Kein noch so erhabenes Ziel kann böse Mittel
heiligen. Lügen, Gewalttaten - Folter und
Mord können weder von den besten idealen
Zukunftsplänen noch von den idealistischen
selbstlosen Bemühungen um das Wohl der
Nachkommen gerechtfertigt werden. Böse Mittel
vernichten jedes anfänglich gute Ziel.
Lew Kopelew
Gewalt hört da auf, wo die Liebe beginnt
Rede vor der Generalversammlung der
Jugend bei den Vereinten Nationen (1985)
Wir sind weniger sicher, daß wir völlig recht ha
ben. Erwachsene, die sicher sind, daß sie völlig
recht haben, führen wegen dieses Anspruches
Krieg.
Arn Chorn, 18 Jahre alt,
Flüchtling aus Kambodscha
Am 15. Juli 1944 schrieb Anne Frank in ihr Tagebuch: »ich sehe, wie die Welt allmählich in eine Wildnis verwandelt wird. Ich höre den nahenden Donner, der auch uns vernichten wird, ich kann das Leiden von Millionen spüren und dennoch glaube ich, wenn ich zum Himmel blicke, daß alles in Ordnung gehen und auch diese Grausamkeit ein Ende finden wird und daß Ruhe und Frieden wieder einkehren werden.« Anne Frank, die selbst unter der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus und Antisemitismus zu leiden hatte, die im Schatten des Todes lebte, konnte noch an das Gute im Menschen, die wahre Liebe und den Sieg von Recht über Unrecht glauben. Die Nazis verbrannten unzählige Bücher. Sie übersahen jedoch ein von einem jungen Mädchen geschriebenes Buch. Und dieses Buch kennen nun Millionen von Menschen auf der ganzen Welt. Gewalt hört da auf, wo die Liebe beginnt! Angesichts der Umweltkatastrophen auf unserer Erde, die von beispiellosen Gefahren bedroht wird - von dem Aussterben von Spezies und dem Verlust genetischer Vielfalt, dem Anwachsen toxischer und radioaktiver Abfallstoffe, der Entwaldung, der Ausbreitung der Wüstengebiete bis zur völligen Veränderung des globalen Klimas - ist es für uns alle schwer, über die Rechte und Verantwortlichkeiten sowie die Zukunft der Jugend zu sprechen. Dies um so mehr, weit es allzu viele auf Wettbewerb eingestellte, expansionistische, machismoorientierte, militaristische, patriarchalische Nationalstaaten gibt, die überhaupt nicht zu verstehen scheinen, daß sich auf dieser Erde eine Kultur entwickelt - mit einer auf das Überleben des Menschen ausgerichteten Ethik und Politik. Hier in den Gartenanlagen der Vereinten Nationen befindet sich das russische Denkmal »Swords into Plowshares« (Schwerter zu Pflugscharen) - und dennoch werden sehr viele meiner Freunde in der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR festgenommen, ins Gefängnis geworfen, diskriminiert oder von ihren Arbeitgebern entlassen, weil sie dieses Symbol anstecken! Zwanzig Prozent der Weltbevölkerung (einer von fünf) gehören der Altersgruppe der 15bis 24jährigen, von den Vereinten Nationen als »Jugend« bezeichnet, an. Die jungen Menschen (665 Millionen) leben in der Mehrheit in Entwicklungsländern in Afrika, Asien und Lateinamerika. Es ist sehr schwer, über die Rechte der Jugend zu sprechen, wenn man sich vor Augen führt, daß im vergangenen Jahr 800 Milliarden Dollar für militärische Zwecke ausgegeben worden sind. Gegenwärtig leisten 29 Millionen ihren Wehrdienst ab oder sind Berufssoldaten. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs haben 150 bewaffnete Auseinandersetzungen stattgefunden, bei denen mehr als sechzehn Millionen Menschen ihr Leben verloren haben. Diejenigen, die bei bewaffneten Auseinandersetzungen ihr Leben verloren haben, waren großenteils jugendliche und Kinder. jugendliche in den Krieg zu schicken zählt in der heutigen Weit zu den schlimmsten Verbrechen an der Jugend. Es ist nicht nur äußerst grausam, ihr Leben dieser großen Gefahr auszusetzen, sondern auch unglaublich, ihnen das Recht abzusprechen, den Dienst mit der Waffe zu verweigern und ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Diese Ausbeutung der Jugend ist in der Regel akzeptiert worden. Roger Rosenblatt (Autor von »Kinder des Krieges«) schrieb beispielsweise: »Die Jugendlichen und Kinder werden am wenigsten über ihre eigene Zukunft konsultiert... Niemand fragt sie, niemand läßt ihnen eine Wahl, und das erste, wozu sie üblicherweise von ihren Regierungen aufgefordert werden, ist zu kämpfen...« Die Jugend, das wertvollste menschliche Potential, wird als Kanonenfutter benutzt. Und einige Regierungen sprechen bei Jugendlichen die Gefühle an, um ihnen durch Gehirnwäschen dem Wunsch zum Kriegsdienst zu suggerieren. Informations- und Meinungsfreiheit sowie eine tolerante Einstellung der betroffenen Staaten sind von wesentlicher Bedeutung, für die Rolle, die die Jugend bei der so dringenden Förderung des Friedens zu spielen hat. Es sind jedoch nicht erst Opfer zu verzeichnen, wenn die Bomben fallen Massenvernichtungswaffen, Rüstungsetats und konventionelle Waffen fordern schon jetzt Menschenleben. Infolge der Strahlenvergiftung während des gesamten Waffenproduktionszyklus - von der Urangewinnung bis zur Erprobung der Waffen - verlieren Menschen ihr Leben. Ein weiterer Aspekt der Militarisierung unserer Gesellschaften - der Einsatz von Ressourcen zu falschen Zwecken - hat zum Tod vieler Menschen geführt. Während viele Milliarden Dollar zur Vorbereitung von Kriegen aufgewendet werden, hungern Millionen von Menschen. 1981 und 1982 starben 17 Millionen Kinder unter fünf Jahren, und 1983 waren es noch mehr. Diese Situation ist mit dem Holocaust im Zweiten Weltkrieg vergleichbar, der sich alle 4 1/2 Monate wiederholt. Während ich jetzt über die Rechte und Verantwortlichkeiten der Jugend spreche, stirbt alle zwei Sekunden ein Kind. Etwas muß in uns tot sein, wenn wir zulassen, daß die großen Ungerechtigkeiten auf diesem Planeten weiter bestehen. Im Gespräch mit zahlreichen Jugendlichen in ganz Europa habe ich jedoch den Eindruck gewonnen, daß die drohende Gefahr des Nuklearkrieges oder der ökologischen Katastrophe zu Hoffnungslosigkeit, psychischer Starrheit geführt hat. Diese Hoffnungslosigkeit ist nirgendwo so stark verbreitet wie bei der Jugend. Dr. Robert J. Lifton, Professor für Psychiatrie an der medizinischen Fakultät der Yale University, beschrieb das Doppelleben der Kinder wie folgt: »sie wachsen mit der üblichen Mischung aus Sicherheitsgefühl und Elementen der Unsicherheit auf und wollen ihr Leben in der herkömmlichen Art und Weise verbringen. Dennoch haben sie sich u. a. darauf eingestellt, daß alles, sie selbst, ihre Eltern und alle anderen Menschen, die sie gekannt oder mit denen sie in Berührung gekommen sind, plötzlich vernichtet werden.« Die tatsächliche Gefahr sowie die potentiellen Lösungen sind nicht dort draußen zu finden. Beide liegen in uns selbst, und die Übernahme der Verantwortung für unser persönliches Verhalten ist so ziemlich das einzige in dieser Welt, was wir hundertprozentig in der Hand haben. Die Aspekte, von denen ich gesprochen habe, führen zu neuen Dimensionen im Leben auf diesem Planeten Erde. Es sind die Aspekte der Gewaltlosigkeit in Ihrem persönlichen Leben und in Ihrem Arbeitsleben sowie die endgültige Absage an Korruption, korrupte Praktiken, den industriell-militärischen Komplex. So vielen von uns wurde früher oder später blinder Patriotismus und Akzeptanz von Autorität gelehrt. Diese Eigenschaften durchziehen alle gesellschaftlichen Schichten und manifestieren sich schließlich in der Habsucht der Firmen und in militarisierter Macht.
In der Rede Präsident Reagans 1985 zum internationalen Jahr der Jugend legte er der amerikanischen Jugend nahe, sich Gedanken über ihre kostbaren Freiheiten zu machen, ihre Gedanken untereinander und mit Jugendlichen in allen Teilen der Welt auszutauschen und gemeinsam mit anderen auf eine Verbesserung des gegenseitigen Verständnisses, die verstärkte Beachtung der Menschenrechte und Förderung des Weltfriedens hinzuarbeiten. Zu den wichtigsten Menschenrechten gehört das Recht auf Wehrdienstverweigerung - das Recht, den bewaffneten und unbewaffneten Militärdienst zu verweigern. In den meisten Ländern ist dieses Recht nicht gesetzlich verankert; in anderen existiert es überhaupt nicht und ist sogar undenkbar. Keine internationale Konvention erkennt es an. Dieses Recht zur Kriegsdienstverweigerung ist eine Form oder ein Ausdruck des Rechts auf Gewissensfreiheit. Leider erscheint das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (1948). Die Anerkennung und Beachtung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung setzt die Erkenntnis voraus, daß der Macht souveräner Staaten verfassungsrechtliche und rechtliche Grenzen gesetzt sind. Ich habe einen Großteil meiner Tätigkeit in der Partei »Die Grünen« dem Bereich der Menschenrechte in Ost und West gewidmet. Beide Militärblöcke und beide Supermächte mißbrauchen die Menschenrechtsfrage zu ihren eigenen Zwecken. Sie tendieren stets dazu, mit dem Finger auf die andere Seite zu zeigen, und vergessen, daß die Menschenrechte auf ihrem eigenen Territorium verletzt werden. Die Politik der Grünen ist entschieden auf eine Einmischung in alle Angelegenheiten ausgerichtet: nicht nur in die Angelegenheit des eigenen Landes, sondern in die Angelegenheiten aller Länder, denn die Menschenrechtsprobleme betreffen uns alle. Menschenrechte sind unteilbar. Wir haben uns mit den Menschenrechtsproblemen in der Türkei, Mittel- und Lateinamerika, Afghanistan, den osteuropäischen Ländern, den Vereinigten Staaten und dem blockfreien Jugoslawien befaßt. Und diese Liste könnte ich fortsetzen. In einigen Fällen werden die Menschenrechte so sehr mit den Füßen getreten, daß Schweigen herrscht und keine Spuren in der Geschichte hinterläßt. Denn die Geschichte hält nur die Worte und Taten derjenigen fest, die, wenn auch nur in geringem Umfang, in der Lage sind, über ihr eigenes Leben zu bestimmen oder zumindest das zu tun versuchen. Es gibt nach wie vor eine Vielzahl von Männern, Frauen, Kindern und jugendlichen, die infolge von Armut, Terror oder Lügen völlig zum Schweigen gebracht worden sind. Und wir können sie nicht hören. In diesem Augenblick befinden sich Millionen von Menschen, unsere Brüder und Schwestern, in Aufruhr, leisten gewaltlosen Widerstand und warten darauf, daß wir - Sie und ich - tätig werden. Henry David Thoreau schrieb 1849 in seinem Aufsatz über zivilen Ungehorsam: »Es wird nie einen wirklich freien und aufgeklärten Staat geben, es sei denn, der Staat erkennt die Einzelperson allmählich als eine höhere und unabhängige Macht an, von der sich seine ganze eigene Macht und Autorität herleitet, und behandelt sie dementsprechend.« Ein guter Freund von mir, Bruce Kent, von der Bewegung für nukleare Abrüstung in Großbritannien, erklärte in einem Antwortschreiben an Freunde der unabhängigen Friedensbewegung in der Tschechoslowakei und der DDR: »Wirklicher Friede hängt tatsächlich davon ab, daß die Menschenrechte überall von jedermann beachtet werden. Die offizielle Propaganda im Westen macht sehr viel Aufhebens über die Mißachtung der Menschenrechte in den sozialistischen Staaten. Wir sind darüber informiert und verurteilen sie entschieden. Wir haben jedoch Augen und Ohren für die schweren Verstöße gegen die Menschenrechte, die in zahlreichen politischen und wirtschaftlichen Einflußbereichen des Westens stattfinden und die unsere offiziellen Propagandisten ignorieren. Es wird erst einen echten Frieden geben, wenn wir uns alle als Mitglieder einer Gemeinschaft betrachten, die unseren kleinen blauen Planeten gemeinsam besitzt.« Wir haben weitreichende Vorstellungen, wenn wir jedoch nicht zugrunde gehen wollen, besteht unsere unmittelbare Aufgabe darin, uns einige Schritte von dem vor uns liegenden Abgrund zu entfernen: keine weiteren Nuklearversuche, keine Erstschlag Technologien, keine Ersteinsatz- oder interventionistische Politik, das sofortige Einfrieren aller Atomwaffen, die Abschaltung aller Kernkraftanlagen, die so rasch in Atomwaffen verwandelt werden können! Militärische Mittel sind im wesentlichen unvereinbar mit den Friedenszielen, da erstere davon ausgehen, daß auf Andersdenkende Zwang ausgeübt werden muß, während letztere davon ausgehen, daß diese überzeugt werden können. Deshalb erklärte Mahatma Gandhi einfach: »Ich glaube nicht an die Möglichkeit, den Weltfrieden durch Gewalt herzustellen.« Vielleicht könnte dieses Jugendsymposium hier in der Generalversammlung den Vereinten Nationen empfehlen, gewaltlose Maßnahmen zur Sicherung des Friedens zu beschließen. Nichtinterventionistische, gewaltlose Maßnahmen zur Friedenssicherung, wie zivile oder soziale Verteidigung, würden die moralische Unterstützung sehr vieler jugendlicher in allen Teilen der Welt erhalten und könnten eine Lösung darstellen bei der Suche nach einem Weg aus dem wahnsinnigen Abschreckungsdenken. Es muß uns allen - insbesondere der heutigen Jugend – klar werden, daß Widerstand gegen den Krieg, gegen den Einsatz von Atomwaffen, unmöglich ist ohne Widerstand gegen Sexismus, Rassismus, Imperialismus und Gewalt als etwas Alltägliches. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Tatsache, daß viele einzelne Frauen und junge Mädchen geschlagen und vergewaltigt werden, und der Tatsache, daß der gesamten Welt Krieg droht. Die Welt, so wie wir sie kennen, sollte und kann geändert werden. Ich spreche von einer anderen Art von Macht, nicht der Macht über jemanden, nicht der Macht zu dominieren oder zu terrorisieren oder zu unterdrücken. Gewaltlosigkeit als Prinzip und als Technik ist eine Reihe von Ideen darüber, wie das Leben gelebt werden sollte, und eine Strategie zur Herbeiführung eines gesellschaftlichen Wandels. Die Achtung vor dem Leben ist ein wesentliches Merkmal und gleichzeitig ein Wunsch nach Befreiung. Sie bedeutet, kurz gesagt, andere ebenso als Menschen zu behandeln wie uns selbst. Wenn die Achtung vor dem Leben und der Wunsch nach Befreiung zu Leitlinien für politisches Handeln erhoben werden, dann können sie eine Menge bewirken. Wenn wir von Gewaltlosigkeit sprechen, geht es um die Abschaffung der Macht, so wie wir sie kennen, und um ihre Neudefinition als etwas, das wir alle gemeinsam haben, das von allen und für alle eingesetzt werden kann. Macht über etwas ist durch geteilte Macht zu ersetzen, durch die Macht, Dinge zu tun, durch die Entdeckung unserer eigenen Kraft im Gegensatz zu der passiven Entgegennahme von Macht, die von anderen - häufig in unserem Namen - ausgeübt wird. Viele von uns fühlen sich in vielerlei Hinsicht machtlos gegenüber sogenannten Autoritäten. Wir sind jedoch mehr als Individuen. Durch Zusammenarbeit können wir Kraft und Vertrauen schöpfen. Von wesentlicher Bedeutung für die Gewaltlosigkeit ist die Überzeugung, daß jeder sie praktizieren kann, daß jeder Mensch unabhängig von seinem Geschlecht, seiner Hautfarbe, seiner Schicht, seinem Alter oder seiner körperlichen Leistungsfähigkeit eine wichtige Rolle in einer derartigen Bewegung zu spielen hat. Abschließend möchte ich mich insbesondere an die jungen Frauen, meine Schwestern hier, wenden. Denn ich bin sicher, daß auch sie das Patriarchat als ein in kapitalistischen und sozialistischen Ländern verbreitetes System männlicher Vorherrschaft betrachten, das sich auf Frauen tyrannisch und auf Männer restriktiv auswirkt. Bei fast allen dieser Systeme haben Männer und Knaben einen größeren Wert sowie mehr gesellschaftliche und wirtschaftliche Macht als Frauen und junge Mädchen. Es gibt zwar andere Herrschaftsstrukturen, wie die Herrschaft einer Nation über eine andere, die Herrschaft einer Wirtschaftsgruppe über eine andere und die Herrschaft einer Rasse über eine andere, doch bleibt die Herrschaft der Männer über Frauen ein konstantes Merkmal innerhalb eines jeden anderen Unterdrückungsaspektes. Ich setze meine Hoffnung auf eine Kombination von Feminismus und Gewaltlosigkeit und hoffe, daß wir - die hier versammelten jungen Frauen dazu motiviert werden könnten, unser Leben in den Dienst des Friedens zu stellen und die Welt von der Macht des Patriarchats zu befreien. Auf einem der ersten Poster der Partei »Die Grünen« war 1979 die Zeichnung eines Kindes abgebildet. Darunter stand der Satz: »Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt.« Ich frage mich, wie viele Erwachsene, die als Mitglieder der Generalversammlung der Vereinten Nationen in diesem Raum sitzen, diese Worte verstanden haben? Ich wünsche Ihnen Frieden und ich wünsche, daß wir alle Gefahren bestehen werden!
(Rückübersetzung aus dem Englischen)
Gewaltfreiheit ist stärker als Gewalt
Beitrag zur Debatte in der Fraktion (1987)
Ist Gewaltfreiheit stärker als die Gewalt? Ich meine ja. Gewaltfreiheit ist nicht nur eine Methode, eine Art, Konflikte zu lösen, Gewaltfreiheit ist eine Lebensform. ich denke, daß die Grünen zur Zeit sowieso das Problem haben, einen gewaltfreien Lebensstil untereinander auszutragen, geschweige denn, was sie zur Zeit miteinander anrichten. Da ist also von Gewaltfreiheit nicht mehr viel zu spüren. Aber ich denke, daß wir über die Ziele und über die Mittel reden sollten. Denn die Mittel sollten die Ziele bestimmen und die Ziele die Mittel. Ich denke auch, daß Günther Anders unrecht hatte, wenn er meinte, die Gewaltfreiheit wäre nur Passivität, bedeute nur Nichtstun und wäre unwirksam. Deshalb müssen wir Menschen überzeugen, daß gewaltfreie Strategien nicht unwirksam sind und daß eine große Kraft von ihnen ausgehen kann. Thomas Ebermann hat einmal etwas ironisch gesagt: Der Streik sei auch Gewalt und kann Gewalt bedeuten. Doch diese Grenzen zwischen Gewaltfreiheit und Gewalt - diese Grenzen müssen wir klar und deutlich aussprechen. Gewaltfreiheit hört genau da auf, wo Aktionen menschenverletzend oder menschenbedrohend wirken können. Und Gewaltfreiheit hört auch dann auf, wenn die Menschenwürde verletzt wird. Ich glaube, wir müssen über diese Grenzen von Gewalt und Gewaltfreiheit viel, viel ehrlicher in der Fraktion sprechen. Auf der einen Seite gibt es den eher oberflächlichen Flügel, der über willkürliche Sachbeschädigung etwas hinwegsieht und dafür auch immer wieder Erklärungen bringt. Ich persönlich finde bestimmte symbolische Sachbeschädigungen richtig wie zum Beispiel die symbolischen Sachbeschädigungen in den amerikanischen Rüstungsbetrieben, die von der Gruppe »Schwerter zu Pflugscharen« gemacht werden. Aber ich bin gegen das, was Autonome und andere Gruppen bei uns an Sachbeschädigung anrichten willkürliche Sachbeschädigung, die überhaupt kein einziges Argument ersetzen und keinen einzigen Menschen überzeugen kann. Wenn ich einen Strommast absäge und es bleibt dabei ein Kind im Fahrstuhl irgendwo stecken, dann ist das abzulehnen, und deswegen können wir nicht darüber oberflächlich sprechen.
Es wurde so viel in dieser Fraktion über »Strommasten absägen« gesprochen und darüber debattiert - aber kein einziger hier hat überhaupt einen Strommast abgesägt. Wir sollten über das reden, was wir hier konkret selber an Gewaltfreiheit leisten. Und dann gibt es die anderen, die ständig das Bekenntnis abgeben zum Gewaltmonopol des Staates. Natürlich muß jede Gewalt abgebaut werden - die Gewalt des Staates, die Gewalt der Polizei und auch die terroristische Gewalt. Wir müssen klarmachen, daß wir den Staatsterrorismus und den individuellen Terrorismus klipp und klar ablehnen. Ich glaube, daß wir auch aussprechen müssen, daß die Gewalt, von Staaten und Regierungen praktiziert, sehr gesellschaftsfähig geworden ist. Wenn ich zum Beispiel an Libyen denke, an die Contras, an Afghanistan, an eben diese Formen von Gewalt, die ja Regierungen ausüben und die nicht so verurteilt werden, wie wir das hoffen. Wir können auch nicht ständig über das Gewaltmonopol des Staates reden, ohne selber wirksame und phantasievolle gewaltfreie Kampagnen mitzugestalten und sie auch selber mit einem persönlichen Risiko mitzutragen. Ich denke auch, daß man die Ursache und die Wirkung erkennen muß. Das heißt für mich, daß der Staat uns niemals die gewaltfreien Formen diktieren darf. Vor einigen Wochen war ich mit Gert Bastian in Guernica, im Baskenland. Ich war sehr erschrocken über die Art und Weise, wie Autonome mit schwarzen Bussen in Guernica aufgetreten sind: am 50. Jahrestag der Bombardierung von Guernica. Ihr wißt ja, was in den Zeitungen gestanden hat und was in Guernica passiert ist mit Molotowcocktails, mit Steinschleudern usw. Vor fünfzig Jahren haben Deutsche diese Stadt bombardiert, und fünfzig Jahre später kommen unter anderem auch deutsche Autonome mit Molotowcocktails und mit wahnsinnig viel Aggression. Auf dieser Reise ist mir von Basken, Basken in gewaltfreien Bewegungen, erzählt worden, wie einige Grüne aus der Regenbogen-Fraktion dort aufgetreten sind mit der Forderung, daß zum Beispiel die spanische Armee im Baskenland mit der ETA in Verhandlung treten soll. Das ist ungefähr so, als ob wir bitten, daß die Bundeswehr mit der RAF verhandeln sollte. Ich kann das einfach nicht akzeptieren, und ich denke, daß wir so eine Position ganz ehrlich und kritisch diskutieren sollten.
Die Grünen sollten mit aller Kraft gewaltfreie Strömungen und Parteien und Gruppierungen unterstützen, und man soll sehr wachsam sein, was in bezug auf die FTA oder in bezug auf die IRA geschieht. An einem Punkt, am Anfang dieser Bewegungen, hatten die ETA und die IRA historisch recht. Doch immer mehr wurden sie später zu einer kriminellen Vereinigung. Das, was die ETA im Baskenland an Gewalt ausübt, die Art und Weise, wie sie mit Menschen umgeht, die die ETA verlassen wollen, die Art und Weise, wie sie Rache übt, die Art und Weise, wie sie unschuldige Menschen in die Luft gehen läßt - das alles kann und will ich nicht akzeptieren, und deswegen werde ich auch sehr, sehr traurig, wenn ich höre, daß einige Grüne große Sympathien für solche Bewegungen haben und in einer unverantwortlichen Weise mit solchen Sympathien an die Öffentlichkeit treten. Unsere Glaubwürdigkeit als eine radikale gewaltfreie Partei ist dahin, wenn man anfängt, gewisse Gewalttaten und Gewaltakte hier und da für berechtigt zu halten, oder wenn man anfängt, die gewaltfreie Strategie in der Bundesrepublik nur für eine Taktik zu halten. Wir müssen die Gewalt, die von Regierungen ausgeht, ablehnen, aber auch die Gewalt ablehnen, die von denjenigen ausgeht, die sie aus Frustration, aus Verzweiflung oder aus Ohnmacht praktizieren. Genau die müssen wir erreichen, wir müssen sie überzeugen, daß unser Weg der bessere ist, der wirksamere. ich glaube, wir müssen auch Grundsätzliches über Gewalt sagen: Gewalt ist niemals auf Versöhnung ausgerichtet. Und Gewalt bedeutet immer Unterwerfung. Ich glaube auch, daß Gewalt immer nur neue Gewalt erzeugt. Als Thomas Ebermann Martin Luther King zitierte, hat mich das erinnert an die Zeit, in der ich in den Vereinigten Staaten gelebt habe - genau in diesen Südstaaten wie Georgia, Louisiana und Virginia. Ich habe die Bürgerrechtsbewegung selbst miterlebt und habe zum Teil bei diesen Demonstrationen auch mitgewirkt. Martin Luther King meinte immer und mit Recht, man müßte so vieles dramatisieren, man muß ein gewaltfreies Verhalten dramatisch und offensiv zeigen können, und genau das fehlt ja bei uns. Wir haben bis jetzt viel zuwenig getan - wir haben es nicht geschafft, grünes gewaltfreies Training dezentral überall zu initiieren und anzubieten, wir haben viel zuwenig mit gewaltfreien Kampagnen gearbeitet - immer wieder nur sporadisch und immer nur einige von uns. Martin Luther King hat gesagt: Man muß lange und auch sehr zäh verhandeln. Und er hat gesagt: lange und zäh verhandeln, bevor man eine Aktion dramatisiert. Ich glaube, daß viele von uns noch nicht gelernt haben, lange und zäh mit dem Gegner, mit dem Opponenten zu verhandeln.
Natürlich muß man Strafen in Kauf nehmen, man muß auch unvermeidliches Leiden bei der gewaltfreien Aktion in Kauf nehmen. Zum Tun gehört auch das Dulden, sagte er. Und er sagte auch, daß es niemals eine Unterdrückung der Unterdrücker geben darf. Ich glaube, es ist eine ganz gefährliche Ebene, wenn man versuchen will, diejenigen, die uns unterdrückt haben, später unterdrücken zu wollen. Oder an ihnen Rache zu üben. Martin Luther King sagte aber auch: Der Feind steckt in jedem von uns, und ich glaube, das ist sehr, sehr richtig. Und wenn man gewaltfrei handelt, so muß man auch alles tun, um die Menschenwürde des anderen nicht zu verletzen. Das hat auch vorher Roland Vogt versucht zu sagen.
Es ist immer wieder so schwierig mit anzuschauen, wie die Grünen als Partei und Fraktion die Gewaltfreiheit auf die große Fahne schreiben und sich dann selber so wenig in diese gewaltfreien Kampagnen einmischen, wie zum Beispiel Rüstungs-, Steuer-, beim Volkszählungsboykott und bei anderen solchen Aktionen. Mich ärgert deshalb auch, wenn zum Beispiel Antje Vollmer auf einer Friedensdemo in Bonn die Zuhörer zum Steuerstreik und Blockaden dramatisch auffordert, ohne selbst mit gutem Beispiel voranzugehen. In diesem Sommer habe ich versucht, durch den gewaltfreien Appell an die Anti-AKW-Bewegung deutlich zu machen, daß wir die Auseinandersetzung mit denjenigen, die Gewalt ausüben, sei es aus Frustration oder aus Ohnmacht, suchen müssen, daß wir aber zugleich klar und deutlich sagen müssen, daß sie nicht ein Teil dieser gewaltfreien Bewegung sein können, solange sie solche Gewalt ausüben. Ich war in Wackersdorf mehrmals und habe dort erlebt, wie Menschen, besonders zum Beispiel die Grauen Panther aus der Region Nürnberg Wackersdorf, als Pufferzone benutzt worden sind, als Pufferzone zwischen Polizeikräften und zwischen Autonomen. Dies ist einfach unmöglich. Und viele dieser älteren Menschen werden niemals mehr zu einer Demonstration gehen, weil sie einfach nicht die Möglichkeit haben, dort so zu demonstrieren, wie sie das vorhaben und vorhatten.
Auch an dieser Stelle müssen die Autonomen sehen, was sie alles zu verantworten haben, wenn sie so mit den Menschen, die versuchen, sie zu verstehen, umgehen. Deswegen auch gab es kritische Diskussionen mit Robert Jungk, auch von meiner Seite, als er damals unseren Appell unterschrieben und später seine Unterschrift wieder zurückgezogen hat, weil er meinte, daß dieser Appell zu stark abgrenzt. Vor dem Zurückziehen seiner Unterschrift konnte er - soviel ich weiß - nicht auf der Hanauer Demonstration sprechen, doch nach dem Zurückziehen der Unterschrift hat er dort gesprochen. Ich glaube auch sagen zu können, daß es einen starken Druck von seiten der Autonomen auf Robert Jungk gegeben hat, und ich bedauere das sehr. Wir müssen achtgeben, daß wir uns nicht opportunistisch verhalten, wegen des Drucks gewisser Gruppen. Wir müssen lernen, wie man sich gewaltfrei verhält, und wir müssen andere überzeugen, daß man eine ganze Reihe Handlungsmöglichkeiten hat, die eskalationsfähig sind und die anfangen beim Verbraucherboykott und bis zum Steuerstreik, bis zum Generalstreik, bis zum Wahlboykott, bis zum Produktionsstreik gehen.
Gandhi heute
Vortrag für die Gandhi-Stiftung, London (1988)
Das Problem ist nicht die Atombombe,
sondern das Herz des Menschen.
Albert Einstein
Ich empfinde es als eine große Ehre, daß man mich gebeten hat, diesen Festvortrag zu halten. Lassen Sie mich eingangs bemerken, daß wir uns nicht ohne weiteres als Gandhianer definieren sollten, wie einige Mitglieder der gewaltfreien Bewegung es tun. Es war Mahatma Gandhi selbst, der am 28. März 1936 (in »Harijan") erklärte, daß es so etwas wie einen »Gandhismus« nicht geben werde. Er wolle einfach von seinen vielen Experimenten mit der Wahrheit und davon berichten, daß sein Leben einzig und allein aus diesen Experimenten bestehe. Lassen Sie mich einige Sätze aus seiner Autobiographie zitieren: »Meine Experimente im politischen Bereich sind jetzt nicht nur in Indien, sondern bis zu einem gewissen Grad in der zivilisierten Welt bekannt. Für mich besitzen sie keinen großen Wert; dies gilt in noch höherem Maße für den Titel Mahatma', den sie mir eingetragen haben. Oft hat mich dieser Titel zutiefst geschmerzt, und ich kann mich nicht an einen einzigen Moment erinnern, wo er mir geschmeichelt hätte. Über meine Experimente im geistigen Bereich, die nur mir allein bekannt sind und aus denen ich das gewonnen habe, was ich an Kraft für meine politische Arbeit besitze, möchte ich allerdings gerne berichten. Wenn die Experimente wirklich geistiger Natur sind, gibt es keinen Grund für Selbstlob. Sie machen mich höchstens demütiger.« Vielleicht liegt es gerade an der Demut und an der Art und Weise, wie Gandhi nach der Wahrheit suchte, daß es für uns so schwer ist, uns als Gandhianer zu definieren. Vielleicht müssen wir zunächst unabhängig von unserem Tätigkeitsbereich oder unserem politischen Hintergrund lernen, demütig zu werden, wenn wir wirklich verstehen wollen, was Gandhi mit der Suche nach der »Wahrheitskraft« ("Satyagraha") meinte. Ich möchte mit Ihnen gemeinsam ein wenig darüber nachdenken, welche aktuelle Bedeutung Gandhi heute für uns hat, die wir mitten im Atomzeitalter und im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen leben und uns fast täglich neuen Umweltkatastrophen gegenübersehen. James W. Douglas erklärte einmal, die größte Macht der Atomwaffen bestehe darin, daß sie uns geistig töten können. »Atomwaffen haben so lange die Macht, unseren geistigen Tod zu bewirken, wie wir daran verzweifeln, ihre physische und politische Macht zu überwinden.« Ich habe deswegen meinem Vortrag als Leitwort einen sehr weisen Satz von Albert Einstein vorangestellt - »Das Problem ist nicht die Atombombe, sondern das Herz der Menschen«. Atomwaffen töten Menschen, lange bevor sie gezündet werden. Sie töten uns durch Strahlungsvergiftung, durch den gesamten Produktionszyklus vom Abbau von Uran in Australien bis zu den Waffentests im Pazifik, in der Wüste Nevada oder in der Sowjetunion. Wir alle wissen, daß kleine indianische Kinder beim Spielen in ihren Reservaten die radioaktiven Rückstände des Uranabbaus einatmen, die der Wind von den Abraumhalden herüberträgt. Wir alle wissen aus unserer Arbeit in der Friedensbewegung, daß der eigentliche Schaden, den Atomwaffen und andere Massenvernichtungswaffen anrichten, darin besteht, daß sie uns geistig töten. Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang von »seelischer Abstumpfung«. Ich bin sehr pessimistisch, was die Zukunft der Abrüstung betrifft, obwohl Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow im vergangenen Dezember den INF-Vertrag abgeschlossen haben. Einerseits hat es so etwas wie einen psychologischen Durchbruch gegeben, weil die Regierenden der beiden Supermächte Auge in Auge miteinander gesprochen und sogar eine Art Freundschaft angefangen haben. Das Raketenarsenal wird durch die Eliminierung der landgestützten Mittelstreckenraketen um etwa drei Prozent verringert - aber die nuklearen Sprengköpfe wurden dabei nicht mit wegverhandelt! Aufgrund einer Bestimmung im INFVertrag dürfen die nuklearen Sprengköpfe und die Raketenlenksysteme wiederverwendet werden. Die amerikanische Regierung erwägt bereits, die nuklearen Sprengköpfe der verschrotteten Mittelstreckenraketen auf neuen Kurzstreckensystemen einzusetzen, die in Europa disloziert werden sollen. Alle anderen Teile, aus denen eine Rakete besteht, werden abgesehen von den Sprengköpfen und den Lenksystemen - verbrannt, zerquetscht, plattgewalzt oder durch Sprengung zerstört. Viele von uns waren erleichtert, als wir von dem im Dezember 1987 geschlossenen INF-Vertrag erfuhren, aber viele von uns beurteilen die Lage jetzt wieder sehr pessimistisch, weil die gegenwärtigen Verteidigungsminister der NATO viele neue Arten von Atomwaffen prüfen. Nur einige Zahlen: Zu den möglichen neuen Waffen der NATO gehören seegestützte Marschflugkörper (die Vereinigten Staaten werden bis Mitte der 90er Jahre etwa 380 neue Marschflugkörper auf U-Booten dislozieren). Es gibt Pläne für neue luftgestützte Marschflugkörper, und es gibt Pläne für ein neues Nachfolgesystem für die vorhandenen 88 bodengestützten Lance-Kurzstreckenraketen. Die NATO hat bereits angepaßte Neutronensprengköpfe in Europa stationiert, ohne die europäischen Parlamente zu informieren. Es sollen noch mindestens vierhundert weitere Sprengköpfe dieser Art in den Vereinigten Staaten produziert werden, die für Europa bestimmt sind. Diese neuen Waffen können die Sowjetunion erreichen und sind durch kein Verhandlungsforum abgedeckt. Zu den potentiellen neuen sowjetischen Dislozierungen könnten neue U-Boot-gestützte Marschflugkörper gehören, die disloziert werden könnten, ohne daß damit ein Vertragsbruch begangen wird. Dann könnte der Bau weiterer sowjetischer U-Boote geplant werden, die für einen Landangriff mit Marschflugkörpern bestückt werden. Der neue Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte in Europa, General Galvin, beschrieb diese neuen Waffen, die die NATO anstrebt, als ein »neues atomares Arsenal von Kurzstreckenwaffen für Europa«. Und Unterstaatssekretär Fred lklé im amerikanischen Verteidigungsministerium erklärte, daß es sich bei diesen Waffen uni die wahrscheinlich bedeutendste militärische Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg handle. Sowohl der französische Verteidigungsminister als auch sein britischer Kollege erörtern bereits die Notwendigkeit, einen Ersatz für ihre Atombomben zu finden. In Aldermaston wird bereits an einem vollkommen neuartigen Sprengkopf für eine Abstandswaffe ("The Independent« vom 26. Januar 1988) gearbeitet. Angesichts der fortschreitenden Militarisierung der Erde, der Meere und des Weltraums sehen wir einem mühsamen Kampf entgegen. Aber auch im Bereich des Umweltschutzes werden wir hart kämpfen müssen. Ich möchte mich nun diesem Themenbereich zuwenden und die Zeit beschreiben, in der wir leben. Aldo Leopold erklärte einmal: »Wir mißbrauchen Land, weil wir es als eine Ware ansehen, die uns gehört. Wenn wir Land als eine Gemeinschaft verstehen, der wir angehören, so fangen wir vielleicht an, es mit Liebe und Achtung zu nutzen.« Wir Menschen haben unsere Umwelt beherrscht und ausgebeutet. Wir haben sie wie einen Fluß mit einem scheinbar nie versiegenden Vorrat an sauberem Wasser behandelt. Erst jetzt geht uns langsam auf, daß die Umwelt unseres Planeten Teil eines geschlossenen Systems ist und daß alles, was wir hinzufügen, bleibt. Der Ozonabbau, der saure Regen und die Klimaaufheizung, sie alle stehen mit vom Menschen verursachten Emissionen in die Atmosphäre in Zusammenhang. Daß sich die Lebensbedingungen auf unserem Planeten ändern, zeigt sich an der Häufigkeit von Krebserkrankungen und Leukämie, der Zerstörung unserer Wälder und Seen, dem Abschmelzen der Polarkappen, Unregelmäßigkeiten im Wetter und den sich daran anschließenden Überschwemmungen sowie dem Verlust von Küstenland. Wir müssen erkennen, daß wir bei bestimmten Stoffen keine Kompromisse eingehen dürfen. Dies gilt beispielsweise für Dioxin, Plutonium, Blei und viele andere krebserregende Stoffe. So etwas wie ein kleines bißchen Krebs, ein kleines bißchen Umweltzerstörung oder ein kleines bißchen Tod gibt es nicht. Ein großer Teil der uns bekannten Entwicklung beruht auf der schrecklichen Annahme, daß alles, was groß ist, auch schön ist. Riesige Staudämme, mehrspurige Autobahnen und gewaltige Rodungsprojekte haben fürchterliche Folgen gehabt und eine Kettenreaktion der Umweltzerstörung ausgelöst, zu der auch die Ausbreitung von Krankheiten, Überschwemmungen, Bodenerosion und Wasserverschmutzung gehören. Das Dilemma besteht darin, daß gerade das, was Entwicklung bewirkt - die Industrialisierung - die natürlichen Grundlagen der Entwicklung zerstört. Uns stellt sich ganz eindeutig nach wie vor die Frage, was für eine Art von Entwicklung und welche Art von Wirtschaftswachstum wir wollen. Wenn wir nicht bald lernen, einen lebenserhaltenden Planeten zu pflegen, anstatt ihn auszuplündern, wird es wirklich zu spät sein. Wir müssen global denken, aber lokal handeln! Unser Umweltverständnis und die Notwendigkeit, der Zerstörung der Umwelt Einhalt zu gebieten, müssen den Anstoß für eine gewaltfreie, grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft und der Wirtschaft in der ganzen Welt geben. Wir müssen demokratisch und gewaltfrei die gesamten Grundlagen, Strukturen und Antriebskräfte der Gesellschaft ändern - und das bedeutet zunächst einmal, daß wir uns selbst und unser Verhalten ändern müssen. Wir können unseren Warenkonsum so weit einschränken, daß wir lediglich unseren Teil an den Ressourcen der Welt beanspruchen, ohne anderen wegzunehmen, was ihnen gehört. Dies ist nur ein kleiner Aspekt der Gewaltfreiheit und die letzte Dimension der persönlichen Weigerung, mit korrupten Praktiken zusammenzuarbeiten. Ich glaube, daß sich denjenigen, die den Mut haben, diese Schritte zu tun, eine neue Lebensdimension auftun wird. Die eigentliche Gefahr und die möglichen Lösungen befinden sich nicht irgendwo »außerhalb«. Sie liegen beide in uns, und es bleibt uns eigentlich nur, für unser eigenes Verhalten in der Welt die Verantwortung zu übernehmen, denn das ist das einzige, worüber wir die volle Kontrolle haben. Diese Gedanken führen mich zu Mahatma Gandhi zurück.
Vor kurzem stieß ich auf einen Artikel von Frieda Berrigan, der Tochter von Philip Berrigan, in dem es um das Erwachsenwerden geht. Sie erzählt, wie sie sich die »Sieben sozialen Sünden« von Gandhi an die Wand heftete:
- Politik ohne Grundsätze
- Vergnügen ohne Gewissen
- Reichtum ohne Arbeit
- Wissen ohne Charakter
- Handel ohne Moral
- Wissenschaft ohne Menschlichkeit
- Religion ohne Opfer
Ich halte es für außerordentlich wichtig, daß wir anfangen, diese »Sieben sozialen Sünden« zu verstehen, und Wege finden, sie zu vermeiden. Für die Grünen sind Mahatma Gandhi und seine Grundsätze meines Erachtens eine sehr wichtige Quelle der Inspiration. Wir machen in unserer Politik immer noch viele Fehler und müssen lernen, als Partei selbstkritischer und bescheidener zu sein. In einem Bereich unseres politischen Tuns hat uns Gandhi ganz besonders inspiriert. Wir glauben, daß ein Lebensstil und Produktionsmethoden, die von einem unerschöpflichen Vorrat von Rohstoffen ausgehen und diese verschwenderisch einsetzen, auch das Motiv für die gewaltsame Aneignung der Rohstoffe anderer Länder sind. Ein verantwortungsvoller Einsatz von Rohstoffen als Teil eines ökologisch orientierten Lebensstils und einer ökologisch orientierten Wirtschaft verringert hingegen das Risiko, daß in unserem Namen gewalttätige Politik verfolgt wird. Eine ökologisch verantwortungsvolle Politik innerhalb der Gesellschaft bietet die Voraussetzung für den Abbau von Spannungen und fördert unsere Fähigkeit, Frieden in der Welt zu schaffen. Der Grundsatz der Achtung und Fürsorge für alles Lebendige, d. h. also der Schutz von Leben und Natur, bildet die Grundlage unserer umweltpolitischen Ziele und unserer Friedensziele. Da wir uns auf unserem Planeten Erde einer Krise der Zivilisation gegenübersehen, wird Gandhis Idee der Gewaltfreiheit wieder verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt. Gandhi entlehnte einen Teil seiner Gedanken von Emerson und Thoreau. So war es beispielsweise vor allem Mahatma Gandhi, der den Aufsatz Thoreaus über »Zivilen Ungehorsam« mit dem gewaltfreien Widerstand in Afrika und Indien in Verbindung brachte. Auch für Martin Luther King jun. war Mahatma Gandhi eine wichtige Quelle der Inspiration, und er zitierte seine Gedanken während der Bürgerrechtskampagnen in den 60er Jahren sehr häufig. Zu der Zeit studierte ich in den Vereinigten Staaten und konnte mir aus eigener Anschauung eine Vorstellung von der Stärke der Gewaltfreiheit und der schöpferischen Kraft dieses Grundsatzes in der Bürgerrechtsbewegung und in anderen Bewegungen machen. Lassen Sie mich auch Martin Luther King kurz zitieren, und zwar mit einem Satz aus seinem Buch »Stride toward Freedom": »Ich war in etwa zu dem Schluß gelangt, daß die Moralvorstellungen von Jesus nur für die Beziehung zwischen einzelnen Menschen gültig seien. Der Grundsatz Halte die andere Wange hin und Liebe deine Feinde' galt, wie ich meinte, nur dann, wenn ein einzelner Mensch sich in einem Konflikt mit einem anderen Menschen befand; wenn es sich um rassische Gruppen und Nationen handelte, schien ein realistischerer Ansatz erforderlich. Nachdem ich jedoch Gandhis Schriften gelesen hatte, erkannte ich, wie sehr ich mich geirrt hatte. Gandhi ist vielleicht der erste Mensch in der Geschichte, der die Liebesethik von Jesus über die Beziehungen zwischen Einzelpersonen hinaus in einer größeren Dimension zu einer mächtigen, wirksamen gesellschaftlichen Kraft gemacht hat.« Die geistige Dimension der Gewaltfreiheit, so wie Gandhi sie sah und lebte, ist mir außerordentlich wichtig. Gandhi war fest davon überzeugt, daß Männer und Frauen von Natur aus eher nicht gewalttätig sind. Seine Lehren bauten auf seinem Vertrauen in die natürliche Liebesfähigkeit des Menschen auf. Lassen Sie mich einige Gedanken Gandhis zur Gewaltfreiheit zitieren: »Die Demokratie kann nur durch Gewaltfreiheit gerettet werden, denn solange sie durch Gewalt erhalten wird, kann sie nicht für die Schwachen sorgen und sie schützen. Ich verstehe Demokratie so, daß der Schwächste die gleichen Chancen haben sollte wie der Stärkste. Dies kann allein durch Gewaltfreiheit erreicht werden...« Dies ist wahrscheinlich die größte Herausforderung - wie können wir Demokratie ohne Anwendung von Gewalt praktizieren? Damit stellt sich auch für die Grünen in der Bundesrepublik die Frage, wie wir die Gewalt reduzieren können, die im Namen des Staates ausgeübt wird, beispielsweise durch die Polizei. Diese Vorstellung von einer gewaltfreien Demokratie stellt auch die Grünen vor die Frage, wie wir mit der durch den Staat ausgeübten Gewalt umgehen sollen, wenn unsere Partei sich, beispielsweise in einer Koalition, an der Regierungsverantwortung beteiligt. Die Grünen haben eine solche Erfahrung bereits in der hessischen Landesregierung gemacht, wo wir den Umweltschutzminister stellten. Meiner Meinung nach haben wir nichts in einer Regierung zu suchen, in der wir uns an der Macht beteiligen und sie über andere ausüben, wenn wir versuchen wollen, die Ausübung staatlicher Gewalt immer gewaltfreier zu machen. Es kann nicht richtig sein, daß wir gewaltausübenden Kräften beitreten, wenn es uns in Wirklichkeit darum geht, sie zu verwandeln. Ich gehöre also zu denjenigen in der Partei der Grünen, die glauben, daß wir eine kreative, gewaltfreie, dezentralisierte und pazifistische Partei bzw. Bewegung in Opposition zur Regierung bleiben sollten, die nicht den Fehler begeht, nach der alten, traditionellen Macht zu greifen, wie die etablierten Parteien es tun. Es könnte ein Tag kommen, wo wir versuchen, unsere grüne Utopie in der Regierungsverantwortung in die Praxis umzusetzen, aber es würde sich dann um eine grundlegend umgestaltete und gewandelte Regierung handeln, die mit den heutigen Modellen nicht zu vergleichen sein wird. Wir werden viel Geduld und Ausdauer brauchen, wenn wir diesen Weg gehen wollen. Es gibt dazu einen sehr weisen Gedanken von Gandhi, der einmal gesagt hat: »Ich weiß, daß die Gewaltfreiheit scheinbar nur ungeheuer langsam vorankommt. Die Erfahrung lehrt mich jedoch, daß sie der sicherste Weg zu unserem gemeinsamen Ziel ist.« Und ein weiterer Gedanke: »Gewaltfreiheit kann man nicht predigen. Man muß sie praktizieren.« Ich möchte mit Ihnen über einige weitere Gedanken Gandhis sprechen, die mich dazu angeregt haben, weiter auf eine größere geistige, gewaltfreie Dimension innerhalb der Partei der Grünen zu drängen. Ich zitiere: »Jesus war der aktivste Widerstandskämpfer in der Geschichte, den wir vielleicht kennen. Dies war Gewaltfreiheit par excellence.« Es gibt aber auch eine Reihe von Zitaten und Gedanken Gandhis, die in der politischen Diskussion gelegentlich mißbraucht werden. Dazu gehört beispielsweise folgendes Zitat: »Wenn die Menschen für die Ausübung der Gewaltfreiheit durch die Tapferen noch nicht bereit sind, müssen sie zur Anwendung von Gewalt als Selbstverteidigung bereit sein. Es sollte keine Tarnung geben ... dies sollte nie heimlich geschehen.« Auch dieses Zitat wird gelegentlich mißbraucht: »Es ist besser, gewalttätig zu sein, wenn in unseren Herzen Gewalttätigkeit ist, als sich in den Mantel der Gewaltfreiheit einzuhüllen, um die eigene Ohnmacht zu überdecken. Gewalttätigkeit ist der Ohnmacht jederzeit vorzuziehen. Es besteht Hoffnung, daß ein gewalttätiger Mensch keine Gewalt mehr ausübt. Für den Ohnmächtigen besteht diese Hoffnung nicht.« Und Gandhi fügte hinzu: »Ich möchte, daß die Gewaltfreiheit der (vielen) Schwachen die Gewaltfreiheit der Tapferen wird. Es mag ein Traum sein, aber ich muß seine Verwirklichung anstreben.« Gelegentlich mißbrauchen militante »autonome Gruppen, die sich von der Praxis der Gewaltfreiheit entfernt haben, einige dieser Gedanken, um bei Demonstrationen ihr gewaltsames Vorgehen gegen die Polizei und bisweilen auch gegen Demonstranten zu rechtfertigen. Ich meine, daß wir uns in Gesprächen mit denjenigen auseinandersetzen müssen, die bei Demonstrationen Gewalt anwenden, um sie zu überzeugen, daß ihr Weg falsch ist. Absolut falsch! Sie werden hoffentlich irgendwann einmal einsehen, daß Gewalt Gewalt hervorbringt. Gewalt ist in einer Gesellschaft, die sich um Friedfertigkeit bemüht, keine Lösung. Eine Gesellschaft, die sich um den inneren Frieden bemüht, muß lernen, wie Gandhi schrieb, daß Gewaltfreiheit ohne Demut unmöglich ist. Gandhi spricht von einer gewaltfreien Lebensform - einer Art und Weise zu leben, bei der man sein Leben Ihm - Gott weiht. Gandhi erklärte, daß Wahrheit und Gewaltfreiheit nicht ohne einen lebendigen Glauben an Gott möglich sind, wobei unter Gott eine aus sich selbst heraus bestehende, allwissende, lebendige Kraft verstanden wird, die jeder in der Welt vorhandenen Kraft innewohnt und von nichts abhängig ist, eine Kraft, die weiter bestehen wird, wenn alle anderen Kräfte möglicherweise vergehen oder zu handeln aufhören. Der Gedanke Gandhis, der in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Atomzeitalter steht, ist folgender: »In unserem Zeitalter der Atombombe ist reine Gewaltfreiheit die einzige Kraft, die alle Tricks der Gewalt zusammengenommen durcheinander bringen kann.«
Gandhi ging es nie um eine taktische, auf einen bestimmten Lebensbereich oder eine einzelne Bewegung beschränkte Gewaltfreiheit. Bei seiner Gewaltfreiheit handelt es sich um eine Grundhaltung, die alle Lebensbereiche in einem konsequenten und durchgängigen Netz von Verpflichtungen umfaßt. So kann man sich beispielsweise nicht im zwischenmenschlichen Bereich gewalttätig verhalten und dabei gleichzeitig im Hinblick auf den Wehrdienst und den Krieg für Gewaltfreiheit eintreten. Außerdem müssen Mittel und Ziele aufeinander abgestimmt sein. Ein gerechtes Ziel läßt sich nicht mit ungerechten Mitteln erreichen. Echte Gewaltfreiheit bedeutet nicht nur Nichtzusammenarbeit mit offenkundigen Unterdrückern, sondern verlangt auch den Verzicht auf Vorteile und Privilegien, die implizit von Kräften gewährt werden, die das Gewissen nicht akzeptieren kann. Wir haben in meiner Partei häufig bittere Diskussionen darüber geführt, ob es sich bei der Gewaltfreiheit um etwas Taktisches oder um eine Lebenshaltung handelt. Wenn nicht die gesamte Partei der Grünen davon überzeugt ist, daß Gewaltfreiheit auch eine Lebenshaltung ist, werden wir unsere Glaubwürdigkeit verlieren. Zu den Gruppen, die beispielhaft in der Tradition Gandhis leben, gehört beispielsweise in den Vereinigten Staaten die Bewegung »Schwerter zu Pflugscharen", die aus engagierten katholischen Aktivisten besteht. Die Mitglieder dieser Bewegung, wie beispielsweise Philip und Daniel Berrigan, Schwester Anne Montgomery und viele andere, wenden sich gegen das Unrecht, indem sie in Rüstungsfabriken symbolische Akte des zivilen Ungehorsams veranstalten. Gewaltfreier Widerstand dieser Art kann, wie Schwester Montgomery berichtet, im buchstäblichen Sinn des Wortes »entwaffnen«. Bei der Planung ihrer Aktionen experimentiert die Gruppe »Schwerter zu Pflugscharen« mit der Wahrheit. In unserer Zeit lautet die Wahrheit, daß wir uns einer Krise von einem Ausmaß gegenübersehen, wie es sie in der Geschichte bis jetzt nicht gegeben hat: Der Menschheit und auch unserer Erde selbst droht die Zerstörung. Schwester Anne Montgomery schreibt in diesem Zusammenhang: »Wir handeln als Gemeinschaft; wir handeln aus Liebe; wir handeln aus einem Gefühl der Hoffnung heraus. Wir halten unbedingt an der Wahrheit fest, daß alles Leben heilig ist, daß alles Töten falsch ist und daß der geistige Tod schlimmer ist als der Tod unserer Körper. » Die Gruppe »Schwerter zu Pflugscharen« hat durch symbolische, gewaltfreie Aktionen in Rüstungsfabriken Waffen demontiert. Aktionen dieser Art sind gelegentlich als gewalttätig bezeichnet worden, weil sie »Eigentum« zerstören. Ein großer Teil der Gewalt in unserer Gesellschaft rührt von der Vergötterung des Eigentums her, von dem zwanghaften Trieb, Besitztümer zu schützen, Bomben und Waffenarsenale zu schützen. Eigentum im eigentlichen Sinne des Wortes ist allein Eigentum, das das menschliche Leben fördert und nicht ärmer macht. Ein Trident-U-Boot ist nach Auffassung dieser Gruppe in diesem Sinne weder Eigentum noch lebensfördernd. Sowohl das göttliche Recht als auch das Völkerrecht erklären, daß Waffen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen und daß wir Mittel und Wege finden müssen, gegen sie anzugehen. Symbolische Aktionen der Gewaltfreiheit, wie sie diese Gruppe veranstaltet, können auf sehr wirksame Weise deutlich machen, daß wir aus einem höheren Gehorsam heraus handeln, daß wir einem höheren Gesetz gehorchen. Philip Berrigan und seine Frau Liz haben wegen ihrer gewaltfreien Aktionen häufig im Gefängnis gesessen. Phil schätzt, daß er und seine Frau in den fünfzehn Jahren ihrer Ehe sechs Jahre voneinander getrennt gelebt haben. Er erklärte mir: »Wir möchten nicht als Helden angesehen werden. Die Opfer, die die Menschen jeden Tag für den Krieg bringen, sind wesentlich größer als das, was wir getan haben.« Patrick O'Neill erklärt in einem Buch, in dem er die Brüder Berrigan beschreibt: »Seit Tausenden von Jahren sind Männer und Frauen bereit, in Kriegszeiten das höchste Opfer zu bringen - sie sind bereit, ihr eigenes Leben hinzugeben und andere zu töten. Ich glaube wirklich, daß viele Friedensstifter dazu bereit sein werden müssen, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, wenn sich die Gewaltfreiheit durchsetzen soll.« Für viele Mitglieder der Friedensbewegung ist die »Jonah House Community« in Baltimore, die 1973 von Phil Berrigan und Liz McAlister eröffnet wurde, eine Inspiration. Zu den praktischen und theoretischen Grundsätzen dieser Gemeinschaft gehören unter anderem folgende Prinzipien: Gewaltfreiheit, Gemeinschaft und Widerstand sind konvertibel; allein die Kontemplation - Gebet, Meditation, Reflexion und Analyse verleiht dem Widerstand Kraft und eine geistige Grundlage. Zu den Grundsätzen des Jonah House« gehört auch, daß alles allen gemeinsam gehört - es gibt für alle nur ein Bankkonto und nur ein gemeinsames Fahrzeug, und es gibt auch keine persönliche Versicherung - damit auf diese Weise den Armen und auch der Erde größere Gerechtigkeit widerfährt. Heute gibt es überall auf der Welt Menschen und Gemeinschaften, die nach den Idealen Gandhis zu leben versuchen. Dies gilt beispielsweise für Cesar Chavez und die »Hug the Trees"-Bewegung, deren Mitglieder physischen Widerstand gegen die extreme Abholzung der Wälder im Himalaja leisten. Eine wichtige Quelle der Inspiration für Gandhi war die Bergpredigt. Ebenfalls wichtig für ihn waren die Werke von Thoreau, Ruskin und Tolstoi. In der Art und Weise, wie Gandhi alle diese Gedanken im sozialen und politischen Bereich anwandte, liegt sein ganz persönlicher, eigenständiger Beitrag. Gandhi hat wesentlich weitergehende Formen des zivilen Ungehorsams, der Nichtzusammenarbeit und des Fastens entwickelt als jeder andere vor ihm und daraus ein gezieltes politisches Instrumentarium gemacht. Gandhi sorgte nicht nur für die politische Wirksamkeit dieses Vorgehens, sondern stellte außerdem sicher, daß es in höchstem Maße gewaltfrei war. Dem Gegner sollte nicht der geringste körperliche oder geistige Schaden zugefügt werden. Körperlicher Zwang war ausgeschlossen. Selbst auf jede Geheimhaltung wurde verzichtet - der Gegner wurde über alle geplanten Maßnahmen unterrichtet. Zu den wesentlichen Bestandteilen der gandhischen Philosophie gehört die Bereitschaft, Leiden zu akzeptieren. Mit diesem Opfer soll das Gewissen des Gegners angerührt werden und schließlich ein Sinneswandel bewirkt werden. Gandhi erklärte dazu: »Ich glaube nicht an die Lehre von dem größten Glück der größten Zahl. Die einzig wahre, würdige und menschliche Lehre ist das größte Glück für alle.«
Wie Gandhi es sah, bestand seine wichtigste politische Arbeit weniger in dem Kampf, in den er verwickelt war, sondern in seinen Bemühungen um eine grundlegende Umgestaltung der indischen Gesellschaft. Abgesehen von seinem politischen Kampf um die Unabhängigkeit Indiens, ließ Gandhi Tausende von Menschen an einem umfassenden »Konstruktiven Programm« mitarbeiten. Mit Hilfe dieses Programms sollten die tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten zwischen Hindus und Moslems beseitigt und die Unterdrückung der Unberührbaren beendet werden. Er wollte rückständige gesellschaftliche Bräuche bekämpfen, wie beispielsweise die Kinderheirat, und die Hygiene sollte verbessert werden. Er bemühte sich darum, die Anbaumethoden in den Dörfern zu verbessern und das Handwerk in den Dörfern neu zu beleben. Er hielt es für ausgeschlossen, daß man eine gesunde Gesellschaft auf der Grundlage von Städten und Fabriken aufbauen könne.
Eine industrielle Volkswirtschaft stehle den Menschen die Arbeit, wie Gandhi meinte, und gebe sie den Maschinen, wobei die Menschen, die zur Beaufsichtigung der Maschinen eingesetzt würden, ihrer menschlichen Würde beraubt würden. Die Gesellschaft würde dadurch in sich feindlich gegenüberstehende Lager von Besitzenden und Arbeitern gespalten. Gandhi war außerdem der Meinung, daß alle Regierungen, seien sie kommunistisch, sozialistisch oder kapitalistisch, die persönliche Freiheit immer mehr einschränkten. Gandhi erklärte immer wieder, daß Indien nur gesunden könne, wenn es seine Dörfer wieder mit Leben erfülle, in denen - auch heute noch - vier Fünftel der Bevölkerung leben. Er stellte sich eine aus starken Dörfern bestehende Gesellschaft vor, wobei die einzelnen Dörfer politisch eigenständig und wirtschaftlich autark sein sollten. Gandhi ist vielleicht der größte Verfechter des Dezentralismus. E. F. Schuhmacher, der bekannteste dezentralistische Denker der letzten Jahre, hat Gandhi zu Recht »den wichtigsten Lehrer der Ökonomie unserer Zeit« genannt. Eine Gesellschaft der Wohlfahrt für alle - darum ging es Gandhi bei seinem »Konstruktiven Programm«. Mit weniger wollte er sich nicht zufriedengeben. Eine der wichtigsten Ideen Gandhis für unsere Arbeit in der Partei der Grünen sind seine Vorstellungen von einem gewaltfreien, zivilen Widerstand, bei dem gewaltfreie Methoden der Nichtzusammenarbeit eingesetzt werden, um beispielsweise Widerstand gegen den Einmarsch fremder Truppen oder einen Staatsstreich im Innern zu leisten. Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, aus denen wir Hoffnung schöpfen können.
So hat beispielsweise Neuseeland eine konsequent antiatomare Haltung entwickelt, und Friedensschiffe haben verhindert, daß mit Atomwaffen bewaffnete Kriegsschiffe und U-Boote in neuseeländische Häfen einfuhren. Ich denke dabei auch an Lech Walesa und die polnische »Solidarnosc"-Bewegung, die kurz vor der offiziellen Anerkennung steht; ich denke an die Einwohner Norwegens, die den Bau eines Staudamms blockiert haben, der ihre Heimat überflutet hätte. Ich denke auch an die amerikanischen Indianer, die Lager in den Black Hills von South Dakota errichten - auf Grund und Boden, der ihren Vorfahren von der amerikanischen Regierung widerrechtlich weggenommen wurde. Und ich denke an ein Friedenszentrum in Jerusalem, das sich für die Versöhnung von Juden und Arabern einsetzt und dabei gewaltfreies Handeln als Alternative zur Gewalt propagiert. Es werden also immer weitere Kreise gezogen, und immer mehr Leute sind bereit, die Botschaft der Gewaltfreiheit zuhören. In Gandhis Leben gibt es selbstverständlich auch einige Bereiche, zu denen ich einige Fragen habe. Dies gilt beispielsweise - und ich erwähne dies hier in aller Offenheit und Ehrlichkeit für das Experiment, mit dem er sich in fortgeschrittenem Alter befaßte, um herauszufinden, ob er in der Ehe weiterhin das Zölibat verwirklichen könne. Wir müssen uns in diesem Zusammenhang klarmachen, daß Gandhi sich konsequent eine Reihe von persönlichen Härten auferlegte, uni auf diesem Wege zu einer Disziplin und Selbstbeherrschung zu gelangen, wie es sie bei den Menschen seiner Zeit nur selten gab und die auch heute nur ganz selten anzutreffen sind. Und wir müssen uns außerdem darüber im klaren sein, daß kein Mensch auf dieser Welt vollkommen ist oder zu einem vollkommenen Wesen gemacht werden kann. Am wichtigsten bei Gandhi ist, daß er eine totale Revolution und Transformation predigte und zu leben versuchte und daß seine Vorstellung von Wandel ihn dazu führte, seine Experimente mit der Wahrheit auf jeden Bereich des Daseins auszudehnen. Selbst in diesem Punkt müssen wir versuchen, Gandhi und die harten Maßnahmen, die er sich selbst auferlegte, zu verstehen, obwohl sie uns vielleicht erstaunen. Lassen Sie mich mit einer Anekdote schließen:
Wie uns seine Großnichte berichtet, sagte ihr Gandhi am Vorabend seines Todes, daß sie, falls er an einer Krankheit stürbe, der ganzen Welt erzählen solle, daß er ein falscher Mahatma gewesen sei. »Falls aber eine Explosion stattfinden sollte, wie es letzte Woche geschah, oder falls jemand auf mich schießen sollte und seine Kugel in meine bloße Brust eindringen sollte, ohne daß ich einen Seufzer ausstoße und Ramas Namen auf meinen Lippen trage, dann erst sollst du sagen, daß ich ein wirklicher Mahatma war.« Am darauffolgenden Tag, dem 30. Januar 1948, wurde Gandhi auf dem Weg zu seiner Gebetsversammlung von einem hinduistischen Glaubensbruder erschossen und rief sterbend den Namen Ramas aus. Gandhi starb ohne Zorn und ohne Furcht, genau wie er es gelehrt hatte.
(Rückübersetzung aus dem Englischen)
Wir lassen uns nicht abschrecken!
Erklärung vor dem Landgericht Mainz (1988)
- Am 21. November 1986 saß ich, zusammen mit Gert Bastian und anderen Friedensfreundinnen und -freunden, vor der Zu und Ausfahrt zur Baustelle »Pydna« in Hasselbach/Hunsrück das heißt vor dem für US-Marschflugkörper damals vorgesehenen Stationierungsgelände, worin neue und größere Hiroshimas und Nagasakis vorbereitet werden sollten. Wir behinderten einige Minuten die weiteren Vorbereitungen dieser Baustelle. Heute, nach der Unterzeichnung des INF-Abkommens zwischen Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow in Washington D. C. (8. Dezember 1987) - genau das Abkommen, welches sicherstellt, daß alle landgestützten Mittelstreckenraketen aus Europa verschwinden - stehe ich wegen diesem gewaltfreien, symbolischen Protest gegen die Mittelstreckenraketen hier in Mainz vor Gericht. Unsere Absicht wird »verwerflich« genannt. Unser gewaltfreies und gewaltloses Sitzen wird aufgrund einer Sprachmanipulation (die auch in der an Verdrehungen nicht armen deutschen Rechtsgeschichte einmalig ist) »Gewalt« genannt. Was aber bedeutet »verwerflich« im natürlichen Wortsinn? »Verwerflich« bedeutet: »moralisch mißbilligenswert", bedeutet »amoralisch", bedeutet »sozialethisch zu verwerfen«. Wir haben zusammen mit anderen Demonstranten, bei strömendem Regen singend und zum Teil mit der Polizei diskutierend, uns vor ein Zufahrtstor gesetzt und haben uns dann einige Minuten danach ohne jeglichen Widerstand zur Seite tragen lassen. Das Ganze aber heißt in der deutschen Rechtssprache: »Die Staatsanwaltschaft legt Ihnen zur Last, am 21. November 1986 in Hasselbach gemeinschaftlich handelnd andere rechtswidrig mit Gewalt zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung genötigt zu haben.« Unser gewaltfreier Protest vor der NATO Baustelle zur Stationierung der Marschflugkörper fand statt anläßlich des dritten Jahrestages des Stationierungsbeschlusses im Deutschen Bundestag. Ich habe an dieser symbolischen, gewaltfreien Aktion im Hunsrück am 21. November 1986 mitgewirkt, weil ich seit vielen Jahren im außerparlamentarischen Bereich wie auch seit 1983 im parlamentarischen Bereich durch mein Bundestagsmandat, zusammen mit meinen Freunden und Freundinnen, versuche, über Militarismus und über die Vorherrschaft militärischen Denkens aufklären zu helfen. Seit 1970 habe ich mich in der amerikanischen und in der europäischen Friedens- und Anti-Atom-Bewegung engagiert - mit all den mir zur Verfügung stehenden Kräften - inspiriert durch das Leben und dann durch das Sterben meiner an Krebs erkrankten Schwester Grace, die im Alter von zehneinhalb Jahren 1970 gestorben ist. Oft, sehr oft hatte ich mir die Frage gestellt, warum gerade sie so jung an Krebs sterben mußte. War der Grund etwa bei den ständig defekten Atomkraftwerken zu finden, in deren Nähe wir gemeinsam in Virginia, USA, gewohnt hatten? Oder hatte diese Krebserkrankung etwas mit dem Aufenthalt ihres Vaters (mein Stiefvater) in Hiroshima zu tun, als er sich damals - einige Wochen nach der Explosion der Atombombe als junger US-Soldat dort aufgehalten hatte? Ich habe mir 1970 zur Aufgabe gestellt, alles zu tun, um über militärische wie auch zivile Quellen der Atomenergie gewaltfrei aufzuklären, darüber Informationen zu verbreiten und, wenn auch noch so bescheiden, bei gewaltfreien Aktionen gegen Militarismus und gegen Atom mitzuwirken. Gert Bastian und ich haben dies aber nicht nur gegen die Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenraketen in Europa getan - wir haben auch gemeinsam mit Freundinnen und Freunden in der DDR auf dem Alexanderplatz gegen weitere Aufrüstung und für Menschenrechte demonstriert wie auch zusammen in Moskau in der Nähe des Roten Platzes im Herbst 1983 auch als ein öffentliches Zeichen unserer Ablehnung der SS-20-Raketen und weiterer Aufrüstung in der Sowjetunion und in Osteuropa. Merkwürdig, wie im Westen solche Symbolaktionen, die dort gegen das »Gesetz« verstoßen, gelobt und gewürdigt werden (wie auch umgekehrt), aber im eigenen Lande als »verwerflich« und als »Nötigung« gelten. Wie meine Freundin Dorothee Sölle vor dem Amtsgericht in Schwäbisch Gmünd am 24. April 1986 sagte: »Wir hier, in demokratischen Gesellschaften, dürfen Tolstoi, Mahatma Gandhi oder Jesus (oder auch Martin Luther King) lesen - und das ist gut so", doch müssen wir auch darüber reden, was es heißt, die Gedanken von Tolstoi und Gandhi und King anzuwenden, »diese Gedanken leben zu dürfen«. Doch nach bundesrepublikanischer Rechtsprechung haben diese Menschen alle »verwerflich« gehandelt! Das Rechtswesen in unserem Lande muß sich die Frage stellen, ob gewaltfreie Aktionen vor den Toren der diversen Militärgelände, in denen Massenvernichtungswaffen stationiert sind, strafwürdig sind. Und es muß darüber diskutiert werden, ehrlich und Offen, ob symbolische Sitzblockaden als »Gewalt« zu definieren sind. Ist es Nötigung zu versuchen, durch symbolische Aktionen die öffentliche Diskussion um eine Entwicklung zu fördern, die in unser Leben eingreift - die fast irreversibel ist und die dazu führt, daß 40000 Kinder pro Tag sterben müssen? Die vielen, vielen Menschen in allen Teilen der Welt, die bei gewaltfreien Aktionen gegen Massenvernichtungswaffen teilgenommen haben in den Jahren seit 1979 (aber auch in den Jahren davor), waren ihrer Zeit voraus. Den Abschluß des INF-Abrüstungsabkommens vom 8. Dezember 1987 hat die unabhängige Friedensbewegung mit ermöglicht! Erfüllen die gewaltfreien Aktionen der Friedensbewegung den Tatbestand der Nötigung? Ist das, was wir an Aufklärung und an gewaltfreien Aktionen versucht haben, »Gewalt« und - in deutscher Rechtssprache »verwerfliches« Verhalten? Die Raketenstationierung in Ostwie auch in Westeuropa ist eine Frage, die die gesamte Gesellschaft existentiell berührt und berührt hat. Genau an dieser Stelle möchte ich an die Blockaden von Lastwagenfahrern an diversen Grenzen, auch bei uns, erinnern, die zu weit stärkeren Behinderungen geführt haben als all die gewaltfreien Sitzblockaden der Friedensbewegung zusammengenommen, ohne daß in den meisten Fällen (oder vielleicht in allen Fällen) strafrechtliche Schritte eingeleitet wurden. Und ich erinnere an die berechtigten Proteste der Stahlarbeiter vor kurzem im Ruhrgebiet, als ganze Verkehrskreuzungen lahmgelegt worden sind. Auch dies waren gewaltfreie Aktionen im Rahmen der Strategie der Gewerkschaftsbewegung, und sie wurden nicht verfolgt, weil »es hier um die Arbeitsplätze von 50 000 Menschen geht« (Innenminister Schnoor). Wenn wir uns diese Argumentation zu eigen machen, so ging und geht es bei den gewaltfreien Aktionen der Friedensbewegung in Europa um das Überleben von Millionen Menschen. Doch dies wird mit Strafen, mit Gerichtsverhandlungen, mit Verurteilungen »honoriert"! Was ist denn eigentlich geschehen: Zwei- und drei- und fünfminütige Blockaden sind strafbar, mehrstündige Blockaden an Grenzen und bei Kreuzungen nicht? Und manchmal auch umgekehrt? Was der eine Richter für verwerflich hält, betrachten wieder andere Richter in der Bundesrepublik als lobenswert. Und das Bundesverfassungsgericht zeigte sich mehrmals gespalten in seiner historischen 4:4-Entscheidung.
- Die allererste Konsequenz im deutschen Rechtswesen nach diesem Abrüstungsabkommen vom 8. Dezember 1987 müßte eine Amnestie für alle gewaltfreien, friedlichen Menschen in der Friedensbewegung sein, die angeklagt und verurteilt worden sind. Ich meine, daß die Wirklichkeit auf den Kopf gestellt worden ist. Die Massenvernichtungswaffen, die Millionen Menschen auf der Erde bedrohen, werden als »nicht verwerflich« und als friedlich betrachtet, und die vielen Menschen, die sich an friedlichen Demonstrationen vor Raketenbasen beteiligt haben, gelten als gewalttätig. Die Wahrheit über das, was uns bis jetzt bedroht hat und weiterhin bedroht und was andere, zum Beispiel in der Dritten Welt, schon heute umbringt (durch absolut wahnsinnige Rüstungshaushalte und europäischen Rüstungsexport), muß doch in einem solchen Prozeß ausgesprochen werden! Man kann doch nicht einfach die Gründe des Handelns von gewaltfreien Mitgliedern der Friedensbewegung ignorieren und uns von unserer Motivation abtrennen. Rechtsprechung hat doch etwas, oder hat sie denn nicht alles mit der Wahrheitsfindung zu tun? Viele unserer Freunde und Freundinnen fragen mit Recht, warum das eigentliche Verbrechen, die militärische und atomare Aufrüstung, das Abschreckungsdenken und die Abschreckungsphilosophie, die - wenn praktiziert - die totale Zerstörung des Lebens mit einkalkuliert, nicht hier auch zur Debatte steht? Als jemand, der hier in der Bundesrepublik geboren ist und viele Jahre in den Vereinigten Staaten verbracht hat (zur Zeit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung mit Martin Luther King und der Anti-Kriegs-Bewegung), weiß ich, wie unbekannt in unserem Land hier in der Bundesrepublik, die großen Traditionen gewaltfreien Handelns eigentlich sind. Jeder, der sich mit solch einem Blockadeprozeß befaßt, müßte zum Beispiel etwas über die Bürgerrechtsbewegung von Martin Luther King wissen oder über die Situation einer schwarzen Frau namens Rosa Parks! Und er müßte verstehen, daß jede Demokratie, auch wenn sie noch so gut ist, verbesserungswürdig ist und ihre Bürger/innen zum g,ewaltfreien Protest auch ermutigt werden sollten! Wir alle wissen doch, wie die Bürgerrechtsbewegung in Amerika gegen Demütigungen und gegen Benachteiligungen und Diskriminierung der Schwarzen gekämpft hat, sehr häuf mit legalen Mitteln, doch auch mit gewaltfreien Aktionen und mit zivilem Ungehorsam. Aktionen des zivilen Ungehorsams und der gewaltfreien Aktion sind für mich Bestandteil einer wirklich demokratischen Gesellschaft. Ich erinnere dabei an den Amerikaner Henry David Thoreau.
- Thoreau forderte den freien Menschen zum zivilen Ungehorsam und zur gewaltfreien Aktion auf, anstatt Unrecht zu dulden. Es ging Thoreau dabei auch um die Würde des Menschen, die eben auch nach unserem Grundgesetz unantastbar ist! Und genau um diese Würde des Menschen geht es auch in der Frage der Kriegsvorbereitung, die an vielen Stellen stattfindet. Thoreau meinte, daß eine demokratische Regierung nicht nur dem formalen Recht verpflichtet ist, sondern auch der Gerechtigkeit und dem Auftrag, Frieden zu schaffen. Wir wissen auch, wie schnell es dazu kommt, Gewalt anzuwenden - sei es in den zwischenstaatlichen oder in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Und unsere Sicherheitspolitik wird auch über die Ideologie der Gewalt, über die angedrohte, gegenseitige Vernichtung über Abschreckungsdenken definiert. Allzu schnell werden bei jedem regionalen Konflikt auf der Welt, bei jeder politischen und militärischen Krise das Unterdrücken und jagen und Vergewaltigen von Menschen, ja das buchstäbliche Töten, der Massenmord in Kauf genommen, und am Ende dieser Konflikte schließt man angeblich wieder Frieden und vergißt dabei die Massengräber, die die Erde bedecken. Die Regierungen und die Militärs an der Spitze kümmern sich wenig um »nicht-militärische« Formen der Verteidigung, kümmern sich so gut wie nicht um die Möglichkeiten und Potentiale der sozialen und zivilen Verteidigung und haben es der Friedensbewegung überlassen, Auswege aus dem irrsinnigen Abschreckungsdenken zu finden. Wir in der unabhängigen Friedensbewegung wollen uns eben nicht diesem Denken der Gewalt und diesem Denken der Abschreckung unterwerfen. Das gewaltfreie Handeln ist für uns ein Akt der persönlichen Freiheit, der Freiheit, endlich den Kreislauf der Gewalt zu unterbrechen. Und gewaltfrei Handeln heißt, daß Menschen nicht bedroht und nicht verletzt werden dürfen. Durch gewaltfreies Handeln haben wir hier in der Friedensbewegung immer wieder versucht, mit den Soldaten und Soldatinnen der Raketenbasen zu sprechen, mit ihnen über den Zaun hinweg in einen Dialog Zu kommen; wir haben versucht, mit Polizisten - wie im November 1986 im Hunsrück - zu sprechen, denn auch viele dieser Polizisten, die ich im Hunsrück kennengelernt habe, waren überzeugt, daß es nur einen gewaltfreien Weg geben kann und brachten dies auch im Gespräch mit mir zum Ausdruck. Ich erinnere mich sehr wohl an die Diskussionen, die ich mit Polizisten im strömenden Regen am 21. November 1986 vor der NATO-Baustelle »Pydna« geführt habe es waren gute Gespräche, in denen zum Ausdruck kam, daß viele Verständnis für unser Engagement hatten.
- Wir in der Friedensbewegung halten Bekehrung, halten Rückkehr zu einer lebensbejahenden Politik für möglich, und deswegen hoffen wir auch weiter. Wir hoffen und wir handeln zugleich. Viele unserer Analysen und Prognosen waren und sind richtig, und viele unserer Gedanken wurden übernommen, zum Beispiel in dem Pastoralen Brief der amerikanischen und irischen Bischofskonferenz. Es sind gerade die mutigen irischen wie auch amerikanischen Bischöfe, die auf gewaltfreies Handeln, auf gewaltfreies Agieren im Atomzeitalter setzen und die uns ermutigen, weiterhin mit gewaltfreien Aktionen unsere Friedensarbeit fortzusetzen. Unser Abrüstungswille (vorhanden in der unabhängigen westeuropäischen und amerikanischen Friedensbewegung, wie auch vorhanden in den vielen unabhängigen Friedens- und Menschenrechtsgruppen in Osteuropa, aber auch vorhanden in dem »Neuen Denken« von Generalsekretär Gorbatschow) hat viele angesteckt, die vor Jahren von unseren Argumenten nicht überzeugt waren. Und so wurde ein Abrüstungsabkommen am 8. Dezember endlich für uns alle Wirklichkeit. Doch dieses Abkommen ist eigentlich nur der bescheidene Anfang, denn dieses Abkommen beinhaltet nur eine dreiprozentige Abrüstung von insgesamt 50000 bis 60000 atomaren Waffen auf beiden Seiten. Und wir dürfen nicht vergessen, daß die atomaren Sprengköpfe sowie die »guidance mechanism« nicht abgerüstet werden. Sie werden alle wiederverwendet und kommen nach Europa zurück, auf neue atomare Waffensysteme! Gewaltige atomare, chemische und konventionelle Waffenarsenale stehen in Europa weiterhin einander gegenüber. Wir können kein Sicherheitssystem akzeptieren, das in irgendeiner Weise die Bereitschaft zur Vernichtung von Menschen einschließt, das die Bereitschaft zur Selbstvernichtung einschließt, um einen denkbaren Gegner von einem Angriff abzuhalten. Selber zum Massenmörder zu werden, um angeblich anderes Böses zu verhindern - das kann doch keine Antwort sein! 1979/80 hatte die sozialliberale Bundesregierung in Abstimmung mit der NATO Hasselbach/Wüschheim als Stationierungsbereich für amerikanische Marschflugkörper festgelegt. Im Hunsrück wurde schon einmal sogenannte Raketengeschichte gemacht. Mehr als 10 000 V1 und V2 Raketen wurden 1943 bis 1945 vom Hunsrück nach Belgien und London abgefeuert. Der Hunsrück war schon lange vor den Marschflugkörpern eine Militärregion. Der Hunsrück war und ist eines der großen Heerlager. Ich möchte meine Erklärung vor diesem Landgericht in Mainz mit einem Zitat aus einer Bürgerinformation des ehemaligen Bundesministers der Verteidigung, Dr. Manfred Wörner, beenden. In dieser Broschüre mit dem Namen »Marschflugkörper im Hunsrück« wird u. a. über die Rolle von Nuklearwaffen folgendes gesagt: »Nukleare Waffen haben daher vorrangig einen politischen Zweck - nämlich durch Abschreckung im Frieden einen Krieg zu verhindern und« - ich zitiere - »wenn dies nicht gelingt, einen militärischen Konflikt durch Androhung oder einen politisch kontrollierten, eng begrenzten Einsatz möglichst schnell zu beenden.« Diesem Zitat wird dann auch hinzugefügt: »Die politische Kontrolle eines Einsatzes nuklearer Waffen ist stets gewährleistet.« Was Sie soeben gehört haben, bekannte öffentlich ein Verteidigungsminister der Bundesrepublik in einer amtlichen Informationsschrift, er halte die Anwendung der Marschflugkörper mit atomarem Sprengkopf (zehnmal Hiroshima) für geboten, um das schnelle Kriegsende herbeizuführen, durch einen politisch kontrollierten, eng begrenzten Einsatz. Dieser ehemalige christdemokratische Minister ist nach wie vor in Amt und Würden und ist nun NATO-Generalsekretär. Die Aufstellung von Massenvernichtungswaffen in vielen Teilen der Welt - deren Wirkung sich kein einziger Mensch in diesem Gerichtssaal vorstellen kann - ist also eine legale, rechtsstaatliche Angelegenheit! Die symbolische Behinderung dieses Vorgangs der Aufstellung von Massenvernichtungswaffen, diese Behinderung - symbolisch und gewaltfrei durchgeführt von Menschen, die, von Sorge um die Zukunft der Schöpfung getrieben, sich dem Automatismus der Aufrüstung gewaltfrei in den Weg gestellt haben - ist dagegen eine verwerfliche Gewalt, die unseren Rechtsstaat gefährdet? »Die Macht des Atoms hat alles verändert, nur nicht unsere Denkweise - auf diese Weise gleiten wir einer Katastrophe ohnegleichen entgegen!« Dies ist ein Gedanke von Albert Einstein, und wir müssen ihn wiederholt in deutschen Gerichten aussprechen, damit er eines Tages verstanden wird.
- Die Verweigerung des Militarismus in Ost und West gewinnt Sprache und Sprecher - und deswegen möchte ich aus der Rede von Siegfried Lenz, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels im Jahre 1988, zitieren: »Wir leben im Frieden und sind dennoch der Gewalt ausgeliefert, einer privilegierten, von den Ämtern gesegneten Gewalt, die unsere Welt immer unbewohnbarer macht. Gegen unseren Willen nimmt man unsere Seen und Meere, läßt unsere Flüsse sterben, skelettiert unsere Wälder. Wer sich dagegen auflehnt, sagt ein Gericht, handelt moralisch glaubwürdig, ist jedoch juristisch im Unrecht. So weit haben wir es gebracht: Wer sich noch eine gewisse Loyalität zur Schöpfung bewahrt hat, kann juristisch im Unrecht sein. Da muß man sich doch nach der Beschaffenheit der Gesetze fragen, die es der Gewalt erlauben, gegen alle die zu handeln, die an der Zerstörung der Umwelt nicht verdienen... Wir leben im Frieden, in einem unfertigen, notdürftigen, immer gefährdeten Frieden. Die Kräfte bedenkend, die ihm entgegenstehen, die Belastungen zählend, denen er ausgesetzt ist, die Aufgaben prüfend, die er uns stellt, möchte ich das, womit wir dem Frieden heute dienen können, mit wenigen Worten sagen: Widerstand gegen die, die den Frieden bedrohen mit ihrem Machtverlangen, mit ihrer Selbstsucht, mit ihren rücksichtslosen Interessen.« Humanität, wie Sie sehen, gewinnt Form, wird begriffen. Ich bin sicher, daß die Entwicklung des »Neins« zum Krieg und Kriegsvorbereitungen die wichtigste Leistung dieses Jahrhunderts genannt werden wird! Denn Militarismus in allen Teilen der Welt, die Vorherrschaft militärischen Denkens über alle anderen Lebensbereiche, nimmt den Bürgerinnen und Bürgern ständig ein weiteres Stückchen Freiheit weg - so wie er den Jugendlichen die Freiheit zu lernen und zu denken beschneidet! Wie gesagt, wenn wir Glück haben, dann lesen wir Tolstoli, Gandhi, Martin Luther King, Dorothy Day und Jesus - aber anwenden und leben dürfen, was diese Menschen gepredigt haben, sowie auch die Bergpredigt anwenden, das dürfen wir nicht! Wir haben aber diese Texte gelesen und studiert, und wir glauben daher nicht an die Gewalt und unterwerfen uns ihr auch nicht. Wir blockierten symbolisch einen Ort der Massenvernichtungswaffen im Hunsrück, weil wir uns der Gewalt nicht mehr unterwerfen wollen. Diese symbolische Blockade ist ein Übertreten der Straßenverkehrsordnung, diese symbolische Blockade ist eine Verkehrsordnungswidrigkeit, wie auch das Bad Kreuznacher Landgericht mit Recht meint - und dies akzeptiere ich auch -, aber die symbolischen Blockaden sind nicht Nötigung, und sie sind nicht verwerflich! Immer wieder müssen wir fragen, was eigentlich »verwerflich« bedeutet, besonders nachdem das Koblenzer Oberlandesgericht Sitzblockaden als strafbare Nötigungshandlung definiert hat. Ich wiederhole noch einmal: Im Strafgesetzbuch ist dieser Begriff eindeutig moralisch gemeint und bedeutet nichts anderes als »religiös und sittlich minderwertig - ruchlos"! Wenn auch Mord aus Heimtücke im Strafgesetzbuch »verwerflich« genannt wird, dann deutet dies an, in welche Richtung dieses Wort zu interpretieren ist! Wie geht man aber in der deutschen Justiz mit ehrenwerten Motiven um? Wie steht es mit den ehrenwerten Motiven der Stahlarbeiter und mit der berechtigten Angst um ihren Arbeitsplatz? Wie steht es um die Lkw-Fahrer, zum Beispiel an dem Grenzübergang Kiefersfelden, oder wie steht es mit den demonstrierenden Bauern, die Grenzübergänge symbolisch blockieren? Und dann, wie steht es mit den Menschen aus der Friedensbewegung, die eine Abschreckungspolitik ablehnen, die in konträrem Gegensatz zu den Normen der christlichen Ethik steht - Menschen, die symbolische, gewaltfreie Blockaden aus diesen Gründen durchführen? Es ist meine Gewissenspflicht, alles in meinen Kräften Stehende gewaltfrei zu tun, um gegen atomaren Wahn symbolischen und gewaltfreien Widerstand zu leisten! Wenn die Gerichte unsere »Fernziele« nicht akzeptieren, warum wird dann im Falle der Rheinhausen Brückenblockade der Stahlarbeiter nichts »Verwerfliches« entdeckt? Warum werden so verschiedene Maßstäbe bei der Beurteilung von symbolischen Blockaden angesetzt? Ich glaube, daß Sie, Herr Richter und Herr Staatsanwalt, genau diese Fragen beantworten sollten. Ich möchte hier aus zwei Zeitungen zitieren: Die erste Nachricht ist aus den »Nürnberger Nachrichten« vom 14. Juni 1988: »Verfahren eingestellt. Angst um Arbeitsplätze zu berücksichtigen.
- Die Staatsanwaltschaft in Duisburg hat die Verfahren gegen eine Reihe Rheinhausener Stahlarbeiter eingestellt, die im Dezember aus Protest gegen die drohende Schließung ihres Hüttenwerkes Straßen und Rheinbrücken blockiert hatten. Die Entscheidung, so die Anklagebehörde, bedeute keineswegs, daß die Blockaden statthaft gewesen wären. Bei der Überprüfung des »Verschuldensgrades« habe man jedoch der Angst der Betroffenen um ihre Arbeitsplätze Rechnung getragen und auch berücksichtigt, daß die Arbeiter anderen Verkehrsteilnehmern bei den Behinderungen nicht feindlich gegenübertraten. Vielmehr hätten sie um Verständnis und Unterstützung für ihre Sache werben wollen. In Übereinstimmung mit den zuständigen Gerichten habe man deshalb die Ermittlungsverfahren eingestellt, da kein besonderes öffentliches Interesse an einer Strafverfolgung bestehe.« Und ich möchte aus der »Frankfurter Rundschau« vom 26. September 1988 zitieren: »Polizisten ahndeten Blockade nicht und bleiben straffrei. Die Staatsanwaltschaft Osnabrück hat ein Ermittlungsverfahren gegen neun Polizeibeamte eingestellt, die im Januar und Februar 1987 bei der Blockade von zwei Grenzübergängen durch demonstrierende Bauern auf jegliche Strafverfolgungsmaßnahmen verzichtet hatten. Anders als bei Demonstrationen der Friedensbewegung hielt sich die Polizei bei den Aktionen der emsländischen, ostfriesischen Landwirte an der niederländischen Grenze bewußt im Hintergrund, obwohl die Veranstalter der Demonstrationen zuvor amtlich ermahnt worden waren, den Grenzverkehr nicht zu blockieren. Dennoch versperrte ein Teil der Bauern mit Treckern die Grenzübergänge. Wie der Leiter der Osnabrücker Staatsanwaltschaft, Martin Dreher, gegenüber der »FR« erläuterte, ließ die Polizei das geschehen und stellte auch nicht die Personalien der an der Blockade beteiligten Bauern fest. Die Staatsanwaltschaft gestand den Beamten, darunter einem Polizei-Oberrat, unvermeidbaren Verbotsirrtum zu. Objektiv, erklärte Dreher, sei ihr Verhalten zwar nicht unbedenklich gewesen, subjektiv sei ihnen jedoch kein Vorwurf zu machen. Um die Bauern nicht zu provozieren, hätten die Polizisten auf Ermittlungen verzichtet. » Ich glaube, diesen beiden Beispielen ist wenig hinzuzufügen, außer - wie gesagt - die Frage an den Richter, wie es denn möglich sei, daß durch die unterschiedlichen Maßstäbe bei der Strafverfolgung der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz nicht mehr gewährleistet ist. Ich denke, es bleibt Ihnen, Herr Richter, kaum eine andere Wahl, als diese symbolische Sitzblockade in allen Fällen straffrei zu lassen! Oder gibt es nicht mehr den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz und das Legalitätsprinzip der Strafprozeßordnung? Erich Fromm erklärte einmal: »Das humanistische Gewissen gründet sich auf die Tatsache, daß wir als menschliche Wesen intuitiv wissen, was menschlich und unmenschlich ist, was das Leben fördert und was es zerstört. Dieses Gewissen hilft uns, als menschliche Wesen zu funktionieren - es ist die Stimme, die uns zu uns selbst, zu unserer Menschlichkeit zurückruft.« Die Länder dieser Erde lagern mehr Sprengstoff als Nahrungsmittel - weltweit werden immer noch vier Millionen Mark jede Minute für die Rüstung verschleudert.
- Die Zahl der Kinder, die jedes Jahr sterben müssen wegen der wachsenden Militärhaushalte - diese Zahl ist eine Zahl, die unser Gewissen wachrütteln muß, denn diese Kinder sind schon längst alle Opfer der Abschreckungspolitik und der Militärblockstrategien! Wir haben uns geweigert zu sagen, »da kann man ja doch nichts machen“. Wir haben uns an symbolischen, gewaltfreien Aktionen beteiligt, weil wir ein Zeichen setzen wollen, weil wir im wahrsten Sinne des Wortes uns vornahmen, uns den atomaren Vorbereitungen buchstäblich in den Weg zu setzen! Und wir werden uns weiterhin den atomaren Vorbereitungen buchstäblich in den Weg setzen!
(Petra K. Kelly ist wegen »verwerflicher Nötigung« zu einer Geldstrafe von 4500,- DM verurteilt worden.)