Parabeln und Politik: Feministische Literaturkritik heute*

  • *Dieser Vortrag wurde für eine Gesprächsrunde über feministische Wissenschaft an der Wesleyan-Universität (Februar 1986) geschrieben, veranstaltet vom Programm für Frauenstudien. Die Teilnehmerinnen wurden aufgefordert, auf die folgende Aufgabenstellung zu antworten: Geben Sie Ihre Einschätzung wieder, inwieweit feministisches Denken die Studieninhalte, die Methoden, die theoretischen Prämissen der Disziplin, in der die/der feministische Wissenschaftler/in arbeitet, verändert hat — und vielleicht den Grad, bis zu dem die Disziplinen praktisch und theoretisch sich nicht verändert haben.

Vor ungefähr einem Jahr (März 1985) hielt ich einen Vortrag auf einer Konferenz, die vom Pembroke Center an der Brown Universität veranstaltet wurde. Das Thema der Konferenz »Feminismus/Theorie/Politik« stellte die Schlüsselworte einander gegenüber, die ich noch immer für die zur Zeit wichtigsten halte. Ich habe sie deshalb in den Titel dieses Vortrages übernommen und dabei ein erzählerisches Element hinzugefügt, für das die Parabeln stehen. Ich sprach damals über weibliche Subjektivitäten, die Schaffung einer feministischen kritischen Theorie und über die Bedingungen, unter denen dies im Leben wie in der Fiktion (was sich für mich als Erzählung darstellt) angesiedelte Projekt verwirklicht werden könnte.[1] Die Heldin der Geschichte war Charlotte Brontes Lucy Snowe, die, glaube ich, eine richtige Heldin für feministische Parabeln ist (zumindest was die literarischen Typen angeht), da sie ihren Lebensunterhalt an akademischen Institutionen verdient, die sie überstrapazieren und für ihre Beherrschung und ihren Unterricht moderner Sprachen unterbezahlen. (Ich fühle mich besonders zu Lucy Snowe hingezogen, wohl autobiographisch bedingt, weil sie Frauen unterrichtet und französisch beherrscht.) Aber jene, die Vilette kennen, den Roman, in dem Lucy so Brillantes leistet und schreibt, werden sich gewiß erinnern, daß es Lucy während ihrer Lehrzeit im akademischen Leben mit seinen Härten und Gepflogenheiten nicht immer leicht hatte. Eigentlich ließe sich die These aufstellen, daß ihre Bildung, also was sie als sprechendes und schreibendes Subjekt geprägt hat, weitgehend nur vor dem Hintergrund der institutionellen Realitäten, die ihre persönliche Situation ausmachen, verstanden werden kann. Wenn ich daher in dieser Diskussion auf Lucy Snowe zurückgreife, so gerade deshalb, um (wenn auch nur emblematisch), den Konflikt, der dieser Beziehung innewohnt, aufzunehmen. Was hier für mich von Interesse ist, hat also einen doppelten Fokus: die Arbeit feministischer Literaturkritik und ihre Beziehung zu der Art, wie sie auf die akademische Praxis in den USA strukturierend einwirkt. Mit-neuen-Augen-Sehen, das Herangehen an einen vertrauten Nachrichten.
In den ursprünglichen Witzen über gute Nachrichten/schlechte Nachrichten waren die guten Nachrichten schlecht und die schlechten noch schlimmer; in meinen weniger amüsanten Anekdoten jedoch sind die guten Nachrichten gut und die schlechten schlecht. Um folglich den Grad einzuschätzen, in dem feministisches Denken den Forschungsgegenstand, die Methoden und die theoretischen Prämissen der Literaturwissenschaft verändert hat, sind die guten Nachrichten, die feministische Literaturwissenschaft hervorgebracht hat:
1. neue Forschungsgegenstände, das heißt, Literatur von Frauen;
2. neue Lesestrategien — Adrienne Rich hat es »Re-Vision« genannt — »das Zurückblicken, das mit neuen-Augen-Sehen, das Herangehen an einen vertrauten Text von einer neuen kritischen Richtung aus« (35);
3. neue kritische Ansätze, die die Lesarten ausführen oder beinhalten, die  gemeinhin als feministische Literaturkritik bekannt sind;
4. neue Paradigmen, auch bekannt als feministische Literaturkritik, die über die Ansätze theoretisieren und sie benennen;und
5. neue oder zumindest revidierte Formen der Übermittlung und Kommunikation: die Anthologie und die interdisziplinäre Konferenz.
Wenngleich die feministische Wissenschaft eindeutig keine dieser beiden Formen erfunden hat, hat sie doch meines Erachtens die Anthologie umgewandelt. Ihre Funktion als Ablage alter und klassischer Texte ist ins Gegenteil verkehrt worden: eine Projektion und Vorschau auf das Neue und Innovative. Das zeigt sich an dem Projekt von Coppelia Kahn und Gayle Greene, deren Sammlung in ihrem Titel eine Anleihe auf die Zukunft macht, in dem das Aktionsprogramm für den Wandel eingebettet ist: Making a Difference (Einen Unterschied machen), 1985. Selbst eine Anthologie von Elaine Showalter von 1985, eine Sammlung von »Pionier« -Aufsätzen, die bis 1977 zurückreichen, wird The New Feminist Criticism (Neue Feministische Literaturkritik) genannt. Derselbe Anspruch auf das Vorstellen neuer Paradigmen könnte für das erhoben werden, was die herausgeberische Arbeit von Gilbert und Gubar in ihrer Norton Anthology of Literature by Women charakterisiert, die ebenfalls 1985 veröffentlicht wurde. (Ich weiß, daß die beiden letzteren Bände von einigen als ein gefährlicher Beitrag zu einer eigenen Art Kanonisierung gesehen werden; aber ich möchte dieses Problem ausklammern.)
Zusätzlich zu diesen neuen oder umgewandelten Forschungsgegenständen sind 1984—1985 zwei Arbeiten zur Metakritik veröffentlicht worden, Überblicke und kritische Bestandsaufnahme feministischer literarischer Aktivität, die eine von einer Norwegerin, die (dem Buchumschlag zufolge) Französisch in England unterrichtet, die andere von einem Australier — oder zumindest einem in Australien akademisch beheimateten Wissenschaftler —, beide im Bereich Anglistik: Toril Moi: Sexual/ Textual Politics, und K. K. Ruthven: Feminist Literary Studie s. Herausgekommen nach den Sonderbänden, die feministischer Literaturkritik in den achtziger Jahren gewidmet sind — Yale French Studies (1981), Critical Inquiry (1981) und Dia-critics (1982) —, sollten diese beiden Bücher, das eine von einer Frau, das andere von einem Mann herausgegeben, es allgemein erschweren, mit dieser ärgerlichen Mischung aus Ungehaltenheit und Verwirrung danach zu fragen, was eigentlich feministische Literaturkritik sei. Damit meine ich natürlich nicht, daß diese Bücher, wie brauchbar sie auch immer sind, nicht schwierige erkenntnistheoretische und politische Probleme aufwerfen. Im Gegenteil. (Siehe z. B. Naomi Schor's Rezension dieser Einführungen in Paragraph, Vol. 8, 1986.) Aber sie ermöglichen es, 1986 endlich eine/n Gesprächspartner/in auf eine Antwort hinzuweisen, ohne selbst herumlaufen, fotokopieren und Bibliographien herstellen zu müssen. 1986 ist es möglich geworden, feministische Literaturkritik auf Grund von Büchern zu unterrichten: Handgreifliches, das auf Buchhandel-Bestellisten erscheint, einmal nicht diese ewigen Vervielfältigungen und selbstgemachten Anthologien. (Letztere werden wohl notwendigerweise weiterhin bestehenbleiben. Das entspricht der Entwicklung der Forschung, die über sich selbst hinauswächst, und den interdisziplinären Angeboten der Frauenstudien-Programme.) Vereinfacht ausgedrückt: feministische Literaturkritik existiert jetzt auch nach normativen akademischen Standards.
Was sind nun die schlechten Nachrichten? Es scheint keinen Unterschied gemacht zu haben (s. o. Making a Difference) — zumindest nicht in den akademischen Institutionen, die ich am besten kenne — Barnard und Columbia. Ich möchte hier drei Geschichten über kritisches politisches Handeln im Wandel und am Wandel orientiert erzählen, die Parabeln, die ich in meinem Titel angekündigt habe. Sie könnten uns helfen, die aktuellen Themen feministischer Literaturwissenschaft in den Blick zu bekommen und uns Gedanken darüber zu machen, wie wir andere Strategien für den Feminismus der achtziger und neunziger Jahre entwickeln können.
Die Geschichten beschäftigen sich mit dem Problem, dem die feministische Literaturkritik von Anfang an — wenn auch nicht unmittelbar — gegenüberstand: die Beziehung von Frauenliteratur und dem Kanon. Das »feministische Denken« hat wohl die Forschungsgegenstände radikal verändert, einerseits durch seine Entdeckung bzw. Wiederentdeckung von wenig gelesenen oder unbekannten Schriftstellerinnen; andererseits durch die Konstituierung verschiedener Traditionen von Frauenliteratur in England, den USA und Frankreich, was sich in den Standardwerken, den Lehrbüchern, Anthologien und Unterrichtseinheiten niederschlägt. Und doch hat diese massive Arbeit an Wiederentdeckung und Neuinterpretation kaum mehr als eine Alibi-Anerkennung in den »Mainstream«* (* Besonders wenn dieser Begriff von Minderheiten gebraucht wird, bezeichnet und brandmarkt er die männliche, anglo-amerikanische Kultur, die durch die Machtmittel in ihrer Hand versucht, die vielfältigen ethnischen Kulturen stromlinienförmig der dominanten (vorherrschenden) anzugleichen) -Lehrplänen erfahren. Das ist der erste Punkt.
Zweitens: obwohl wirklich grundlegende Arbeit durch die feministische Literaturkritik geleistet worden ist und obwohl einzelne Wissenschaftler/innen institutionell anerkannt sind, wird die feministische Literaturkritik, wie theoretisch auch immer sie sich selbst begreift, von Literaturtheoretiker/inne/n nicht als Theorie angesehen. Der Unterschied wurde kürzlich auf pikante Weise in einer Stellenausschreibung der John Hopkins-Universität deutlich, die besagte: »Feminist/in oder Theoretiker/in«.
Bei meinem dritten Punkt handelt es sich spezifischer um die Kanonfrage. Obwohl größere Arbeiten beispielsweise zu Shakespeare angefertigt wurden, ist die Tradition der »großen Bücher« nicht noch einmal vom feministischen Standpunkt aus systematisch gesichtet worden. Paradoxerweise hat das Buch, das die feministische Literaturkritik aus der Taufe hob, Kate Milletts Sexus und Herrschaft, 1971 (Sexual Politics, 1970), nicht die Folgewirkung gehabt, wie zum Beispiel Ellen Moers' Literary Women, 1976. Eve Sedgwicks Between Men, 1985, über die englische Literatur von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Naomi Schors' Breaking the Chain, 1985, über den französischen Roman des 19. Jahrhunderts und Nancy Vickers' Aufsätze zur Literatur der Renaissance sind nur einige wenige neuere Beispiele und Ausnahmen von der Regel. Im großen und ganzen aber sind die Makler des Standardlehrplans (die Kapitäne des berühmten »Mainstream«) sich selbst überlassen geblieben, um ihr Geschäft wie üblich zu betreiben. Daher kann gewissermaßen der Standpunkt vertreten werden, daß die Konzentration auf die Frauenliteratur — zu der ich begeistert beigetragen habe — zur selben Zeit dem größeren Projekt, den Kanon und die Vorhöfe der Literaturgeschichte zu revidieren, einen schlechten Dienst erwiesen hat, weil die Bemühungen zu sehr auf das Theoretisieren über die Produktion und die Poetik einer weiblichen Tradition ausgerichtet waren.
In »Treason our Text: Feminist Challenges to the Literary Canon« (Verrat ist unser Text: Feministische Herausforderung an den Literaturkanon), 1983, weist Lillian Robinson darauf hin, daß wir »eine Strömung innerhalb der feministischen Literaturkritik (brauchen), die weitergeht, als auf Inkorporierung in den Kanon zu beharren, und untersucht, wie denn nun genau dieses Miteinbeziehen von Frauenliteratur unseren Blick auf die Tradition verändert". Sie fragt anschließend — und ich halte dies für die Schlüsselfrage in der dritten Phase feministischer Literaturkritik: Ist der Kanon und damit die Unterrichtseinheit, die darauf beruht, als ein Kompendium hervorragender Leistung zu betrachten oder als eine kulturgeschichtliche Bestandsaufnahme? (Wir wissen, wie die meisten Institutionen diese Frage beantwortet haben.)[2] Sie stellt außerdem fest, daß es einen wesentlichen, wenn auch allgemein ignorierten Unterschied zwischen »dem Bauen von Pantheons ohne vorgeschriebene Anzahl von Plätzen« gibt und dem »Aufbau von Unterrichtseinheiten« (S. 112), die da sehr wohl Vorschriften kennen und die daher eine Reihe von Kriterien jenseits von Ästhetik berücksichtigen müssen. Aber ich habe Parabeln versprochen. Das Columbia-College erfreut sich seit 1937 eines zentralen Lehrplans. Dazu gehört auch ein Seminar im geisteswissenschaftlichen Bereich mit dem Titel »Meisterwerke europäischer Literatur und Philosophie«, allgemein bekannt als »Lit Hum«. (Abkürzung für literary/humanities. Ich sollte erwähnen, daß ich in einer früheren Inkarnation diesen Kurs drei Jahre lang als Assistenzprofessorin für Französisch am Columbia-College gelehrt habe.) Es wird keine Überraschung sein, daß ein so benanntes Seminar in seiner Geschichte keine Schriftstellerinnen kannte, obwohl im zweiten Semester (das erste Semester beschäftigt sich mit den Griechen und den Römern) durchaus eine beträchtliche Vielfalt möglich wäre, da es mit der Bibel beginnt und typischerweise mit Dostojewski aufhört. In den letzten Jahren gab es auf sehen der jüngeren Fachbereichsmitglieder und graduierten Student/inn/en, die für das Seminar verantwortlich sind, das Bestreben, Werke von Schriftstellerinnen aufzunehmen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen gab es dieses Jahr eine radikale Veränderung — vermutlich weil das College nicht mehr nur männlich besetzt war. Nach vielen Kämpfen wurde die Regel eingeführt, eine Einheit einer Schriftstellerin zu widmen.
Am 20. Januar 1986 verkündete die Schlagzeile im Spectator, der Studentenzeitung: »Jane Austen jetzt Pflicht im ,Lit Hum'-Seminar im Sommersemester.« Am Anfang des Artikels heißt es-. »Der Begriff Koedukation wird dieses Frühjahr eine neue Bedeutung erhalten, wenn Jane Austens Stolz und Vorurteil zur Pflichtlektüre wird. Dies ist der erste Text von einer Frau, der in den Lesekanon eines geisteswissenschaftlichen Seminars am Columbia-College aufgenommen wird.« Der Artikel berichtet weiter, ein etabliertes Mitglied der Englischen Abteilung habe eingestanden, daß einige Mitglieder der Fakultät der Meinung seien, Austens Werk sei nicht »relevant« für den Rest des Stoffes. Auf der anderen Seite meinte er, ihre Bedeutung als anerkannte Schriftstellerin sei wichtiger als die Fähigkeit des Werkes, »auf eigenen Füßen« zu stehen. Hier stehen einige dornige Themen zur Debatte: Verlangt die Gegenwart von Frauen im Unterricht die Aufnahme einer Schriftstellerin? Wenn ja, mit welcher Begründung? Wenn nein, mit welcher Begründung? Ist es in Ordnung, daß das geisteswissenschaftliche Seminar fünfzig Jahre lang ohne eine Schriftstellerin auskam und daß es in absehbarer Zukunft mit nur einer fortgeführt wird? Es ist mir nicht möglich, all diesen Fragen in diesem knappen Aufsatz gerecht zu werden. Trotzdem möchte ich die Situation für die gegenwärtige Diskussion gern umreißen.
Das Argument der Koedukation — Frauen als Leserinnen — bietet keine allzu fruchtbare Argumentationsgrundlage. Nicht, weil es nicht zu vertreten wäre, sondern weil es nicht weit genug geht. (Andererseits muß man es anführen, denn sonst wird die Fiktion einer gewissen Hegemonie autorisiert.) Wenn wir zum Beispiel sagen, daß alle Frauen, Asiatinnen, Hispanierinnen und Schwarze sowie Homosexuelle und Lesben — um die Minoritäten zu nennen, die Teil der Barnard/Columbia-Studentenschaft sind und sich selbstbewußt als Minoritäten identifizieren — berechtigt sind, Werke zu studieren, die »ihre eigene historische Erfahrung«[3] repräsentieren oder widerspiegeln, wird das nicht zwingend zum nächsten Diskussionspunkt; beziehungsweise läßt dies die Prämisse Kanon = Kursinhalt unberührt. Wird die Erfahrung von Minoritäten betont, so impliziert dies logischerweise, daß die dominante Bestandsaufnahme von Erfahrung eben eine spezielle ist, geschichtlich handelt es sich um die Erfahrungen von Europäern, von weißen Männern einer Eliteschicht, im allgemeinen heterosexuell, typischerweise in Machtpositionen. Aber das greift noch nicht die Frage auf, wie diese Bestandsaufnahme rationalisiert und institutionell verankert und an den Mauern der Bibliothek in Stein gemeißelt wird. (An der Columbia-Universität ist das nicht nur eine Redensart.) Außerdem spricht es in bisher nicht untersuchter Weise die Beziehung zwischen Literatur und Realität — oder Erfahrung — an. Das Denkmodell der »Widerspiegelung« — Literatur gibt direkt die Erfahrung wieder — ist mit einem eigenen theoretischen Fragenkomplex befrachtet, und wir sollten darauf vorbereitet sein, auch ihn zu behandeln.
Worauf ich hinziele: wenn wir uns vorwiegend damit aufhalten, daß »eure Texte nichts mit unserer Erfahrung zu tun haben«, kommen wir nicht an den eigentlichen Sand im Getriebe heran: Was ist »euer« Verhältnis zu »eurer« Erfahrung? Anders ausgedrückt: mit welcher Begründung gilt eure Erfahrung als universell, als das Eigentliche, das es zu wissen gilt? Solange diese grundlegende Deformierung nicht behandelt wird, erreichen wir höchstens die Alibi-Anerkennung einer »angesehenen Schriftstellerin« (Spectator); alles andere bleibt wie gehabt. Und genau das erlaubt unseren Kollegen zu behaupten, Stolz und Vorurteil ha^be keine erkennbaren Bezüge zu »früheren klassischen Werken«.[4] In diesem Sinne könnte sich die Wahl eines Romans von Austen als tückisch erweisen. In Anbetracht von Austens Stellung in der Geschichte des Romans werden die Studierenden sehr wahrscheinlich über diesen Roman lernen (wenn sie diese Meinung nicht schon aus ihrem Unterricht in der Oberschule mitgebracht haben), daß er ein Meisterwerk des Weiblichen und Häuslichen ist — das berühmte »Kleinod aus Elfenbein« — im Gegensatz zur prallen Menschlichkeit und der öffentlicheren Literatur des Epos oder des russischen Romans. Die verführerischen Kräfte dieser kulturellen Gemeinplätze sollten nicht unterschätzt werden. Und das bringt mich zu meiner nächsten Parabel.
Als das Columbia-College sich (1982) endlich entschloß, seine Stellung als letztes College der Ivy League (Eliteuniversitäten im Osten der USA), das nur Männer zuließ, aufzugeben, entschied sich das Barnard-College, seine Reputation aufzupolieren. Eine umfangreiche Überarbeitung des Lehrplanes wurde vorgenommen. Nach einem Jahr der Versammlungen, Diskussionen, Besprechungen etc. schlug ein Fachbereichskomitee die Bestandteile eines zentralen Pflichtlehrplans vor. Es bestand die Vorstellung, die Studierenden sollten eine gemeinsame Erfahrung haben, wenn auch nicht gerade mit dem monolithischen Anspruch des berühmten Lehrplankernstücks, das auf der anderen Straßenseite gelehrt wurde. Zusätzlich zu einem Seminar »quantitativer Denkübungen« wollte Barnard daher Einführungsseminare anbieten und bemühte sich um eine individuellere und vielseitigere Herangehensweise; obgleich selbstverständlich die Studierenden weiterhin in das Pantheon der »wichtigen Werke« eingeweiht würden (uns wurden Listen von der Columbia- und der Chicago-Universität als Richtlinien gegeben). Etablierte und — als mehr gebraucht wurden — vollbeschäftigte jüngere Mitglieder des Fachbereichs wurden herangezogen, um mit Hilfe von zusätzlicher finanzieller Unterstützung von außen neue interdisziplinäre Seminare zu entwickeln. Und um die Interdisziplinarität zu garantieren, wurde der Fachbereich ermutigt, Arbeitsgruppen zu bilden. Eine Gruppe von uns (aus den Bereichen: Klassik, Englisch, Psychologie, Russisch, Orientalistik und Frauenstudien) entwarf und entwickelte unsere Vorstellung von einer »feministisch geisteswissenschaftlichen« Unterrichtseinheit. Wir würden einige »große Werke« lesen, weil das die kollektive Aufgabe des Programms war, aber außerdem die Werke von Schriftstellerinnen verschiedener Hautfarben; wir würden Dichtung von Frauen lesen, die die Mythen von Penelope und Circe revidierten; wir würden Filme in ihrer Originalsprache sehen und Lesungen veranstalten in der Sprache, in der gedichtet wurde; wir würden Essays in Anthropologie, Psychologie und Literaturkritik lesen, die uns eine weitere Perspektive dieser kulturellen Produktionen des jeweils Andersseins bieten würden, insbesondere da, wo es um das Selbst und das Andere geht.
Auf einer Versammlung, die am Ende des ersten Semesters (Herbst 1984) gehalten wurde, um die Unterrichtserfahrung mit diesen Seminaren zu überprüfen, legte unsere Gruppe — als Kollektiv — einige Gedanken zu dem vor, was wir in unseren Seminaren zu erreichen versucht hatten. Wir alle sprachen zu diesem Gremium, das sich aus allen Fachbereichsmitgliedern zusammensetzte, die mit dem Programm befaßt waren. Wir sprachen mit verschiedenen Stimmen über unterschiedliche Dinge. Wir fragten, ob sie als Gremium das diskutieren wollten, was wir jetzt über das generelle, kollektive Projekt dachten. Akzeptierten wir die Traditionen des Kanon? Hatten wir, zum Beispiel, eine Verantwortung gegenüber den Studentinnen als Frauen, die studieren, gegenüber den Studierenden anderer Minoritäten, deren Zahl an unserem College immer größer wird? Waren das für uns Fragen, die zur Diskussion stünden? Eine Philosophieprofessorin sagte, sie könnte nicht einsehen, warum und wie diese Fragen für sie von Belang sein sollten. Eine weibliche Stimme auf der Seite der Indifferenz schien den männlichen Stimmen der Verärgerung Berechtigung zu verleihen. Ein Mann, Professor für Romanistik, protestierte, wir versuchten, ihnen einen »Gegen-Lehrplan« aufzuzwingen. Ein Geschichtsprofessor protestierte, der »Zauber« des Programms der Einführungsseminare sei seine Heterogenität, seine Vielfalt; ja, schallte es von einem Musikprofessor zurück, wir sollten unsere Eigenarten bewahren.[5]
Was rief diesen extremen Widerstand gegen unseren Aufruf hervor, den Kanon, die Einteilung in Minderheiten- und dominante Kultur, die Frage weiblicher Erfahrung zu überdenken? Natürlich gibt es situationsgebundene Erklärungsmodelle für diese Episode, aber das tut nichts zur Sache. Es gibt jedoch keine einfache oder einschichtige Erklärung für diesen tiefverwurzelten Widerwillen gegen Veränderung. Ich habe zwei Beispiele unterschiedlicher Natur gegeben. Im Fall von Columbia hätte das Drängen auf eine Schriftstellerin als Pflichtlektüre keinen Erfolg gehabt ohne das Schuldbewußtsein der Liberalen, das durch den neuen Druck in bezug auf Koedukation hervorgerufen wurde — und es hat nur so gerade eben Erfolg gehabt. Es ist überhaupt nicht klar, ob Jane Austens Aufnahme in die Liste bedeutet, daß irgendeine Bewußtwerdung im Zusammenhang mit diesem ganzen Projekt in Gang gekommen wäre. (Im Gegenteil, dies ist ein Musterbeispiel für ein traditionelles Rezept aus der »Main-stream"-Küche: »Man füge eine Frau hinzu und rühre kräftig um.« Man erhält immerhin eine Frau in einem Kuchen, oder sollte ich sagen, sie kommt aus dem Kuchen; wie dem auch sei, der Kuchen bleibt derselbe. Für einen anderen Blickwinkel auf Frauen und Kuchen verweise ich auf Donoghue S. 32.) In der Barnard-Geschichte wurde die kollektive Ablehnung des Vorschlags, prinzipiell Schriftstellerinnen in alle Seminare miteinzubeziehen (weil Fairneß und Repräsentativität — was Robinson als die »kulturelle Bestandsaufnahme der Geschichte« bezeichnet — dies verlangten), mit der Begründung gerechtfertigt, daß die individuelle Freiheit (auch unter dem Namen Humanismus bekannt) zu wahren sei. In beiden Fällen weigerten sich die Verfechter des Status quo (es ist durchaus möglich, »innovativ« und gleichzeitig reaktionär zu sein — etwas, das ich vorher nicht richtig begriffen hatte) standhaft, ihre Vorannahmen und die Auswirkungen der eigenen Subjektivität auf die Zusammenstellung von Lehrplänen oder auf den Akt des Lesens selbst mit als Frage zu bedenken.
Mir scheint, das Unvermögen zu begreifen, daß menschliche Wesen nicht körperlose »ewige Werte« (wie sie in großen Büchern vorkommen) darstellen, sondern soziale, historische und kulturelle Konstrukte sind, ist das Haupthindernis für die Umwandlung, der das feministische Denken zum Durchbruch zu verhelfen sucht. Genauer gesagt: bis diejenigen, die durch ihre Stellung die Mehrheit bilden, bis »Männer« (das schließt natürlich oft Frauen ein, leider besonders in den ehemaligen Frauen-Colleges) willens sind, ihre Beziehung zum Universellen in Frage zu stellen. Bis dahin wird die einzige Veränderung, die wir in der Organisation und Vermittlung von Wissen erleben werden, jene sein, die wir den Jane Austen-Effekt nennen könnten, »Pflichtlektüre Jane Austen«. Es ist deshalb doppelt schmerzhaft, für solche freundlichen Gesten zu arbeiten (oder ihre Zeugin zu werden), weil sie eine Vereinfachung sehr komplizierter Problemkreise verlangen — Themen wie Geschlecht (gender) und Schreiben und Kanons —, zu denen »wir« nicht notwendigerweise eine einheitliche Meinung haben. Diese Vereinfachung wird unter dem Titel unmittelbarer politischer Aktion oder institutionellen Wandels eingefordert.
Anders ausgedrückt: es ist der feministischen kritischen Theorie bislang nicht gelungen, das Subjekt in der Machtposition von der Faszination der eigenen Repräsentation zu trennen.
Wäre das machbar? Ich werde immer skeptischer.[6] Das Spiel bestand darin, daß — wenn wir fähig wären, textliche Belege für eine andere Subjektivität anzuführen, was ich zu Beginn als die guten Nachrichten bezeichnet hatte (was natürlich in einem anderen Diskurs das Evangelium wäre), und wenn wir fähig wären, deutlich zu machen, was unsere Besonderheit ausmacht - sie dann ihre Andersartigkeit begreifen würden, und zwar nicht so sehr von uns, sondern von der eigenen Identität, ein Prozeß, der im dekonstruktivistischen Diskurs als »innere Differenz« (Johnson x) bezeichnet wird. Aber es scheint wenig aus dem Raum der Frauen in den der Männer zu dringen. Daher haben wir Psychoanalyse und feministische Psychoanalyse, Texttheorie und feministische Literaturkritik (Moi, S. 86-87). Kürzlich kommentierte zum Beispiel ein ausgezeichneter Literaturwissenschaftler, der auf dem Gebiet der Psychoanalyse und der Literatur arbeitet, ein feministisches psychoanalytisches Projekt mit den Worten: Das Problem besteht darin, daß die feministische Gewichtung in bezug auf den Diskurs über Mütter, Töchter und Mutterschaft »situationsbezogen« ist, er ist nicht verallgemeinerbar, wohingegen der über Väter und Söhne eben psychoanalytisch sei — weil universell, verallgemeinerbar.
Ein anderes Beispiel. Ich besuchte kürzlich eine Veranstaltung an einer großen staatlichen Universität im Osten der USA, die am »Mainstream« ausgerichtet war. Ich sprach mit Mitgliedern des Fachbereichs Englische Literatur, die am Projekt beteiligt waren, über ihre Bemühungen, Veränderungen im Basislehrangebot der Abteilung zu bewirken. Obwohl ich eigentlich mit ihnen über Entwicklungen in feministischer Literaturkritik und -theo-rie sprechen wollte, drehte sich die Unterhaltung hauptsächlich um konkrete Fragen-. Was kann tatsächlich im Seminar unterrichtet werden und wie? Wenn eine Frau aufgenommen wird, muß deswegen ein (großer) Mann gestrichen werden? Wieviel macht es auf Heller und Pfennig aus, wenn statt einer Anthologie eine andere — wie die von Gilbert und Gubar, Norton — gewählt wird? Und so weiter. Kurz nach meinem Besuch erhielt ich einen Brief von der Leiterin der Arbeitstagung, der, wie ich meine, die gegenwärtige Situation sehr gut beschreibt:

  • »Mich verwirrt noch immer ihre Reaktion auf die Literaturtheorie. Ihr vordringliches Anliegen ist verständlicherweise eindeutig pädagogisch, und das hat sich in den Fragen an Sie widergespiegelt. Sie beharren aber darauf, daß sie mehr Theorie wollen, obwohl sie ein gutes Quantum an Theorie bekommen haben. Sie haben beinahe alle Einzelbeiträge des Showalter-Sammelbandes und die Hauptarbeiten auf diesem Gebiet. Ich bin mir nicht sicher, wie gut sie diese gelesen oder verstanden haben. Während ich mich auf die Arbeitsgruppen im Wintersemester vorbereite, frage ich mich, wie ich vorgehen soll. Vielleicht erkennen sie feministische Literaturkritik nicht als Theorie an, oder vielleicht suchen sie eine einzige kritische Richtung statt der Vielfalt, die charakteristisch für feministische Literaturwissenschaft ist. Haben Sie irgendwelche Vorschläge?« (Sara Coulter, 8. Januar 1985.

Ich wünschte, ich hätte welche. Es kann gut sein, daß gerade die »Vielfalt, die charakteristisch für feministische Literaturkritik« ist, ihre Wirkungen außerhalb ihrer Einflußsphäre untergräbt.
In diesem Sinn hat sich seit 1979 wenig verändert, als Carolyn Heilbrun zu ihren Kolleg/inn/en in den englischen Abteilungen sagte.- »Dekonstruktion, Semiologie, Derrida, Foucault dürfen die Bedeutung von Bedeutung, wie wir sie gelernt haben, in Frage stellen, nur dem Feminismus steht das nicht zu.« (S. 23) Ich weiß nicht recht, ob der Grund darin liegt, daß wir zu apokalyptisch waren oder aber zuwenig radikal. Und doch, um nur ein Beispiel zu nennen, ist nicht die Entdeckung (von de Beauvoir), daß Weiblichkeit durch eine komplexe Verkettung diskursiver und nicht-diskursiver Ereignisse hervorgebracht wird, genauso aufregend wie die These (von Foucault), daß Sexualität (wie sich herausstellt, männliche) untrennbar von den Auswirkungen und Ausübungen von Macht ist? Aber vielleicht ist es verhängnisvoll, Vergleiche anzustellen: als ob die Theorie, die sich durch die kollektive Gedankenarbeit feministischer Wissenschaftler/innen herauskristallisiert hat, sich jemals so wirkungsvoll durchsetzen könnte wie die Namen Freud, Marx oder Derrida. Praktisch gesehen würde ich sogar noch weitergehen und sagen, meine Erfahrung hat mir gezeigt, daß die Anerkennung als Autorität sich in dem Maß verringert, wie sich die/der Sprecher/ in dem feministischen Diskurs annähert. Dies ist eine andere Spielart von Feminist/in oder Theoretiker/in.
Kritische Schulen oder Stilrichtungen sind darüber hinaus typischerweise institutionell (wie abgehoben auch immer) verankert — die Yale Schule ist das beste Beispiel dafür. Oder sie haben eine Zentralfigur wie De Man, Fish oder Said, die ihre Theorien durch ihre Lehre und die graduierten Student/inn/en, die mit ihnen arbeiten, durchsetzen. (Diese Figuren überwinden gelegentlich ihre Unterschiedlichkeit, um sich ihre Macht in Der kritischen Schule und Theorie zu teilen — eine Gruppe, die sich nicht dadurch auszeichnet, daß sie hervorragende Wissenschaftlerinnen in ihren Kreis aufnimmt.) Feministische Literaturwis-senschaftlerinnen waren außerdem häufig voneinander räumlich getrennt — die Vorstellung, daß Princeton sowohl Elaine Showalter als auch Sandra Gilbert einstellen würde, schien wahrhaft revolutionär; und selbst hervorragende einzelne Gestalten in feministischer Theorie neigen dazu, sich dem größeren Projekt zuzuordnen, verweisen eher auf Gemeinsamkeiten, als daß sie auf der Einzigartigkeit ihrer Methode oder Position bestehen.
Aber wenn die Bildung von Schulen für feministische Literaturkritiker/innen nicht gerade vielversprechend erscheint, so sollte das auch nicht bedeuten, daß wir hier das Chodorow'sche Modell mit Zusammenschlüssen von Frauen und fließenden Grenzen vorfinden oder die Vorführung des Ichmangels a la Gilligan. Ich sage noch nicht einmal, daß das eine so großartige Sache sei, sondern ich will vielmehr die Auswirkungen institutioneller Wirklichkeiten auf die konkrete Ausgestaltung feministischer kritischer Theorie hervorheben. Was hat das nun mit dem weiblichen Schreiben und dem Kanon zu tun — wenn ich eine Anleihe bei Woolfs rhetorischen Wendungen in Ein Zimmer für sich allein machen darf? Und habe ich nicht drei Parabeln angekündigt?
In seinem Überblick über feministische literaturwissenschaftliche Studien beschwert sich Ruthven permanent über das, was er »separatistischen Feminismus« nennt, und protestiert dagegen (S. 13). Er sieht ihn als eine ausschließliche und ausschließende Hinwendung zu schriftstellerischen Arbeiten von Frauen. In seiner Zusammenfassung sorgt er sich:

  • »Es wäre bedauerlich, wenn die feministische Literaturkritik, die so erfolgreich im Bloßstellen androzentrischer Befangenheit gegen Schriftstellerinnen gewesen ist und einen kritischen Diskurs möglich gemacht hat, der frei von solchen Vorurteilen ist, durch eine Gynokritik, die sich separatistisch entwickelt, verraten werden würde. Denn das würde einfach die Polarität von schriftstellerischen Arbeiten von Frauen und Männern festschreiben, die die feministische Literaturwissenschaft ursprünglich bekämpfen wollte. Und es würde das nächste Mal um so schwieriger werden, Männer und Frauen davon zu überzeugen, daß sie zuviel voneinander zu lernen hätten, als daß sie das Risiko eingehen könnten, getrennte Wege zugehen.« (S. 128)

Da ich selbst als »Anhängerin separatistischer Kritik« bezeichnet wurde,[7] möchte ich zum Schluß zum genaueren und nützlicheren Nachdenken über schriftstellerische Arbeiten von Frauen einen Vorschlag machen. So behaupte ich, daß wir eben genau durch die Prozesse der Wiederentdeckung, der neuen Sicht, Revision und »revidierenden Wiederlesens« (Kolodny), die für unsere Arbeit an Frauenliteratur so charakteristisch sind, lernen können, wie die falschen Kontinuitäten (»Ursprünge« und Einflüsse) des Kanon — einer Sammlung von Texten, die wahrheitsgemäß eher als »Männerliteratur« bezeichnet werden könnte — in Angriff genommen werden können.[8] Wie die Dekonstruktion mit ihren zwei Prinzipien oder Schritten ist die Rekonstruktion des Feminismus vielfach ein doppeltes Vorgehen, »eine Umkehr des klassischen Gegensatzes und eine allgemeine Verlagerung des Systems«.[9] Aber die Rekonstruktion, um die sich die feministische Literaturtheorie bemüht, verlangt notwendigerweise eine spezifische Umorientierung (und Verlagerung) der Arbeitsweisen.- die Etablierung einer weiblichen Tradition — ein Vorgehen, das wegen seines Anspruchs auf Repräsentation darauf abzielt, die Ansprüche der Literaturgeschichte aus den Angeln zu heben — und einen ungerührten Medusa-gleichen Blick auf eine Tradition, der es niemals in den Sinn kam, sich über die Mütter zurückzuerinnern, eine Betrachtung, die in den eigenen Genealogien verankert ist. Anders ausgedrückt, ist meine These hier, daß eine feministische Sicht des Kanons (des Systems) die Versteinerung der Geschlechterhierarchien offenbaren wird, die die Institutionalisierung der Literatur regulierte, und die Ungleichgewichtigkeiten (Asymmetrien) aufheben wird, die diese Hierarchien aufgerichtet haben. Im Gegensatz zu dem, was Ruthven sich vorstellt, vertrete ich die Meinung, daß dadurch, daß wir das Augenmerk auf die Fragen feministischer Literaturtheorie richten — wer liest, wer schreibt, wessen Interessen dient dieses Lesen und Schreiben? —, das Studium von Frauenliteratur von der Ausgegrenztheit an der Peripherie sich wieder dem nervösen »Ich« der dominanten Betrachter zuwendet. Und meiner Ansicht nach wird ein sinnvoller Wandel in der Institution nur durch dieses »Zurück an den Absender« herbeigeführt werden, indem es das universelle Subjekt von seinem Platz in der Mitte des herrschenden Diskurses entfernt.
Die dritte Parabel. In der Literatur, die die Signatur von Frauen trägt, gibt es einen Text, einen langen Roman, obwohl dieser Begriff das Durchbrechen der Gattungszwänge, das dieses Werk (in dem wohl eher eine Art Bakhtin'sche Mehrdeutigkeit herrscht) explosionsartig vornimmt, zähmt, und dieser Roman thematisiert und problematisiert den Pantheon, den Kanon und den Platz, den die Schriftstellerin dort einnimmt. Das Werk ist Corinna oder Italien (1807) von Germaine de Stael. Corinna, die Heldin, beginnt ihre Romreise, die sie geplant hat, um die Vorstellungswelt von Oswald einzufangen, jenem schwermütigen Engländer, der nach Italien kam, um seine Gesundheit wiederherzustellen und von der Trauer um den Tod seines Vaters zu genesen.
Corinna, die erfinderische Dichterin, deren Krönung auf den Stufen des Kapitols die Liebenden auf dramatische Weise miteinander bekannt macht, führt Oswald zuerst zum Pantheon, wo »die Büsten der berühmtesten Künstler« zu sehen sind: »Sie schmücken die Nischen, wo im Altertum die Götter ihren Platz hatten.« (S. 96) Corinna erklärt, daß es ihr größter Wunsch sei, auch dort ihren Platz einzunehmen: »Meinen habe ich mir schon ausgewählt, sagte sie, indem sie auf eine noch leere Nische zeigte.« (S. 97)
Fragen wir uns wiederum, »wie verändert die Einbeziehung von Frauenliteratur unseren Blick auf die Tradition«, so bietet das Werk Corinna ein mustergültiges Antwortpaket: Der griechische Mythos wird durch die römische Architektur neu gelesen; es verkörpert kulturellen Relativismus; es formuliert die Geschichte des Klassizismus und Romantizismus; es politisiert, indem es die Frage nach Öffentlichkeit aufwirft, die Vorstellung des Genius (Moers); es holt das Problem der Subjektivität ins Rampenlicht; und es bietet eine dramatische Verarbeitung des Bezugs des Künstlers zur Gesellschaft. Der Roman hatte einen enormen Einfluß auf (weibliche) Schriftsteller in Frankreich, England und Amerika. Muß ich erwähnen, daß er weder zum Kanon französischer Literatur gehört — obwohl der Roman ehrenhalber wegen Staels Stellung als Intellektueller angeführt wird — noch zum Pantheon der Weltliteratur? Mit anderen Worten: die Nische ist bis heute leer.
Als Corinna begreift, daß sie (jung) sterben wird und zu krank ist, um aufzutreten, veranlaßt sie, daß ihre Verse in einer letzten Aufführung von einem jungen Mädchen gelesen werden. Sie organisiert auch noch vor ihrem Tod, daß ihre kleine Nichte, Juliette (die Tochter von Oswald und Corinnas englischer Halbschwester), die italienische Sprache und das Harfespiel lernt: genau wie Corinna, aber mit dem Unterschied, den eine Generation ausmacht. Auf diese Weise sorgt sie zu ihren Lebzeiten für ihr Vermächtnis und stellt es sicher: was ich als feministisches »Nachwort« bezeichne. (Berg, S. 219)
Wie wir wissen, hat Barthes die These vertreten, daß der TOD de/r/s AUTOR/IN/S mit der GEBURT de/r/s LESER/IN/S gleichzeitig stattfindet, wenn nicht durch ihn hervorgebracht. Obwohl er das erste Ereignis mit einer Freude verzeichnet, die nicht  alle  feministischen Literaturkritiker/innen notwendigerweise teilen werden, so gibt es vielleicht doch gute Gründe, sich dieses Paradigma anzueignen und neu zu gestalten. Denn dies ist unsere einzige Hoffnung. Konfrontiert mit der Dauerhaftigkeit, mit der die Nische leer bleibt, wird es zu unserer Aufgabe, die Möglichkeit einer anderen Kontinuität zu etablieren. Nicht jene biologische und mörderische Einfachheit, die so sehr die Vater-Sohn-Gespanne unserer kulturellen Paradigmen anspricht (a la Harold Bloom in der Nachfolge von Sigmund Freud), sondern ein komplexeres Vermächtnis, das wie Corinna ihre Werte im Leben einer anderen Generation durch Lesen und Aktivitäten weitergibt (Berg, S. 214) und wie Lucy Snowe ihre Leidenschaften durch einen anderen und letztlich zweideutigen Schauplatz des Schreibens autorisiert.
P. S. Zwei Monate nach Fertigstellung dieses Vortrags haben die Lehrpersonen, die mit dem geisteswissenschaftlichen Seminar zu tun haben, dafür (mit einer äußerst knappen Mehrheit) gestimmt, weitere Veränderungen in der Unterrichtseinheit vorzunehmen. Für das Wintersemester (die Griechen und die Römer) wurde die Dichtung von Sappho und das Lied Homers an Demeter aufgenommen. Für das Sommersemester wurde Rabelais durch Boccaccio ersetzt und Die Prinzessin von Cleve dem Stoff hinzugefügt. Die politischen Beweggründe für diese und andere Revisionen sind nicht eindeutig feministisch in Motiv oder Inhalt. Dennoch scheint es fair, den Schluß zu ziehen, daß sich paradoxerweise ohne den »Jane Austen-Effekt« nichts geändert hätte. Wer kann sagen, wohin das alles noch führen wird, denn die neugewählte Liste enthält auch noch eine Seminarstunde zur freien Verfügung.

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