Pluralismus und die feministische Literaturtheorie
»Wildnis haben Frauen nicht in sich,
Fürsorglich sind sie statt dessen,
Zufrieden, in der heißen engen Herzenskammer
Trocken Brot zu essen.«
Louise Bogan: »Frauen«
Carolyn Heilbrun und Catherine Stimpson entwickelten 1975 in einem brillanten Streitgespräch zwei entgegengesetzte Pole feministischer Literaturwissenschaft. Den ersten Ansatz, mit den Attributen selbstgerecht, zornig, mahnend belegt, verglichen sie mit dem Alten Testament, mit »der Suche nach den Fehlern und den Irrtümern der Vergangenheit«. Den zweiten Ansatz, bestimmt von Unparteilichkeit und der Suche nach der »Gnade der Eingebung«, verglichen sie mit dem Neuen Testament. Beide sind unerläßlich, so ihre Schlußfolgerung, denn nur die Jeremias der Ideologie können uns aus dem »Ägypten weiblicher Knechtschaft« in das gelobte Land des Humanismus führen.[1] Matthew Arnolds glaubte ebenfalls, Literaturwissenschaftlerinnen könnten in der Wildnis zugrundegehen, bevor sie das gelobte Land der Unparteilichkeit erreichten. Heilbrun und Stimpson standen in der Tradition Arnolds, wie es für Lehrende der Columbia State University und des Barnard Colleges angemessen war. Aber wenn wir uns als feministische Literaturwissenschaftlerinnen in den achtziger Jahren immer noch in der Wildnis bewegen, befinden wir uns in guter Gesellschaft; denn wie Geoffrey Hartman behauptet, befindet sich jegliche Literaturwissenschaft in der Wildnis.[2] Feministische Wissenschaftlerinnen mögen darüber erstaunt sein, sich solchermaßen im Verbund mit den Pionieren der Literaturtheorie wiederzufinden, da die Wildnis in der amerikanischen Literaturtradition bislang eine ausschließlich männliche Domäne gewesen ist. Doch zwischen feministischer Ideologie und dem liberalen Ideal der Unparteilichkeit liegt die wilde Landschaft der Theorie, die wir ebenfalls zu unserer Heimat machen müssen.
Bis vor kurzem hatte die feministische Literaturwissenschaft keine theoretische Grundlage; im Sturm der theoretischen Auseinandersetzungen war sie nicht mehr als ein empirisches Waisenkind. Im Jahre 1975 war ich davon überzeugt, daß kein theoretisches Manifest der Vielfalt der methodischen und ideologischen Ansätze Rechnung tragen könnte, die als feministische Lesarten oder Schreibweisen galten.[3] Im nächsten Jahr hatte Annette Kolodny diese Ausage bereits um die Vermutung erweitert, die feministische Literaturwissenschaft sei eher eine »Ansammlung austauschbarer Strategien, als daß sie einer einheitlichen akademischen Lehrmeinung oder einer gemeinsamen Zielsetzung« folge.[4] Seitdem hat es zwischen den erklärten Zielen keine merkliche Annäherung gegeben. Schwarze Kritikerinnen werfen der feministischen Literaturwissenschaft das »massive Schweigen« über schwarze Autorinnen und Schriftstellerinnen der Dritten Welt vor und fordern eine schwarze feministische Ästhetik, die Rassismus und Sexismus gleichermaßen zu ihrem Anliegen macht. Marxistische Feministinnen werten Klassen-und Geschlechterkategorien als entscheidende Determinanten literarischer Produktion.[5] Die Literaturhistorikerinnen haben sich zum Ziel gesetzt, eine verlorengegangene Tradition aufzuarbeiten. In der Methode des Dekonstruktivismus geschulte Wissenschaftlerinnen wollen eine Literaturtheorie etablieren, die »literaturwissenschaftliche und feministische Aspekte vereinigt«. Kritikerinnen, die sich auf Freud und Lacan berufen, wollen das Verhältnis der Frau zu Sprache und Bedeutung theoretisch thematisieren.
Das Vorhaben, für die feministische Literaturwissenschaft eine theoretische Grundlage zu schaffen, wurde schon früh von der mangelnden Bereitschaft vieler Frauen behindert, ein ausdrucksstarkes und dynamisches Unterfangen einzugrenzen oder zu vereinheitlichen. Für die Offenheit feministischer Literaturtheorie waren vor allem die Amerikanerinnen zugänglich, die die in den siebziger Jahren geführten Debatten um Strukturalismus, Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus als trocken empfanden und den beteiligten Frauen eine Scheinobjektivität zum Vorwurf machten. Für sie waren diese Theorien Inbegriffe eines verwerflichen männlichen Diskurses, dem viele Feministinnen gerade zu entkommen suchten. Als Virginia Woolf sich in Ein Zimmer für sich allein daran erinnerte, wie sie am Betreten der Universitätsbibliothek, dem Zufluchtsort des männlichen logos, gehindert wurde, bemerkte sie sehr scharfsinnig: obwohl es »unangenehm (ist), ausgeschlossen zu sein, (...) wäre es vielleicht noch schlimmer, eingeschlossen zu sein«. Die Verfechterinnen der anti-theoretischen Position beriefen sich auf Woolf und andere visionäre Feministinnen wie Mary Daly, Adrienne Rieh und Marguerite Duras, die sich über die Sterilität männlicher Wissenschaft lustig machten und den Ausschluß der Frau aus deren Methodengläubigkeit als eine positive Entwicklung begrüßten. Somit war feministische Literaturwissenschaft für einige Frauen gleichbedeutend mit einer Auflehnung gegen jegliche Theorie, mit einem Widerstand gegen bestehende Kanons und Werturteile; sie begriffen ihre Arbeit als das, was Josephine Donovan als »einen Modus der Negation im Rahmen einer fundamentalen Dialektik« bezeichnete. Wie Judith Fetterley in ihrem Buch The Resisting Reader erklärte, war die feministische Literaturwissenschaft bislang geprägt von »einem Widerstand gegen kodifizierte Systeme und der Weigerung, sich zu früh in einen festen Rahmen pressen zu lassen«. An anderer Stelle habe ich mich durchaus verständnisvoll mit dem Argwohn gegen monolithische Systeme und der Ablehnung wissenschaftlicher Methoden für die feministische Kritik auseinandergesetzt, die viele Feministinnen für sich geltend machen. Während die wissenschaftliche Kritik sich vom subjektiven Eindruck zu lösen suchte, bestand die feministische Kritik also auf dem Primat der Erfahrung.[7]
Doch jetzt hat es den Anschein, als sei das, was als theoretische Sackgasse galt, lediglich eine Entwicklungsstufe gewesen. Dem Aufbruch und seinen ethischen Maßstäben folgte, zumindest an den Universitäten, eine zweite Phase, die von der Befürchtung bestimmt war, die feministische Literaturwissenschaft könnte sich zu sehr von einem wissenschaftlichen Umfeld isolieren, das zunehmend theoretisch orientiert war und der Literatur von Frauen gleichgültig gegenüberstand. Die Frage, wie sich feministische Literaturwissenschaft in bezug auf neue kritische Theoriebildungen definieren sollte, hat in Europa und in den USA zu scharfen Auseinandersetzungen geführt.
Nina Auerbach hat die fehlende Dialogbereitschaft konstatiert und stellt die Frage, ob die feministische Literaturwissenschaft sich nicht selbst zu ihrer Verantwortlichkeit bekennen sollte:
- »Feministische Literaturwissenschaftlerinnen scheinen ausgesprochen unwillig, sich Außenstehenden zu erklären. In gewisser Weise ist unsere schwesterliche Verbundenheit zu stark geworden: als eine Richtung ist der Glaube an uns selbst so mächtig, daß wir die Auseinandersetzung mit den Macht- und Moralstrukturen ablehnen, die wir eigentlich verändern wollen.«[8]
Doch tatsächlich hat die feministische Wissenschaft die Auseinandersetzung mit den Institutionen der Macht weniger gescheut, sondern vielmehr in deren Publikationsorganen auf sich aufmerksam gemacht: in PMLA (Publications of the Modern Language Association), Diacritics, Glyph, Tel Quel, New Literary History und Critical Inquiry. Für die feministische Literatur-wissenschaftlerin, die um Klärung der eigenen Position bemüht ist, mag die zunehmende Vielfalt von Verlautbarungen letztlich sogar verwirrend sein.
In der feministischen Literaturwissenschaft gibt es zwei verschiedene Ansätze, und diese auf einen Nenner zu bringen (wie es meist geschieht), verhindert die Bewußtwerdung ihrer theoretischen Möglichkeiten. Der erste Ansatz ist ideologiekritisch; er interessiert sich für die Feministin als Leserin. Entwickelt werden feministische Lesarten, die Weiblichkeitsbilder und -muster in der Literatur, Auslassungen und Verkennungen von Frauen in der Literaturwissenschaft und Weiblichkeitszuweisungen im Zeichensystem berücksichtigen. Doch darin erschöpft sich die feministische Lesart nicht; sie kann ein befreiender intellektueller Akt sein, wie Adrienne Rieh meint:
- »Eine radikale Kritik feministischer Ausrichtung würde das Werk zuallererst als einen Hinweis darauf begreifen, wie wir leben, wie wir gelebt haben, zu welchen Vorstellungen von uns selbst wir gebracht worden sind, wie unsere Sprache uns zugleich eingesperrt und befreit hat, daß der Akt des Benennens bis heute ein Vorrecht der Männer ist, wie wir anfangen können zu sehen und zu benennen und damit auch — von neuem — zu leben.«[9]
Dieser belebende Umgang mit Literatur, den ich als feministische Lesart oder feministische Kritik bezeichnen möchte, ist im wesentlichen ein Interpretationsmodus, und zwar einer von vielen, dem Rechnung zu tragen jeder komplexe Text zuläßt. Es ist ausgesprochen schwierig, einer Tätigkeit, die ihrem Wesen nach so eklektisch und weitgefächert ist, theoretische Kohärenz abzuverlangen, obwohl feministische Lesarten für die literaturwissenschaftliche Praxis sicherlich von großer Bedeutung gewesen sind. Doch im freien Spiel im Feld der Interpretationen kann die feministische Kritik nur mit anderen Lesarten konkurrieren, die allesamt lediglich die eingebaute kurze Lebensdauer eines Buick haben, obsolet, sobald ein neuer Interpretationsmodus ihren Platz einnimmt. Wie Kolodny, die scharfsinnigste Theoretikerin feministischer Interpretationsansätze, einräumt:
- »Was die Feministin für sich geltend macht, ist also nur das anderen Ansätzen gleichwertige Recht, neue (und vielleicht andere) Bedeutungsebenen in denselben Texten freizusetzen; zugleich fordert sie das Recht auszuwählen, welche Merkmale eines Textes ihr als relevant erscheinen, denn schließlich stellt sie an ihn neue und andere Fragen. In diesem Prozeß erhebt sie für ihre verschiedenen Lesarten und Interpretationssysteme nicht den Anspruch auf Ausschließlichkeit oder strukturelle Abgeschlossenheit, sondern erachtet sie als nützliche Instrumente zur Einsicht in die besondere Leistung der Frau-als-Autorin und ihre Anwendbarkeit auf die gewissenhafte Entschlüsselung der Frau-als-Zeichen.«
Statt sich von diesen beschränkten Zielsetzungen entmutigen zu lassen, sah Kolodny in ihnen die begrüßenswerte Ursache eines »spielerischen Pluralismus« feministischer Theoriebildung, eines Pluralismus, der in ihren Augen »die einzige kritische Haltung (ist), der mit dem gegenwärtigen Stand der allgemeinen Frauenbewegung zu vereinbaren ist«.[10] Ihre feministische Kritikerin tanzt geschickten Schrittes durch das Minenfeld der Theorie.
Trotz des ausgeprägten Bewußtseins für die politische Dimension ihrer Fragestellung und ihrer ausgezeichneten Argumentation kann Kolodny mich nicht davon überzeugen, daß die feministische Literaturwissenschaft die Hoffnung aufgeben sollte, »ein grundlegendes Begriffssystem zu entwickeln«. Wenn wir unsere wissenschaftliche Aufgabe in der Interpretation und der Neuinterpretation sehen, müssen wir uns mit dem Pluralismus als kritischer Grundhaltung begnügen. Aber wenn wir uns nach Entstehung und Kontext des Geschriebenen fragen, wenn wir uns Außenstehenden tatsächlich erklären wollen, dürfen wir die Möglichkeit eines theoretischen Konsenses zu diesem frühen Zeitpunkt nicht ausschließen.
Jegliche feministische Literaturwissenschaft stellt in gewissem Sinn eine Revision dar: Sie stellt die Angemessenheit allgemein akzeptierter Begriffssysteme in Frage, und tatsächlich nimmt fast jede zeitgenössische amerikanische Literaturtheorie für sich in Anspruch, ebenfalls revisionistisch zu sein. Die spannendsten und umfassendsten Argumente für diesen »re-visionären« Imperativ« führt Sandra Gilbert an: Jede anspruchsvolle feministische Literaturtheorie, behauptet sie, »wolle alle verschleierten Fragen und Antworten entlarven und entmystifizieren, die die Beziehung zwischen Textlichkeit und Sexualität, Genre und Geschlecht, psychosexueller Identität und kultureller Autorität überschatten«.[11] In der Praxis aber beklagt die re-visionäre Literaturwissenschaft einen Mißstand und beruft sich doch auf bestehende Methoden. Niemand wird abstreiten wollen, daß die feministische Literaturwissenschaft Affinitäten zu anderen kritischen Ansätzen und Methoden aufweist, und daß ein hoher Informationsstand die beste Arbeit gewährleistet. Dennoch führt der feministische Drang, die männliche Theoriebildung zu korrigieren, zu modifizieren, zu ergänzen, zu revidieren, sie menschlich zu machen oder auch anzugreifen, dazu, daß wir von ihr abhängig bleiben. Er verzögert die Lösung der eigenen Probleme. Unter »männlicher Theoriebildung« verstehe ich hier ein Konzept von Kreativität, Literaturgeschichte und -interpretation, das sich ausschließlich auf männliche Erfahrungen stützt und Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt. Solange wir uns in unseren Grundprinzipien an androzentrischen Vorstellungen orientieren, lernen wir — selbst wenn wir sie revidieren, indem wir sie in ein feministisches Bezugssystem stellen — nichts dazu. Und da der Prozeß so einseitig verläuft und männliche Kritiker sich ihrer Unkenntnis der feministischen Wissenschaft rühmen, ist es entmutigend, daß viele feministische Wissenschaftlerinnen sich noch immer nach der Bestätigung durch die »weißen Väter« sehnen, die ihnen weder zuzuhören noch zu antworten gewillt sind. Einige feministische Literaturwissenschaftlerinnen haben sich einen Revisionismus zu eigen gemacht, der zu einer Art Hommage gerät: Sie haben Lacan zum Frauenheld von Dia-critics erklärt und Pierre Macherey in jene dunklen Gänge der Psyche gezwungen, die Engels nicht zu betreten wagte. Christiane Makward zufolge ist dies in Frankreich ein noch größeres Problem als in den USA: »Wenn das neofeministische Denken in Frankreich ins Stocken geraten zu sein scheint«, schreibt sie, »so liegt das daran, daß es sich weiterhin aus dem Diskurs der großen Meister nährt.«[12]
Für die feministische Literaturwissenschaft ist es an der Zeit zu entscheiden, ob wir zwischen Religion und Revision für uns einen eigenen theoretischen Standpunkt behaupten können. Ich fordere eine feministische Wissenschaft, die frauenzentriert, unabhängig und intellektuell in sich schlüssig ist. Das heißt jedoch nicht, daß ich die separatistischen Vorstellungen einiger radikalfeministischer Phantastinnen billigen oder eine Reihe intellektueller Werkzeuge aus unserer wissenschaftlichen Praxis ausschließen wollte. Ich glaube nicht, daß die feministische Literaturwissenschaft in der androzentrischen Wissenschaftstradition eine brauchbare Vergangenheit findet, auf die sie sich berufen könnte. Von der Frauenforschung kann sie mehr lernen als aus den Seminaren für englische Literatur, von der internationalen feministischen Theorie erhält sie mehr Anstöße als auf irgendeinem Seminar über die großen Meister. Sie muß den eigenen Gegenstand, das eigene System, die eigene Theorie und die eigene Stimme finden. Wie Adrienne Rieh es bereits in ihrem Gedicht über Emily Dickinson »Ich bin in Gefahr — mein Herr« fordert, müssen wir uns dafür entscheiden, den Meinungsstreit endlich auf dem eigenen Gebiet auszutragen.
Bestimmung des Weiblichen: Gynokritik und der Text der Frau
»Die Schreibweise einer Frau ist immer weiblich; sie kann nicht umhin, weiblich zu sein;
in ihrer höchsten Form ist sie am weiblichsten. Die Schwierigkeit besteht nur darin,
zu bestimmen, was wir unter weiblich verstehen.«
Virginia Woolf
»Es ist unmöglich, eine weibliche Schreibpraxis zu definieren, und dies ist eine Situation,
die sich nie ändern wird, denn eine solche Praxis wird niemals theoretisch aufgearbeitet,
eingefriedet und verschlüsselt werden — was nicht heißt, daß es sie nicht gibt.«
Helene Cixous: »Das Lachen der Medusa«
Im vergangenen Jahrzehnt hat, wie ich meine, dieser Prozeß der Bestimmung des Weiblichen eingesetzt. Die feministische Literaturwissenschaft hat ihr Interesse von revisionären Lesarten auf eine intensive Beschäftigung mit der Literatur von Frauen verlagert. Der zweite Ansatz, den die feministische Literaturwissenschaft, angeregt durch diesen Prozeß, entwickelt hat, ist die Beschäftigung mit der Frau als Autorin. Ihr Interesse richtet sich auf Geschichte, Schreibstil, Themen, Genres und formale Struktur der Literatur von Frauen. Es richtet sich auf die psychologische Dynamik weiblicher Kreativität, auf den individuellen oder kollektiven Verlauf weiblicher Karrieren und auf Entwicklung und Gesetzmäßigkeiten einer weiblichen Literaturtradition. Im Englischen gibt es keinen Begriff für einen solchermaßen spezialisierten kritischen Diskurs — deshalb führe ich den Begriff »Gynokritik« neu ein. Im Gegensatz zur feministischen Kritik eröffnet Gynokritik eine Vielzahl theoretischer Möglichkeiten. Sobald wir die Texte von Frauen zum Hauptgegenstand unserer Arbeit machen, sind wir gezwungen, den Sprung in eine neue begriffliche Perspektive zu tun und das theoretische Problem, mit dem wir konfrontiert sind, neu zu definieren. Es geht nicht mehr um das ideologische Dilemma, die revisionäre Meinungsvielfalt in Einklang zu bringen, sondern um das grundsätzliche Problem der Differenz. Wie lassen sich Frauen als eigenständige literarische Gruppierung bestimmen? Welche ist die spezifische Differenz weiblichen Schreibens?
Patricia Meyer Spacks hat wohl als erste Literaturwissenschaftlerin diese Verlagerung von einer androzentrischen zu einer gynozentrischen feministischen Literaturtheorie thematisiert. In The Female Imagination (1975) hat sie daraufhingewiesen, daß nur wenige feministische Wissenschaftlerinnen sich mit den Texten von Frauen auseinandersetzen. Simone de Beau-voirs Einschätzung schreibender Frauen in Das andere Geschlecht »impliziere immer die a priori festgelegte Tendenz, sie weniger ernst zu nehmen als die Männer«; Mary Ellman bezeichnete den literarischen Erfolg von Frauen in Thinking about Women als eine Abkehr von Weiblichkeitskategorien; und Spacks zufolge zeigt Kate Millet in Sexus und Herrschaft — »wenig Interesse an Frauen als Schriftstellerinnen«.[13] Spacks umfassende Studie leitete eine neue Phase feministischer Literaturgeschichte und -Wissenschaft ein, seitdem stellt sich unablässig die Frage, inwiefern die Schreibweise von Frauen anders gewesen sei und ihre Weiblichkeit den kreativen Ausdruck von Frauen geprägt habe. In Büchern wie Ellen Moers' Literary Women (1976), meiner Studie A Literature of Their Own (1977), Nina Bayms Wo-man's Fiction (1978), Sandra Gilberts und Susan Gubars The Madwoman in the Attic (1979) und Margaret Homans' Women Writers and Poetic Identity (1980) sowie in Hunderten von Essays und Aufsätzen haben sich Texte von Frauen als Hauptgegenstand feministischer Literaturwissenschaft durchgesetzt.
In Europa war diese thematische Verlagerung in der feministischen Literaturwissenschaft ebenfalls zu beobachten. Bis heute wird in den Kommentaren zum kritischen Diskurs französischer Literaturwissenschaftlerinnen meist der grundsätzliche Unterschied zur empirischen Ausrichtung der Amerikanerinnen betont und auf ihre ungewöhnliche intellektuelle Verankerung in der Linguistik, im Marxismus, in der an Neo-Freudianern und Lacan ausgerichteten Psychoanalyse und in der Dekonstruktion Derridas hingewiesen. Trotz dieser Unterschiede hat der neue französische Feminismus mit den radikalen feministischen Theorien in den USA im Hinblick auf intellektuelle Ausrichtung und rhetorische Sprengkraft vieles gemeinsam. Das Konzept der ecriture feminine, das Einschreiben des weiblichen Körpers und der Andersartigkeit der Frau in Sprache und Text hat in Frankreich für die feministische Literaturwissenschaft einen hohen Stellenwert, obwohl es eher eine utopische Möglichkeit als eine bestehende Schreibpraxis bezeichnet. So hat Helene Cixous, eine der führenden Verfechterinnen der ecriture feminine zugegeben, daß es bis auf wenige Ausnahmen »bislang kaum eine Schreibweise gibt, der die Weiblichkeit eingeschrieben ist«. Und Nancy Miller führt aus, daß ecriture feminine »einer avantgardistischen Textlichkeit, einem literarischen Produkt des späten zwanzigsten Jahrhunderts den Vorzug gibt und somit im Grunde eine Hoffnung, vielleicht sogar ein Entwurf für die Zukunft« sei.[14] Und doch eröffnet das Konzept der ecriture feminine einen Zugang zu Texten von Frauen, der den Stellenwert des Weiblichen wieder geltend macht und die theoretische Zielsetzung der feministischen Literaturwissenschaft in der Analyse der Differenz formuliert. Durch die Übersetzung der wichtigsten Werke von Julia Kristeva, Cixous und Luce Irigaray und die ausgezeichnete Aufsatzsammlung New French Feminism15 wurde den feministischen Wissenschaftlerinnen in den USA und Europa die französische Theorie leichter zugänglich.
Die feministische Literaturwissenschaft in England, die sich auf marxistische Theorie und den Ansatz der französischen Feministinnen beruft, aber eher auf traditionelle Textinterpretation ausgerichtet ist, hat allmählich ebenfalls die Texte von Frauen in den Mittelpunkt gerückt.[16] In den einzelnen Ländern werden jeweils leicht voneinander abweichende Schwerpunkte gesetzt: Die feministische Literaturwissenschaft Englands, vorwiegend marxistisch ausgerichtet, betont das Moment der Unterdrückung; die feministische Literaturwissenschaft Frankreichs, vorwiegend psychoanalytisch ausgerichtet, betont das Moment der Verdrängung; die feministische Literaturwissenschaft der USA, vorwiegend textorientiert, betont das Moment des literarischen Ausdrucks. Alle sind jedoch gynozentrisch ausgerichtet. Und alle sind um eine Terminologie bemüht, die die stereotype Verbindung von Weiblichkeit und Minderwertigkeit auflösen könnte.
Die Bestimmung der spezifischen Andersartigkeit weiblichen Schreibens stellt, wie Woolf und Cixous betont haben, notwendigerweise eine schwer faßbare und anspruchsvolle Aufgabe dar. Ist die Andersartigkeit eine Frage des Stils? Des Genres? Der Erfahrung? Oder stellt sie sich, wie einige Textkritikerinnen behaupten, erst im Prozeß des Lesens her? Spacks bezeichnet die Andersartigkeit der Schreibweise von Frauen als eine »feine Divergenz« und trägt damit der Subtilität, dem schwer Faßbaren der weiblichen Schreibpraxis Rechnung. Doch die feine Divergenz der Texte von Frauen erfordert von uns, mit ebensolchem Feingefühl und mit Genauigkeit auf die kleinen, aber entscheidenden Abweichungen, die verstärkte Gewichtung von Erfahrung und Ausschluß zu achten, die für die Geschichte weiblicher Literatur bestimmend waren. Bevor wir diese Geschichte auswerten können, müssen wir sie in geduldiger und gewissenhafter Arbeit erst zum Vorschein bringen; unsere Theorie muß auf Textkenntnis und genaue Forschungen gründen. Aber durch die gynozentrische Literaturwissenschaft eröffnet sich uns die Möglichkeit, in unserer Arbeit über das Verhältnis von Frauen und literarischer Kultur zu stichhaltigen, dauerhaften Resultaten zu kommen.
Theorien weiblichen Schreibens bedienen sich derzeit vier verschiedener Differenzmodelle: eines biologischen, eines linguistischen, eines psychoanalytischen und eines kulturkritischen. Jedes Modell ist ein Versuch, die Qualitäten der schreibenden Frau und ihres Textes zu benennen und zu differenzieren. Zudem stehen die Modelle stellvertretend für die verschiedenen Richtungen in der gynozentrischen Literaturwissenschaft mit ihren jeweiligen Methoden, bevorzugten Texten und literarischen Techniken. Sie überschneiden sich teilweise, können jedoch, da jedes Modell das vorangegangene einschließt, in einer gewissen Abfolge betrachtet werden. Ich stelle nun die verschiedenen terminologischen Bestimmungen und inhaltlichen Voraussetzungen der vier Differenzmodeile dar und prüfe sie auf ihre Brauchbarkeit.
Weibliche Schrift und weiblicher Körper
»Mehr Körper, also mehr Schrift.«
Helene Cixous: »Das Lachen der Medusa«
Die organisch oder biologisch orientierte Literaturwissenschaft macht die extremsten Aussagen zum Geschlechtsunterschied, zum Text, dem der Körper unauslöschlich eingeschrieben ist: Anatomie ist Textlichkeit. Zugleich ist ihre Theorie eine der rätselhaftesten und verwirrendsten im Spektrum feministischer Literaturwissenschaft. Eine einfache Berufung auf die Anatomie birgt die Gefahr, in kruden Essentialismus, in eine auf Phallus und Eierstock fußende Kunsttheorie zurückzufallen, mit der Frauen in der Vergangenheit unterdrückt wurden. Viktorianische Ärzte glaubten, daß durch die körperlichen Funktionen der Frau etwa zwanzig Prozent ihrer schöpferischen Energie von der Gehirntätigkeit abgezogen würden. Viktorianische Anthropologen glaubten, daß die Frontlappen des männlichen Großhirns schwerer und entwickelter wären als die des weiblichen und die Intelligenz der Frau deshalb minderwertig wäre.
Während die feministische Wissenschaft die Vorstellung von der biologischen Minderwertigkeit im eigentlichen Sinn ablehnt, scheinen einige Theoretikerinnen die metaphorischen Implikationen der biologischen Andersartigkeit der Frau für die Schrift akzeptiert zu haben. So gliedern Gilbert und Gubar in The Mad-woman in the Attic ihre Analyse weiblicher Texte nach Metaphern für literarische Vaterschaft. »In der patriarchalen westlichen Kultur«, behaupten sie, »... ist der Autor des Textes ein Vater, ein Vorfahr, ein Erzeuger, ein ästhetischer Patriarch, dessen Stift ein Instrument der Zeugungskraft ist wie sein Penis.« Aufgrund ihrer mangelnden phallischen Autorität, so argumentieren sie weiter, sei das Schreiben der Frau grundlegend bestimmt von dieser Angst vor dem Unterschied: »Wenn der Stift ein metaphorischer Penis ist, aus welchem Organ können dann Frauen Texte hervorbringen?«[17]
Gilbert und Gubar bieten auf diese rhetorische Frage keine Antwort; sie hat aber in der feministischen Theorie vielerorts zu ernsthaften Auseinandersetzungen geführt. Kritikerinnen, die, wie auch ich, gegen diese fundamentale Analogie Einspruch erheben, sind versucht zu erwidern, daß Frauen ihre Texte im Gehirn erzeugen, oder daß der Word Processor mit seinen kompakt kodierten Mikrochips, seinen Inputs und Outputs, eine metaphorische Gebärmutter sei. Die Metapher von der literarischen Vaterschaft verkennt, wie Auerbach in ihrer Renzension zu The Madwoman ausführte, »eine gleichermaßen zeitlose und in meinen Augen noch repressivere metaphorische Gleichsetzung von literarischer Kreativität und Geburt«.[18] Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert war die Metapher literarischer Mutterschaft sicherlich geläufiger; für den Prozeß literarischen Schaffens trifft die Analogie zu Schwangerschaft, Wehen und Entbindung eher zu als die der Befruchtung. Als er Thackereys Plan für Henry Esmond beschrieb, bemerkte Douglas Jerrold beispielsweise jovial: »Sie werden wahrscheinlich schon gehört haben, daß Thackerey mit zwanzig Abschnitten schwanger geht und, falls er in der Zeit bleibt, für Weihnachten mit der ersten Fortsetzung rechnet.«[19] (Wenn Schreiben eine metaphorische Geburt ist — welches Organ des Mannes kann dann einen Text hervorbringen?)
Einige radikalfeministische Literaturwissenschaftlerinnen, vor allem in Frankreich, aber auch in den USA fordern, daß wir diese Metaphern nicht nur spielerisch lesen sollten. Sie behaupten, daß »die Schrift der Frau aus ihrem Körper kommt und unsere körperliche Andersartigkeit zugleich unser Ursprung« sei.[20] In Von Frauen geboren gibt Rich ihrem Glauben Ausdruck, daß
- »die weibliche Biologie — die diffuse und intensive Sinnlichkeit, die gleichsam strahlenförmig von der Klitoris, den Brüsten, der Gebärmutter und der Vagina ausgeht, daß die Mondzyklen der Menstruation, die Schwangerschaft und das Ausreifen von Leben, das im weiblichen Körper stattfinden kann — weit radikalere Implikationen haben, als wir bis jetzt einschätzen können. Patriarchales Denken hat die weibliche Biologie auf seine eigenen engen Definitionen begrenzt. Aus genau diesen Gründen schreckt die feministische Sichtweise vor der weiblichen Biologie zurück; sie wird aber, so hoffe ich, dahin kommen, unsere Körperlichkeit eher als Lebensquelle denn als Schicksal anzusehen. Um ein voll menschliches Leben zu leben, bedürfen wir nicht nur der Kontrolle über unseren Körper (wenn Kontrolle auch eine Voraussetzung ist), wir müssen vielmehr an die Harmonie und Resonanz unserer Körperlichkeit herankommen, an unsere Bindung an die natürliche Ordnung, an das materialistische Fundament unserer Intelligenz.«[21]
Die feministische Literaturwissenschaft, die aus einer biologischen Perspektive heraus argumentiert, betont gewöhnlich die Wichtigkeit des Körpers als Ausgangspunkt von Metaphorik. So behauptet Alicia Ostriker beispielsweise, daß zeitgenössische amerikanische Dichterinnen eine unverhohlenere, eindringlichere anatomische Metaphorik benutzen als ihre männlichen Kollegen; diese Körpersprache widersetze sich der Scheintranszendenz, die der Preis für die Verleugnung des Fleisches sei. In einem faszinierenden Essay über Whitman und Dickinson weist Terence Digory nach, daß körperliche Nacktheit — für Whitman und andere männliche Dichter ein so mächtiges poetisches Symbol für Authentizität — für Dickinson und die Dichterinnen in ihrer Nachfolge eine vollkommen andere Konnotation hatte. Sie verbanden Nacktheit mit dem objektivierten oder sexuell ausgebeuteten weiblichen Akt und wählten statt dessen die schützende Metapher des gepanzerten Ich.[22]
Die Essays der feministischen Literaturwissenschaftlerinnen, die ihren biologischen Standpunkt für sich selbst einzulösen und aus ihrem Körper zu schreiben versuchen, haben einen vertraulichen, bekenntnishaften Ton und sind in Form und Stil oft innovativ. In »Washing Blood«, der Einleitung zu einem Sonderheft von Feminist Studies zum Thema Mutterschaft, beschreibt Rachel Blau DuPlessis in kurzen lyrischen Abschnitten ihre Erfahrungen mit der Adoption eines Kindes. Sie beschreibt ihre Träume und Alpträume und meditiert über »die heilende Vereinigung von Körper und Geist, die nicht nur auf den Erfahrungen von Mutterschaft als einer sozialen Institution basiert .., sondern zugleich auf einer biologischen Macht, die durch uns spricht«.[23] Eine solche Literaturwissenschaft macht sich auf herausfordernde Weise verletzlich, liefert sich förmlich dem Messer aus, denn die Tabuisierung der Selbstenthüllung ist auf unserem Gebiet stark entwickelt. Gelingt ein solcher Text jedoch, erlangt er die Ausdruckskraft und Erhabenheit von Kunst. Die Existenz dieser kritischen Richtung ist ein impliziter Vorwurf an die Literaturwissenschaftlerinnen, die, wie Rieh einmal formulierte, weiterhin »von irgendwo außerhalb ihres weiblichen Körpers schreiben«. Im Vergleich mit dieser fließenden Bekenntniskritik mag die schmallippige olympische Weisheit von Texten wie Elizabeth Hardwicks Verführung und Betrug oder Susan Sontags Krankheit als Metapher tatsächlich trocken und gekünstelt wirken.
Doch aufgrund ihrer Besessenheit von dem »körperlichen Ursprung unserer Intelligenz« erhebt die feministische Biokritik oft unerbittliche normative Forderungen. In gewissem Sinn wird das Vorführen blutiger Wunden zu einem Initiationsritual, das mit wissenschaftlicher Erkenntnis nur noch wenig zu tun hat. Wie die Herausgeberinnen der französischen Zeitschrift Questions feministes betonen, »...ist es gefährlich, den Körper auf der Suche nach der weiblichen Identität ins Zentrum zu rücken... Die Probleme der Andersartigkeit und der Körperlichkeit gehen ineinander über, da der auffälligste Unterschied zwischen Mann und Frau und zudem derjenige, von dem wir wissen, daß er Bestand haben wird... tatsächlich der körperliche Unterschied ist. Dieser Unterschied hat lange als Vorwand gedient, um die vollkommene Macht des einen Geschlechts über das andere zu rechtfertigen.« (NFF, S. 218) Die Beschäftigung mit der biologischen Metaphorik in den Texten von Frauen ist nützlich und sinnvoll, solange wir uns bewußt sind, daß zugleich andere Faktoren als die Anatomie in die Metaphern eingehen. Um herauszufinden, wie Frauen ihre Stellung in der Gesellschaft wahrnehmen, sind Vorstellungen über den weiblichen Körper unerläßlich; doch es kann keinen körperlichen Ausdruck geben, der nicht durch linguistische, soziale und literarische Strukturen vermittelt wäre. Die Andersartigkeit der Schreibpraxis von Frauen muß deshalb (laut Miller) eher »in der Substanz ihrer Texte als in der Schrift ihrer Körper« ermittelt werden.[24]
Weibliche Schrift und weibliche Sprache
»Die Frauen sagen, die Sprache, die du sprichst, vergiftet dir die Kehle
die Zunge den Gaumen die Lippen.
Sie sagen, die Sprache, die du sprichst, ist aus Worten gemacht,
die dich töten. Sie sagen, die Sprache, die du sprichst, ist aus Zeichen gemacht,
die genau genommen das bezeichnen, was sie sich angeeignet haben.«
Monique Wittig: »Die Verschwörung der Balkis. Les Guerilleres.«
Linguistische und textkritische Theorien zur Frauenliteratur gehen von der Frage aus, ob Männer und Frauen Sprache unterschiedlich benutzen; ob der Geschlechtsunterschied im Sprachgebrauch hinsichtlich der Biologie, Sozialisation und Kultur theoretisch zu fassen ist; ob die Frauen sich eine eigene Sprache schaffen können; ob jegliches Sprechen, Schreiben und Lesen geschlechtsspezifisch ist. Amerikanische, französische und britische Literaturwissenschaftlerinnen haben auf die philosophischen, linguistischen und praktischen Probleme im Sprachgebrauch von Frauen aufmerksam gemacht. Die Diskussion des Sprachproblems ist darüber zu einem der spannendsten Gebiete der Gynokritik geworden. Dichterinnen und Schriftstellerinnen bliesen zum ersten Angriff auf das, was Rieh als »die Sprache des Unterdrückers« bezeichnet, auf eine Sprache, die manchmal als sexistisch, manchmal als abstrakt kritisiert wird. Aber das Problem geht über rein reformistische Bemühungen hinaus, die Sprache von ihren sexistischen Aspekten zu befreien. So erläutert Nelly Furman: »Durch das Medium der Sprache definieren und klassifizieren wir die Bereiche der Andersartigkeit und der Ähnlichkeit, was uns wiederum ermöglicht, die uns umgebende Welt zu verstehen. Im amerikanischen Englisch herrschen männerzentrierte Klassifizierungen vor, die auf subtile Weise unser Verständnis und unsere Wahrnehmung von der Realität formen; deshalb wird unsere Aufmerksamkeit zunehmend auf die dem männlich konstruierten Sprachsystem innewohnenden repressiven Aspekte für Frauen gelenkt.«[25] Carolyn Burke zufolge nimmt das Sprachsystem in der Literaturtheorie der französischen Feministinnen einen zentralen Stellenwert ein:
- »In Frankreich ist das Hauptanliegen der meisten neueren Texte von Frauen, eine geeignete weibliche Sprache zu finden und zu benutzen. Sprache muß der Ausgangspunkt sein: auf eine prise de conscience muß eine prise de la parole folgen... Aus dieser Perspektive ist der dominante Diskurs bis in die Form hinein von der dominanten männlichen Ideologie geprägt. Folglich ist jede Frau, die sich ins Leben spricht oder schreibt, gezwungen, in einer Art Fremdsprache zu reden, einer Sprache, in der sie sich persönlich unwohl fühlen mag.«[26]
Etliche französische Feministinnen befürworten einen revolutionären linguism, einen sprachlichen Bruch mit der Diktatur pa-triarchaler Sprache. In Parole de femme fordert Annie Leclerc die Frauen auf, »eine Sprache zu erfinden, die nicht unterdrückt, eine Sprache, die nicht sprachlos macht, sondern die Zunge löst«. (NFF, S. 179) In einem Essay über »La Chair linguistique« vereinigt Chantal Chawaf Biofeminismus und linguism zu dem Standpunkt, daß sich in der Sprache der Frauen und in einer ausgesprochen weiblichen Schreibpraxis der Körper artikuliert:
- »Um das Buch wieder mit dem Körper und mit Lust in Verbindung zu bringen, müssen wir unser Schreiben entintellektualisieren... Und diese Sprache wird im Verlauf ihrer Entwicklung nicht verkommen und trocken werden., wird nicht in diese entsinnlichte akademische Sprache, diesen stereotypen und unterwürfigen Diskurs zurückfallen, dem wir uns widersetzen... Die weibliche Sprache muß ihrem Wesen nach das Leben leidenschaftlich, wissenschaftlich, poetisch und politisch aufarbeiten, um es unangreifbar zu machen.« (NFF, S. 177-178)
Doch Wissenschaftlerinnen, denen eine weibliche Sprache vorschwebt, die tatsächlich intellektuell und theoretisch ist und innerhalb des Wissenschaftsbetriebs zu gebrauchen, sehen sich, wie Xaviere Gauthier beklagt, mit einem anscheinend unlösbaren Widerspruch konfrontiert: »Solange Frauen still bleiben, werden sie sich außerhalb des historischen Prozesses befinden. Doch wenn sie wie Männer zu sprechen und zu schreiben beginnen, treten sie unterdrückt und entfremdet in die Geschichte ein; es ist eine Geschichte, die ihre Sprache, rein logisch gesehen, eigentlich sprengen müßte.« (NFF, S. 162-3) Was wir brauchen, so Mary Jacobus, ist eine weibliche Schreibweise, die innerhalb des »männlichen« Diskurses funktioniert, aber ständig bestrebt ist, »ihn zu dekonstruieren: zu schreiben, was nicht geschrieben werden kann«. Und laut Shoshana Feldman »ist die Herausforderung, mit der die Frau gegenwärtig konfrontiert ist, nichts Geringeres als die Notwendigkeit, Sprache ,neu zu erfinden'... nicht nur dagegen, sondern außerhalb der selbstgerechten phallozentrischen Sprachstrukturen zu sprechen, um einen Diskurs zu etablieren, dessen Status nicht mehr vom Phallokra-tismus männlicher Bedeutung bestimmt wäre«.[27]
Was können uns linguistische, historische und anthropologische Forschungen neben spekulativen Phrasen über zukünftige Möglichkeiten einer weiblichen Sprache mitteilen? Zunächst ist die Vorstellung von einer eigenen Frauensprache nicht erst eine Errungenschaft der feministischen Wissenschaft; sie ist bereits sehr alt und taucht immer wieder in Volksmärchen und Mythen auf. In solchen Mythen ist das Wesentliche der Frauensprache ihre Geheimhaltung: Was tatsächlich beschrieben wird, sind männliche Phantasien über die rätselhafte Natur des Weiblichen. So berichtet Herodot, die Amazonen seien sprachbegabt gewesen und hätten die Sprache ihrer männlichen Gegner mühelos beherrscht, wohingegen die Männer die Sprache der Frauen niemals hätten lernen können. In Die weiße Göttin entwickelt Robert Graves die romantische Vorstellung, daß es in der matriarchalen Phase der Vorgeschichte eine Frauensprache gegeben habe: nach einem großen Geschlechterkampf sei das Matriarchat gestürzt und die Frauensprache in den Untergrund abgedrängt worden, um im Mysterienkult von Eleusis und Korinth und im Hexensabbat in Westeuropa wiederaufzuleben. Reisende und Missionare des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts berichteten von »Frauensprachen« bei indianischen Völkern Nordamerikas, bei afrikanischen und asiatischen Völkern (ihre Angaben zur Unterschiedlichkeit der Sprachstrukturen waren gewöhnlich sehr oberflächlich). Einige ethnographische Befunde deuten darauf hin, daß Frauen in gewissen Kulturen eine private Form der Kommunikation entwickelten, um sich dem Schweigen zu widersetzen, das ihnen im öffentlichen Leben aufgezwungen wurde. In ekstatischen Religionen reden Frauen beispielsweise häufiger als Männer in Zungen — ein Phänomen, das Anthropologinnen ihrer relativen Unkenntnis des offiziellen religiösen Diskurses zuschreiben. Doch solchermaßen ritualisierte und unverständliche Formen weiblicher »Sprachen« geben kaum Anlaß zur Freude: denn tatsächlich wurden Hexen verbrannt, weil sie eines geheimen Wissens und einer besessenen Sprache verdächtigt wurden.[28]
In politischer Hinsicht finden sich interessante Parallelen zwischen dem feministischen Problem der Frauensprache und dem regelmäßig wiederkehrenden »Sprachproblem« in der Geschichte der Entkolonisierung. Nach einer Revolution muß der neue Staat sich entscheiden, welche Sprache er zu seiner Amtssprache machen will: die Sprache, die »psychologisch unmittelbar verfügbar« ist und »jene Art von (Sprach-)Gewalt zuläßt, die nur das Sprechen der eigenen Muttersprache erlaubt«, oder jene Sprache, die »einen Weg zu der größeren Gemeinschaft moderner Kulturen bahnt«, deren Gedankengut allein durch den Gebrauch einer »fremden« Sprache zugänglich wird.[29] In gewisser Weise ist das Sprachproblem für die feministische Wissenschaft nach unserer Revolution akut geworden: In der Frauenbewegung entlarvt es die Spannungen zwischen denen, die außerhalb der akademischen Einrichtungen und wissenschaftlichen Institutionen bleiben wollen, und jenen, die in ihnen arbeiten und sie sogar bezwingen wollen.
Somit erweist sich die Befürwortung einer Frauensprache als eine politische Geste mit ungeheurer emotionaler Kraft. Doch trotz seiner verbindenden Wirkung ist das Konzept einer weiblichen Sprache von Schwierigkeiten durchsetzt. Im Gegensatz zum Walisischen, Bretonischen, Amharischen oder zu Swahili, d. h. zu Sprachen von Minderheiten oder kolonisierten Bevölkerungsgruppen, gibt es keine Muttersprache und keinen geschlechtsspezifischen Dialekt, der von der weiblichen Bevölkerung einer Gesellschaft gesprochen und sich von der vorherrschenden Sprache unterscheiden würde. Englische und amerikanische Sprachwissenschaftler/innen sind sich darin einig, daß »es absolut keinen Anhaltspunkt dafür gibt, daß die Geschlechter von Geburt an prädestiniert sind, strukturell unterschiedliche Sprachsysteme zu entwickeln«. Zudem können die vielen spezifischen Unterschiede zwischen der Sprache, der Intonation und dem Sprachgebrauch von Männern und Frauen, die bislang identifiziert wurden, keineswegs auf »zwei unterschiedliche geschlechtsspezifische Sprachen« zurückgeführt werden. Stattdessen müssen sie im Hinblick auf Stilmittel, Strategien und den Kontext sprachlicher Performance untersucht werden.[30] Bemühungen um quantitative Sprachanalysen von Texten weiblicher und männlicher Autoren — wie Mary Hiatts Computerstudie zu zeitgenössischer Literatur.- The Way Women Write (1977) — kann ohne weiteres der Vorwurf gemacht werden, Wörter unabhängig von ihren Bedeutungen und Wirkungen zu betrachten. Anspruchsvolle Untersuchungen, die den »weiblichen Schreibstil« an der Wiederholung von Stilmitteln, der Metaphorik und der syntaktischen Struktur der Texte von Frauen festzumachen suchen, neigen dazu, gewachsene Sprachformen mit dem Resultat bewußter literarischer Wortwahl zu verwechseln. Sprache und Stil sind niemals natürlich und instinktiv, sondern müssen als das Produkt unzähliger Faktoren wie Genre, Tradition, Gedächtnis und Kontext gesehen werden.
Ich halte es für die angemessenste Aufgabe der feministischen Literaturwissenschaft, sich auf den Zugang der Frauen zur Sprache, auf den verfügbaren Sprachschatz, aus dem Wörter ausgewählt werden können, und auf die ideologischen und kulturellen Determinanten sprachlichen Ausdrucks zu konzentrieren. Das Problem liegt nicht darin, daß die Sprache nicht genug Ausdrucksmöglichkeiten für das weibliche Bewußtsein bietet, sondern darin, daß Frauen der Zugang zum gesamten Reichtum der Sprache verwehrt wurde und sie zum Schweigen, zu Euphemismen und Umschreibungen gezwungen waren. In einer Reihe von Entwürfen zu einer Vorlesung über das Schreiben von Frauen (Entwürfe, die sie verwarf oder unterdrückte) protestierte Woolf gegen die Zensur, die den weiblichen Zugang zur Sprache verwehrt. Indem sie sich mit Joyce verglich, stellte Woolf den Unterschied zwischen beiden sprachlichen Territorien heraus: »Jetzt sind die Männer schockiert, wenn eine Frau sagt, was sie fühlt (wie Joyce es tut). Aber eine Literatur, die sich ständig Scheuklappen anlegt, ist keine Literatur. All dies sollten wir zum Ausdruck bringen — Geist und Körper — ein unglaublich schwieriger und gefährlicher Prozeß.«[31]
»All dies sollten wir zum Ausdruck bringen — Geist und Körper.« Statt die sprachlichen Möglichkeiten von Frauen eingrenzen zu wollen, müssen wir dafür kämpfen, sie uns zu eröffnen und zu erweitern. Die Löcher im Diskurs, die Leerstellen und Lücken und das Verschwiegene sind nicht die Orte, an denen weibliches Bewußtsein zum Vorschein kommt, sondern die Scheuklappen eines »Sprachgefängnisses«. Die Literatur von Frauen wird immer noch von den Geistern einer unterdrückten Sprache verfolgt, und solange wir diese Geister nicht gebändigt haben, sollte sich unsere Theorie der Differenz nicht auf Sprache gründen.
Weibliches Schreiben und weibliche Psyche
Psychoanalytisch orientierte feministische Literaturwissenschaft leitet die Andersartigkeit der weiblichen Schreibweise aus der Psyche der Autorin und der Funktion des Geschlechts im schöpferischen Prozeß her. Sie bezieht die biologischen und linguistischen Modelle zum Geschlechtsunterschied in ihre Theorie der weiblichen Psyche oder des weiblichen Ich ein, das vom Körper, von der Sprachentwicklung und der geschlechtsspezifischen Sozialisation geprägt ist. Auch hier gilt es noch viele Schwierigkeiten zu überwinden: Das Freud'sche Modell bedarf ständiger Revision, um in einen gynozentrischen Ansatz überführt werden zu können. Ein frühes Beispiel für eine groteske Form Freud'sehen Reduktionismus ist Theodor Reiks Argumentation, daß Frauen weniger Schreibhemmungen haben als Männer, weil ihre Körper so gebaut sind, daß die Entleerung der Blase erleichtert wird: »Wie Freud uns am Ende seines Lebens mitteilte, steht das Schreiben mit dem Urinieren in Verbindung, das den Frauen physiologisch leichter fällt — sie haben eine größere Blase.«[32] Im allgemeinen hat sich der psychoanalytische Ansatz jedoch nicht auf die große Blase (vielleicht könnte sie das Organ sein, aus dem Frauen Texte hervorbringen?), sondern auf den fehlenden Penis konzentriert. Penisneid, der Kastrationskomplex und die ödipale Phase sind die Freud'schen Koordinaten, aus denen die psychoanalytische Literaturwissenschaft das Verhältnis der Frau zu Sprache, Phantasie und Kultur ableitet. Gegenwärtig hat die vom Lacan'schen Ansatz bestimmte psychoanalytische Theoriebildung in Frankreich die Kastration zu einer umfassenden Metapher für die literarische und sprachliche Benachteiligung der Frau ausgeweitet. Lacan vertritt die Theorie, daß der Erwerb von Sprache und der Eintritt in ihre symbolische Ordnung in der ödipalen Phase geschehen, in der das Kind seine oder ihre Geschlechtsidentität annimmt. Diese Phase erfordert ein Akzeptieren des Phallus als einer privilegierten Signifikanz und folglich eine Verdrängung des Weiblichen, wie Cora Kaplan erklärt:
- »Als Bedeutungsträger nimmt der Phallus in der Sprache eine zentrale, entscheidende Position ein, denn wenn die Sprache das patriarchale Gesetz der Kultur verkörpert, haben ihre grundlegenden Bedeutungen einen Bezug zum ständig wiederkehrenden Prozeß, über den Geschlechtsunterschied und Subjektivität angeeignet werden... Somit ist der Zugang des kleinen Mädchens zum Symbolischen, d. h. zur Sprache und ihren Gesetzmäßigkeiten immer negativ bestimmt und/oder durch die intrasubjektive Beziehung zu einem Dritten vermittelt, denn er ist von einer Identifikation mit dem Mangel gekennzeichnet.«[33]
Im psychoanalytischen Begriffssystem wurde »Mangel« traditionell mit dem Weiblichen assoziiert, obwohl jene Literaturwissen-schaftlerinnen, die sich auf Lacan berufen, ihre theoretischen Aussagen jetzt linguistisch formulieren können. Viele Feministinnen sind der Überzeugung, daß die Psychoanalyse für die Literaturwissenschaft nutzbar gemacht werden kann, und erst vor kurzem hat sich wieder ein stärkeres Interesse an den Theorien Freuds entwickelt. Doch die feministische Literaturtheorie, die sich auf die Freud'sche oder Post-Freud'sche Psychoanalyse beruft, ist ständig gezwungen, sich mit dem weiblichen Mangel und der Minderwertigkeit der Frau auseinanderzusetzen. In The Madwoman in the Attic entwickeln Gilbert und Gubar eine neue feministische Lesart von Harold Blooms ödipalem Literaturmodell, das die Literaturgeschichte als einen Konflikt zwischen Vätern und Söhnen begreift; sie akzeptieren im wesentlichen die psychoanalytische Definition der Künstlerin als verrückter, enterbter und ausgeschlossener Frau. Ihrer Ansicht nach sind das Wesen und die »dtfference« weiblichen Schreibens im gestörten, sogar gequälten Verhältnis der Autorin zu ihrer
weiblichen Identität begründet; sie erlebe ihr eigenes Geschlecht als »ein qualvolles Hindernis oder eine lähmende Unzulänglichkeit«. Die Schriftstellerin des neunzehnten Jahrhunderts habe ihren Texten ihre Krankheit, ihren Wahnsinn, ihre Magersucht, ihre Lähmung und ihre Platzangst eingeschrieben. Obwohl Gilbert und Gubar sich vorwiegend mit dem neunzehnten Jahrhundert auseinandersetzen, läßt die Bandbreite ihrer Anspielungen und Zitate auf eine allgemeinere These schließen:
- »Daher die Einsamkeit der Künstlerin, das Gefühl der Entfremdung von ihren männlichen Vorfahren, das sich mit dem Wunsch nach schwesterlichen Vorgängerinnen und Nachfolgerinnen verbindet; daher ihre nachdrückliche Sehnsucht nach einer weiblichen Leserschaft und die damit verbundene Angst vor der Feindseligkeit männlicher Leser; daher ihre kulturell bedingte Scheu vor der literarischen Selbstdarstellung, ihre Furcht vor der patriarchalen Kunstautorität, ihre Sorge um die Unschicklichkeit weiblicher Phantasie — all diese Phänomene der ,Minderwertigkeit' bestimmen den Kampf der Autorin um künstlerische Selbstbestimmung und unterscheiden ihre Bemühungen um Selbst-Gestaltung von der ihrer männlichen Kollegen.«[34]
In »Emphasis Added« wählt Miller einen anderen Zugang zum Problem der Negativität in der psychoanalytischen Literaturtheorie. Ihre Vorgehensweise ist davon bestimmt, Freuds Ansichten zur weiblichen Kreativität auszuweiten und zu zeigen, daß die Analyse der Texte von Frauen häufig unfair war, weil sie sich auf Freud'sche Erwartungen gründete. In seinem Aufsatz »Der Dichter und das Phantasieren« (1908) behauptet Freud, die unbefriedigten Träume und Wünsche von Frauen seien vorwiegend erotischer Natur; dies seien die Wünsche, aus denen die Fabeln der Prosaliteratur von Frauen hervorgehen. Im Gegensatz dazu seien die vorherrschenden Phantasien, die hinter den Fabeln männlicher Autoren stehen, ebenso egoistisch und ehrgeizig wie erotisch. Miller weist nun nach, wie den weiblichen Fabeln in Abhängigkeit von ihrer Übereinstimmung mit diesem phallozentrischen Modell Glaubwürdigkeit zugesprochen oder versagt wurde und daß eine gynozentrische Lesart in den Texten von Frauen ebenso wie in denen von Männern eine unterdrückte egoistische/ehrgeizige Phantasie nachweisen könnte. Die Romane von Schriftstellerinnen, in denen es vor allem um die phantastische Vorstellung romantischer Liebe ginge, gehörten zu der literarischen Kategorie, die von George Eliot und anderen ernstzunehmenden Schriftstellerinnen verächtlich als »alberne Romane« bezeichnet wurden. Die kleine Anzahl von Romanen, denen eine Machtphantasie eingeschrieben wäre, imagi-nierten eine Welt für Frauen außerhalb von Liebesbeziehungen, eine Welt, die aufgrund sozialer Beschränkungen allerdings nicht zu verwirklichen war.
Zudem sind einige interessante feministische Literaturtheorien entwickelt worden, die sich auf Alternativen zur Psychoanalyse Freuds stützen: Annis Pratts vom Jung'schen Ansatz geprägte Geschichte weiblicher Archetypen, Barbara Rigneys Untersuchung des gespaltenen Subjekts in der Literatur von Frauen, die auf den Ansatz Laings zurückgeht, und Ann Douglas' auf Erikson fußende Analyse des Innenraums in Texten von Frauen des neunzehnten Jahrhunderts.[35] Weiterhin haben sich in den letzten Jahren einige feministische Wissenschaftlerinnen mit der Möglichkeit einer neuen feministischen Psychoanalyse auseinandergesetzt, die Freud nicht revidiert, sondern die Entwicklung und die Struktur von Geschlechtsidentität zu ihrem Thema macht.
Der spannendste und vielversprechendste Ansatz in der feministischen Psychoanalyse beschäftigt sich mit der präödipalen Phase und dem Prozeß psychosexueller Differenzierung. Nancy Chodorows Das Erbe der Mütter. Psychoanalyse und Soziologie der Geschlechter hat auf die Frauenforschung in den USA einen enormen Einfluß gehabt. Chodorow revidiert das traditionelle psychoanalytische Konzept der Entwicklung der Geschlechterpersönlichkeit, jenes Prozesses, durch den das Kind dazu gelangt, das Ich als eigenständig wahrzunehmen und Ich- und Körpergrenzen zu entwickeln. Da die Differenzierung sich im Hinblick auf die Mutter (die erste Bezugsperson) vollziehe, werde bereits »in der frühen Phase der Ich-Differenzierung« eine Haltung zur Mutter entwickelt; »die Mutter, die eine Frau ist, wird und bleibt für die Kinder beiderlei Geschlechts das Andere oder das Objekt«.[36] Zusammen mit der Differenzierung entwickelt das Kind eine geschlechtliche Kernidentität, doch dieser Prozeß ist bei Jungen und Mädchen nicht identisch. Ein Junge muß seine geschlechtliche Identität negativ als nicht-weiblich erfahren, und dieser Unterschied erfordert ständige Unterstützung. Im Gegensatz dazu ist die geschlechtliche Kernidentität des Mädchens positiv und gründet sich auf Identität, Kontinuität und die Identifikation mit der Mutter. Die Schwierigkeiten der Frau mit ihrer weiblichen Identität treten erst nach der ödipalen Phase auf, in der der Geschlechtsunterschied durch männliche Macht und kulturelle Vorherrschaft eine Umwertung erfährt. Chodorows Arbeit läßt darauf schließen, daß eine gemeinsame Erziehung und die Einbeziehung des Mannes als wichtige Bezugsperson für die Kinder eine tiefgehende Wirkung auf unser Verständnis von Geschlechtsunterschied, geschlechtlicher Identität und sexuellen Vorlieben hätte.
Doch welche Bedeutung hat die feministische Psychoanalyse für die Literaturwissenschaft? Thematisch übernommen wurde das literaturwissenschaftliche Interesse am Mutter-Tochter-Verhältnis als einer Quelle weiblicher Kreativität.[37] In ihrer kühnen Arbeit zu weiblichen Freundschaften in zeitgenössischen Romanen von Frauen bedient Elizabeth Abel sich Chodorows Theorie, um nachzuweisen, daß nicht nur die Beziehungen zwischen den weiblichen Charakteren, sondern auch das Verhältnis der Schriftstellerinnen untereinander von der Psychodynamik weiblicher Bindungen geprägt sind. Auch sie setzt sich mit Blooms Paradigmen für die Literaturgeschichte auseinander. Doch im Gegensatz zu Gilbert und Gubar geht sie von einer »weiblichen Triadenstruktur« aus, in der die ödipale Beziehung zur männlichen Tradition durch die präödipale Beziehung der Schriftstellerin zur weiblichen Tradition ausgeglichen wird. »Ebenso wie sich die Psychodynamik weiblicher Freundschaften von der männlicher unterscheidet«, folgert Abel, »gestaltet sich die Dynamik des literarischen Einflusses von Frauen anders und erfordert eine Theorie des Einflusses, die auf die weibliche Psychologie und die duale Position der Frau in der Literaturgeschichte abgestimmt ist.«[38]
Ähnlich wie Gilbert, Gubar und Miller bringt Abel Frauentexte aus vielen literarischen Kulturen zusammen, da es ihre Absicht ist, »die Beständigkeit gewisser gefühlsdynamischer Prozesse, die in den verschiedensten kulturellen Situationen zum Ausdruck kommen«, hervorzuheben. Doch das bevorzugte Interesse am geschlechtlichen Aspekt impliziert nicht nur die Beständigkeit, sondern auch die Unwandelbarkeit dieser dynamischen Prozesse. Die psychoanalytisch orientierte feministische Literaturwissenschaft kann uns zwar bemerkenswerte und überzeugende Lesarten einzelner Texte bieten und auf die auffallenden Ähnlichkeiten zwischen der Frauenliteratur aus verschiedensten kulturellen Umfeldern hinweisen. Doch sie bietet keine Erklärung für geschichtlichen Wandel, ethnische Unterschiede oder den prägenden Einfluß gattungsspezifischer und ökonomischer Faktoren. Um diesen Aspekten Rechnung zu tragen, müssen wir über die Psychoanalyse hinausgehen und ein flexibleres und umfassenderes Modell für die Literatur von Frauen entwickeln, das ihrer Position im kulturellen Umfeld im höchsten Maße gerecht wird.
Weibliches Schreiben und weibliche Kultur
»Ich erachte die Frauenliteratur als eine besondere Kategorie, und zwar
nicht aufgrund der Biologie, sondern weil sie in gewisser Weise die Literatur
der Kolonisierten ist.«
Christiane Rochefort: »The Privilege of Consciousness«
Eine Theorie, die sich auf das Modell einer weiblichen Kultur gründet, bietet meines Erachtens eine umfassendere und befriedigendere Möglichkeit, über die Besonderheit und Andersartigkeit von Frauenliteratur zu reden, als biologisch, linguistisch oder psychoanalytisch orientierte Theorien. Tatsächlich schließt der kulturtheoretische Ansatz Vorstellungen über den Körper, die Sprache und die Psyche der Frau ein, interpretiert sie aber in ihrem Verhältnis zum sozialen Umfeld. Die Art, wie Frauen ihren Körper, ihre sexuellen und reproduktiven Funktionen wahrnehmen, ist auf sehr komplizierte Weise an ihr kulturelles Umfeld gebunden. Die weibliche Psyche kann als das Produkt oder die Konstruktion kultureller Kräfte verstanden werden. Die Sprache rückt ebenfalls wieder ins Blickfeld, wenn wir die gesellschaftlichen Dimensionen und Determinanten des Sprachgebrauchs und den formenden Einfluß kultureller Ideale auf unser Sprachverhalten betrachten. Eine Kulturtheorie geht davon aus, daß es zwischen schreibenden Frauen entscheidende Unterschiede gibt: Klassen- und Rassenzugehörigkeit, Nationalität und Geschichte sind als literarische Bestimmungsmomente ebenso wichtig wie das Geschlecht. Dennoch bildet die weibliche Kultur eine kollektive Erfahrung innerhalb der Gesamtkultur, eine Erfahrung, die Schriftstellerinnen unabhängig von Zeit und Ort verbindet. In der Betonung der bindenden Kraft weiblicher Kultur unterscheidet sich dieser Ansatz von den marxistischen Theorien kultureller Hegemonie.
In den letzten zehn Jahren entwickelten vor allem Anthropologinnen, Soziologinnen und Sozialgeschichtlerinnen Arbeitshypothesen zur weiblichen Kultur. Es war ihr Anliegen, männliche Begriffssysteme, Hierarchien und Wertmaßstäbe abzulegen und sich Einblick in das unmittelbare und selbstbestimmte Wesen der kulturellen Erfahrung von Frauen zu verschaffen. Auf dem Gebiet der Frauengeschichtsschreibung ist das Konzept der weiblichen Kultur noch umstritten, obwohl frau/man sich über seine Bedeutung als theoretischem Ansatz einig ist. Gerda Lerner führt aus, warum es wichtig ist, die Erfahrung von Frauen auf der Grundlage eben dieser Erfahrung zu untersuchen:
- »Frauen sind nicht aufgrund der bösartigen Konspiration von Männern im allgemeinen oder von einzelnen männlichen Historikern aus der Geschichte ausgeschlossen, sondern weil die Geschichte lediglich aus männlicher Sicht betrachtet wurde. Uns sind die Frauen und ihre Aktivitäten entgangen, weil Fragen an die Geschichte gestellt wurden, die die Frauen nicht erfaßten. Um das richtigzustellen und die dunklen Stellen der Geschichte zu beleuchten, müssen wir uns zumindest für einige Zeit auf eine frauenzentrierte Forschung konzentrieren und die Möglichkeit einer weiblichen Kultur innerhalb der allgemeinen Kultur erwägen, an der Männer und Frauen teilhaben. Die Geschichtswissenschaft muß um die Darstellung weiblicher Erfahrungen in der Geschichte bemüht sein und sollte die Entwicklung weiblichen Bewußtseins als einen wesentlichen Aspekt der Vergangenheit von Frauen bearbeiten. Das ist die dringlichste Aufgabe der Frauengeschichtsschreibung. Die entscheidende Frage, die sich dabei stellt, ist folgende: Wie würde Geschichte sich darstellen, wenn sie aus der Perspektive von Frauen gesehen und nach Wertmaßstäben derer beurteilt würde, die sie festlegen?«[39]
Bei ihren Definitionen weiblicher Kultur unterscheiden die Historikerinnen zwischen solchen Rollen, Aktivitäten, Modeströmungen und Verhaltensmustern, die als frauengemäßes Verhalten vorgeschrieben werden, und jenen Aktivitäten, Verhaltensmustern und Funktionen, die sich tatsächlich aus dem Leben der Frauen entwickelt haben. Im späten achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert brachte der Begriff der »weiblichen Sphäre« die viktorianische und zur Zeit Andrew Jacksons vorherrschende Auffassung von getrennten Rollen für Frauen und Männer zum Ausdruck: Diese Vorstellung, nach der die Rollen sich kaum oder gar nicht überschnitten, schrieb zugleich die Minderwertigkeit der Frau fest. Die weibliche Sphäre wurde von Männern bestimmt und aufrechterhalten, aber oft genug verinner-lichten Frauen deren Grundsätze in Form des amerikanischen »Kults der wahren Weiblichkeit« und des englischen »Weiblichkeitsideals«. Mit dem Begriff der weiblichen Kultur werden die »Aktivitäten und Zielsetzungen« von Frauen jedoch »aus frauenspezifischer Sicht« neu definiert: »Der Begriff beinhaltet eine Behauptung von Gleichheit und ein Bewußtsein für schwesterliche Verbundenheit, für die Gemeinsamkeit von Frauen.« Das Konzept einer weiblichen Kultur bezieht sich auf »die weitverbreitete Gemeinsamkeit von Werten, Einrichtungen, Beziehungen und Verständigungsmitteln«, die die Erfahrungen von Frauen des neunzehnten Jahrhunderts trotz offensichtlicher ehtnischer und klassenspezifischer Unterschiede vereinte. (MFP, S. 52,54)
Einige feministische Historikerinnen haben das Modell der getrennten Sphären übernommen und die Bewegung der weiblichen Sphäre zur weiblichen Kultur und dann zur Frauenrechtsbewegung als die aufeinanderfolgenden Stadien eines politischen Entwicklungsprozesses aufgefaßt. Andere gehen davon aus, daß zwischen der weiblichen und der allgemeinen Kultur komplexere und unaufhörliche Auseinandersetzungen stattfinden. So argumentiert Lerner:
- »Es ist wichtig, sich klarzumachen, daß die ,weibliche Kultur' nicht als Subkultur verstanden werden kann oder sollte. Es ist kaum möglich, daß die Bevölkerungsmehrheit in einer Subkultur lebt... Frauen führen ihr gesellschaftliches Leben innerhalb einer Gesamtkultur, und wann immer sie durch patriarchale Herrschaft oder Geschlechtertrennung in die Isolation gedrängt werden (was stets eine Unterwerfung zur Absicht hat), verwandeln sie diese Beschränkung in ein Komplementärverhältnis (betonen die Wichtigkeit der Funktion der Frau oder sogar ihre ,Überlegenheit') und geben ihr eine andere Bedeutung. Somit führen Frauen ein Doppelleben — als Mitglieder der Gesamtkultur und als Angehörige der weiblichen Kultur.« (MFP, S. 52)
Lerners Ansichten sind denen einiger Kulturanthropologinnen ähnlich. Eine besonders anregende Studie zur weiblichen Kultur haben eine Anthropologin und ein Anthropologe aus Oxford, Shirley und Edwin Ardener, vorgelegt. Die Ardeners haben den Versuch unternommen, ein historisch nicht begrenztes Modell der weiblichen Kultur und eine entsprechende Terminologie zu entwickeln. In zwei Aufsätzen »Belief and the Problem of Wo-men« (1972) und »The ,Problem' Revisited« (1975) macht Edwin Ardener den Vorschlag, Frauen als eine verstummte (,muted') Gruppe zu betrachten, deren Kultur und Wirklichkeit sich zwar mit der dominanten (männlichen) Gruppe in Grenzbereichen überschneiden, aber nicht vollkommen darin aufgehen. Ein Modell der kulturellen Situation von Frauen ist entscheidend für das Verhältnis dessen, wie sie zum einen von der dominanten Gruppe wahrgenommen werden und wie sie zum anderen sich selbst und andere wahrnehmen. Historikerinnen und Anthropologinnen weisen immer wieder auf die Unvollständigkeit andro-zentrischer Geschlechts- und Kulturmodelle und deren Unzulänglichkeit für die Analyse weiblicher Erfahrungen hin. In der Vergangenheit galten die Erfahrungen von Frauen, die nicht in den androzentrischen Modellen unterzubringen waren, entweder als Abweichungen oder wurden einfach ignoriert. Die Beobachtungen aus der Außenperspektive konnten niemals dieselben sein wie das Selbstverständnis innerhalb der Gruppe. Ardeners Modell weist zudem viele Verbindungen zu und Implikationen für die gegenwärtige feministische Literaturtheorie auf, denn die Begriffe der Wahrnehmung, des Schweigens und des Verschweigens stehen im Mittelpunkt der Diskussion um die Teilhabe der Frauen an der literarischen Kultur.[40] Mit der Bezeichnung »verstummt« spricht Ardener das Problem von Sprache und Macht an. Sowohl verstummte als auch dominante Gruppen entwickeln auf der Ebene des Unbewußten gewisse Überzeugungen und Vorstellungen zur sozialen Ordnung, doch die dominanten Gruppen kontrollieren die Formen und Gesellschaftsstrukturen, in denen sich das Bewußtsein artikuliert. Deshalb können die »verstummten« Gruppen ihre Überzeugungen nur mittels der zulässigen Formen des dominanten Systems zum Ausdruck bringen. Anders formuliert hieße das, daß die gesamte Sprache die Sprache der dominanten Gruppe ist und Frauen, wenn sie überhaupt reden, sich durch sie artikulieren müssen. Wie, fragt Ardener weiter, »drückt sich das symbolische Gewicht dieser anderen großen Personengruppe aus?« Seiner Ansicht nach kommen die Überzeugungen der Frauen in Ritualen und in der Kunst zum Ausdruck, in Artikulationsformen also, die jeder Ethnologe, ob männlich oder weiblich, entziffern kann, der bereit ist, sich die Mühe zu machen, hinter die Verschleierungen der dominanten Strukturen zu schauen.[41]
Werfen wir nun einen Blick auf Ardeners Diagramm zum Verhältnis von dominanter und »verstummter« Gruppe:
Im Gegensatz zur viktorianischen Vorstellung zweier sich ergänzender Sphären sind Ardeners Gruppen durch zwei sich überschneidende Kreise dargestellt. Ein großer Teil des verstummten Kreises fällt mit dem Gebiet des dominanten Kreises zusammen; zudem gibt es einen sichelförmigen Kreisausschnitt von Y, der außerhalb der dominanten Grenze liegt und deshalb (in Ardeners Terminologie) »wild« ist. Wir können uns die »wilde Zone« der weiblichen Kultur in räumlichen, erfahrungsbedingten oder metaphysischen Kategorien vorstellen. Räumlich gesehen, steht sie für einen Bereich, der im wahrsten Sinne des Wortes »No-man's-land« (Nieman(n)dsland) ist, für einen Ort, den zu betreten Männern verwehrt ist und der mit dem Bereich in X korrespondiert, der Frauen nicht zugänglich ist. Im Hinblick auf Erfahrungen steht die wilde Zone für jene Aspekte der weiblichen Lebensführung, die sich außerhalb männlicher Lebensbereiche abspielen und sich von ihnen unterscheiden; wiederum gibt es einen korrespondierenden Bereich männlicher Erfahrung, der Frauen fremd ist. Doch wenn wir uns die »wilde Zone« in metaphysischen oder Bewußtseinskategorien vorstellen, ist ein korrespondierender männlicher Bereich undenkbar, denn das gesamte männliche Bewußtsein befindet sich innerhalb der dominanten Struktur und ist somit der Sprache zugänglich oder wird von ihr strukturiert. In diesem Sinne ist das »Wilde« immer imaginär: Aus männlicher Sicht mag es lediglich eine Projektion des Unbewußten sein. Der Kulturanthropologie zufolge wissen Frauen, wie der sichelförmige Abschnitt des männlichen Kreises gestaltet ist, denn er wird (ebenso wie die Wildnis) zum Gegenstand von Legenden. Doch Männer wissen nicht, was die wilde Zone birgt.
Einige feministische Literaturwissenschaftlerinnen meinen, diese wilde Zone oder der »weibliche Bereich« sollte zum Gegenstand einer wahrhaft frauenzentrierten Literaturwissenschaft, Literaturtheorie und Kunst gemacht werden, deren gemeinsames Ziel es sei, das symbolische Gewicht weiblichen Bewußtseins ins Leben zu rufen, das Unsichtbare sichtbar zu machen, die Schweigende zum Sprechen zu bringen. Französische Feministinnen würden die wilde Zone gern zur theoretischen Grundlage weiblicher Andersartigkeit machen. In ihren Texten wird die wilde Zone zum Ort der revolutionären weiblichen Sprache — dem symbolischen Ausdruck all dessen, was verdrängt wurde — und des revolutionären weiblichen Schreibens mit »weißer Tinte«! Es ist der dunkle Kontinent, den Cixous' lachende Medusa und Wittigs guerilleres bewohnen. Durch das freiwillige Betreten der wilden Zone, so erfahren wir von anderen feministischen Literaturwissenschaftlerinnen, erhält die Frau die Möglichkeit, sich mit ihrem Schreiben aus den »engen Grenzen des patriarchalischen Bereichs« herauszuschreiben.[42] Die Bilder dieser Reise werden jetzt häufig in feministischen Abenteuerromanen und darüber handelnden Aufsätzen verwandt. Die Autorin/Heldin reist oftmals unter der Führung einer anderen Frau ins »Mutterland« freigesetzten Begehrens und weiblicher Authentizität. Sich wie Alice im Wunderland auf die andere Seite des Spiegels zu begeben, ist häufig Symbol dieser Reise.
Viele amerikanische Radikalfeministinnen stellen die romantische Behauptung auf, Frauen hätten eine engere Beziehung zur Natur, zur Umwelt, zu einem matriarchalen Prinzip, das zugleich biologisch und ökologisch ausgerichtet sei. Mary Dalys Gyn/Ökologie und Margaret Atwoods Der lange Traum sind Texte, die diese feministische Mythologie gestalten. Englische und amerikanische Schriftstellerinnen haben oft Amazonenutopien, Städte oder Länder entworfen, die in der wilden Zone oder an ihrer Grenze angesiedelt sind: Elizabeth Gaskells zarter Roman Cranford ist wahrscheinlich eine Amazonenutopie; das gleiche gilt für Charlotte Perkins Gilmans Herland oder, um ein neueres Beispiel zu nennen, für Joanna Russ' Whileaway. Vor einigen Jahren versuchte der feministische Verlag Daughters Inc., seinen Betrieb nachdem Vorbild des Amazonenstaates zu gestalten. Lois Gold berichtet darüber im New York Times Magazine (2.1.1977): »Sie glauben, sie realisieren Versuchsmodelle für die nächste kritische Phase des Feminismus: vollkommene Unabhängigkeit von der Macht und dem Einfluß ,männlich beherrschter' Institutionen — den Medien, den Gesundheits; Erziehungs- und Rechtsinstitutionen, der Welt der bildenden Kunst, des Theaters und der Literatur, den Banken.«
Diese phantastischen Vorstellungen von einer idyllischen Enklave stellen ein Phänomen dar, das die feministische Literaturwissenschaft als einen Aspekt der Geschichte der Frauenliteratur anerkennen muß. Doch zugleich muß uns klar sein, daß es weder literarische Texte noch Literaturtheorien gibt, die völlig außerhalb der dominanten Gesellschaftsstrukturen entstehen. Keine Publikation verläuft vollkommen unabhängig von den ökonomischen und politischen Zwängen der patriarchalen Gesellschaft. Die Vorstellung von einem weiblichen Text, der in der wilden Zone angesiedelt wäre, ist eine spielerische Abstraktion: In der Realität, auf die wir uns als Literaturwissenschaftlerinnen beziehen müssen, ist das Schreiben von Frauen ein »doppel-stimmiger Diskurs«, in den immer das soziale, literarische und kulturelle Erbe beider Gruppen, der »verstummten« und der dominanten, eingeht.[43] Und da die meisten feministischen Literaturwissenschaftlerinnen zugleich schreibende Frauen sind, haben wir ebenfalls teil an diesem prekären Erbe: Jeder Schritt, mit dem die feministische Literaturwissenschaft sich der Bestimmung weiblichen Schreibens nähert, ist zugleich ein Schritt für unser Selbstverständnis; jede Arbeit über eine literarische Frauenkultur und eine weibliche Literaturtradition hat entsprechende Bedeutung für unseren Ort in der Geschichte und der Tradition der Literaturwissenschaft.
Schreibende Frauen befinden sich also nicht innerhalb und außerhalb der männlichen Tradition. Sie befinden sich gleichzeitig innerhalb zweier Traditionen, sind, um Ellen Moers' Metapher zu benutzen, »Unterströmungen« der Hauptströmung. Verbinden wir nochmals verschiedene Metaphern: Der literarische Ort von Frauen deutet, wie Mary Jehlen sich ausdrückt, »hin auf... eine fließendere Metaphorik wechselseitiger Nebeneinanderstellungen, deren Ziel es wäre, nicht so sehr das Territorium als die es bestimmenden Grenzen zu repräsentieren. Tatsächlich könnte frau/man sich das weibliche Territorium als eine einzige lange Grenze und die Unabhängigkeit von Frauen weniger als ein isoliertes Land, sondern als offenen Zugang zum Meer vorstellen.« Wie Jehlen weiter ausführt, muß eine aggressive feministische Literaturwissenschaft auf dieser Grenze entlangbalancieren und das Schreiben von Frauen in seiner veränderlichen historischen und kulturellen Beziehung zu jenen anderen Texten sehen, die die feministische Literaturwissenschaft nicht einfach als Literatur, sondern als das »Schreiben von Männern« erkannt hat.[44]
Die Andersartigkeit des Schreibens von Frauen kann also lediglich im Hinblick auf dieses komplexe und geschichtlich gewachsene Wechselverhältnis verstanden werden. Ein wichtiger Aspekt von Ardeners Modell ist, daß es außer den Frauen noch andere »verstummte« Gruppen gibt: Eine dominante Gesellschaftsstruktur kann viele »verstummte« Gruppen bedingen. Die literarische Identität einer afro-amerikanischen Schriftstellerin würde demnach von der dominanten (weißen männlichen) Tradition, einer »verstummten« weiblichen Kultur und einer »verstummten« schwarzen Kultur bestimmt sein. Sie wäre von Geschlechter- und Rassenpolitik gleichermaßen betroffen und zwar in einer Verbindung, die einzig auf ihren Fall zuträfe. Zugleich hat,sie, wie Barbara Smith betont, teil an einer Erfahrung, die für ihre Gruppe spezifisch ist: »Schwarze Schriftstellerinnen konstituieren eine identifizierbare literarische Tradition... in thematischer, stilistischer, ästhetischer und begrifflicher Hinsicht. Als ein unmittelbares Ergebnis der besonderen politischen, sozialen und ökonomischen Erfahrungen, die zu teilen sie gezwungen waren, bekunden schwarze Schriftstellerinnen einen gemeinsamen Zugang zum Akt der literarischen Produktion.«[45] Die wichtigste Aufgabe einer gynozentrischen Literaturwissenschaft besteht also darin, den präzisen kulturellen Ort der literarischen Identitätsbildung von Frauen aufzuzeigen und jene Kräfte zu beschreiben, die sich mit dem kulturellen Feld einer einzelnen Schriftstellerin überschneiden. Zudem müßte eine gyno-zentrische Literaturwissenschaft die Position der Schriftstellerin im Hinblick auf die Varianten der literarischen Kultur bestimmen, die da wären: die verschiedenen Arten der Produktion und des Vertriebs, das Verhältnis von Autorin und Publikum, das Verhältnis von hoher zu populärer Kunst und die Hierarchie literarischer Gattungen.
Soweit sich die literarischen Periodisierungen, die wir vornehmen, auf die Literatur männlicher Autoren gründen, müssen die literarischen Texte von Frauen gezwungenermaßen einem irrelevanten Raster angepaßt werden. Wir reden über eine Renaissance, die für Frauen keine war, über eine romantische Epoche, an der Frauen kaum teilhatten, über einen Modernismus, mit dem Frauen in Konflikt geraten. Zugleich ist die Geschichte der Frauenliteratur unterdrückt worden, was in den Darstellungen zur Genreentwicklung große und mysteriöse Lücken hinterlassen hat. Die gynozentrische Literaturwissenschaft ist in ihrem Bemühen, uns eine andere Perspektive auf die Literaturgeschichte zu vermitteln, bereits weit vorangekommen. Margaret Anne Doody ist beispielsweise der Ansicht, daß »die Zeitspanne zwischen dem Tod Richardsons und dem Erscheinen der Romane von Jane Austen«, die bislang »als eine tote Epoche, als eine trübe Leerstelle erachtet wurde«, tatsächlich die Epoche ist, in der die Schriftstellerinnen des späten achtzehnten Jahrhunderts »das Paradigma für die Frauenromane des neunzehnten Jahrhunderts (entwickelten)... also kaum weniger als das Paradigma für den gesamten Roman des neunzehnten Jahrhunderts.«[46] Zudem hat die feministische Literaturwissenschaft dem weiblichen Schauerroman wieder zu seinem Recht verholfen, der Variante eines populären Genres, die früher für nebensächlich gehalten wurde, jetzt aber als ein Teil der großen Romantradition gilt.[47] Für die amerikanische Literatur haben uns die Pionierarbeiten von Ann Douglas, Nina Baym, Jane Tompkins und anderen einen Blick dafür vermittelt, wie sehr die Romane von Frauen zur Feminisierung der amerikanischen Kultur des neunzehnten Jahrhunderts beigetragen haben.[48] Zudem haben feministische Literaturwissenschaftlerinnen darauf hingewiesen, daß Woolf zu einer anderen Tradition als der des Modernismus gehört. Diese Tradition kommt in Woolfs Werken genau an den Punkten zum Vorschein, an denen die Literaturwissenschaft bislang Verworrenes, Ausflüchte, Unerklärliches und Unvollkommenheiten zu entdecken meinte.[49]
Auch unsere gegenwärtigen Theorien zum literarischen Einfluß müssen im Hinblick auf die literarischen Texte von Frauen überprüft werden. Wenn jeder männliche Text, wie Bloom und Edward Said behaupten, in einer väterlichen Tradition steht, dann steht ein weiblicher Text nicht nur in einer mütterlichen, sondern in einer elterlichen Tradition. Er steht väterlichen und mütterlichen Vorfahren gegenüber und muß sich mit den Vor-und Nachteilen beider Traditionen auseinandersetzen. In Ein Zimmer für sich allein behauptet Woolf, daß »eine schreibende Frau durch ihre Mütter zurückdenkt«. Doch es ist unvermeidlich, daß eine schreibende Frau gleichfalls durch ihre Väter zurückdenkt; nur männliche Schriftsteller können die Hälfte ihres elterlichen Erbes vergessen oder zum Verstummen bringen. Die dominante Kultur braucht sich nicht um die »verstummte« zu kümmern, es sei denn, um auf ihren »weiblichen Anteil« zu schimpfen. Wir brauchen also subtilere und flexiblere Erklärungsansätze für den literarischen Einfluß, um einerseits die weibliche Schreibweise erklären zu können, um andererseits aber auch zu verstehen, inwiefern sich männliche Texte der Anerkennung ihrer weiblichen Vorgängerinnen widersetzt haben.
Zunächst müssen wir uns von der Annahme lösen, daß Schriftstellerinnen ihre männlichen Vorgänger entweder imitieren oder revidieren. Dieser einfache Dualismus ist keinesfalls dazu angetan, die Einflüsse zu beschreiben, die auf den Text einer Frau wirken. I. A. Richards hat einmal bemerkt, daß der Einfluß von G. E. Moore eine sehr negative Auswirkung auf seine Arbeit hatte: »Ich komme mir vor wie seine Kehrseite. Wo er ein Loch hat, habe ich eine Wölbung.«[50] Allzu oft wird die Stellung der Frauen in der Literaturtradition anhand dieser groben Topographie von Loch und Wölbung beschrieben. Dabei gelten Milton, Byron oder Emerson als die sich wölbenden Schreckgespenster auf der einen Seite, denen mit der Frauenliteratur von Aphra Behn bis Adrienne Rieh auf der anderen Seite eine vernarbte Mondlandschaft revisionärer Hohlräume gegenübersteht. Einer der großen Vorzüge des Modells einer weiblichen Kultur liegt darin, nachweisen zu können, daß die weibliche Literaturtradition ebenso eine positive Quelle der Kraft und Solidarität wie eine negative Quelle der Machtlosigkeit sein kann. Sie bringt ihre eigenen Erfahrungen und Symbole hervor, die nicht einfach die Kehrseite der männlichen Tradition sind.
Inwiefern kann ein Kulturmodell zum weiblichen Schreiben uns helfen, den Text einer Frau zu lesen? Die Bedeutung dieser Theorie liegt zunächst darin, daß wir die literarischen Texte von Frauen als einen doppel-stimmigen Diskurs lesen können, der eine »dominante« und eine »verstummte« Geschichte enthält und den Gilbert und Gubar als ein »Palimpsest« bezeichnen. An anderer Stelle habe ich ihn als ein Problem von Gegenstand und kulturellem Feld bezeichnet, bei dem wir zwei alternative, pendelnde Texte gleichzeitig im Auge behalten müssen: »In der reinsten Form feministischer Literaturwissenschaft... sind wir mit einer radikalen Änderung unserer Sichtweise konfrontiert, einer Aufforderung, in dem eine Bedeutung zu sehen, was früher eine Leerstelle gewesen ist. Die konventionelle Handlung tritt zurück, und eine andere Handlung, die bislang in der Anonymität des Hintergrunds untertauchte, hebt sich deutlich und kühn wie ein Fingerabdruck davon ab.« Miller sieht in der Literatur von Frauen ebenfalls »einen anderen Text«, »der von Roman zu
Roman mehr oder minder verstummt«, aber »immer da ist, um gelesen zu werden«.[51]
Eine andere Interpretationsstrategie der feministischen Wissenschaft könnte die kontextuelle Analyse sein, die der Kulturanthropologe Clifford Geertz als »dichte Beschreibung« bezeichnet. Geertz fordert Beschreibungen, die sich um ein Verständnis der Bedeutung kultureller Phänomene und Produkte bemühen, indem sie »die Bedeutungsstrukturen herausarbeiten... und ihre kulturelle Grundlage und Tragweite bestimmen«.[52] Eine ernsthafte, »dichte« Beschreibung der Texte von Frauen würde aus den unzähligen Schichten, die die Aussagekraft eines Textes ausmachen, jene hervorheben, die in Hinsicht auf das Geschlecht und die weibliche Literaturtradition maßgeblich sind. Keine Beschreibung könnte, wie wir einräumen müssen, jemals dicht genug sein, um allen Faktoren, die in das Kunstwerk eingehen, Rechnung zu tragen. Doch wir könnten auf Vollständigkeit hinarbeiten, selbst wenn dies ein unerreichbares Ideal ist.
Wenn ich hier die Ansicht äußere, daß ein Kulturmodell weiblichen Schreibens für die feministische Literaturwissenschaft von beträchtlichem Nutzen sein kann, soll das nicht heißen, daß ich die Psychoanalyse durch einen kulturanthropologischen Ansatz ersetzen will: Weder begreife ich ihn als die letzte Antwort auf unsere theoretischen Probleme, noch will ich Ardener und Geertz anstelle von Freud, Lacan und Bloom als die neuen weißen Väter inthronisieren. Keine Theorie, wie anregend sie auch sein mag, kann ein Ersatz für die intensive und weitreichende Kenntnis der Texte von Frauen sein, die den Hauptgegenstand unserer Arbeit bilden. Die Kulturanthropologie und die Sozialgeschichte können uns vielleicht eine Terminologie und eine graphische Darstellung der kulturellen Situation von Frauen bieten. Aber feministische Literaturwissenschaftlerinnen können dieses Konzept nur in bezug auf das anwenden, was Frauen tatsächlich schreiben, nicht in bezug auf ein theoretisches, politisches, metaphorisches oder utopisches Ideal dessen, was Frauen schreiben sollten.
Ich habe diesen Aufsatz mit der Erinnerung daran begonnen, daß feministische Literaturwissenschaftlerinnen vor einigen Jahren glaubten, wir befänden uns auf einer Pilgerfahrt zum gelobten Land, in dem die Geschlechterfrage ihre Macht verlieren und alle Texte geschlechtslos und gleich wie Engel sein würden. Doch je mehr uns bewußt wird, daß die Besonderheit weiblichen Schreibens weniger ein vorübergehendes Nebenprodukt des Sexismus als eine grundsätzliche und uns ständig bestimmende Realität ist, desto klarer erkennen wir, daß wir unseren Bestimmungsort verkannt haben. Vielleicht werden wir das gelobte Land nie erreichen. Denn wenn wir unsere Aufgabe als feministische Literaturwissenschaftlerinnen im Studium von Frauentexten sehen, erkennen wir, daß unser gelobtes Land nicht in der gelassenen, undifferenzierten Allgemeingültigkeit von Texten liegt, sondern eben allein in der stürmischen und faszinierenden Wildnis der Differenz.