Millionen Schwarzer, unter ihnen besonders die Frauen, waren davon überzeugt, daß die Emanzipation »die Ankunft des Herrn« sei.[1]
- Dies war die Erfüllung der Prophezeiungen und Legenden. Es war der Goldene Morgen nach tausend Jahren in Ketten. Es war alles zugleich, wunderbar, vollkommen und verheißungsvoll. [2]
Im Süden war die Freude. Sie erhob sich wie ein Duft - wie ein Gebet. Die Männer standen und zitterten. Schlanke dunkle Mädchen, wild und schön mit ihrem Kraushaar, weinten still vor sich hin; junge Frauen, schwarz, lohfarben, weiß und golden, hoben ihre bebenden Hände, und alte, gebrochene Mütter, schwarz und grau, erhoben ihre lauten Stimmen und riefen über die Felder weg zu den Felsen und Bergen hin zu Gott. [3]
Und es erhob sich ein mächtiger Gesang, das Schönste, was diesseits des Meeres geboren wurde. Es war ein neues Lied, . . . und seine tiefe klagende Schönheit, seine mächtigen Kadenzen und wilden Appelle wehklagten, pochten und donnerten an das Ohr der Welt eine Botschaft, die von Menschen erst selten ausgesprochen wurde. Es schwoll und erblühte wie Räucherwerk, jung und neu geboren aus einem längst vergangenen Zeitalter, und verwob in sich die alten und neuen Melodien in Worten und Gedanken. [4]
Als die Schwarzen die lang ersehnte Befreiung von der Sklaverei (»Emanzipation«) begrüßten, feierten sie wohl schwerlich die abstrakten Prinzipien der Freiheit. Und wenn man liest, daß «. . . ein großes menschliches Schluchzen sich gellend in den Wind erhob und seine Tränen über dem Meer vergoß - frei, frei, frei«,[5] heißt das nicht, daß die Schwarzen religiösem Wahnsinn seinen Lauf gelassen hätten. Sie wußten genau, was sie wollten: Männer wie Frauen wollten Land, sie wollten das Wahlrecht und verzehrten sich in dem Wunsch nach Schulen.[6]
Viele der vier Millionen Schwarzen, die die «Emanzipation« feierten, hatten wie Frederick Douglass als kleines Sklavenkind erkannt, daß «Wissen ein Kind zum Sklaven untauglich macht.« Und wie der Master von Douglass, so hatten auch die anderen damaligen Sklavenhalter begriffen: «. . . wenn du einem Nigger einen Finger reichst, nimmt er die ganze Hand. Bildung verdirbt den besten Nigger der Welt.«[8] Ungeachtet der Mißbilligung seines Masters Hugh, fuhr Frederick Douglass heimlich fort, sich Wissen anzueignen. Bald konnte er alle Worte aus Websters Fibel schreiben, und um seine Fähigkeiten weiter zu verbessern, beschäftigte er sich im Dunkel der Nacht mit der Familienbibel und anderen Büchern. Wohl war Frederick Douglass ein außergewöhnlicher Mensch, der zu einem glänzenden Denker, Autor und Redner heranwachsen sollte, aber in seinem Verlangen nach Wissen war er keineswegs eine Ausnahme unter den Sklaven, die immer einen tiefsitzenden Drang nach Bildung an den Tag legten. Viele Sklaven wollten für dieses qualvolle Leben, das sie führten, «untauglich« sein. Jenny Proctor, eine frühere Sklavin, erinnert sich in einem Interview 1930 an Websters Fibel, aus der sie und ihre Freunde heimlich lernten.
- Keinem von uns war es erlaubt, Bücher zu lesen oder zu versuchen, etwas zu lernen. Sie sagten, wir würden gescheiter als sie selbst, wenn wir irgend etwas lernten; aber wir schlichen herum und bekamen Websters blaueingebundene Fibel in die Hand, versteckten sie, warteten, bis es Nacht war, und zündeten dann einen kleinen Holzspan an und studierten die Fibel. Wir lernten es tatsächlich. Ich kann jetzt ein bißchen lesen und auch schreiben.[9]
Die Schwarzen mußten erfahren, daß «die vierzig Morgen und das Maultier« der «Emanzipation« ein heimtückisches Gerücht waren. Sie mußten um Land kämpfen, sie mußten um die politische Macht kämpfen. Und nach Jahrhunderten des Entzugs von Bildung mußten sie stets auf ihr Recht bedacht sein, ihre tief verwurzelte Sehnsucht nach Bildung zu befriedigen. Wie ihre Brüder und Schwestern im gesamten Süden, so beschlossen auch die gerade befreiten Schwarzen von Memphis auf einer Versammlung, daß Bildung für sie oberste Priorität hatte. Am ersten Jahrestag der »Erklärung über die Emanzipation« beschworen sie die Lehrer im Norden, sich zu beeilen,
- ... ihre Zelte mitzubringen und sie auf den Feldern aufzuschlagen, an der Straße oder in einem Fort, und nicht auf großartige Häuser zu warten, die in Kriegszeiten hätten errichtet werden müssen ...[10]
{{Sklav-120}}Die mystifizierenden Kräfte des Rassismus haben oft eine irrationale, alles auf den Kopf stellende Logik. Nach der herrschenden Ideologie waren die Schwarzen angeblich zu intellektuellem Fortschritt unfähig. Da sie als Sklaven lebendes Eigentum gewesen waren, galten sie im Vergleich zum weißen Prototyp des Menschen nach alledem natürlich als minderwertig. Wenn sie aber tatsächlich biologisch minderwertig gewesen wären, hätten sie weder eine Sehnsucht nach Wissen noch die Fähigkeit, sich dieses anzueignen, haben können. Ergo wäre auch kein Lernverbot notwendig gewesen. Doch haben die Schwarzen in Wirklichkeit immer eine unbändige Ungeduld an den Tag gelegt, wenn es um den Erwerb von Bildung ging.
Die Sehnsucht nach Wissen war immer da gewesen. Schon 1787 reichten die Schwarzen beim Staat von Massachusetts eine Petition für das Recht ein, die freien Schulen von Boston besuchen zu dürfen.« Nachdem die Petition abgewiesen worden war, richtete Prince Hall, der Leiter dieser Initiative, eine Schule bei sich zu Hause ein.[12]
Für diese frühe Forderung nach Bildung ist vielleicht die Arbeit einer aus Afrika gebürtigen früheren Sklavin das erstaunlichste Beispiel. Lucy Terry Prince verlangte 1793 mutig, von dem Kuratorium des neu eingerichteten Williams College für Männer angehört zu werden, das ihrem Sohn den Besuch der Schule verweigert hatte. Leider waren dessen rassistische Vorurteile so stark, daß weder Lucy Princes Gedankenführung noch ihre Beredsamkeit die Kuratoren dieser Einrichtung in Vermont beeinflussen konnte. Dennoch verteidigte sie offensiv das Bedürfnis und auch das Recht ihres Volkes auf Bildung. Zwei Jahre später setzte Lucy Terry Prince vor dem höchsten Gerichtshof des Landes erfolgreich das Recht auf eigenes Ackerland durch, und nach erhalten gebliebenen Berichten ist sie die erste Frau, die sich je an das Oberste Gericht der Vereinigten Staaten gewandt hat.[13]
1793 war auch das Jahr, in dem eine ehemalige Sklavin, die sich ihre Freiheit erkauft hatte, in New York eine Schule einrichtete, die als Katy Fergusons Armenschule bekannt wurde. Ihre Schüler, die sie aus den Armenhäusern holte, waren schwarz und weiß (achtundzwanzig beziehungsweise zwanzig Schüler)[14] und vermutlich sowohl Jungen als auch Mädchen. Vierzig Jahre später trat die junge weiße Lehrerin Prudence Crandall unerschütterlich für das Recht der schwarzen Mädchen ein, ihre Schule in Canterbury in Connecticut zu besuchen. Crandall unterrichtete ihre schwarzen Schülerinnen so lange, bis sie ins Gefängnis geworfen wurde, weil sie sich geweigert hatte, ihre Schule zu schließen.[15] Margaret Douglass war eine weitere Weiße, die in Norfolk in Virginia ins Gefängnis kam, weil sie eine Schule für schwarze Kinder betrieb.[16]
Die hervorragendsten Beispiele schwesterlicher Solidarität weißer Frauen mit schwarzen Frauen sind mit dem Kampf der Schwarzen um Bildung verbunden. Wie Prudence Crandall und Margaret Douglass riskierte auch Myrtilla Miner buchstäblich ihr Leben, als sie versuchte, jungen schwarzen Frauen ihre Kenntnisse weiterzugeben.[17] Als sie 1851 ihr Projekt begann, in Washington D. C. ein Kolleg für schwarze Lehrerinnen einzurichten, hatte sie zuvor in Mississippi schwarze Schüler unterrichtet in einem Staat, wo der Unterricht für Schwarze als kriminelles Delikt galt. Nach Myrtilla Miners Tod beschrieb Frederick Douglass seine inneren Zweifel, als sie ihm ihre Pläne zum ersten Mal ankündigte. Bei ihrem ersten Treffen bezweifelte er noch ihre Ernsthaftigkeit, dann aber sah er, daß
- ... das Feuer des Enthusiasmus in ihren Augen leuchtete und der Geist des wahren Märtyrers in ihrer Seele brannte. Meine Gefühle waren eine Mischung von Freude und Trauer. Das, dachte ich, ist ein weiteres Unternehmen - wild, gefährlich, verzweifelt und unrealistisch und nur dazu da, Mißerfolg und Leid zu bringen. Trotzdem war ich vor Bewunderung über die heroische Absicht dieser feinen und zarten Person, die da vor mir stand oder vielmehr vor mir auf und ab ging, tief gerührt.[18]
Es dauerte nicht lange, bis Douglass erkannte, daß keine seiner Warnungen an sie - nicht einmal die Berichte über die Angriffe gegen Prudence Crandall und Margaret Douglass - ihre Entscheidung, ein Kolleg für schwarze Lehrerinnen zu gründen, erschüttern konnte.
- Für mich war der Vorschlag verwegen, fast bis an den Rand der Verrücktheit. In meiner Phantasie sah ich schon, wie diese kleine, zarte Frau von der Justiz aufgerieben, auf der Straße beleidigt, ein Opfer der Sklavenhalter-Bosheit und womöglich vom Mob niedergeschlagen wurde.[19]
Nach Frederick Douglass' Meinung gab es außerhalb des Kreises der Aktivisten gegen die Sklaverei relativ wenige Weiße, die mit Myrtilla Miners Sache sympathisieren und sie gegen den Mob unterstützen würden. Dies sei, erklärte er, eine Zeit eingeschränkter Solidarität mit den Schwarzen. Und weiter:
- ... der Distrikt von Columbia (war) doch die Hochburg der Sklaverei, der Landstrich, der am meisten von den Drahtziehern der Sklaverei beobachtet und bewacht wurde und in dem humanistische Strömungen am schnellsten entdeckt und auf's schärfste bekämpft wurden.[20]
Rückblickend jedoch gesteht Douglass, daß er die Tiefe des persönlichen Muts dieser Frau nicht richtig erkannt hatte. Trotz aller schweren Risiken eröffnete Myrtilla Miner im Herbst 1851 ihre Schule, und innerhalb weniger Monate war die Zahl der Schülerinnen von anfangs sechs auf vierzig angewachsen. Leidenschaftlich unterrichtete sie ihre schwarzen Studentinnen die nächsten sechs Jahre hindurch; gleichzeitig sammelte sie Geld und drängte die Kongreßabgeordneten, ihre Bemühungen zu unterstützen. Wie eine Mutter handelte sie gegenüber Waisenmädchen, die sie mit zu sich nach Hause nahm, damit sie ihre Schule besuchen konnten.[21]
Wie Myrtilla Miner kämpfte, um zu lehren, so kämpften ihre Schüler, um lernen zu dürfen, und sie bekämpften gemeinsam Verbote, Brandstiftungen und Übergriffe rassistischer steinewerfender Banden. Sie wurden von den Familien der jungen Frauen und von der Abolitionistin Harriet Beecher Stowe unterstützt, die einen Teil ihrer Honorare aus dem Verkauf von Onkel Toms Hütte spendete.[22] Myrtilla Miner mag, wie Frederick Douglass beobachtete, «zerbrechlich« gewesen sein, aber letzten Endes war sie immer ungeheuer stark und immer fähig, während der Schulstunden die rassistischen Attacken im Auge zu haben. Eines frühen Morgens jedoch wurde sie durch den Geruch von Rauch und tobenden Flammen abrupt aus dem Schlaf gerissen. Ihr Schulhaus brannte schnell nieder. Obwohl ihre Schule zerstört war, hielt die Begeisterung, die sie geweckt hatte, an, und »Miners Lehrerinnenkolleg« wurde später zu einem Teil des öffentlichen Bildungswesens im Distrikt von Columbia.[23] «Ich gehe niemals an der Miner-Grundschule für farbige Mädchen vorbei«, gestand Frederick Douglass 1883,
- ... ohne ein Gefühl des Selbstvorwurf s darüber, daß ich je etwas hatte sagen können, was den Eifer unterdrücken, das Vertrauen erschüttern und den Mut dämpfen mußte, den die edle Frau besaß, die diese nach ihr benannte Schule gegründet hatte.[24]
Schwesterlichkeit zwischen schwarzen und weißen Frauen war tatsächlich möglich, und solange sie auf einem festen Grund ruhte - wie bei dieser bedeutenden Frau und ihren Freunden und Studentinnen konnte sie weltbewegende Leistungen erbringen. Myrtilla Miner hielt das Feuer am Brennen, das andere vor ihr, wie die Schwestern Grimke und Prudence Crandall, als ein mächtiges Erbe zurückgelassen hatten. Es kann kein bloßer historischer Zufall gewesen sein, daß so viele weiße Frauen, die ihren schwarzen Schwestern in dieser gefährlichen Zeit beistanden, in den Kampf um Bildung verwickelt waren. Sie müssen begriffen haben, wie sehr die schwarzen Frauen Wissen brauchten - als eine Orientierungshilfe für die Schritte ihres Volkes und als das Licht, das den Weg in die Freiheit wies.
Die Schwarzen, die schulische Unterweisung erhielten, verbanden fast unvermeidbar ihr Wissen mit dem kollektiven Kampf ihres Volkes um Freiheit. Als in Cincinnati das erste Jahr zu Ende ging, in dem Schwarze die Schule besuchen durften, kamen auf die Frage: «Worüber denkst du am meisten nach?« von den Schülern diese Antworten:
- 1. Wir wollen ... gute Jungen werden, und wenn wir Männer sind, werden wir die armen Sklaven von ihren Fesseln befreien. Und ich bin traurig, weil ich gehört habe, daß ein Schiff aus Tiskilwa mit zweihundert Sklaven untergegangen ist ... es grämt mich so sehr, daß ich sofort in Ohnmacht fallen könnte. (Sieben Jahre alt)
2.... Wir studieren, weil wir versuchen wollen, das Joch der Sklaverei zu brechen und die Ketten auseinanderzureißen, und damit die Sklavenhalterei für immer verschwindet (Zwölf Jahre alt)
3.... Gepriesen sei die Sache des Abolitionismus ... Meine Mutter und mein Stiefvater, meine Schwester und ich selbst wurden in der Sklaverei geboren. Der Herr ließ die Unterdrückten frei werden. Fahre fort, du glückliche Zeit, auf daß alle Nationen den Herrn erkennen. Wir danken ihm für alle seine Segnungen. (Elf Jahre alt)
4.... Hiermit möchte ich Sie darüber informieren, daß ich zwei Vettern in der Sklaverei habe, die beide das Recht auf Freiheit haben. Sie haben alles getan, was man von ihnen verlangte, und nun will man sie nicht gehen lassen. Man redet davon, daß sie flußabwärts verkauft werden sollen. Wenn es Ihnen so ginge, was würden Sie tun? ... (Zehn Jahre alt)[25]
Die letzte der erhalten gebliebenen Antworten kam von einem sechzehn Jahre alten Schüler, der diese neue Schule in Cincinatti besuchte. Sie ist ein außerordentlich faszinierendes Beispiel dafür, auf welche Weise diese Schüler sich ein Gegenwartsverständnis aus der Weltgeschichte zusammentrugen, das ihrer Heimat ebenso nah wie ihrer Sehnsucht nach Freiheit war.
- 5. Laßt uns zurückblicken und betrachten, wie die Briten, Sachsen und Germanen lebten. Sie lernten nicht und hatten keine Kenntnis der Buchstaben. Aber seht doch, einige von ihnen sind unsere besten Männer. Seht euch König Alfred an, und was für ein großer Mann er war. Er kannte anfangs das ABC nicht, aber vor seinem Tod kommandierte er Armeen und Nationen. Er war niemals entmutigt, sondern sah immer nach vorn und lernte umso hartnäckiger. Ich glaube, wenn die Farbigen wie König Alfred lernen, werden sie bald die Übel der Sklaverei abschaffen. Ich kann nicht einsehen, wie die Amerikaner dieses Land ein Land der Freiheit nennen können, wo es so viele Sklaven gibt.[26]
Was das Vertrauen der Schwarzen in das allgemeine Wissen betrifft, hat dieses sechzehnjährige Kind alles gesagt. Dieser unstillbare Wissensdurst war unter den Sklaven im Süden ebenso stark wie unter ihren «freien« Schwestern und Brüdern im Norden. Unnötig zu bemerken, daß die Beschränkungen des Erwerbs der Lese- und Schreibfähigkeit in den Sklavenstaaten wesentlich härter waren als im Norden. Nach der Revolte von Nat Turner 1831 wurde die Gesetzgebung, die die Schulbildung für Schwarze verbot, im gesamten Süden verschärft. Der Wortlaut eines dieser Sklavengesetze war: die Sklaven das Lesen und Schreiben lehren führt zu Unzufriedenheit in ihren Gemütern und erzeugt Aufstand und Rebellion.«[27] Mit Ausnahme von Maryland und Kentucky war in allen Südstaaten Bildung für Sklaven absolut verboten.[28] Im gesamten Süden griffen die Sklavenhalter zu Peitsche und Schlagstock, um dem unbezähmbaren Lernwillen der Sklaven zu begegnen. Die Schwarzen wollten Bildung:
- Die Schärfe des Kampfes der Sklaven um Bildung kam überall zum Vorschein. Frederika Bremer traf auf eine junge Frau, die verzweifelt versuchte, in der Bibel zu lesen. «Oh, dieses Buch«, rief sie Fräulein Bremer zu, «ich wende diese Seiten hin und her, und ich wünschte, ich könnte sie verstehen. Ich versuche es noch und noch, ich wäre so glücklich, wenn ich lesen könnte, aber ich kann es nicht.«[29]
{{Slav-121}}Susie King Taylor war Krankenschwester und Lehrerin im ersten schwarzen Regiment des Bürgerkrieges. In ihrer Autobiographie beschreibt sie ihre beharrlichen Bemühungen, sich während der Sklaverei selbst zu bilden. Weiße Kinder, mitfühlende Erwachsene und ihre Großmutter halfen ihr, die Fähigkeit des Lesens und Schreibens zu erwerben.[30] Es gab viele Sklavinnen, die es wie Susie Kings Großmutter riskierten, ihren Schwestern und Brüdern jenes Schulwissen weiterzugeben, das sie sich heimlich angeeignet hatten. Auch wenn sie ihre Schulstunden in der späten Nacht abhalten mußten, versuchten die Frauen, denen es gelungen war, sich selbst einiges Wissen anzueignen, es mit ihren Leuten zu teilen »[31]
Dies waren einige der frühen Hinweise - im Norden ebenso wie im Süden - auf das in der Zeit nach der Emanzipation auftretende Phänomen, das DuBois das «Verrücktsein nach Schulen« nannte. Ein anderer Historiker beschreibt den Wissensdurst der ehemaligen Sklaven so:
- Mit einem Verlangen, das aus dem Jahrhunderte dauernden Entzug geboren war, beteten die ehemaligen Sklaven den Anblick und den Klang des gedruckten Wortes an. Alte Männer und Frauen, die schon am Rande des Grabes standen, konnte man beobachten, wie sie im Dunkel der Nacht beim Licht eines Pinienspans über der Heiligen Schrift saßen und mühsam die heiligen Worte buchstabierten.[33]
Ein anderer Historiker schreibt:
- Viele Lehrer berichteten, daß sie unter den Negerkindern während des Wiederaufbaus im Süden ein größeres Verlangen zu lernen vorfanden als bei den weißen Kindern im Norden.[34]
Über die Hälfte der freiwilligen Lehrer, die sich der vom «Büro der Freigelassenen« organisierten massiven Bildungskampagne anschlossen, waren Frauen. Während des Wiederaufbaus gingen weiße Frauen aus dem Norden in den Süden, um ihren schwarzen Schwestern beizustehen, die fest entschlossen waren, den Analphabetismus unter den Millionen früherer Sklaven auszulöschen. Das Ausmaß dieses Vorhabens hätte Herkules zum Ruhm gereicht: nach DuBois lag der Analphabetismus bei 95 Prozent.[35] In der Geschichtsschreibung über die Wiederaufbauphase und in den historischen Berichten der Frauenrechtsbewegung ist den Erfahrungen der schwarzen und weißen Frauen bei der Zusammenarbeit im Kampf um Bildung wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden. Geht man jedoch von den Artikeln im Freedman's Record aus, so ermutigten sich diese Lehrer zweifellos gegenseitig und wurden darüber hinaus noch von ihren Schülern angespornt. In den Beobachtungen der weißen Lehrer wird fast durchweg die geradezu starrsinnige Hinwendung der Schwarzen zur Aneignung neuen Wissens erwähnt. Ein weißer Lehrer, der in Raleigh in Nord Carolina arbeitete, gesteht ein: «Mich überrascht zu sehen, was manche Leute an Entbehrungen auf sich nehmen, um ihre Kinder zur Schule zu schicken .«[36] Materielle Erleichterungen wurden ohne Zögern den Erfordernissen des Bildungsfortschritts geopfert:
- Einen Stapel Bücher kann man fast in jeder Hütte sehen, selbst wenn keine Möbel, ausgenommen ein schlechtes Bett, ein Tisch und zwei oder drei kaputte Stühle vorhanden sind.[37]
Als Lehrerinnen scheinen die schwarzen und weißen Frauen eine tiefe und intensive gegenseitige Wertschätzung entwickelt zu haben. Eine Weiße z. B., die in Virginia arbeitete, war von einer schwarzen Frau, die gerade aus der Sklaverei kam, immens beeindruckt. Es ». . . kommt mir fast wie ein Wunder vor«, rief diese Frau aus, daß ». . . eine Farbige, die bis jetzt eine Sklavin gewesen ist, in einem so neuen Beruf erfolgreich ist . . .«[38] Die zur Rede stehende Schwarze wiederum brachte in ihren Berichten eine tiefe, aber keineswegs unterwürfige Dankbarkeit gegenüber der Arbeit ihrer «Freunde aus dem Norden« zum Ausdruck.[39]
Zur Zeit des Hayes-Betrugs und der Niederlage des «Radikalen Wiederaufbaus« waren die Leistungen auf dem Gebiet der Bildung einer der stärksten Beweise für den Fortschritt dieser potentiell revolutionären Ära. So waren im Nachkriegssüden die Fisk Universität, das Hampton Institut und verschiedene andere Seminare und Universitäten für Schwarze gegründet worden.[40] Ganze 247.333 Schüler besuchten 4329 Schulen - dies waren gleichzeitig die ersten Bausteine eines öffentlichen Bildungswesens im Süden, von dem sowohl die schwarzen wie auch die weißen Kinder profitieren sollten. Obwohl in der Zeit nach dem Wiederaufbau durch den wachsenden Einfluß des Bildungsideals eines »Jim Crow« die Bildungsmöglichkeiten der Schwarzen drastisch reduziert wurden, konnte der Einfluß der Erfahrungen aus dem Wiederaufbau nicht gänzlich ausgelöscht werden. Der Traum vom eigenen Stück Land war vorläufig zerschlagen, und die Hoffnung auf politische Gleichheit war geschwunden. Aber das Fanal des Wissens war nicht so leicht zu löschen - dies war die Garantie, daß der Kampf um Land und politische Macht unerbittlich fortgeführt werden würde.
- Hätte es für den Neger die Schule und das Seminar nicht gegeben, so wäre er in jeder Hinsicht zurück in die Sklaverei getrieben worden. . . Seine Führer im Wiederaufbau waren die gebildeten Neger aus dem Norden gewesen, sowie weiße Politiker, Kapitalisten und philanthropische Lehrer. Die Konterrevolution von 1876 vertrieb die meisten von ihnen, ausgenommen die Lehrer. Aber durch die Einrichtung von öffentlichen Schulen und privaten Seminaren und durch die Organisation der Negerkirche, hatten sich die Neger schon genug Führungsqualitäten angeeignet, um die schlimmsten Pläne der neuen Sklaventreiber zu durchkreuzen. [41]
Mit Hilfe ihrer verbündeten weißen Schwestern erwarben sich die schwarzen Frauen bei der Errichtung solcher Stützpunkte eine unersetzbare Bedeutung. Die Geschichte des Kampfes der Frauen um Bildung erreichte in den Vereinigten Staaten ihren eigentlichen Höhepunkt, als die schwarzen und weißen Frauen zusammen in der Zeit nach dem Bürgerkrieg die Schlacht gegen den Analphabetismus im Süden schlugen. Ihre Einheit sicherte und festigte eine der produktivsten Hoffnungen nordamerikanischer Geschichte.