200 000 Tote sind nicht zuviel für mich, um 20
Jahre Stabilität in der Zukunft zu garantieren.
Deng Xiaoping
Rede im Bundestag zu den
Todesurteilen in China (1989)
Liebe Kollegen und Kolleginnen! In China sind gestern Menschen der Demokratiebewegung, die zum Tode verurteilt worden waren, öffentlich hingerichtet worden, hingerichtet durch einen Genickschuß. Das chinesische Regierungssystem entlarvt sich mit der Verhängung und Vollstreckung der Todesurteile gegen Angehörige der chinesischen Demokratiebewegung vollends als zynisch-brutales Mörderregime. Ich habe es in der letzten Woche gesagt: 200 000 Menschen - so Deng Xiaoping - kann er für 20 Jahre Stabilität ruhig opfern. Welcher Zynismus! Die Studentenprozesse haben noch nicht einmal begonnen, und alte Hoffnungen auf Milde dieses Reginies der Menschenverächter sind kaputt.
Die weltweiten Begnadigungsappelle, Appelle des US-Kongresses und des Bundestages haben die cl-linesischen Machthaber nicht davon abhalten können, alle Hoffnungen in einem Meer von Blut zu ertränken. Mehr Hinrichtungen werden folgen. Wir werden zuschauen müssen und stehen als Parlamentarier ohnmächtig da, mit Trauer und Zorn, beim Versuch, unabdingbare Menschenrechte in China einzuklagen und ein brutales Regime zu entlarven.
Wir stehen aber auch ohnmächtig da, weil unser gemeinsamer Antrag - gerade zu Norbert Gansel möchte ich es sagen - nur appelliert, aber keine konkreten wirtschaftlichen Sanktionen fordert und auch keine Delegation von amnesty international beschlossen hat.
(Voigt Frankfurtl [SPD]: Das liegt nicht an uns, sondern an den Regierungsparteien!)
Wir wissen, daß Solidarität mit den unterdrückten und entrechteten Menschen ein Wort ist, das auch die brutalsten Diktatoren niemals ganz auslöschen konnten. Aber wie sollen wir anfangen, Solidarität zu üben, Solidarität, die gehört und gespürt werden soll von denjenigen, die sie so dringend brauchen, wenn wir weiterhin nur moralisch appellieren?
(Beifall bei den Grünen und der SPD)
Ist es eine Illusion, zu glauben, daß eine weltweite moralische Verurteilung des chinesischen Regimes etwas verändern kann? Ja, ich denke, es ist eine Illusion, wenn weiterhin geduldet wird, daß zum Beispiel Siemens weiterhin Geschäfte dort macht.
Der chinesische Staatsanwalt und Sprecher des Regimes erklärten gestern abend, sie werden keine Einmischung in innere Angelegenheiten ihres Landes dulden. Wie oft haben wir das gehört, und wie oft mußten wir uns zum Beispiel im Falle Tibets, auch von Herrn Genscher, sagen lassen, daß öffentliche Verurteilungen Chinas niemals weiterhelfen können! Doch was kann überhaupt noch weiterhelfen?
Doch das Sich-bitte-nicht-Einmischen hört man ja auch von westlichen Geschäftsleuten, von deutschen Geschäftsleuten.
Dr. Feldmann [FDP]: Aber nicht von uns!)
Das macht um so mehr traurig und zornig. Die Wirtschaftsbeziehungen deutscher Industrieunternehmen mit China kehren trotz Schock und Entsetzen in das Gleis der Normalität zurück. Und was heißt Normalität? Fast alle engagierten Menschen in Peking waren an dem Prozeß der Demokratisierung in irgendeiner Weise beteiligt. Doch auf die schwarze Nacht folgt nun der weiße Terror. Nichts erinnert mehr an die bunte Zeltstadt. Nun herrscht Totenstille; Militärposten sichern den Platz des Himmlischen Friedens weiterhin mit Maschinengewehren; Zäune aus Stacheldrahtrollen ziehen sich durch ganz China. Menschen werden liquidiert, verhaftet oder bleiben verschwunden. Nachfragen ist tödlich; die Verfolgungsmaschinerie arbeitet mit gnadenloser Perfektion. Die Definition der Schuldigen ist so breit angelegt, daß fast jeder in China Angst haben muß: Angst vor Nachbarn, Angst vor Kollegen, Angst vor Kontakten mit Ausländern. Das Kriegsrecht in Tibet ist soeben verschärft worden.
Chinesische Studenten im Ausland werden massiv eingeschüchtert und, wie ich gehört habe, auch hier bei uns in der Bundesrepublik durch Telefonanrufe.
Deutsche Unternehmen haben in dieser Situation ihre zeitweilig abgezogenen Mitarbeiter nach China zurückgeschickt. Wenn die geknüpften Wirtschaftsfäden und die JointVentureVereinbarungen nicht )etzt abgebrochen werden, wann denn eigentlich?
(Beifall bei allen Fraktionen)
Genau dies müssen wir aber über den Antrag hinaus fordern. Es ist unglaublich, mit welcher Kaltschnäuzigkeit gegenüber diesen Tatsachen die deutsche Wirtschaft nichts anderes im Sinn hat, als so schnell wie möglich zum profitträchtigen Geschäft mit den bluttriefenden Mördern zurückzukehren. Ebenso bedrückend ist für mich die Nachricht, daß sich die UNO-Botschafter der USA und der Sowjetunion gegen die Einberufung einer Sitzung des Weltsicherheitsrats über die Lage in China ausgesprochen haben. Überraschend ist auch die Unwissenheit derjenigen Medien bei uns, die sich heute mit Recht über die Brutalität in China entrüstet zeigen, aber allzu lange über Vorgänge in bezug auf Minderheiten anderswo in China und auch über Vorgänge in Tibet geschwiegen hatten.
Ich komme zum Schluß. Über diesen gemeinsamen Antrag hinaus möchte ich im Namen der Fraktion DIE GRÜNEN ich hoffe, auch anderer Kollegen in diesem Haus - zu einem internationalen unabhängigen China-Tribunal im Geiste der Bertrand-Russell-Tribunale auffordern. Auch Herr Wickert hat dies gestern gefordert. Ich denke, dazu sollte man hier ebenfalls Stellung beziehen.
(Beifall bei den Grünen und der SPD)
Ich möchte auch die EG-Minister auffordern, sich sehr wohl in die Angelegenheiten der Menschenrechte in China konkret einzumischen, und zwar mit klaren Aussagen. Es kann kein Einmischungsverbot geben, wenn es um die Einhaltung der Menschenrechte geht.
(Lowack [CDU/CSU]: Sehr gut!)
Zuletzt: Ich glaube, es wäre angebracht, wenn der Deutsche Bundestag am Ende dieser Debatte eine Schweigeminute für die Opfer in China einräumen würde. Danke.
(Beifall bei den Grünen, der SPD, der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Was ist mit der Friedensbewegung
und den GRÜNEN los? (1989)
Viele in der Grünen Fraktion sind wohl in diesen Julitagen schon in Urlaub gegangen - die »taz« meldet: »Nach ersten SoIidaritätsaktionen mit chinesischen Studenten/Studentinnen ist die bundesdeutsche Linke abgetaucht« (vom 1. 7. 89) und »Die Friedensbewegung in der Sinnkrise« (vom 5. 7. 89). Jürgen Meyer, im Bundesvorstand DER GRÜNEN zuständig für Internationales, erklärt in einem »taz«-Interview, daß der Bundesvorstand über eine kritische Einschätzung der weiteren Entwicklung in China noch nicht geredet hat und daß er hofft, daß »sich manche Leute nach der Sommerpause etwas stärker in die Arbeit stürzen, als das jetzt der Fall ist...« Und er sagt weiter: »Dann werden wir öffentlichkeitsmäßig neu einsteigen können. Allerdings dürfte selbst eine größere Mobilisierung hier nur sehr wenige Leute in Peking beeindrucken.« (Interview in »taz« 1. 7. 89)
Ich selber kann so recht an Urlaub überhaupt nicht denken, sitze in den drückend heißen, schwülen Büroräumen des Hochhauses Tulpenfeld und begreife nicht mehr, warum die Friedens- und grüne Bewegung sich so ratlos und so hilflos in den letzten Wochen gegeben haben, oder soll ich noch hinzufügen haltungslos? Das alles sollte mich eigentlich gar nicht überraschen - denn ich habe schon vor einem halben Jahr die große Zurückhaltung einiger - oder waren das schon zu viele - grüner Delegierter erlebt, als ich meinen Antrag zu einer überparteilichen internationalen Anhörung »Tibet und Menschenrechte« in Karlsruhe eingebracht hatte.
Damals gab es ganz schreckliche, einäugige und furchtbar opportunistische Argumente von seiten einiger dogmatischer Linker in der Grünen Partei, die absolut nichts von den grausamen Menschenrechtsverletzungen wissen wollten - die den Dalai Lama als einen schrecklichen Despoten und Ausbeuter dargestellt hatten und die nicht viel am Hut hatten mit der jahrzehntelangen Unterdrückung in Tibet. Auch wollten sie nichts davon wissen, daß ausgerechnet China, das verbal einen antikolonialistischen Kampf führte, Tibet besetzte - das größte Land, das nach 1945 seine Souveränität verloren hat. Der Antrag für eine solche Tibet-Anhörung wurde dann aber doch in Karlsruhe angenommen. Gert Bastian und ich konnten im April 1989 die zweitägige Tibet Anhörung (im SPD-Fraktionssaal) initiieren und organisieren. Etwa die Hälfte der Gelder, die wir nötig hatten, um Menschenrechtsexperten, China- und Tibetexperten sowie die tibetische Exilregierung und Augenzeugen einzuladen - über 41 Redner aus allen Teilen der Welt - kam von DEN GRÜNEN. Die andere Hälfte der Finanzierung haben wir dann in mühseliger Kleinarbeit gesammelt - via unseres initiierten Tibet-Appells zugunsten dieser Anhörung, der von über 6000 Menschen aus allen Teilen der Welt unterschrieben worden ist. Es erreichten uns viele kleine und große Spenden, darunter eine große Spende der European Human Rights Foundation in London. Doch es war auch deutlich zu spüren, daß ein großer Teil der bundesdeutschen Linken nichts wissen wollte von Unterschriften und Solidaritätsspenden. Ab und zu bekam ich zu hören, man könne doch nicht die Chinesen wegen ihrer Übergriffe in Tibet öffentlich angreifen und man könne doch nicht ein so rückständiges Volk wie die Tibeter unterstützen, denn damit würde man doch auch ihre religiösen und gesellschaftlichen Strukturen akzeptieren. Erschreckend war für mich auch, daß einige grüne Mitglieder argumentierten, DIE GRÜNEN seien eine atheistische Partei und könnten religiöse Menschen, deren religiöse Vorstellungen und deren Begriffe von Leben und Tod und Weiterleben nicht unterstützen! Doch haben wir ein einziges Mal gefragt, wie religiös die Mütter der Plaza de Mayo waren, bevor wir sie unterstützt haben? Haben wir ein einziges Mal danach gefragt, wie oft die Menschen in Nicaragua zur katholischen Messe gehen oder wie oft die Menschen in Chile die heilige Kommunion zu sich nehmen? Im März 1989, vor der Tibet-Anhörung in Bonn, ereignete sich ein weiteres Blutbad in Lhasa, Tibet, angerichtet durch chinesische Polizisten und Soldaten, dem viele Hunderte Tibeter zum Opfer fielen. Damals, wie auch in den Monaten zuvor, hat die brutale Pekinger Greisenriege viel Blut in Tibet vergossen, viel Unterdrückung und Repression angeordnet. Doch wo blieb die große Solidaritätsbewegung mit den Opfern dieser Repressionen? Warum gab es Proteste erst, als die schreckliche Genickschuß-Politik der chinesischen Regierung in China selbst einsetzte? Die überparteiliche, internationale Tibet-Anhörung mit rund 400 Zuhörern fand am 20./21. April 1989 statt und brachte viele engagierte Menschen aus der Menschenrechtsbewegung zusammen - doch die bundesdeutsche Linke war wieder einmal abgetaucht! Ich habe also schon die große Enttäuschung hinter mir - warum bin ich jetzt dennoch ratlos, traurig und wütend? In den letzten Wochen vor der Sommerpause habe ich mich in meiner parlamentarischen Arbeit, so intensiv es nur ging, für zwei China-Resolutionen eingesetzt, habe sie zum Teil mit formuliert und mit ausgehandelt und habe versucht, eine große Portion grüner Positionen mit einzubringen.
Dies war unter anderem mein Versuch, mit der Ratlosigkeit und Hilflosigkeit, die ich in den eigenen Reihen erlebt habe, umzugehen. Doch diese beiden China-Resolutionen, so klar und deutlich sie auch sein mögen, können mich nicht darüber hinwegtrösten, daß es trotz Massaker und Hinrichtungen in China so viele sofort in die Ferien gezogen hat und daß sich so wenig Phantasievoll-Gewaltfreies vor der Chinesischen Botschaft abgespielt hat. Ich muß auch an dieser Stelle die Frage stellen: Was wäre eigentlich passiert, wenn dieses fast unvorstellbare Blutbad mit über 20000 Toten vor dem Weißen Haus in Washington D. C. passiert wäre - oder auf einem Marktplatz irgendwo in Ankara oder in Südafrika? Ich bin mir ganz sicher, daß dann die Reaktionen anders gewesen wären - mit Recht voller Leidenschaft, voller Kreativität und, Phantasie zugunsten der Opfer, zugunsten der Unterdrückten und der Rechtlosen. Gerade in Sachen Internationalismus waren DIE GRÜNEN besonders aktiv, wenn es um Chile oder Nicaragua, die Türkei oder Afghanistan ging. Und die Friedensbewegung in der Bundesrepublik hat doch immer betont, daß Frieden und Menschenrecht unteilbar seien! War das nur ein Lippenbekenntnis? Natürlich haben die vielen Gruppen und Grüppchen innerhalb der Dritten-Welt-, Friedens und Menschenrechtsbewegung auf die Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens mit verschiedenen Presseerklärungen und Protestresolutionen reagiert und viele haben diese Erklärungen an die Chinesische Botschaft in Bonn-Bad Godesberg geschickt oder dort abgegeben oder sogar nach Peking gefaxt. Aber wenn man etwas weiter darüber nachdenkt, so wird klar, daß uns weit mehr an Aktionen und an Solidaritätsarbeit zugunsten der Unterdrückten in Südafrika eingefallen ist oder zugunsten der Unterdrückten in Chile und EI Salvador.
DIE GRÜNEN wie auch die Friedensbewegung haben als Partei und Bewegung die Initiative wie auch die Kontinuität der China-Solidarität den chinesischen Studenten in der Bundesrepublik selbst überlassen - den Sinologen und der Gesellschaft für Deutsch-Chinesische Freundschaft. Einige wenige innerhalb der Grünen Partei, so zum Beispiel Eva Quisdorp und die, die ich aus meiner Tibet-Arbeit kenne, haben dieselben Frustrationen wie ich gespürt und haben alles in ihrer Kraft Stehende versucht, um Solidarität mit der Demokratiebewegung in China zu mobilisieren. Aber dies alles reicht noch lange nicht aus. Es ist fast unbegreiflich, wie oft ich bei meinen Diskussionen mit anderen in der Friedensbewegung und in der Grünen Partei gehört habe, daß man Massaker in Peking zwar verurteile, doch mit den Zielen und Forderungen der chinesischen Studenten wenig anfangen könne. Andere wiederum kritisierten, daß ein großer Block von Studenten aus Taiwan die Ziele der Studenten in China mit unterstützt haben. Wieder andere erklärten das Ganze für sehr bürgerlich und kritisierten das Symbol der Freiheitsstatue auf dem Platz des Himmlischen Friedens! Tragisch ist dabei, daß doch so vieles nachzulesen war zum Beispiel eine Rede Deng Xiaopings von Anfang Mai 1989, die die Kaltblütigkeit beweist, mit der der Armee-Einsatz als letztes mögliches Instrument zur Durchsetzung von Dengs Politik vorbereitet wurde. Oder zum Beispiel das aufgezeichnete Gespräch Li Pengs mit Studentenführern - veröffentlicht in der »Neuen Zürcher Zeitung« vom 1. Juli 1989. Bei dem dramatischen Treffen mit Li Peng verteidigten die Studenten, mit dem Druck des Hungerstreiks und der demonstrierenden Massen im Rücken, ihre demokratischen Forderungen, beriefen sich auf ihre verfassungsmäßigen Rechte und machten selbstbewußt ihre Vorstellungen von einer »Regierung des Volkes« und von Demokratisierung klar. Mit ihrem basisdemokratischen Engagement bewiesen die chinesischen Studenten, daß sie nicht von irgendwelchen »Hintermännern« gesteuert wurden oder den Umsturz der Partei anstrebten, wie ihnen später vorgeworfen wurde.
Li Peng, der demonstrativ im Mao-Kostüm auftrat, wußte nichts anderes, als »Gehorsam seinen Befehlen gegenüber« von den Studenten zu verlangen. Er meinte allerdings, daß die Studenten wie eigene Kinder, wie das eigene Fleisch und Blut für ihn seien. Doch einen Tag nach dieser Diskussion, am 19. Mai 1989, verhängte Li Peng das Kriegsrecht und ließ dann am 4. Juni auf jene schießen, die er als »unsere Kinder, unser Fleisch und Blut« angesprochen hatte. Trotz alledem erklärte Walter Jens im »Stern« vor zwei Wochen: »Uns fehlt ein klares Bild ... was meinten die Demonstrierenden mit Demokratie? Hatten sie tatsächlich ein politisches Programm?« »Man habe", sagte Walter Jens, »auch deswegen Hemmungen, sich zu engagieren, weil die Fotos aus China auch gewalttätige Studenten zeigten und Demonstranten, die ohne Rücksicht auf Menschenleben, mit Steinen und Stangen, auf Panzer, Fahrzeuge und Soldaten losgingen. (Heft 27/89). Merkwürdig, welche Meßlatte Walter Jens und andere plötzlich anlegen! China ist eben weit und bleibt wohl sehr fremd - wie sagte schon Klaus Staeck (mit einem bißchen Eurozentrismus zwischen den Zellen): »Wie hießen die drei Männer, die als erste hingerichtet wurden? Man kann sich ja nicht mal die Namen merken...« ("Stern« Heft 27/89). Wir wissen inzwischen, daß die weltweite Empörung in den Parlamenten über die Exekutionen die chinesische Regierung kalt gelassen hat - aber leider auch die deutsche Wirtschaft! Es hat gerade noch zu einer Schweigeminute im Deutschen Bundestag gereicht eine Schweigeminute, welche ich in meiner Rede zur gemeinsamen China-Resolution gefordert hatte. Doch die Wirtschaft der Bundesrepublik dachte nicht einmal darüber nach, sich an einem Wirtschaftsboykott zu beteiligen. Der künftige Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, H. Weiss, meinte: »Sanktionen bringen nichts und sind auch nicht durchsetzbar. Irgendein Lieferant springt immer ein. Wenn wir uns aus China zurückziehen, dann machen die Japaner, die Amerikaner oder sogar die Russen das Geschäft.« Und er setzte noch hinzu-. »Wir aber vertreten die Wirtschaft und nicht die Politik. Unsere Aufgabe ist es nicht, Diplomaten zu ersetzen und unsere Partner dort zu beschimpfen.« Wie sollte es auch anders sein, denkt man an die tödlichen Verflechtungen deutscher Unternehmen im Iran-Irak Krieg, im Krieg gegen die Kurden und in Südafrika. Anfang Juni versammelten sich Tausende von jungen Ungarn vor der Chinesischen Botschaft in Budapest, um gegen das Blutbad in Peking zu demonstrieren. Einige Kübel mit roter Farbe wurden auf dem Pflaster vor der Botschaft ausgeschüttet - als Symbol für das in Peking vergossene Blut. Zu Ehren der Toten wurden Hunderte von Kerzen auf dem Asphalt angezündet ...
In Rom haben auch mehrere tausend Menschen Anfang Juni gegen die Machthaber in Peking demonstriert. Zu den Protesten hatten die Kommunistische Partei und andere linksgerichtete Gruppen aufgerufen, und zum Gedenken an die Toten bei dem Massaker in Peking legten die Demonstranten Hunderte von Blumensträußen am Botschaftstor nieder. Doch was ist bei uns außer Resolutionen und Appellen und Briefen gewesen? Viele der deutschen Studenten/Studentinnen haben wohl mit ihren in Peking ermordeten Kommilitonen wenig im Sinn - es ging keine Protestwelle durch unsere Straßen es strömten keine Tausende in den Bonner Hofgarten, und es gab auch keinen Sternmarsch der deutschen Studenten/Studentinnen vor die Chinesische Botschaft in Bad Godesberg. Keine großen Manifestationen der Vereinigten Linken! Wir alle haben die Fernsehbilder der grausamen chinesischen Unterdrückung erlebt friedlich und gewaltfrei demonstrierende Studenten, Arbeiter, Intellektuelle von den Panzern niedergewalzt, von Soldaten erschossen oder mit Bajonetten erstochen. Die Leichen auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens übergoß man mit Benzin und verbrannte sie. In den Universitäten wurden Professoren und Studenten, die gegen das Eindringen der Soldaten protestierten, kurzerhand erschossen. Und nun ist der Staatsterror physisch und psychisch total. Die Familien der Hingerichteten müssen für die Kosten der Hinrichtungen aufkommen, von der Kugel für den Genickschuß bis zum Sarg.
Das Massaker von Peking ist die Fortsetzung der Moskauer Prozesse 1936-38, der Unterdrückung des Arbeiter/Arbeiterinnenaufstandes 1953 in der DDR, der Zerschlagung der Ungarischen Revolution 1956, der Invasion gegen den Prager Frühling 1968, des Jaruzelski-Putsches gegen Solidarnosc 1981. jedesmal wurden revolutionäre Befreiungsversuche als »Konterrevolution« abgetan. Wie die ungarischen und tschechischen und polnischen Bewegungen, so stellte auch die chinesische Demokratiebewegung die politischen und materiellen Privilegien einer parasitären Bürokratie, aber nicht den Sozialismus an sich in Frage. Die Studenten/Studentinnen und Arbeiter und Intellektuellen vom Platz des Himmlischen Friedens forderten mehr Freiheit und Gleichheit und Menschlichkeit und wollten die korrupte Parteidiktatur durch eine sozialistische Demokratie ablösen. Wie viele bejubelten Deng Xiaoping wegen seiner »Politik der wirtschaftlichen Öffnung« und »übersahen", daß der zweifache »Mann des Jahres« und »der bedeutendste Politiker des Jahrhunderts« (Helmut Schmidt) das Land brutal und diktatorisch dirigierte und die Repression sowie die soziale Ungleichheit dramatische Ausmaße annahmen. Wollten sie denn alle nicht begreifen, daß es keine wirtschaftliche Öffnung ohne freie Gedanken geben kann? Warum wurde immer wieder der chinesischen Regierung ein Freibrief für Menschenrechtsverletzungen ausgestellt? Wie konnten so viele Politiker und Politikerinnen der etablierten Parteien, 'ja sogar innerhalb der Grünen Partei, das übersehen, was in jedem amnesty international-Bericht über China seit Jahren geschrieben wurde? Nämlich daß zum Beispiel von 1983-1987 30000 Chinesen hingerichtet wurden! Merkwürdig, als Deng die Wirtschaftsreform in China einleitete, sah die Welt in China den fortschrittlichsten sozialistischen Staat, und Helmut Schmidt meinte, Deng überrage in den 80er Jahren alle anderen Staatsmänner der Welt. Doch man konnte das über ihn eigentlich nie sagen.
Wer sich zum Beispiel die blutige Unterdrückung der Tibeter vergegenwärtigt hatte, oder wer verfolgte, wie mit Christen in China umgegangen wurde, hätte Herrn Deng längst anders beurteilt. Wie konnten H. Schmidt und viele andere zu solchen Fehleinschätzungen kommen? Ebenso bedrückend ist die Reaktion der Vertreter der USA und der UdSSR im Weltsicherheitsrat. Beide erklärten, eine Erörterung des Massakers durch den Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen könne als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas gewertet werden. Diese Stellungnahme ist unerträglich - die chinesische Regierung, die mit einer ihr ergebenen Armee Massenmord am eigenen Volk verübt hat, sitzt im Weltsicherheitsrat und bestimmt mit anderen den Weltfrieden! Einfach unglaublich! Nun rollt eine blutige Säuberungswelle über die Volksrepublik China hinweg. Das Regime versucht, mit öffentlichen Exekutionen und massiven Propagandakampagnen die Menschen einzuschüchtern. Sogenannte Denunziationstelefonleitungen wurden in Peking eingerichtet. Die chinesische Regierung verbreitet mit offenen wie auch heimlichen Hinrichtungen Angst und Schrecken sowie blanken Terror unter der Bevölkerung. Es muß nun erst recht unmittelbare und phantasievolle gewaltfreie Aktionen gegen die Hinrichtungswelle geben. Es muß wirksame und umfassende Wirtschaftssanktionen gegen das Massaker-Regime in Peking geben - denn letztlich haben, laut chinesischer Studentenbewegung, bis jetzt nur die Kader und ihre Familien an der Wirtschaftsreform verdient. Weizenexporte nach China sollten, nach Meinung der chinesischen Studenten, nicht gestoppt werden, doch zumindest Industriegüter dürfen nicht mehr nach China gelangen. Die Massaker-Regierung in Peking bleibt am Ruder, solange Wirtschaft und Handel mit dem Ausland florieren.
Deng Xiaoping sagte Anfang Mai 1989: »Wir müssen das wuchernde Fleisch mit einem scharfen Messer abhauen... Die Zugeständnisse, die in Polen gemacht worden sind, haben weitere Konzessionen nach sich gezogen und mehr und mehr Unruhen. Die Opposition dort ist im Moment sehr mächtig... Wir müssen schnell handeln... ohne die Kritiker und die ausländischen Reaktionen zu fürchten. Das ist der einzige Weg, wenn China sich weiterentwickeln soll...« ("Deutsche Volkszeitung« Nr. 24/89). Ein effektiver Wirtschaftsboykott aller EG-Staaten zum Beispiel wäre eine wirkungsvolle Maßnahme, um dieser verbrecherischen Regierung angemessen zu antworten. Doch deutsche und europäische Wirtschaftsvertreter finden nichts dabei, weiterhin mit einem Regime Geschäfte zu machen, dessen Vertreter Deng Xiaoping erklärt hatte, daß er mit 200 000 Toten 20 Jahre Stabilität garantieren kann. Und was nun - bekommen die GRÜNEN nur noch die Wähler, aber nicht mehr die Menschen auf die Straße? Sind nur noch taktische Debatten über Rot/Grüne- oder über Ampel Koalitionen das, was uns leidenschaftlich bewegt? Sind wir schon soweit, daß uns nichts mehr einfällt, als darüber zu schreiben, daß es keine Visionen auf der Regierungsbank geben soll? Wir brauchen phantasievolle und effektive Formen von Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit, und wir müssen unsere innere Radikalität wieder freisetzen können zugunsten einer wirksamen Menschenrechtsarbeit in allen Teilen der Welt, auch gegenüber China. Sieben Wochen lang gab es einen hoffnungsvollen gewaltfreien Widerstand der chinesischen Studenten, Arbeiter und Intellektuellen auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Das Bild des jungen Mannes, der gewaltfrei vier Panzer stoppte, ging um die ganze Welt. Dieser junge Mann wurde hingerichtet. »Die Zeit« berichtet in ihrer Ausgabe am 23. Juni 1989, daß ein kleines chinesisches Mädchen vor einem Panzer gestanden und dem Fahrer mit der rechten Hand zugewinkt habe.
Er fuhr einfach über sie hinweg. Das ungarische Fernsehen hatte die Massenmorde in Peking verurteilt - in scharfer Sprache und offen von der Möglichkeit gesprochen, daß es »ähnliche Operationen« auch in anderen sozialistischen Ländern im Fall eines Sieges der konservativen Kräfte geben könnte. Der Chefkommentator E. Aczel vertrat die Meinung, daß die Mörder in Peking treue Anhänger der Ordnung sind und es solche Personen in großer Zahl auch in allen anderen sozialistischen Ländern gibt. »Sie töten im Namen der Ordnung zu dem Zeitpunkt, wo die Geschichte bereits über sie hinweggegangen ist", sagte Aczel. Und weiter: »Die Grausamkeiten, die in Peking, begangen wurden, zeigten der Welt jedoch deutlich, über welche Reserven die Anti-Reformer in den sozialistischen Ländern noch verfügen.« ("Süddeutsche Zeitung vom 6. Juni 1989) Das Ausmaß der Ereignisse in Peking und in anderen Teilen Chinas ist für uns alle unfaßbar, doch muß es uns um so mehr herausfordern, nicht mehr so ratlos, hilflos und haltungslos zu bleiben. Was wir brauchen, ist ein Konzept der humanitären Intervention ... und viele, viele Friedensarbeiter, die bereit sind, mit Aktionen und Taten lauter zu sprechen als mit Worten. Dies ist um so dringender angesichts der Äußerungen des Stabschefs im Weißen Haus, John Sununu, der die Erklärung der chinesischen Führung, nur die Anführer der Studentenbewegung verfolgen zu wollen, als »konstruktiv« bewertet hatte. Diese Äußerung macht deutlich, wie es das Weiße Haus mit demokratischen Mindestnormen hält und welche unterschiedlichen Maßstäbe angelegt werden. Erinnern wir uns doch an Grenada oder Nicaragua! Nun wird die gnadenlose »Ausrottung konterrevolutionärer Elemente« in China fortgesetzt. In Chinas Hörsäle zieht die »Gedankenpolizei« ein, Schulkinder erhalten »Bewußtseinskurse« und europäische Firmenvertreter lassen sich gar noch als Zeugen für die angebliche Normalisierung in den Medien mißbrauchen.
Und last, but not least, Nixon und Kissinger kündigen Besuche bei dem blutigen Deng Xiaoping an. Während Gorbatschow und Gandhi, ungeachtet der jüngsten Ereignisse, gar eine weitere Vertiefung der Beziehungen ihrer Länder zu Peking ankündigen!
Bei der Mahnwache vor der Chinesischen Botschaft in Bad Godesberg am 14. Juli 1989 um 15.00 Uhr waren wir gerade 12 Teilnehmer ...
Mit traurigen Grüßen aus dem Sommerloch in Bonn
Eure Petra K. Kelly, MdB
(Gekürzte Version)