und zäh wie möglich verhandelt worden ist. Wir wollen unsere Gegner für unsere Sache gewinnen, indem wir ihnen zeigen, daß unsere Sache ihre Sache und ihre Sache unsere Sache ist. Die besten Umgangsformen mit Gegnern, so Martin Luther King, erfindet die Liebe. Und ein dritter Leitgedanke: Der Kampf um Gerechtigkeit, um Frieden, um Rassengleichheit ist nicht harmlos, denn er bringt unvermeidlich Leiden mit sich. Es kommt darauf an, Leiden zu akzeptieren. Zum Tun gehört das Dulden. Und ein vierter Leitgedanke: Wir beabsichtigen keine Unterdrückung der Unterdrücker. Wir lehnen den umgekehrten Rassismus, zu dem wir permanent versucht werden, ab. Wir streben Versöhnung an. Versöhnung ist jedoch nicht Verwöhnung. Solche Worte wie Leiden, Liebe und Versöhnung verlieren in Kings Bedeutung jeden sentimentalen Beiklang. Sie sind Ausdrücke der Vernunft. Was nicht liebend praktiziert werden kann, muß unvernünftig sein. Und so auch seine Lehre über den gewaltfreien Widerstand gegen die, die uns unterdrücken. Gegen die, die uns entrechtet haben. Gewalt ist niemals auf Versöhnung aus, sondern auf Unterwerfung. Gewalt ist grundsätzlich autoritär, also antiemanzipativ! Martin Luther King und viele andere, die sich für die Entrechteten eingesetzt haben, haben immer wieder darauf hingewiesen, daß die Gewalt die Angst nicht aus der Welt schafft, sondern ihr Produkt ist. Sie bedient sich ihrer und vermehrt sie. Immer wieder hat er betont, daß Gewaltlosigkeit nicht nur ein Mittel der Unschädlichmachung einzelner Gewaltträger ist, sondern daß sie eine prinzipiell andere Einstellung verwirklicht, die alle die Gewalttätigkeit hervorbringenden und letztlich die Menschen selbst entfremdenden Denk- und Lebensstrukturen entschleiert, angreift und überholt. Gewaltlosigkeit ist tiefste Kritik der Verhältnisse, wie sie sind, ist Antizipation einer Zukunft, die mehr ist als verlängerte Vergangenheit. King sah in Mahatma Gandhi den »wahrscheinlich ersten Menschen in der Geschichte«, der Jesus - die Verkörperung liebenden Menschseins - und seine Ethik der Bergpredigt deprivatisiert und zu einem »positiven gesellschaftlichen Faktor« zu erweitern gewußt hat. Oft haben Religionen die Macht spiritualisiert, doch Jesus hat die Ohnmacht politisiert. Wir brauchen eine Revolution der Werte, die nicht bloß die Zustände, sondern auch die Menschen nicht lassen kann, wie sie sind.
Es war Gustav Heinemann, der im Mai 1972 gesagt hat: »Wir sind im Begriff, im kommenden Jahrhundert, also nicht irgendwann ... in eine Weltkatastrophe hinein zutaumeln, wenn wir nicht bereit sind, jetzt und heute eine völlige Revolution im wirtschaftlichen und technischen Denken und Planen einzuleiten. Es geht um nichts Geringeres, als radikal mit Wertmaßstäben zu brechen, die spätestens seit der Industrialisierung uneingeschränkt den Ablauf bestimmt haben.« Wenn wir in Treue bei den Entrechteten stehen und stehen wollen, so gilt das, was Erich Fromm unermüdlich betont hat nämlich daß die Fortdauer der Menschheit von einer radikalen Veränderung der Herzen abhängt! Ohne eine veränderte Grundeinstellung der Menschen bleiben Frieden, Respekt vor Menschenrechten, sozialer Gerechtigkeit ohne Realität. Wenn die Menschenwürde mit Füßen getreten wird, dann haben auch wir hier versagt, weil wir nicht genügend schöpferischen Ungehorsam an den Tag legten, versagt, weil wir nicht den ersten Schritt gemacht haben. Wir müssen dort beginnen, wo wir sind, und nicht auf bessere Umstände warten. Sie kommen automatisch in dem Moment, da wir beginnen. Wenn ich von den Entrechteten der Welt gesprochen habe, dann meine ich nicht nur die Menschen, die zu Unrecht in den vielen Gefängnissen der Welt sitzen, die Menschen, die gefoltert, gejagt und getötet werden. Ich meine auch diejenigen, die in der Dritten Welt durch unsere Pharma- und Chemiekonzerne langsam, aber sicher vergiftet werden. Ich meine diejenigen, die durch unsere Exportförderung radioaktiv verseuchtes Milchpulver oder Milch erhalten, und ich meine diejenigen, die in ihrem Alltag den Saatgut-Kolonialismus erleben müssen. Mit dem Saatgut-Kolonialismus meine ich auch die Situation, in der es so weit gekommen ist, daß die Nahrungsmittel der Armen zum Futter für das Vieh der Reichen werden. Wenn ich von Entrechteten spreche, dann meine ich selbstverständlich auch uns - die Frauen in dieser Welt. Gott hat nicht nur starke Söhne, so die Theologin Catharina Halkes. Frauen gerade in den Kirchen, quer durch alle sozialen Schichten, werden sich immer mehr ihrer Machtlosigkeiten und Geschlechtsstereotype bewußt und wollen sich davon endlich befreien. Wir alle fangen an, unseren Körper, die Erde und alles, was geschaffen ist, in einem neuen Licht zu sehen, nicht mehr als Objekte, die wir beherrschen wollen, sondern als Mitsubjekte, zu denen wir in Beziehung stehen.
Und all die Männer in der Kirchenhierarchie, egal in welcher Kirche, egal in welcher Religion, müssen begreifen, daß Frausein nicht mehr eine abgeleitete Form des Menschseins ist, nicht mehr untergeordnet und nicht mehr minderwertig! Wir Frauen müssen als Entrechtete auf Suche gehen nach unserer Geschichte, unserer Geschichte innerhalb der Religionen. Und so unterstütze ich Uta Ranke-Heinemann mit ihrer Position in der Mariendebatte. Und ich stehe hinter der aufmüpfigen Theologin Elga Sorge und ihrer Neufassung des »Vater unser« in »Mutter unsere«. Der »Hexenhammer« herrscht auch noch heute bei Stammtischgesprächen, in Vergewaltigungsprozessen und anderswo. Die entrechteten Frauen in den Kirchen von unten träumen den Traum der Ganzheit, und sie träumen von der Kirche als Schwesterlichkeit. Auch hier müssen die »Männerbünde« in den Kirchen in Treue zu den Entrechteten stehen - sie müssen es zumindest anfangen zu lernen. Catharina Halkes (Lehrstuhl Feminismus und Christentum in Nijmwegen) hat es auf den Punkt gebracht: Ohnmacht und Übermacht müssen abgelegt werden. Wir zusammen glauben an das Reich Gottes, das ein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens ist. Und wir Menschen sind es, die dafür den Raum schaffen müssen. Gerade im christlichen Feminismus sehe ich eine Bewegung, die dazu wesentlich beiträgt. Zum Schluß: Adam Michnik schrieb aus dem polnischen Gefängnis: »Ich weigere mich angesichts des Unrechts ... zu schweigen. Ich bin nicht damit einverstanden, daß die einzige zulässige Beziehung zu den Machthabern meines Landes die des Untertanen ist. Dies ist der moralische Grund meines Handelns. Solange sich die gesellschaftlichen Verhältnisse in meinem Land auf Lügen stützen, so lange werde ich nicht schweigen. Ich werde schreien, weil das für mich das einzig mögliche Zeugnis ist, dafür, daß ich wenn auch hinter Gittern - ein Mensch bleibe, der frei ist."

Von der Stärke der Schwachen

Rede im Deutschen Bundestag  (1988)

Dies ist nicht die Stunde der üblichen Bundestagsrituale im Umgang mit Menschenrechtsverletzungen in der DDR. Heute mittag empfinde ich als jemand, der sich vielen Menschen in der unabhängigen Initiative »Frieden und Menschenrechte« in der DDR eng verbunden fühlt, Hoffnung und Schmerz zugleich. Auf der einen Seite ist angekündigt worden, daß alle in den letzten Tagen und Wochen verhafteten und zum Teil schon verurteilten Mitglieder der unabhängigen Friedens- und Ökologiegruppen aus der Haft entlassen werden. Auf der anderen Seite mußten andere, darunter der Liedermacher Stefan Krawczyk und seine Frau, die Regisseurin Freya Klier, mit der erzwungenen Auswanderung den Preis für das plötzliche Einlenken der Staatsmacht bezahlen. Und das kann die Lösung auf keinen Fall sein! Und wie wir erfahren, haben beide in ihrer heutigen Erklärung mitgeteilt daß sie ja tatsächlich nicht freiwillig ausgereist sind. Die Partei- und Staatsführung der DDR wird der Herausforderung durch kritische und engagierte Bürger, die nicht mehr wollen, als ihre elementaren Grundrechte »leben« zu dürfen, auf Dauer nicht mit derartigen Abschiebungen begegnen können. Viele bei uns erkennen nicht, daß solche Ausgrenzungen nichts anderes als Gewalt gegen Menschen bedeuten und mit den in Helsinki feierlich eingegangenen Verpflichtungen zum Schutz der Menschenrechte unvereinbar sind: Ein Stück Seele zerbricht. Dabei denke ich auch an meine Freunde Wolf Biermann, Roland Jahn und Jürgen Fuchs. Viele bei uns sind sich nicht bewußt, daß ein großer Teil der in den letzten Wochen Unterdrückten in der DDR bleiben und sich dort für Demokratie und Glasnost in allen Lebensbereichen einsetzen möchten. Dazu gehört auch meine Freundin und Schwester, die am 25. Januar 1988 erneut verhaftete Künstlerin Bärbel Bohley, die im Herbst 1987 in einem Brief an Erich Honecker schrieb: »Mein Leben wird durch das Gefühl verbittert, daß ich hier weggetrieben werden soll, denn vielleicht könnte auch ich wieder reisen, wenn ich einen Ausreiseantrag stellen würde. Das aber wäre für mich kein Umzug von Deutschland nach Deutschland, sondern käme einer Niederlage gleich, da ich immer noch an die Möglichkeit von Veränderungen in der DDR unter Beteiligung aller ihrer Bürger glaube!... Dies aber ist nicht nur Ihr Staat und nicht nur meiner, sondern unser aller!« Bärbel Bohley forderte Erich Honecker dann auf, dazu beizutragen, daß sich die Verhältnisse in der DDR so ändern, »daß jeder Mensch seine Meinung öffentlich sagen kann, ohne in seiner Existenz bedroht zu werden«. Als ich zusammen mit Gert Bastian Erich Honecker diesen Brief im September 1987 in Bonn mit einer beziehungsvollen Graphik Bärbel Bohleys übergab, ließ er mich hoffen, daß es in Zukunft mehr Dialogbereitschaft und Verständnis des Staates gegenüber den unabhängigen Friedens- und Ökologiegruppen geben würde und daß die erstmalige Duldung einer spontanen Demonstration in Ost-Berlin anläßlich des Olof-Palme-Marsches kurz zuvor keine Eintagsfliege gewesen war.
Um so größer dann auch die Enttäuschung beim Wiedereinsetzen der Willkürmaßnahmen, von der Schließung der Umweltbibliothek bis hin zu den Verhaftungen und grotesken Anklagen der letzten Tage wegen angeblicher landesverräterischer Beziehungen, basierend auf völlig absurden Kommentaren des DKP-Blattes »UZ«. Vielleicht würde die DDR-Führung gut daran tun, endlich Schluß zu machen mit der albernen Vorstellung, daß jeder kritisch denkende DDR-Bürger ein Opfer westlicher Fernlenkung wäre, so wie ja leider auch bei uns die Friedens- und Anti-Atombewegung nur allzu oft als fünfte Kolonne Moskaus diffamiert wurde und wird. Eine deutsch-deutsche Gemeinsamkeit, auf die man hüben wie drüben lieber verzichten sollte. Dagegen müssen sich beide deutschen Staaten an der Verwirklichung der individuellen und gesellschaftlichen Menschenrechte messen lassen. Dabei ist Selbstkritik ebenso geboten wie der Mut zur Einmischung, wenn auf der anderen Seite Menschen verfolgt und kriminalisiert werden. Ich stimme Herrn Genschers Feststellung zu, daß das Nichteinmischungsgebot in innere Angelegenheiten anderer Staaten nicht der Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte entgegengehalten werden könne, nehme ihn aber auch beim Wort! Genauso allerdings auch die SPD, die zwar im gemeinsamen SPD-SED-Papier solche Einmischung festschreibt, doch im Bedarfsfall der sogenannten »stillen Diplomatie« und äußerster Zurückhaltung - von Ausnahmen abgesehen - den Vorzug gibt. Nicht weniger doppelbödig erscheint mir allerdings auch eine CDU, die sich bei der Verurteilung des DDR-Systems auf eben jene Rosa Luxemburg beruft, der sie vor wenigen Jahren noch nicht einmal den Platz auf einer Briefmarke gönnen wollte. Wir Grünen tun uns da weniger schwer. Wir fordern von allen Regierungen, egal in welchem Block nicht länger unabhängige Friedens-, Bürgerrechts- und Ökologiegruppen im eigenen Land zu behindern, ihnen vielmehr endlich einen blockübergreifenden Dialog und konkrete, grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu ermöglichen, inneren und äußeren Frieden als untrennbare Einheit zu begreifen! Wir möchten keinen Rückfall in deutsch-deutsche Eiszeiten! Wir wollen das gemeinsame Bemühen nicht nur um ein atomfreies, sondern auch um ein repressionsfreies Europa!

Die Bundesrepublik und Rumänien

Beitrag zur Rumänien-Anhörung (1988)

Ich freue mich, daß wir heute dieses Informationsgespräch über die Situation in Rumänien veranstalten können, und ich freue mich ganz besonders, daß Hertha Müller und Gisela Langhoff, Richard Wagner und György Dalos heute mit dabei sein können.
Mit diesem ersten Informationsgespräch wollen wir in unserem Land die Mauer des Schweigens über Rumänien durchbrechen. Viel zu lange hielt die Bundesregierung an einer Politik fest, die Ceausescu gegen Breschnew ausspielen wollte, und thematisierte die schlimmen inneren Zustände in Rumänien so gut wie überhaupt nicht. Und wenn, dann ging es nur um die Lebensbedingungen und die Freiheiten der Deutschen, niemals um die Menschen insgesamt in Rumänien. Und allzu lange hofften die Vertreter der Wirtschaft auf gute Geschäfte mit Rumänien. Daß Profit, die Expansion der Märkte und das Wirtschaftswachstum Priorität haben vor dem aktiven Menschenrechtsschutz, ist aber etwas, was wir nicht nur in Ostblockländern wie Rumänien antreffen, es gilt natürlich auch für Brasilien, Chile, Südafrika, Pakistan, Türkei oder zum Beispiel China. Vor fast genau zwei Jahren war in der »taz"zu lesen (18. 4.1986), daß die Bundesregierung in Bonn Bemühungen Rumäniens um eine Aufnahme *In die EG unterstützen will. Dies sagte Wirtschaftsminister Bangemann angeblich bei einem Treffen mit dem rumänischen Außenminister. Vielleicht war damit auch nur an eine Annäherung an die EG gedacht, aber es zeigt auf jeden Fall, wie stark das wirtschaftliche Interesse an Rumänien ist. Am 9. Dezember 1987 gab es im Deutschen Bundestag eine Debatte über die innenpolitische Situation in Rumänien - diese Debatte war beschämend kurz und - das sagen die Grünen im Bundestag mit Selbstkritik - diese Debatte kam beschämend spät. Ich erinnere mich daran, als sich der eigenwillige und schreckliche Ceausescu Ende der 60er Jahre das Maximum an gerade noch tolerierter Unabhängigkeit vom Kreml ertrotzte und damit im Westen frenetischen Beifall erntete. Ob Bonn oder Paris oder Washington, alle applaudierten der aufgeschlossenen Bukarester Außenpolitik. So gut wie niemand wollte die grausame Innenpolitik zur Kenntnis nehmen. »Daß die Untertanen des Roten Königs«, wie sich der autoritäre Kommunist gerne nennen ließ, unter fast stalinistischem Terror dahinvegetierten, wurde geflissentlich übersehen. Im Kalten Krieg ging es uni nützliche Gesprächspartner, nicht um Menschenrechte.« (»Die Weltwoche« 27. August 1987) Heute hingegen reagiert der Westen im Umgang mit Osteuropa etwas sensibler insgesamt auf Menschenrechtsfragen, doch die Rolle der europäischen Linken und der bundesdeutschen Linken ist eine, die mir weiterhin große Bauchschmerzen verursacht. Die sogenannte europäische und bundesdeutsche Linke glaubte allzu lange, daß Menschenrechtsverletzungen in einem »sozialistischen Land« schon genug von den Konservativen und Rechten angeprangert werden, und fühlen sich auch weiterhin nicht »zuständig«! Die alte These von der fortschrittlichen Außenpolitik Rumäniens kann sich auf verschiedene Fakten stützen, wie zum Beispiel, daß sich Rumänien nicht am Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen in die CSSR im August 1968 beteiligt hatte. Ceausescu verurteilte damals diesen Einmarsch mit starken Worten: »Das Eindringen der Truppen der fünf sozialistischen Länder in die Tschechoslowakei ist ein schwerer Fehler und eine ernste Gefahr für den Frieden in Europa und für das Schicksal des Sozialismus in der Welt...« Rumänien lehnt es ,seitdem ab, Manöver der Warschauer-Pakt-Truppen auf rumänischem Boden zuzulassen, und beteiligt sich an solchen Manövern nur noch auf Stabsebene, nicht mehr mit eigenen Truppen. Und es gibt auch andere Beispiele: Rumänien weigert sich1967, nach dem Sechs-Tage-Krieg, die Beziehungen zu Israel abzubrechen, und Rumänien nimmt 1967 gegen die Stimmen aus der DDR und der UdSSR diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik auf. Rumänien ist seit 1970 Gast auf den Konferenzen der Blockfreienbewegung und vertritt eigene Positionen bei den KSZE-Konferenzen. Natürlich hat die Außenpolitik Rumäniens auch immer ihre Schattenseiten gehabt, denn zum Beispiel nutzte Ceausescu die Abrüstungsmaßnahmen 1984/86, um zum Beispiel den rumänischen Geheimdienst zu stärken und die Wirtschaft weiterhin zu militarisieren.
Die Begründung für die unabhängige Außenpolitik Rumäniens war eine national-konservative. Wie Elisabeth Weber in ihrem Beitrag im Osteuropa-Forum (März 1988) geschrieben hat: »Die rumänische Außenpolitik war gut, weil die Politik der Sowjetunion so schlecht war. Die rumänische Außenpolitik war keine originäre Politik der Entmilitarisierung und der Völkerverständigung.« Dank dem »Neuen Denken« in der Moskauer Außenpolitik, büßt Rumänien Schritt um Schritt seine Extrastellung ein. Auch als Störfaktor innerhalb des Ostblocks wird Rumänien nicht mehr sonderlich geschätzt. Erst so langsam beginnt die lang unterdrückte Kritik an Ceausescu und dessen Herrschaftsstil zu wuchern. In den letzten zwei Jahren erinnerte sich die Welt plötzlich daran, daß Rumänien das Armenhaus Europas ist und daß seine Minderheiten Deutsche ebenso wie die Ungarn schikaniert werden und ertappte Flüchtlinge automatisch ins Gefängnis kommen. Die Vereinigten Staaten entzogen dem Ceausescu-Land die sogenannte Meistbegünstigungsklausel was bedeutet, daß Bukarest im USA-Handel geschätzte 300 Millionen Dollar einbüßt. Rumänien mußte auch zahlreiche Attacken bei der laufenden Wiener KSZE-Nachfolgekonferenz einstecken. Gerügt wurden unter anderem die schwierigen Arbeitsbedingungen für ausländische Journalisten und die rigorosen Grenzkontrollen für Touristen. Ceausescus eifrige Bemühungen, Präsident Mitterrand und andere namhafte westliche Staatatsoberhäupter zu einer Visite in Bukarest zu überreden, sind auch oft gescheitert. Mitterrand sagte zum Beispiel aufgrund der Aktivitäten der rumänischen Sicherheitspolizei auf französischem Boden im Sommer 1982 seinen geplanten Staatsbesuch in Rumänien ohne Versprechen eines späteren Termins ab und ließ statt dessen eine Liste von Namen überreichen von verschwundenen Personen. Bei einem Besuch von Ceausescu mit Frau und Sohn in Schweden, 1980, hat die Universität Uppsala das Gesuch von Elena Ceausescu abgelehnt, ihr die Ehrendoktorwürde der Universität Uppsala zu verleihen. Doch es gibt andere namhafte Personen, die sich zu einer Visite in Bukarest überreden haben lassen, und es gibt eine Fülle von Staatsbesuchen der Bundesregierung. Seit 1967 haben Brandt und Heinemann, Genscher und Kohl, Helmut Schmidt, dann wieder Genscher und Strauß und Carstens, Späth und Lambsdorff, Baum und Genscher Rumänien besucht, und Ceausescu war 1973 und 1984 in Bonn. Bei den verschiedenen Besuchen wurden eine Reihe von Abkommen über wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit abgeschlossen. Wie auch zum Beispiel ein Abkommen zur Zusammenarbeit bei der sogenannten friedlichen Nutzung der Atomenergie. Helmut Schmidt handelte 1978 aus, daß 60000 Deutsche aus Rumänien ausreisen können und gab im Gegenzug einen Kredit von 700 Millionen Mark. Doch das Ganze ist immer wieder verbunden mit außerordentlich lobenden Worten (ein sehr willkommener Gast) und blumigen Sprüchen über die gemeinsame Vergangenheit. Man nehme zum Beispiel die Presseerklärung auf der Pressekonferenz von Hans Stercken, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, als er Bukarest im Juli 1986 besuchte. Da wird von der großen Ehre und Freude gesprochen, die man über die Einladung zu einem Besuch bei Nicolae Ceausescu empfinde, und da wird mit Befriedigung festgestellt, daß es einen positiven Kurs der rumänisch-westdeutschen Beziehungen gebe, und da wird zum Ausdruck gebracht, daß diese Beziehungen in Zukunft auf verschiedenen Ebenen noch weiter ausgebaut werden sollen. Und da gibt es die Ansprache des Bundesministers des Auswärtigen, Herrn Genscher, bei einem Abendessen zu Ehren des Außenministers Rumäniens, Vaduva, am 17. April 1986 in Bonn: »Fortschritte verzeichnen wir auch bei der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Unser Warenaustausch steigt an. Rumänien konnte seine Exporte ausweiten und Überschüsse erzielen.« - »Herr Minister, Sie kennen unsere Wünsche nach einer Ausweitung der Ausreisemöglichkeiten. Auch im letzten Jahr ist es in gegenseitigem Einvernehmen gelungen, zahlreiche Menschen wieder zusammenzuführen. Wir wissen die rumänische Haltung zu würdigen.« Oder nehmen wir die Erklärung des inzwischen verstorbenen Dr. Werner Marx (MdB, CDU-Fraktion), als er zum bevorstehenden Besuch Ceausescus im Oktober 1984 erklärte: »Der rumänische Staats- und Parteichef ist in der Bundesrepublik ein willkommener Gast... Die deutsch-rumänischen Beziehungen haben sich in den letzten Jahren im Ganzen gut entwickelt; sie sind, vor allem im Bereich des Kulturaustausches, erfreulich rege.« Wenn überhaupt über den humanitären Bereich gesprochen wird oder gesprochen wurde, hat sich die Bundesregierung nur für die Interessen der Rumäniendeutschen eingesetzt und hat all diejenigen vergessen, die nicht zur deutschen Minderheit in Siebenbürgen und im Banat gehören. Ich war damals im Oktober 1984 beim Ceausescu-Besuch und bei dem festlich gedeckten Bankett im Barockschloß Brühl dabei, und uns allen wurde sehr schnell klar, wie sehr ein Ceausescu das steife Protokoll schätzt. Was er nicht so schätzte, war mein kleines provozierendes Geschenk an ihn: eine aufsehenerregende Broschüre von amnesty international über die Zustande und die Menschenrechtssituation in Rumänien sowie ein Transparent mit grünem Hintergrund in rumänischer Sprache: » den Schutz der Menschenrechte in Rumänien! Innerer und äußerer Friede gehören zusammen!« Dies natürlich störte auch den Protokollchef-, es störte Herrn Weizsäcker, es störte die anderen Gäste, die doch alle gerade dabei waren, diesen Ceausescu Besuch und die Milliardenkredite an Rumänien zu feiern. Zwei Jahre später hatte ich Gelegenheit, Mitglieder der Großen Nationalversammlung, Rumäniens und der rumänischen Gruppe in der interparlamentarischen Union in Bonn kennenzulernen. Und schon wieder ging es bei dieser Debatte zwischen diversen Vertretern der Bundestagsparteien und der rumänischen Delegation um die Probleme des deutschen Postverkehrs nach Rumänien, um die Probleme der Rumäniendeutschen, und letzten Endes wurde wieder mit blumigen Worten festgestellt, daß die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Rumänien zum beiderseitigen Nutzen zu vertiefen und auszubauen ist.
Die Übergabe einer Liste von politischen Gefangenen in Rumänien, die ich am Schluß des Gesprächs an die Delegation vorgenommen hatte, war irgendwo dann doch der peinliche Moment des ganzen Gesprächs, und ein Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes zog mich etwas verstört zur Seite und meinte, ob das denn nun wirklich sein müßte! Ja, es mußte sein! Seit 1983 habe ich im Auswärtigen Ausschuß die Reden von Herrn Genscher, Herrn Strauß, Herrn Möllemann und Herrn Schäfer und anderen zum Thema Menschenrechtsverletzungen angehört, und wenn es um Rumänien ging, so ging es letzten Endes nur um die Unterdrückung der Deutschen in Rumänien, und ab und zu wurde am Rande die katastrophale Versorgungslage oder die sinnlosen Großprojekte, die mit unseren Krediten gebaut werden, erwähnt. Und mein Briefwechsel mit Dr. Marin Ivascu (Vizepräsident der Großen Nationalversammlung Rumäniens) zum Thema Menschenrechtsverletzungen hat mich auch nicht viel weiter gebracht. Dr. Ivascu, mit dem ich in Bonn gesprochen hatte, versicherte mir gegenüber, daß ich vielen Desinformationen erläge und daß ich ein ganz falsches Bild über die Innenpolitik Rumäniens hätte. Und so versprach er mir, diese »Desinformationen« zu berichtigen. Ich fragte ihn unter anderem, warum seit März 1983 Privatpersonen keine Kopiergeräte mehr besitzen dürfen, und ich fragte danach, warum der Verlust oder das Verschwinden einer Schreibmaschine schriftlich bei der Polizei zu melden ist, und warum nur derjenige eine Schreibmaschine besitzen kann, wenn er eine zeitlich begrenzte polizeiliche Genehmigung hat, nach Hinterlegung einer Aufstellung mit den Merkmalen der Buchstaben, der Ziffern und der orthographischen Zeichen. Und ich fragte ihn bezüglich einer Schätzung des »Atlanta Journal of Constitution«, daß in den letzten Jahren in Rumänien jährlich rund 700000 Menschen Strafen in völlig überfüllten Haftanstalten verbüßt haben (bei einer Bevölkerung von rund 22 Millionen). Und ich fragte weiter über das Abschalten von Strom und Wasser und das Fehlen von Medikamenten, über totale Drangsalierungen, Zensur, über Folterungen in Gefängnissen, über die Todesstrafe und Gefängnisstrafen für Fehler im Arbeitsprozeß und unerlaubtes Entfernen vom Arbeitsplatz. Inzwischen ist auch bekannt, daß vor zwei Jahren Ceausescu eine monatliche gynäkologische Pflichtuntersuchung angeordnet hat für alle berufstätigen Frauen bis zum Alter von 45 Jahren. So will er Abtreibungen verhindern, die gesetzlich verboten sind. Wer nicht bereit ist, sich untersuchen zu lassen, hat auch keinen Anspruch auf Behandlung durch den Hausarzt, kann nicht einmal zum Zahnarzt gehen und muß auf einen Urlaub im betriebseigenen Erholungsheim verzichten. Herr Dr. Ivascu schrieb mir am 29. März 1986, daß ich ein völlig falsches Bild über die Realitäten von Rumänien habe und daß die Verfassung und die Gesetze Rumäniens die Grundrechte und Grundfreiheiten aller Bürger des Landes garantieren und sichern. »Der von unserer Gesellschaft geschaffene demokratische Rahmen, der in einem ständigen Prozeß der Vervollkommnung ist, sichert die direkte Teilnahme aller Bürger an der Leitung des politischen, ökonomischen und sozialen Lebens des Landes.« Die Bundesregierung ist wegen ihrer Rumänien-Politik zu kritisieren! Doch zugleich müssen wir uns auch bei diesem Informationsgespräch fragen, warum der europäischen und der bundesdeutschen Linken wie auch der grün-alternativen Bewegung in unserem Land die Verhältnisse in Rumänien so gleichgültig sind. Zum Teil liegt es, wie Elisabeth Weber sagt, an der Passivität unserer Gesellschaft, und es liegt auch zum Teil an dem selektiven Verhältnis einiger Grüner Flügel zu dem Thema Menschenrechte, was man unter anderem auch ein Blockdenken von unten nennen kann. Menschenrechte werden in der Dritten Weit aktiv und mit Recht eingeklagt, doch wenn wir versuchen, sie gemeinsam in Osteuropa einzuklagen, dann wird das als eine schlechte oder konservative Politik empfunden. Den Vorwurf habe ich auch schon einmal von dem SPD-Kollegen Egon Bahr gehört, als er bei einem Gespräch zwischen Grünen und SPD Mitgliedern erklärt hatte, daß unsere Art von Menschenrechtspolitik der CSU sehr ähnlich sei. Elisabeth Weber zitiert mit Recht einige Leserbriefe und Bemerkungen in der »taz« zu einem Artikel von William Totok: »Ob die Verhältnisse dort so sind oder nicht (gemeint war Rumänien), diese Schreibe erinnert mich an einen antikommunistischen Schulaufsatz.« Solche Bemerkungen sind leider sehr oft typisch für eine Haltung innerhalb der Linken, die sagt: »Egal, wie die Fakten sind, ich habe auf jeden Fall die richtige Ansicht von der Sache.« Doch so eine Position, wie ich sie auch oft genug in Sachen Afghanistan oder in Sachen DDR erlebt habe, kann uns einfach nicht weiterbringen.
Die bürgerliche Auffassung, zunächst bedürfe es der Verwirklichung der politischen Freiheitsrechte, bevor es zu einer Sicherung der sozialen Menschenrechte kommen könne ist genauso zurückzuweisen wie die orthodox-kommunistische Auffassung, die die vollständige Gewährung individueller Freiheitsrechte von der vorherigen Sicherung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte abhängig macht. Die Gleichwertigkeit aller Menschenrechte muß zunehmend Anerkennung finden, und der Gegensatz zwischen individuellen Freiheitsrechten und kollektiven sozialen Rechten muß zurückgewiesen werden. Die Emanzipation aller Menschen erfordert gleichermaßen materielle und geistige Freiheit. Wenn ich an Rumänien denke - so stellen die Qualen der Folter oder die Qualen des Verhungerns für jeden Menschen individuell einen großen Schmerz dar. Wir müssen an die wechselseitige Abhängigkeit und an die Interdependenz aller Menschenrechte denken. Ein letzter Kommentar zum Thema Menschenrechte allgemein, das mir am Herzen liegt. Die Anerkennung der Gleichwertigkeit der Menschenrechte durch eine überwältigende Mehrheit der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen fand ihren deutlichsten Ausdruck in der Resolution 32/130 (die die Generalversammlung der UNO am 16. Dezember 1977 angenommen hat). »Alle Menschenrechte und Grundfreiheiten sind unteilbar und wechselseitig voneinander abhängig...«
Die Resolution erhielt 123 Ja-Stimmen und keine Nein-Stimme. Die Bundesrepublik zählte zu der kleinen Gruppe von fünfzehn vorwiegend westlichen Ländern, die sich der Stimme enthielten. Wir hoffen auf eine an den Menschenrechtsprinzipien orientierte Außenpolitik der Bundesrepublik. Im ganz konkreten Falle Rumänien müssen wir hier und heute überlegen, wie wir uns »einmischen« können. Ein Regime wie das Ceausescus paßt nicht in eine politische Landschaft, die von neuem Denken geprägt wird. Ich unterstütze die Ziele der Gruppe »Bewegung für ein freies Rumänien«, die Boykott-Flugblätter an Touristen aus West und Ost verteilt, zum zivilen Ungehorsam aufruft und gewaltfreie Demonstrationen und Boykottaktionen unterstützt. Gemeinsam über alle Grenzen Europas hinweg gewaltfreie politische Alternativen in einer solch totalitären Landschaft wie Rumänien zu entwickeln - das ist unsere gemeinsame Verantwortung im gemeinsamen Haus Europas.