Einleitung

»Die Steine des Vogels Jingwei» von Qiu Jin ist eine Erzählung, die von einer jungen chinesischen Frau geschrieben wurde und von den Lebensbedingungen der Frauen in China gegen Ende des 19. Jahrhunderts handelt. Zu dieser Übersetzung haben mich in erster Linie die ideologischen Implikationen des Textes bezüglich der Emanzipation der Frauen in China motiviert. Der Text stellt ein wichtiges historisches Dokument dar, nicht deshalb, weil er einen großen Einfluß auf die Zeitgenossinnen Qiu Jins gehabt hätte - er war in China bis 1958 unbekannt - sondern weil er es gestattet, einen der am meisten verkannten persönlichen Aspekte seiner Verfasserin zu beleuchten.
Qiu Jin ist berühmt geworden als erste Frau, die von der Mandschuregierung geköpft wurde; sie gehörte zu den Helden der Zeit vor der Revolution von 1911. In dieser Eigenschaft ist sie neben Sun Yat Sen die einzige historische Persönlichkeit, deren Andenken heute in Peking und Taiwan zugleich geehrt wird. 1975 hat die Volksrepublik China anläßlich des hundertsten Geburtstages Qiu Jins ihrer gedacht[1] und die aktuelle Bedeutung ihrer Gedanken für die derzeitige Kampagne gegen die konfuzianische Ideologie unterstrichen.
Alle Werke in westlichen Sprachen, die Qiu Jin behandeln, verschleiern ihre wahre Persönlichkeit, indem sie sie abwechselnd als exzentrische Dichterin, als gebildete Amazone, die als Mann verkleidet die Bevölkerung aufwiegelt, oder als romantische und selbstmörderische Aufrührerin darstellen. Dagegen läßt uns »Die Steine des Vogels Jingwei» erkennen, daß Qiu Jin ein zutiefst politisches Bewußtsein besaß. Dies geht sowohl aus der Art und Weise hervor, wie sie die Situation der Frau in der traditionellen Famille begreift und aufzeigt, als auch aus den Mitteln, derer sie sich bedient, um bei den Frauen ein Bewußtsein über ihre Situation zu schaffen und wird auch aus den Zielen deutlich, die sie ihnen vor Augen stellt. »Die Steine des Vogels Jingwei» ist ein Zeugnis unter vielen für eine ganze ideenrichtung, wie sie heute in China verbreitet wird. Dieses Dokument ist nicht zu trennen von der Biographie seiner Verfasserin, auf die es auch in einigen Punkten ein gewisses Licht wirft. Vor allem aber werden wir sehen, wie die Gegenüberstellung dieses Werkes von Qiu Jin mit ihrer Lebensgeschichte den außergewöhnlich hohen Anspruch deutlich werden läßt, den Qiu Jin an sich selbst hatte, ihre Gedanken in die Praxis umzusetzen.

Der historische Hintergrund

Die Geschichte Chinas im 19. Jahrhundert ist die Geschichte des Zerfalls des Mandschu-Staates, seiner Veräußerung an ausländische Imperialisten, des Niedergangs seiner Wirtschaft und des moralischen Zerfalls der traditionellen chinesischen Gesellschaft. Das Kaiserreich wird seit 1644 von einem Herrscherhaus nicht-chinesischer Abstammung regiert. Die Mandschus sind Abkömmlinge tungusischer Stämme, einer Volksgruppe, die nordöstlich von China ansässig ist, aber schon seit langem chinesischen Einflüssen unterliegt. Sie haben es fertiggebracht, sich die Sympathie und die Unterstützung der gebildeten Klasse Chinas zu erwerben. ihre Verwaltung macht China von der Mitte des 18. Jahrhunderts an zur reichsten und größten Nation der Welt. Aber dieser Wohlstand verschleiert die Schwächen eines bis zum äußersten zentralisierten politischen Systems und schläfert das politische Bewußtsein der herrschenden Klassen ein. Sie können den wirtschaftlichen und sozialen Problemen nicht mehr begegnen, die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts einstellen und eine Epoche tiefsten Niedergangs einleiten.
Von 1800 bis 1900 verschärften sich die Anzeichen für die Zerrüttung der Macht. Eine Reihe von Bauernaufständen, ausgelöst durch das Elend, die Ungerechtigkeit und die Erhöhungen der Abgaben, die auf der ländlichen Bevölkerung lasten, führen zur heftigsten sozialen Explosion, die die chinesische Bevölkerung je erlebt hat, dem Aufstand der Taiping (1851-1864). Eine unglaublich heftige bewaffnete Bauernrevolution, die von einer Million Menschen getragen, sich über 4 000 km ausbreitet und China teilweise von der Herrschaft des Kaisers und der Großgrundbesitzer befreit. Wenn der Taipingaufstand auch am Ende niedergeschlagen wird, so ist das Kaiserreich doch bis in seine Grundfesten erschüttert worden und wird sich nie ganz von dieser tiefen Erschütterung erholen. Im Zusammenhang mit dieser inneren Krise kommt es zu den ersten Einbrüchen ausländischer Mächte in China.
Die industrielle Entwicklung der westlichen kapitalistischen Länder und die Verstärkung ihrer Armeen ermöglichen die kolonialistische Expansion. Die Verbindung von Bank- und Industriekapital in den industrieländern Europas, Amerikas und Japans übt einen furchtbaren Druck auf China aus. Die Errichtung neuer Industrien, der Bau von Eisenbahnen, der Kapitalexport und die Gründung von Banken führen zu der fast völligen Unterjochung des chinesischen Kaiserreiches. Diese wirtschaftliche und politische Aneignung Chinas durch fremde Staaten ging einher mit einer Reihe von kriegerischen Akten: Gebietsbesetzungen, militärischen Belagerungen, erzwungener Unterzeichnung ungleicher Verträge. Die Niederlage im chinesisch-japanischen Krieg (1894) bringt für China eine Kriegsschuld mit sich, die mehr als dreimal so hoch ist wie die jährlichen Einkünfte der kaiserlichen Regierung. China ist besiegt, ruiniert, unterworfen.
 Außerdem wüten zur gleichen Zeit Flutkatastrophen in China, die eine beträchtliche Anzahl Opfer fordern. In den achtziger Jahren gibt es durch diese Katastrophen in Nordchina zwischen 9 und 13 Millionen Todesopfer. Dürreperioden, große Überschwemmungen, Hungersnöte und Epidemien haben eine wachsende Verelendung der ländlichen Gebiete zur Folge. In dieser Notsituation ist von einem ahnungslosen Kaiserhof und einer Regierung, die keine vorbeugenden Maßnahmen trifft, keinerlei Hilfe zu erwarten.
Qiu Jin wächst in diesem China auf, das zwar erniedrigt ist, in dem sich aber auch schon der Wille abzeichnet, diese Demütigungen zu rächen. Sie kämpft in einem langsam erwachenden China, und steht in vorderster Reihe unter denen, die zu diesem Erwachen beitragen. (In den Anmerkungen wird auf einige historische Werke verwiesen).

Der Text und seine Ausgaben

»Die Steine des Vogels Jingwei» (Jingwei shi) ist ein unvollendeter Text, von dem lediglich die ersten fünf Kapitel und der Beginn des sechsten Kapitels existieren, während die Verfasserin eigentlich zwanzig Kapitel vorgesehen hatte, wie aus dem Inhaltsverzeichnis hervorgeht. Der Bruder Qiu Jins erwähnt in einem Werk über seine Schwester[2] vier Bände von »Die Steine des Vogels Jingwei», das heißt einen Band mehr als die vorliegenden. In der fotografischen Ausgabe der Manuskripte von Qiu Jin sind die ersten fünf Kapitel in zwei Bänden vereint, und der Beginn des sechsten Kapitels bildet einen eigenen dritten Band. Die Herausgeber der zuletzt erschienenen Ausgabe der Werke Qiu Jins behaupten, keine Spur von einem vierten Band gefunden zu haben und bezweifeln sogar seine Existenz.[3]
Die gleichen Herausgeber geben nicht an, worauf sie ihre Behauptung stützen, daß die ersten drei Kapitel von »Die Steine des Vogels Jingwei» zwischen 1904 und 1906 geschrieben sein sollen. Dagegen gibt Qiu Jin selbst zwei genaue Hinweise. Zu Beginn des zweiten Kapitels sagt sie, daß sie in Japan ist, und im vierten Kapitel schreibt sie, daß sie nach China zurückgekehrt ist und in Hu unterrichtet. Wenn es auch ansonsten nicht gestattet, die Abfassung der folgenden vierzehn Kapitel zeitlich einzuordnen, so können wir doch, ausgehend von ihrer politischen Orlentirung, vermuten, daß sie entweder während der Zeit in Japan oder aber danach entstanden sind. Die Hinrichtung Qiu Jins im Juli 1907 setzte der Abfassung des Werkes ein Ende.
Dieses Werk ist zu Lebzeiten der Verfasserin nie veröffentlicht worden, obwohl Qiu Jin vorhatte, es in einer Monatszeitschrift erscheinen zu lassen, die sie 1906 in Shanghai gegründet hatte, dem »Zhongguo nübao» (Zeitschrift für die chinesische Frau). Aber diese Zeitschrift erschien aus finanziellen Gründen nur zweimal und die journalistischen Pläne Qiu Jins scheiterten an fehlender finanzieller Unterstützung. Nach ihrem Tode erschienen verschiedene Ausgaben ihrer Werke, aber hauptsächlich aus ihrem lyrischen Schaffen. Erst 1958 erscheint »Die Steine des Vogels Jingwei» zum ersten Mal in einer fotografischen Ausgabe, die verschiedene Manuskripte Qiu Jins enthält, die nach ihrem Tode aufgefunden wurden: Qiu Jin shiji (Historische Zeugnisse über Qiu Jin)[4].
Diese fotografische Ausgabe diente als Grundlage für die Wiederauflage von »Die Steine des Vogels Jingwei» in den Werken Qiu Jins, herausgegeben in Shanghai 1960 und neuaufgelegt 1965: Qiu Jin ji (Qiu Jins Werke).[5] Das Werk Qiu Jins wurde ebenfalls in einer Sammlung veröffentlicht, die die literarischen Produkte des Endes der Qing-Zeit enthält (1644-1911).[6] Das sind meines Wissens die einzigen vorhandenen Ausgaben dieses Textes. Der Text, den ich für die Übersetzung benutzt habe, befindet sich in der Neuauflage der »Werke von Qiu Jin», 1965. Diese Wahl habe ich aus folgenden Gründen getroffen: Ich habe mir die Ausgabe von 1965 selbst beschafft, da die Pariser Bibliotheken nur die fotografische Ausgabe des Manuskriptes besitzen. Nachdem ich mich vergewissert habe, daß die Zusammenstellung dieses Textes originalgetreu ist, habe ich beschlossen, die Neuauflage von 1965 für die Übersetzung zu verwenden.


Die Wahl der literarischen Gattung: das Tanci[7]

Qiu Jin hat sich einer besonderen literarischen Form bedient, um ihre Gedanken über die Situation der Frau auszudrükken: das Tanci, eine volkstümliche Gattung, die Frauen in ihrer Rolle als Leserinnen, Hörerinnen, Verfasserinnen und Vortragende geprägt haben. Sie erklärt die Gründe dieser Wahl in ihrem Vorwort: »Es gibt wohl viele Arten von Büchern, aber sie (die Frauen) verstehen wegen ihrer Schwierigkeiten im Umgang mit Geschriebenem nicht viel davon. Deshalb schreibe ich dieses Tanci. Ich schreibe in der Sprache des Volkes, damit alle, ob Männer oder Frauen, es verstehen können

Eine volkstümliche Gattung

Ein Tanci ist eine lange Erzählung, zuweilen eine sehr lange. Diese literarische Gattung ist die längste in der ganzen chinesischen Literatur.[8] Gereimte Passagen, die zum Vorsingen gedacht sind, wechseln mit gesprochenen Absätzen. Auf Lyrik folgt Prosa. Diese Gattung gehört der gesprochenen und geschriebenen Volkstradition an. In seiner mundlichen Form wandte es sich in erster Linie an ein breites ungebildetes Publikum, das oft nicht lesen und schreiben konnte: an Männer und Frauen aus dem Volk. Die Männer hörten es sich in den Teehäusern an. Die Frauen, die nicht frei ausgehen konnten, ließen sich Erzähler ins Ilaus kommen, wenn sie über das nötige Geld verfügten.[9] Dennoch diente nur eine kleine Zahl Tancis dem mündlichen Vortrag[10] und die meisten wurden doch zuhause gelesen. Zu diesem Zweck konnten die Leute sie in eigens hierfür bestehenden Geschäften ausleihen.[11] Die Experten für chinesische Literatur haben lange Zeit das Tanci ignoriert. Sie weigerten sich, es als eine literarische Gattung zu betrachten, die ein gründliches Studium wert ist, weil es zu populär war. Erst am Anfang unseres Jahrhunderts begannen sie sich dafür zu interessieren. Dieses Interesse verdankt das Tanci vor allem Li Baojia[12] (1867-1906) und Wu Woyao[13] (1866-1910), die endlich begriffen, daß es sich hier um ein echtes literarisches Ausdrucksmittel handelte, dessen Bedeutung nicht
vernachlässigt werden durfte. Ein wenig später haben andere Experten für chinesische Literatur, wie A Ying und Zheng Zhenduo eine bedeutende Arbeit geleistet, indem sie eine Zusammenstellung sämtlicher existierenden Tancis ausgearbeitet haben. Ihre Studien und die Chen Ruhengs[15] liefern wertvolle Teilinformationen zu einem Gebiet, das noch wenig erforscht ist.
Dank ihrer Studien können die Charakteristika dieser literarischen Gattung genauer angegeben werden, die Qiu j in als Ausdrucksmittel wählte, und die vor allem im Süden Chinas gebräuchlich war.[16] Zheng Zhenduo[18] schlägt vor, bei den Tancis zwischen solchen in der Nationalsprache (guoyin) und solchen im Dialekt (tuyin) zu unterscheiden. Die ersteren sind zahlreicher und ihre literarische Form gilt als die reinste. Sie räumten in ihren Inhalten politischen und sozialen Themen größeren Raum ein. Letztere, im Dialekt geschrieben» hatten ein beschränkteres Verbreitungsgeblet, das dem des verwendeten Dialekts entsprach. Es gab unter den Tancis in tuyin noch lokale Varianten, so daß man Tancis aus der Gegend von Shanghal (wuyin), aus Fuzhou (pinthua) oder aus Kanton (muyushu)[19] unterscheiden kann. Es scheint jedoch, daß auch innerhalb einer Dichtung Nationalsprache und Dialekt verwendet wurden. in diesem Fall bedienen sicli die edlen Figuren der Nationalsprache und der Dialekt bleibt den komischen Rollen vorbehalten.
Innerhalb jedes hui (Kapitel eines Tanci) gibt es gesungene und gesprochene Partien in unterschiedlicher Anzahl. Die gesungenen, planzis genannt, bestehen aus siebensilbigen Versen, denen man noch dreisilbige chenzis (hinzugefügte Wörter) voranstellen kann, die vor allem eine musikalische Funktion haben, so daß man einen regelmäßigen Rhythmus von 7, 7 oder 3, 7, 7, oder 3, 3, 7, 7 Versfüßen erhält. Das Tanci Qiu Jins hält sich im ganzen an diesen Rhythmus. Generell sind die Kompositionsregeln recht frei[20], außer in bezug auf die Reime, deren Regeln man beachten sollte. Als Volksgattung macht das Tanci reichlich Gebrauch von Maximen, geflügelten Worten, Sprichwörtern und Redensarten, die im Volk geläufig sind. Ursprünglich wurden die Erzählungen in der dritten Person (biao) abgefaßt, ein gebräuchliches Verfahren in epischen Gedichten und erzählender chinesischer Prosa. Später führten manche Autoren unter dem Einfluß des Theaters in ihren Tancis in der ersten Person sprechende (bai) und singende (chang) Personen ein. Chen Ruheng[21] liefert eine Klassifizierung der verschiedenen Tancis nach dem gleichzeitigen Vorhandensein der drei Elemente biao, bai und chang. Außerdem führt er als ein weiteres Unterscheidungskriterium ein, ob eine oder zwei Personen den Gesang und die Prosa vortragen. Im letzteren Falle wird eine weitere Unterscheidung getroffen, je nach Musikinstrument, das verwendet wird, das sianzi, ein dreisaitiges Instrument oder die biba, eine chinesische Laute.
Es ist schwierig, das Erscheinen des ersten Tancis zu datieren.[22] Eines der ältesten stammt aus dem 16. Jahrhundert, aus der Zeit zwischen 1506 und 1567. Es handelt sich hierbei um das ershiyishi tanci (Tanci der einundzwanzig Geschichten der Herrscherhäuser) von Yang Shen (1488-1599). Aber die Mehrzahl der Tancis, die wir heute in Händen halten, stammen aus der Qing-Zeit und vor allem aus der Epoche nach Qian Long (1736-1795).[23]
Die ersten Experten, die sich für diese Gattung interessierten, waren vor allem erstaunt über ihre erzieherischen Aspekte. Wu Woyao macht in einem Artikel, der 1905 in der Revue Xin xiaoshuo[24] erscheint, darauf aufmerksam, daß sehr oft jedes Kapitel mit einer kleinen belehrenden Einleitung beginnt und daß im allgemeinen alle Geschichten in unverblümter und schematisierter Weise die wichtigsten moralischen Grundsätze hervorheben, die es zu beachten gilt: eheliche Treue, kindliche Liebe, Aufrichtigkeit. Die Frauen sind in den Tancis treue Ehefrauen und die Töchter verkaufen sich, um die Untaten der Väter zu sühnen. Man läßt darin die Prostituierten sterben, um ihren Opfersinn sichtbar werden zu lassen. Der Autor des besagten Artikels preist es als ein Glück, daß so viele Frauen und Mädchen diese Literatur gerne lesen, denn, so meint er, sie finden darin gute Vorbilder.
Wu Woyao hatte wohl erkannt, daß die Tancis die Kraft in sich tragen, Menschen zu bestimmten Dingen zu bewegen, und wie er es für sein Teil begrüßte, daß mit diesem Kunstgriff die konfuzianische Moral sich verbreiten ließ, so beschlossen einige seiner Zeitgenossen, diese Kraft für andere Ziele einzusetzen. i Baojia war ein Reformer auf diesem Gebiet. Im Vorwort zu einem 1901/1902 geschriebenen Tanci, dem gengzi guobian tanci[25], das die Ereignisse beim Boxeraufstand und die Niederlage der Reformbewegung zum Gegenstand hat, erklärt er, daß die Tancis, wenn sie von begabten Erzählern vorgetragen werden, eine große emotionale Wirkung auf die Zuhörer haben können. Wenn man auf ihre herkömmliche Funktion, »die Langeweile zu vertreiben» verzichtet, kann man also die Tancis in ein Propagandawerkzeug zur Verbreitung neuer Ideen verwandeln. Er siedelt seine Geschichte in 40 Kapiteln in einem sozialen und politischen Kontext an, aus dem er jegliche bloß emotionale Verstrickung eliminiert und bricht auf diese Weise mit der Tradition des Tanci, dessen Handlung sich ursprünglich auf einer emotionalen Ebene entspann. Er findet Nacheiferer in dieser Richtung unter jungen, engagierten Schriftstellern, Zeitgenossen Qiu Jins, die sehr viel diese Gattung benutzten, um fortschrittliche Ideen zu propagleren. Im heutigen China lobt man den politischen Einfluß und die vorantreibende Funktion der revolutionären Erzähler aus der Gegend von Shanghai[26], die auf die Felder und in die Teehäuser ziehen, um den Bauern Geschichten mit revolutionären Inhalten vorzusingen und vorzutragen. Hier haben wir uns wohl schon sehr weit entfernt von denjenigen Tancis, denen A Ylng eine glänzende Zukunft in Verbindung mit der Entwicklung des Rundfunks vorausgesagt hatte. Wir wissen nicht, wie die Form der mündlich vorgetragenen Texte zeitgenössischer Erzähler aus der Gegend von Shanghal genau aussieht. Aber das tanci kaipan (Tancieröffnung) ist heute eine blühende Gattung in China. Einst Bestandteil des Tanci, haben diese Eröffnungen die Funktion, kurz den Inhalt der Erzählung darzustellen und Nachzüglern Zeit zu lassen, noch hinzuzukommerl. Sie sind inzwischen zu einer eigenen dichterischen Gattung geworden.[27]

Frauen als Leserinnen und Verfasserinnen von Tancis

Das Tanci ist mit Vorliebe von Frauen gepflegt worden, vor allem in den nicht bäuerlichen Schichten, wo die Frauen ihr Leben eingeschlossen in ausschließlich für sie bestimmten Gemächern verbrachten. Sie richteten sich dann häuslich mit ihrer erzwungenen Passivität ein, indem sie diese langen Erzählungen lasen, an denen sie Gefallen fanden. Es geschah sogar häufig, daß sie die Tancis ganz oder teilweise abschrieben, was auch die Erklärung für die Verbreitung einer sehr großen Zahl handschriftlicher Exemplare von Tancis ist (die ältesten dieser Manuskripte gehen bis zur Zeit des Kaiseres Qian Long (1736-1795) zurück[28]. Diese Manuskripte, von denen einige niemals gedruckt worden sind, gingen also bei den jungen Mädchen von Hand zu Hand, und diese widmeten sich der Aufgabe des Abschreibens, wobei die Ergebnisse oft besser als das Original waren. Man konnte die Tancis mit vollem Recht als Werke im Dienste der rechten Moral betrachten und es wurde zu einer verdienstvollen Tätigkeit, Abschnitte daraus abzuschreiben. A Ying schreibt, daß man am Ende mancher Exemplare folgende Formulierung lesen kann: »Wenn Ihr dieses Tanci gelesen habt, schreibt ein Stück davon ab und schickt es an eine Freundin, damit tut Ihr ein gutes Werk.»
Es scheint, daß gegen das 17. Jahrhundert einige Frauen damit begannen, selbst Tancis zu schreiben, die besser auf ihre Probleme eingingen, als die von Männern geschriebenen. Sie drückten darin ihr ganzes Leiden und ihre Hoffnungen aus. Es gab genügend Frauen darunter, die schriftstellerisch begabt waren, um innerhalb dieser Gattung eine echte Frauenliteratur von Frauen für Frauen über Frauen zu schaffen.[29] Die Experten, die sich für die Tancis interessierten, unterscheiden im allgemelnen in ihren Arbeiten zwischen Tancis, die von Frauen geschrieben wurden und solchen, deren Verfasser Männer sind. Zheng Zhenduo schreibt beispielsweise[30], daß die Gefühle, die Frauen in ihren Tancis zum Ausdruck bringen, sich sehr von denen unterscheiden, die man bei Männern niedergeschrieben findet. Er stellt fest, daß die Frauen, die in ihren Frauengemächern eingeschlossen leben, sich nur mühsam aus ihrer Situation lösen können. Ihre Tancis sind mit viel größerer Akribie und Raffinesse geschrieben als die der Männer, und sie enthalten keine schlüpfrigen Scherze.[31] Qiu Jin wendet sich also mit einer seit langem vertrauten literarischen Gattung an ihre Schwestern. Ihr Werk ist kein für Intellektuelle geschriebenes soziologisches Dokument. Es ist ein mit Heftigkeit vorgebrachtes politisches Lehrstück, ein kämpferischer Text, der einfach geschrieben und leicht verständlich ist. Diese Einfachheit entspringt dem Bedürfnis, möglichst viele Menschen anzusprechen und die groben Vereinfachungen, die manchmal zu schnell erfolgen, sind nur eine Folge der Dringlichkeit, die die reale Situation fordert.

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Einleitung