Rassismus, Geburtenkontrolle und das Recht auf Nachkommenschaft

Als im neunzehnten Jahrhundert die Feministinnen die Forderung nach »freiwüliger Mutterschaft« erhoben, war die Kampagne für die Geburtenkontrolle geboren. Ihre Befürworterinnen wurden als Radikale beschimpft und der gleichen Lächerlichkeit preisgegeben, der schon die ersten Verfechter des Frauenwahlrechts ausgeliefert waren. Die »freiwillige Mutterschaft« wurde als verwegen, abscheulich und ausländisch betrachtet - von jenen, die darauf bestanden, daß Ehefrauen kein Recht hätten, die Befriedigung der sexuellen Triebe ihrer Ehemänner zu verweigern. Im Laufe der Zeit sollte das Recht auf Geburtenkontrolle wie auch das Wahlrecht der Frauen in der öffentlichen Meinung der Vereinigten Staaten mehr oder weniger selbstverständlich werden. Trotzdem war 1970, ein ganzes Jahrhundert später, die Forderung nach legaler und leicht zugänglicher Abtreibung nicht weniger umstritten, als es ursprünglich die nach der »freiwilligen Mutterschaft« war, die die Bewegung zur Geburtenkontrolle in den USA hervorgerufen hatte.
Geburtenkontrolle - also individuelle Wahl, sichere Verhütungsmittel und wenn nötig, die Abtreibung - ist eine fundamentale Vorbedingung der Emanzipation der Frauen. Da das Recht auf Geburtenkontrolle offensichtlich für die Frauen aller Klassen und Rassen von Vorteil ist, könnte man annehmen, daß die unterschiedlichsten Frauengruppierungen versucht hätten, sich um diese Forderung herum zu vereinen. In Wirklichkeit gelang es jedoch der Bewegung zur Geburtenkontrolle nur selten, Frauen mit unterschiedlichem sozialem Hintergrund zusammenzuführen, und die Führerinnen der Bewegung haben sich selten öffentlich für die spezifischen Interessen der Frauen aus der Arbeiterklasse eingesetzt. Ja, die Argumente, die von den Befürwortern der Geburtenkontrolle vorgebracht wurden, beruhten oft auf himmelschreiend rassistischen Prämissen. Das progressive Potential der Geburtenkontrolle bleibt unbestritten. Von heute aus gesehen läßt jedoch eine geschichtliche Bestandsaufnahme dieser Bewegung hinsichtlich des Kampfes gegen Rassismus und klassenmäßige Ausbeutung einiges zu wünschen übrig.
Der wichtigste Sieg der gegenwärtigen Bewegung zur Geburtenkontrolle wurde in den frühen siebziger Jahren mit der Legalisierung der Abtreibung errungen. Aus dem Anfangsstadium der neuen Frauenbewegung erwachsen, verkörperte der Kampf für die Legalisierung der Abtreibung den ganzen Enthusiasmus und alle Militanz der jungen Bewegung. Im Januar 1973 erreichte die Kampagne für das Recht auf Abtreibung ihren Höhepunkt. In den Fällen Roe gegen Wade (410 U. S.) und Doe gegen Bolton (410 U.S.) entschied das oberste Gericht der Vereinigten Staaten, daß das Recht der Frau auf ihr persönliches Leben auch das Recht beinhalte, eine Abtreibung vornehmen zu lassen oder nicht.
Die Abtreibungskampagne konnte in ihren Reihen keine nennenswerte Zahl von farbigen Frauen aufweisen. Bedenkt man die rassenmäßige Zusammensetzung der breiten Frauenbewegung, so ist das keineswegs überraschend. Wenn Verwunderung über die Abwesenheit der rassisch unterdrückten Frauen in beiden, der breiten Frauenbewegung und der Abtreibungskampagne aufkam, so gab es in den Diskussionen und in der Literatur dazu üblicherweise zwei Antworten: Die farbigen Frauen seien durch den Kampf ihres Volkes gegen den Rassismus überlastet, und bzw. oder sie seien sich bis jetzt noch nicht des zentralen Problems des Sexismus bewußt. Der eigentliche Grund jedoch für die fast lilienweiße Gesichtsfarbe der Abtreibungskampagne lag keineswegs in der angeblichen Kurzsichtigkeit oder dem unterentwickelten Bewußtsein der farbigen Frauen. Die Wahrheit ist im ideologischen Unterbau der Bewegung für die Geburtenkontrolle verborgen.
Das Versäumnis der Abtreibungskampagne, eine geschichtlich begründete Selbstkritik zu leisten, hat zu einer gefährlich oberflächlichen Geringschätzung des von seiten der Schwarzen geäußerten Argwohns gegenüber der Geburtenkontrolle überhaupt geführt. Zugegeben, es gab einige Schwarze, die ohne Zögern die Geburtenkontrolle mit Völkermord gleichsetzten, was als übertriebene - wenn nicht gar paranoische - Reaktion erschien. Die weißen Kämpferinnen für das Recht auf Abtreibung überhörten dabei jedoch jene wichtige Botschaft, die den Entsetzensschreien über den Genozid zugrunde lag und wichtige Hinweise auf die Geschichte der Geburtenkontrolle enthielt. Die Bewegung war z. B. dadurch bekannt geworden, daß sie die Zwangssterilisation, die rassistische Form der massenhaften »Geburtenkontrolle« propagierte. Wenn jemals die Frauen in den Genuß des Rechtes kommen sollten, ihre Schwangerschaft zu planen, so müssen legale, leicht zugängliche Verhütungsmittel und die Abtreibung durch die Beendigung des Sterilisationsmißbrauchs ergänzt werden.

Rassismus und Sexismus

Was die Abtreibungskampagne selbst betrifft, so bleibt die Frage zu stellen, wie die farbigen Frauen ihre Notwendigkeit übersehen konnten. Sie waren weit mehr als ihre weißen Schwestern von den plumpen, mörderischen Skalpellen unfähiger Abtreiber, die in der Illegalität ihren Profit suchten, abhängig. In New York z. B. waren in den wenigen Jahren, bevor die Abtreibung in diesem Staat entkriminalisiert wurde, an die 80 Prozent der Toten, die an einer illegalen Abtreibung gestorben waren, Schwarze und Puertorikanerinnen.[1] Kurz danach wurde nahezu die Hälfte der legalen Abtreibungen an farbigen Frauen vorgenommen. Die Abtreibungskampagne mußte erst darauf aufmerksam gemacht werden, daß die farbigen Frauen tatsächlich verzweifelt wünschten, aus den Hinterzimmern von quacksalbernden Abtreibern entfliehen zu können; sie erkannte auch nicht, daß es jenen Frauen nicht darum ging, die Abtreibung an sich zu preisen. Sie waren für das Recht auf Abtreibung, was aber nicht hieß, daß sie für die Abtreibung waren. Wenn schwarze und lateinamerikanische Frauen in so großer Zahl abtreiben, dann drehen sich die Geschichten, die sie in diesem Zusammenhang zu erzählen haben, nicht so sehr um den Wunsch, von ihrer Schwangerschaft befreit zu werden, sondern viel mehr um ihre miserablen sozialen Verhältnisse, die es ihnen verwehren, neues Leben in die Welt zu setzen. Die schwarzen Frauen haben seit den ersten Tagen der Sklaverei ihre Schwangerschaften selbst abgebrochen. Viele Sklavinnen weigerten sich, Kinder in eine Welt endloser Zwangsarbeit zu setzen, in der Ketten, Peitschen und sexueller Mißbrauch der Frauen zu den tagtäglichen Lebenserfahrungen gehörten. Ein in Georgia praktizierender Arzt bemerkte um die Mitte des letzten Jahrhunderts, daß Aborte und Fehlgeburten bei seinen versklavten Patientinnen viel häufiger waren als bei den von ihm behandelten weißen Patientinnen. Nach Meinung dieses Arztes arbeiteten die schwarzen Frauen entweder zu hart, oder dber es verhielt sich,

  • ... wie die Plantagenbesitzer glauben, daß die Schwarzen im Besitz des Geheimnisses sind, den Fötus schon in einem sehr frühen Stadium zu zerstören ... Alle Landärzte wissen um die häufigen Klagen der Pflanzer (über die) ... unnatürliche Tendenz der Afrikanerinnen, ihre Frucht zu zerstören.[2]

Dieser Arzt gab zwar seiner Erschütterung darüber Ausdruck, daß ». ..ganze Familien von Frauen es sich versagen, überhaupt Kinder zu haben«, aber er bedachte nicht, wie »unnatürlich« es war, Kinder in einem Sklavensystem heranwachsen zu lassen. Die schon vorher erwähnte Geschichte der Margaret Garner, einer flüchtigen Sklavin, die ihre eigene Tochter tötete, als sie von den Sklavenfängern eingefangen wurde, und an sich Selbstmord zu verüben versuchte, ist ein Beleg zu diesem Punkt.

  • Sie jubelte, als das Mädchen tot war - »nun wird sie niemals erfahren, was eine Frau als Sklavin zu leiden hat« - und verlangte, wegen Mordes angeklagt zu werden. »Ich will lieber singend zum Galgen gehen als zurück in die Sklaverei! »[4]

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Warum waren eigenhändige Aborte und die widerwilligen Fälle von Kindsmord derart häufig während der Sklaverei? Doch nicht deshalb, weil die schwarzen Frauen darin eine Lösung für ihre furchtbare Lage sahen, sondern wiel sie viel zu verzweifelt waren. Abtreibungen und Kindsmorde waren Akte der Verzweiflung, nicht durch den biologischen Prozeß bedingt, sondern durch die unterdrückerischen Bedingungen der Sklaverei. Die meisten dieser Frauen hätten zweifellos ihren tiefsten Abscheu darüber ausgedrückt, hätte ihnen jemand die Abtreibung als einen Meilenstein zur Freiheit gepriesen.
Während der Anfänge der Abtreibungskampagne wurde nur allzu oft angenommen, daß die Legalisierung der Abtreibung die unzähligen aus der Armut resultierenden Probleme vernünftig lösen könnte. Als ob weniger Kinder schon mehr Arbeitsplätze, höhere Löhne, bessere Schulen und und und bedeuteten. Diese Annahme spiegelt die Tendenz wider, den Unterschied zwischen dem Recht auf Abtreibung und der allgemeinen Propagierung der Abtreibung selber zu verwischen. Die Kampagne versäumte es oft, für diejenigen Frauen zu sprechen, die das Recht zur Abtreibung haben wollten und gleichzeitig die sozialen Verhältnisse anklagten, die es ihnen verboten, mehr Kinder zu gebären.
Die erneute Offensive gegen das Abtreibungsrecht, die während der letzten Hälfte der 70er Jahre aufkam, hat es jetzt absolut notwendig gemacht, mit aller Schärfe die Nöte der armen und rassisch unterdrückten Frauen ins Auge zu fassen. 1977 wurde durch die Verabschiedung des Hyde-Zusatzartikels im Kongreß die Streichung der Bundesmittel für Abtreibungen verfügt; viele Staaten folgten diesem Vorstoß. Auf diese Weise wurde den schwarzen Frauen, den Puertorikanerinnen, den Chicanas und den eingeborenen amerikanischen Indianerinnen ebenso wie ihren armen weißen Schwestern das Recht auf legale Abtreibung praktisch entzogen. Da die operative Sterilisation durch das Ministerium für Gesundheit, Bildung und Soziales weiterhin kostenlos durchgeführt wird, sehen sich mehr und mehr arme Frauen gezwungen, die dauernde Unfruchtbarkeit zu wählen. Was dringend gebraucht wird, ist eine breite Kampagne zur Verteidigung der Fortpflanzungsrechte aller Frauen, besonders jener, die von den ökonomischen Verhältnissen oft genötigt werden, auf das Recht auf Nachkommenschaft ganz und gar zu verzichten.
Der Wunsch der Frauen, das System ihrer Fortpflanzung kontrollieren zu können, ist möglicherweise so alt wie die Menschheitsgeschichte selbst. Schon 1844 enthielt das United States Practieal Receipt Book unter vielen Rezepten für Mahlzeiten, Haushaltschemikalien und Medizin auch »Rezepte« zur Herstellung von »Schwangerschaftsverhütungswässerchen«. Für »Hannays Verhütungswasser« brauchte man z. B.

  • Perlasche zu 1 Teil, Wasser zu 6 Teilen. Vermischen und filtern. Bewahre es in einer verschlossenen Flasche und benutze es mit oder ohne Seife direkt nach der Vereinigung.[5]

Für »Abernethys Verhütungswasser«

  • nimm Quecksilberbichlorid zu 25 Teilen, Mandelmilch zu 400 Teilen, Alkohol zu 100 Teilen, Rosenwasser zu 1000 Teilen. Tauche die Eichel in diese Mischung ... Unfehlbar, wenn zur rechten Zeit benutzt. [6]

Die Frauen mögen schon immer von unfehlbaren Methoden der Geburtenkontrolle geträumt haben, aber erst als die Frauenrechtsfrage zu einer organisierten Bewegung geführt hatte, konnte sich das Recht auf Fortpflanzung als eine legitime Forderung herausbilden. In einem Aufsatz zu dem Thema »Ehe« in den fünfziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben, plädiert Sarah Grimke für das ». . . Recht der Frau, zu entscheiden, ob sie Mutter werden will, wie oft und unter welchen Umständen.[7] In Anspielung auf die humorige Beobachtung eines Arztes erklärt Sarah Grimke: Wenn Frauen und Männer abwechselnd ihre Kinder gebären könnten, dann hätte ». . . keine Familie mehr als drei Kinder, wobei der Ehemann eins und die Ehefrau zwei zur Welt bringen würde.«[8] Aber, beharrt sie  das Recht, in dieser Angelegenheit zu entscheiden, wurde der Frau fast immer total verwehrt.«[9]
Sarah Grimke unterstützte auch das Recht der Frauen auf sexuelle Abstinenz. Zur gleichen Zeit fand die bekannte »emanzipierte Heirat« von Lucy Stone und Henry Blackwell statt. Als Abolitionisten und Frauenrechtler veranstalteten sie zu ihrer Hochzeit eine Zeremonie, die gegen den traditionellen Verzicht der Frauen auf ihre persönlichen Rechte, auf ihren Namen und ihren Besitz Protest erhob. Henry Blackwell teilte die Auffassung, daß er als Ehemann kein Recht auf die »Kontrolle der Person seiner Ehefrau« hatte, und versprach, daß er nicht versuchen werde, seine Frau seinen sexuellen Begierden zu unterwerfen. Die Vorstellung, daß Frauen sich weigern könnten, den sexuellen Ansprüchen ihrer Männer nachzugeben, wurde mit der Zeit zur Leitidee bei der Forderung nach der »freiwilligen Mutterschaft«. In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als die Frauenwahlrechtsbewegung auf ihrem Höhepunkt war, setzten sich die Feministinnen öffentlich für die freiwillige Mutterschaft ein. In einer Rede, die Virginia Woodhull 1873 hielt, erklärte sie,

  • daß die Frau, die sich dem Geschlechtsverkehr gegen ihren Wunsch und Willen unterzieht, faktisch Selbstmord begeht; während der Ehemann, der ihn erzwingt, Mord begeht und dafür entsprechend bestraft werden sollte, gerade als ob er sie wegen ihrer Weigerung zu Tode stranguliert hätte.[11]

Woodhull war ziemlich berüchtigt wegen ihres Eintretens für die »freie Liebe«. Die Verteidigung des Rechtes der Frau, sich innerhalb der Ehe dem Geschlechtsverkehr zu entziehen, um so ihre Schwangerschaft unter Kontrolle zu halten, war ein Teil von Woodhulls umfassendem Kampf gegen die Institution der Ehe als solche.
Es ist kein Zufall, daß das Bewußtsein der Frauen von ihren Fortpflanzungsrechten in der organisierten Bewegung für die politische Gleichberechtigung der Frauen entstand. In der Tat, wenn die Frauen für immer an ständige Geburten und häufige Fehlgeburten gekettet blieben, hätten sie kaum die Möglichkeit, die errungenen politischen Rechte auch auszuüben. Ferner konnten die neuen Träume der Frauen, einen Beruf zu ergreifen oder sich auf eine andere Weise außerhalb von Ehe und Mutterschaft zu entwickeln, nur verwirklicht werden, wenn sie ihre Schwangerschaften begrenzen und planen konnten. In diesem Sinn beinhaltete die neue Losung von der »freiwilligen Mutterschaft« eine neue und genuin fortschrittliche Vision von Weiblichkeit. Gleichzeitig war jedoch diese Vision fest an den Lebensstil der Mittelklasse und der Bourgeoisie gebunden. Die Bestrebungen, die der Forderung nach der »freiwilligen Mutterschaft« zugrunde lagen, spiegelten nicht die Bedingungen der Frauen aus der Arbeiterklasse wider, die sich in dem weit fundamentaleren Kampf um ihr ökonomisches Überleben befanden. Da diese frühe Forderung nach Geburtenkontrolle mit Zielen verbunden war, die nur von Frauen erreicht werden konnten, die sich in materiellem Wohlstand befanden, mußte es der breiten Masse der armen Frauen aus der Arbeiterklasse schwierig vorkommen, sich mit der Bewegung zur Geburtenkontrolle in ihrem Anfangsstadium zu identifizieren.
Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts ging die Geburtenrate der Weißen in den USA signifikant nach unten. Da keine neuen empfängnisverhütenden Mittel auf den Markt gekommen waren, bedeutete das Sinken der Geburtenrate, daß die Frauen ihre sexuelle Aktivität wesentlich eingeschränkt hatten. Um 1890 gebar die typische einheimische weiße Frau nicht mehr als vier Kinder.[12] Da die US-Gesellschaft zunehmend verstädterte, hätte diese Geburtenrate eigentlich nicht zu verwundern brauchen. Während das bäuerliche Leben noch große Familien erforderte, waren diese in der Stadt funktionslos. Dennoch wurde diese Erscheinung von den Ideologen des aufstrebenden Monopolkapitalismus öffentlich in einer rassistischen und gegen die Arbeiterklasse gerichteten Weise interpretiert. Weil die einheimische weiße Frau weniger Kinder gebar, wurde von amtlichen Kreisen das Gespenst vom »Rassenselbstmord« hervorgeholt.
1905 schloß Präsident Theodore Roosevelt seine Tischrede zum »Lincoln Day Dinner« mit der Erklärung, daß »die Reinheit der Rasse bewahrt werden müsse«.[13] 1906 verglich er die fallende Geburtenrate der einheimischen weißen Frauen lauthals mit dem unmittelbar bevorstehenden »Rassenselbstmord«. Im gleichen Jahr verkündete er in seiner »Erklärung zur Lage der Nation", daß die weiße Frau aus gutem Hause, die sich »freiwillig der Sterilität« unterwerfe, eine Sünde begehe, die mit dem Tod der Nation, dem Rassenselbstmord bestraft wird«[14] Diese Bemerkungen wurden in einer Zeit zunehmender rassistischer Ideologie und ansteigender Wellen von rassistischen Ausschreitungen und Lynchmorden im Inneren gemacht. Überdies war Präsident Roosevelt gewillt, neue Soldaten anzumustern zur Unterstützung der US-Besitzergreifung in den Philippinen, dem neuesten imperialistischen Abenteuer des Landes.
Wie antwortete die Bewegung zur Geburtenkontrolle auf Roosevelts Anschuldigung, den Rassenselbstmord zu fördern? Die propagandistische Behauptung des Präsidenten war ein Fehlschlag. Eine der ftihrenden Chronistinnen dieser Bewegung weiß zu berichten, daß sie ironischerweise den Verfechterinnen der Geburtenkontrolle geradezu zugute kam. Trotzdem, so fährt Linda Gordon fort, brachte diese Kontroverse »auch jene Punkte hoch, die die Feministinnen am meisten von der Arbeiterklasse und den Armen trennten«.[15]

  • Dies geschah auf zweierlei Art. Erstens betonten die Feministinnen zunehmend die Geburtenkontrolle als einen Weg zu Karriere und höherer Bildung - Ziele, die außerhalb des Erreichbaren für die Ärmeren mit und ohne Geburtenkontrolle waren. Im Kontext der gesamten feministischen Bewegung war die Episode mit dem Rassenselbstmord ein weiterer Punkt, der den Feminismus fast ausschließlich an die Bestrebungen der mehr privilegierten Frauen der Gesellschaft band. Zweitens begannen die Feministinnen, die für die Geburtenkontrolle waren, die These zu verbreiten, die armen Leute hätten eine moralische Verpflichtung, die Größe ihrer Familien zu reduzieren, weil große Familien die Steuergelder und wohltätigen Spenden der Reichen aufbrauchten und weil die Kinder der Armen kaum »etwas besonderes« werden könnten.[16]

Das mehr oder weniger starke Eingehen auf die These vom Rassenselbstmord durch Frauen wie Julia Ward Howe und Ida Husted Harper erinnert an die Kapitulation der Frauenstimmrechtsbewegung vor der rassistischen Haltung der Südstaatlerinnen. So wie die Suffragetten zu denjenigen schwiegen, für die das Frauenwahlrecht der Rettungsanker für die Vorherrschaft der Weißen war, so schwiegen auch die Anwältinnen der Geburtenkontrolle zum Teil aus Zustimmung - zu denen, die neuerdings Geburtenkontrolle als ein Mittel priesen, das die Fruchtbarkeit der »unteren Klassen« verhindere und ein Gegengift zum Rassenselbstmord sei. Der Rassenselbstmord sollte durch die Einführung der Geburtenkontrolle bei der schwarzen Bevölkerung, den Einwanderern und den Armen überhaupt verhindert werden. Auf diese Weise könnten die wohlhabenden Weißen aus dem soliden Geschlecht der Yankees ihre Mehrheit in der Bevölkerung halten. So machten sich der Klassenkampf von oben und der Rassismus in der Bewegung zur Geburtenkontrolle breit, als sie sich noch in ihrem Anfangsstadium befand. Mehr und mehr setzte sich in den Zirkeln für die Geburtenkontrolle die Auffassung durch, daß die ärmeren Frauen, die Schwarzen wie auch die Einwanderinnen, eine »moralische Verpflichtung zur Beschränkung ihrer Familien«[17] hätten. Was als ein »Recht« der Privilegierten gefordert wurde, enthüllte sich als »Pflicht« der Armen.
Als Margaret Sanger ihren lebenslangen Kreuzzug für die Geburtenkontrolle begann - ein Begriff, den sie prägte und populär machte - schien es, als ob die rassistischen und arbeiterfeindlichen Untertöne der vorherigen Periode überwunden werden könnten. Denn Margaret Higgens Sanger kam selbst aus der Arbeiterklasse und war mit der verheerenden Drangsal der Armut sehr gut vertraut. Als ihre Mutter im Alter von achtundvierzig Jahren starb, hatte sie nicht weniger als elf Kinder geboren. Sangers Erinnerungen an die Sorgen ihrer eigenen Familie sollten ihre Überzeugung festigen, daß die Frauen der Arbeiterklasse den besonders starken Wunsch hatten, ihre Schwangerschaften vollständig autonom planen und verteilen zu können. Ihre spätere Mitarbeit in der sozialistischen Bewegung war ein weiterer Grund für die Hoffnung, daß sich die Bewegung zur Geburtenkontrolle in eine fortschrittlichere Richtung bewegen würde.
Als Margaret Sanger 1912 in die Sozialistische Partei eintrat, übernahm sie die Aufgabe, Frauen aus den New Yorker Arbeiterinnenklubs für die Partei zu werben.[18] Das Parteiorgan The Call veröffentlichte ihre Artikel auf der Frauenseite. Sie schrieb eine Serie zu dem Thema »Was jede Mutter wissen sollte«, eine andere »Was jedes Mädchen wissen sollte« und berichtete vom Ort des Geschehens über Streiks, in die Frauen verwickelt waren. Sangers Vertrautheit mit den New Yorker Arbeitervierteln war ein Ergebnis ihrer zahllosen Besuche als Krankenschwester bei den Armen der Stadt. Auf diesen Besuchen, schreibt sie in ihrer Autobiographie, habe sie unzählige Frauen getroffen, die verzweifelt nach Kenntnissen über die Geburtertkontrolle verlangten.
Nach Sangers autobiographischeri Angaben veranlaßte sie einer ihrer vielen Krankenbesuche auf der Lower Eastside von New York dazu, ihren eigenen Kreuzzug zur Geburtenkontrolle aufzunehmen. Bei diesem Routine-Besuch entdeckte sie, daß die achtundzwanzigjährige Sadie Sachs eine Abtreibung an sich selbst versucht hatte. Nachdem die kritische Phase vorüber war, bat die junge Frau den behandelnden Arzt, ihr Hinweise zur Ernpfängnisverhütung zu geben. Wie Sanger in ihrer Geschichte berichtet, empfahl ihr der Arzt, ». . . Jake (ihrem Ehemann) zu sagen, daß er auf dem Dach schlafen soll.[19]

  • Ich sah schnell zu Frau Sachs hinüber. Sogar durch meine plötzlichen Tränen konnte ich den Ausdruck der absoluten Verzweiflung auf ihrem Gesicht sehen. Wir sahen uns nur an, ohne ein Wort zu sagen, bis sich die Tür hinter dem Arzt geschlossen hatte. Dann hob sie ihre dünnen blaugeäderten Hände und schlug sie flehentlich zusammen. »Er versteht es nicht. Er ist nur ein Mann. Aber Sie tun's, nicht wahr? Bitte sagen Sie mir das Geheimnis, ich will es auch keiner Seele verraten. Bitte!«[20]

Drei Monate später starb Sadie Sachs an einer weiteren eigenhändigen Abtreibung. In dieser Nacht, sagt Margaret Sanger, habe sie sich geschworen, all ihre Kraft dem Erwerb und der Verbreitung von Verhütungsmaßnahrnen zu widmen.

  • Ich ging ins Bett und wußte, daß ich fertig war mit Linderungsmitteln und überflüssigen Kuren, koste es, was es wolle; ich beschloß, die Wurzel des Übels zu finden, irgendetwas zu tun, um das Schicksal der Mütter zu verändern, die so abgrundtief leiden mußten.[21]

Während der ersten Phase ihres Kreuzzugs für die Geburtenkontrolle blieb Sanger noch Mitglied der Sozialistischen Partei, und die Kampagne selbst war eng mit der heranwachsenden Kraft der Arbeiterklasse verbunden. Zu ihren treuen Unterstützern gehörten Eugene Debs, Elizabeth Gurley Flynn und Emma Goldrnan, die jeweils die Sozialistische Partei, die »lndustriearbeiter der Welt« und die anarchistische Bewegung repräsentierten. Margaret Sanger wiederum brachte das antikapitalistische Engagement ihrer eigenen Bewegung in der Zeitschrift Woman Rebel zum Ausdruck, die »den Interessen der Arbeiterinnen gewidmet« war.[22] Sie selbst ging weiterhin mit den streikenden Arbeitern auf Streikposten und prangerte öffentlich die wütenden Überfälle auf die Streikenden an. 1914 z. B., als die Nationalgarde in Ludlow (Colorado) zahlreiche Chicanos niederrnetzelte, die dort als Bergleute arbeiteten, schloß sich Sanger den Arbeitern an, um die Rolle John D. Rockefellers bei diesem Überfall zu entlarven.[23]
Leider war der Verbindung zwischen der Bewegung zur Geburtenkontrolle und der radikalen Arbeiterbewegung kein langes Leben beschieden. Zwar unterstützten die Sozialisten und andere Aktivisten der Arbeiterbewegung die Forderung nach Geburtenkontrolle auch weiterhin, sie nahm aber in ihrer Gesamtstrategie keinen zentralen Platz ein. Sanger wiederum begann in ihrer Analyse der Armut die zentrale Rolle der kapitalistischen Ausbeutung zu unterschätzen, wenn sie behauptete, es seien die zu vielen Kinder, die den Arbeiter in seine miserable Lage brächten. Sie glaubte, die Frauen selbst »verewigten unabsichtlich die Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die kontinuierliche Überflutung des Arbeitsmarktes mit neuen Arbeitern«.[24] Fatalerweise könnte Sanger zu dieser Position durch die neomalthusischen Theorien einiger sozialistischer Zirkel ermutigt worden sein. So herausragende Persönlichkeiten der europäischen sozialistischen Bewegung wie Anatol France und Rosa Luxemburg hatten einen »Gebärstreik« vorgeschlagen, um den kontinuierlichen Zufluß von Arbeitskräften auf dem kapitalistischen Markt zu bremsen.[25]
Als Margaret Sanger ihre Beziehungen zur Sozialistischen Partei auflöste, um eine unabhängige Kampagne für Geburtenkontrolle aufzubauen, wurden sie und ihre Anhänger mehr denn je empfänglich für eine den Schwarzen und den Einwanderern gegenüber feindliche Propaganda. Wie ihre Vorgängerinnen, die der »Rassenselbstmord«-Propaganda auf den Leim gegangen waren, begannen auch diese Verfechterinnen der Geburtenkontrolle sich der vorherrschenden rassistischen Ideologie zu beugen. Der fatale Einfluß der rassenhygienischen Bewegung sollte bald das fortschrittliche Potential der Kampagne für Geburtenkontrolle zerstören.
Die anwachsende Popularität der eugenischen Bewegung im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts war keine bloß zufällige Erscheinung. Die eugenischen Vorstellungen paßten hervorragend zu den ideologischen Bedürfnissen der jungen Monopolkapitalisten. Die imperialistischen Raubzüge in Lateinamerika und im Pazifik mußten gerechtfertigt werden, ebenso wie die verschärfte Ausbeutung der schwarzen Arbeiter im Süden und der eingewanderten Arbeiter im Norden und im Westen. Die pseudowissenschaftlichen Rassentheorien lieferten in Verbindung mit der rassehygienischen Kampagne in Hülle und Fülle Apologien für das Verhalten der jungen Monopole. Verständlicherweise gewann diese Bewegung unverzügliche Unterstützung durch führende Kapitalisten wie die Carnegies, die Harrimans und die Kelloggs.[26]
Um 1919 war der eugenische Einfluß auf die Bewegung zur Geburtenkontrolle unübersehbar geworden. In einem Aufsatz, den Margaret Sanger in der Zeitschrift der »Amerikanischen Liga für Geburtenkontrolle« veröffentlichte, behauptete sie, »das hauptsächliche Anliegen der Geburtenkontrolle« sei »mehr Kinder von Tauglichen und weniger Kinder von Untauglichen.«[27] Um diese Zeit begrüßte die ABCL (American Birth Control League) herzlich den Autor von The Rising Tide of Color Against White World Supremacy in ihrem innersten Heiligtum.[28] Lothrop Stoddard, Harvard-Professor und Theoretiker der rassenhygienischen Bewegung, wurde ein Sitz in ihrem Aufsichtsrat angeboten. In der Zeitschrift der ABCL fanden Artikel des Direktors der »Amerikanischen Eugenischen Gesellschaft«, Guy Irving Birch, Eingang. Birch verfocht die Geburtenkontrolle als eine Waffe, um

  • ... zu verhindern, daß an die Stelle der Amerikaner Fremde oder Neger treten, sei es nun durch Einwandern oder durch überhöhte Geburtenraten im Vergleich zu anderen Einwohnern.[29]

1932 konnte sich die eugenische Gesellschaft damit rühmen, daß wenigstens sechsundzwanzig Staaten Gesetze über die Zwangssterilisation verabschiedet hatten, und daß bei Tausenden von »untauglichen« Personen durch operative Eingriffe die Fortpflanzungsfähigkeit unterbunden worden war.[30] Margaret Sanger sanktionierte diese Entwicklung öffentlich. »Schwachsinnige, geistig Behinderte, Epileptiker, Analphabeten, Arme, Arbeitsunfähige, Kriminelle, Prostituierte, Rauschgiftsüchtige« sollten, erklärte sie in einer Radiosendung, operativ sterilisiert werden. Sie wollte aber nicht ganz so gemein sein, ihnen keine Wahl in dieser Angelegenheit zu lassen: Wenn sie wollten, sollten sie die Möglichkeit haben, lebenslänglich eine abgeschiedene Existenz in einem Arbeitslager zu wählen.
In der »Amerikanischen Liga für Geburtenkontrolle« nahm die Forderung nach Geburtenkontrolle für die Schwarzen die gleiche rassistische Schärfe wie die Forderung nach Zwangssterilisation an. 1939 plante ihre Nachfolgeorganisation, die »Geburtenkontrollföderation von Amerika«, ein »Neger-Projekt«.

  • Die Masse der Neger, besonders im Süden, vermehrt sich immer noch sorglos und verheerend, mit dem Ergebnis, daß der Zuwachs - noch stärker als bei den Weißen - gerade bei dem Teil der Neger am größten ist, die am wenigsten taugen und am wenigsten in der Lage sind, ihre Kinder ordentlich aufzuziehen.[32]

Mit der Forderung, schwarze Geistliche als Leiter der örtlichen Komitees für Geburtenkontrolle einzusetzen, beabsichtigte die Föderation, die Schwarzen so empfänglich wie nur irgend möglich für ihre Propaganda zugunsten der Geburtenkontrolle zu machen. »Wir wollen nicht, daß gesagt wird«, schrieb Margaret Sanger in einem Brief an eine Kollegin,

  • . . wir wollten die Negerbevölkerung ausrotten, und der Geistliche ist der Mann, der diese Behauptung geradebiegen kann, falls sie jemals von irgendeinem der mehr rebellischen Gemeindemitglieder aufgestellt werden sollte.[3]

Diese Entwicklung in der Bewegung für Geburtenkontrolle bestätigte den Sieg des Rassismus, der mit den rassenhygienischen Vorstellungen einherging. Die Bewegung war ihres fortschrittlichen Potentials beraubt, weil sie nicht mehr das individuelle Recht der Farbigen auf Geburtenkontrolle verteidigte, sondern vielmehr die rassistische Strategie der Bevölkerungskontrolle verfolgte. Die Kampagne für Geburtenkontrolle sollte dazu mißbraucht werden, als ein wesentliches Instrument der imperialistischen und rassistischen Bevölkerungspolitik der US-Regierung zu dienen.
Die Aktivistinnen für das Recht auf Abtreibung in den frühen 70er Jahren hätten die Geschichte ihrer Bewegung erforschen sollen. Denn dann hätten sie vielleicht verstanden, warum so viele ihrer schwarzen Schwestern ihrer Sache argwöhnisch gegenüber standen. Sie hätten vielleicht auch verstanden, wie wichtig es war, die rassistischen Missetaten ihrer Vorgängerinnen, die die Geburtenkontrolle wie auch die Zwangssterilisation als ein Mittel zur Eliminierung des »untauglichen« Teils der Bevölkerung verfochten hatten, ungeschehen zu machen. Dann wären die jungen Feministinnen auch empfänglicher für die Anregung gewesen, ihre Kampagne für das Recht auf Abtreibung mit der energischen Verurteilung des Sterilisationsmißbrauchs - der weiter verbreitet ist als je zuvor - zu verknüpfen.
Erst als sich die Medien entschieden, die unauffällige Sterilisation von zwei schwarzen Mädchen in Montgomery in Alabama zu einem Skandal zu machen, über den zu berichten sich lohnte, kam endlich der ganze Mißbrauch der Sterilisation ans Licht des Tages. Zu dem Zeitpunkt, als der Fall der Schwestern Relf bekannt wurde, war es allerdings schon zu spät, um die Politik der Bewegung für das Recht auf Abtreibung noch zu beeinflussen. Das war im Sommer 1973, und die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes hatte die Legalisierung der Abtreibung schon im Januar verkündet. Nichtsdestotrotz wurde die dringende Notwendigkeit einer massenhaften Opposition gegen den Sterilisationsmißbrauch auf tragische Weise klar. Die Tatsachen im Fall der Relf-Schwestern waren erschreckend simpel. Die zwölfjährige Minnie Lee und die vierzehnjährige Mary Alice waren unvermutet in einen Operationsraum geschoben worden, wo ihnen die Chirurgen die Fähigkeit, Kinder zu gebären, unwiederbringlich nahmen.[34] Der chirurgische Eingriff war von dem durch das Gesundheitsministerium geförderten »Aktionskomitee der Gemeinde Montgomery« angeordnet worden, nachdem man entdeckt hatte, daß das Verhütungsmittel Depo Provera, das den Mädchen zuvor verabreicht worden war, bei Versuchstieren Krebs verursachte.[35]
Nachdem das »Südstaatliche Armenrechtszentrum« wegen der Relf-Schwestern einen Prozeß angestrengt hatte, bekannte die Mutter der Mädchen, daß sie unwissentlich der Operation »zugestimmt« hatte, weil sie von den für ihre Töchter zuständigen Sozialarbeitern getäuscht worden war. Diese hatten Frau Relf, die nicht lesen konnte, gebeten, ihr »X« unter ein Dokument zu setzen, dessen Inhalt ihr nicht erklärt worden war. Sie hatte angenommen, sagte sie, daß es erlaubte, die Depo-Provera-Injektionen fortzusetzen. Wie sie erst im nachhinein erfuhr, hatte sie in die Sterilisation ihrer Töchter eingewilligt.[36]
Aufgrund der Publizität, die dem Fall der Relf-Schwestern zuteil wurde, kamen weitere vergleichbare Vorkommnisse ans Licht. Allein in Montgomery waren auf ähnliche Weise elf Mädchen unter zwanzig Jahren sterilisiert worden. Vom Gesundheitsministerium eingerichtete Geburtskontrollkliniken hatten auch in anderen Staaten, wie sich herausstellte, junge Mädchen dem Sterilisationsmißbrauch unterworfen. Es traten auch einzelne Frauen mit ebenso empörenden Geschichten an die Öffentlichkeit. Nial Ruth Cox z. B. reichte gegen den Staat Nord-Carolina Klage ein. Als sie achtzehn Jahre alt war - acht Jahre vor dem Prozeß, hatten die Behörden gedroht, die Sozialhilfe für ihre Familie einzustellen, wenn sie sich weigerte, eine Sterilisation vornehmen zu lassen.[37] Bevor sie der Operation zustimmte, war ihr versichert worden, daß sie nur vorübergehend unfruchtbar sein würde.[38]
Nial Ruth Cox' Klageschrift war gegen einen Staat gerichtet, der die eugenische Theorie emsig praktizierte. Wie bekannt wurde, waren seit 1933 unter der Leitung der »Eugenischen Kommission von Nord-Carolina« 7686 Sterilisationen durchgeführt worden. Die Operationen wurden als Maßnahmen zur Verhinderung der Fortpflanzung »von geistig behinderten Personen« verteidigt, aber unter den sterilisierten Personen waren bezeichnenderweise 5000 Schwarze gewesen.[39] Nach Brenda Feigen Fasteau, der von der ACLU gestellten Anwältin von Nial Ruth Cox, sah es im aktuellen Sterilisationsregister von Nord-Carolina nicht besser aus.

  • So weit ich feststellen kann, beweisen die Statistiken, daß 65% der seit 1964 in NordCarolina sterilisierten Frauen Schwarze waren und höchstens 35% Weiße.[40]

Wie die Flut von Veröffentlichungen über den Sterilisationsmißbrauch zeigte, war der Nachbarstaat Süd-Carolina der Schauplatz noch schlimmerer Verstöße. Achtzehn Frauen aus Aiken in Süd-Carolina erklärten, in den frühen siebziger Jahren von einem Dr. Clovis Pierce sterilisiert worden zu sein. Pierce, der einzige Geburtshelfer der Stadt, hatte durchweg alle Empfängerinnen von staatlichem Krankengeld mit zwei oder mehr Kindern sterilisiert. Nach den Angaben einer Krankenschwester aus seiner Praxis hatte Pierce darauf bestanden, daß alle Frauen, die Sozialhilfe bezogen, »sich einer freiwilligen Sterilisation zu unterwerfen (sic!) haben«, wenn sie wollten, daß er Geburtshilfe leistete.«[41] Denn er war es ». . . satt, daß so viele Leute herumlaufen und Babies bekommen, die von meinen Steuern bezahlt werden.«[42] Er selbst erhielt an Steuergeldern für die von ihm vorgenommenen Sterilisationen an die 60 000 Dollar. Im Prozeß wurde er von der Ärztevereinigung Süd-Carolinas unterstützt, deren Mitglieder erklärten, daß Ärzte  »... das moralische und gesetzliche Recht haben, die Einwilligung in die Sterilisation zu verlangen, bevor sie eine Patientin annehmen, wenn dies beim ersten Besuch geschieht«[43]
Die Enthüllungen über den Sterilisationsmißbrauch legten damals auch die Mittäterschaft der Bundesregierung bloß. Zunächst behauptete das Ministerium für Gesundheit, Bildung und Soziales (HEW), daß etwa 16 000 Frauen und 8 000 Männer 1972 aufgrund der Bundes-Programme sterilisiert worden seien.[44] Später jedoch wurden diese Zahlen drastisch revidiert. Carl Shultz, Direktor des »Büros für Bevölkerungsfragen« des HEW schätzte, daß in jenem Jahr zwischen 100 000 und 200 000 Sterilisationen von der Bundes-Regierung gefördert worden seien. Zum Vergleich: In Hitlerdeutschland wurden aufgrund des Erbgesundheitsgesetzes der Nazis 250 000 Sterilisationen durchgeführt. Ist es möglich, daß diese Leistung der Nazis aus der gesamten Zeit ihrer Herrschaft den von der US-Regierung in einem einzigen Jahr finanzierten Sterilisationen gleichkommt?
Bedenkt man den historischen Völkermord an der eingeborenen Bevölkerung der Vereinigten Staaten, sollte man meinen, daß die eingeborenen amerikanischen Indianer von der staatlichen Sterilisationskampagne ausgenommen wären. Nach der Aussage von Dr. Connie Uri auf dem Hearing eines Senatskomitees waren bis 1976 ungefähr 24 Prozent aller Indianerinnen im gebärfähigen Alter sterilisiert worden.[47] »Unser Blut wurde angehalten«, sagte diese Ärztin vom Stamme der Choctaw vor dem Senatskomitee. »Die Ungeborenen wurden nicht mehr geboren ... Das ist Völkermord an unserem Volk.«[48] Nach Dr. Uri hatte das Krankenhaus des Indianischen Gesundheitsamtes in Claremore in Oklahoma von je vier Frauen, die in dieser Einrichtung des Bundes ein Kind geboren hatten, eine sterilisiert.[49]
Vor allem die eingeborenen amerikanischen Indianer müssen als Zielscheibe der Regierungspropaganda für die Sterilisation herhalten. In einer an die Indianer gerichteten HEW-Broschüre findet man eine Familie mit zehn Kindern und einem Pferd abgebildet sowie eine mit nur einem Kind und zehn Pferden. Die Zeichnungen sollen aussagen, daß mehr Kinder mehr Armut bedeuten und weniger Kinder Wohlstand; als seien die zehn Pferde der Familie mit nur einem Kind durch die magische Kraft der Geburtenkontrolle und der Sterilisationschirurgie entstanden!
Die inländische Bevölkerungspolitik der US-Regierung ist unleugbar rassistisch ausgerichtet. Indianerinnen, Chicanas, Puertorikanerinnen und schwarze Frauen werden weiterhin in unverhältnismäßig großer Anzahl sterilisiert. Nach einer »Nationalen Fruchtbarkeitsstudie«, die 1970 von dem »Büro für Bevölkerungskontrolle« an der Universität von Princeton erstellt wurde, sind 20 Prozent der verheirateten schwarzen Frauen auf Dauer sterilisiert worden.« Ungefähr der gleiche Prozentsatz an Chicanas ist ebenfalls operativ unfruchtbar gemacht worden.[51]
43 Prozent der Frauen, die aufgrund der Hilfsprogramme des Bundes sterilisiert wurden, waren überdies Schwarze.[52]
Die erstaunlich hohe Zahl der sterilisierten Puertorikanerinnen spiegelt eine besondere Regierungspolitik wider, die bis in das Jahr 1939 zurückverfolgt werden kann. In diesem Jahr gab Präsident Roosevelts »Interministerielles Komitee« über Puerto Rico eine Erklärung heraus, in der die wirtschaftlichen Probleme der Insel auf das Phänomen der Übervölkerung zurückgeführt wurden.« Das Komitee schlug vor, die Geburtenrate so zu reduzieren, daß sie nicht höher als die Todesrate zu liegen käme.[54] Bald darauf wurde eine erste experimentelle Sterilisationskampagne in Puerto Rico unternommen. Obwohl die katholische Kirche sich ursprünglich gegen das Experiment gewehrt und 1946 die Absetzung des Programms erzwungen hatte, ließ sie sich in den frühen fünfziger Jahren dazu bekehren, die Bevölkerungskontrolle zu lehren und zu praktizieren.[55] In dieser Periode wurden über 150 Geburtskontrollkliniken eröffnet, was zu dem Ergebnis führte, daß sich bis Mitte der 60er Jahre der Bevölkerungszuwachs um 20 Prozent verringert hatte.[56] Bis 1970 waren über 35 Prozent aller Puertorikanerinnen im gebärfähigen Alter operativ sterilisiert.[57] Bonnie Mass, eine ernsthafte Kritikerin der Bevölkerungspolitik der USRegierung, errechnete:

  • ... Nimmt man die rein rechnerischen Pläne ernst und führt die gegenwärtige Sterilisationsrate von monatlich 19 000 fort, dann könnte die Inselbevölkerung aus Arbeitern und Bauern innerhalb der nächsten zehn bis zwanzig Jahren ausgerottet sein ... und zum ersten Mal in der Weltgeschichte hätte die systematische Anwendung der Geburtenkontrolle stattgefunden mit dem Ergebnis, daß eine ganze Generation eines Volkes eliminiert wäre.[58]

In den siebziger Jahren wurde die verheerende Bedeutung des puertorikanischen Experiments unmißverständlich sichtbar. In Puerto Rico hatten die dortigen Aktiengesellschaften der hochautomatisierten metallurgischen und pharmazeutischen Industrie das Problem der Arbeitslosigkeit verschärft. Die Aussicht auf eine immer größer werdende Armee von Arbeitslosen war eine der Hauptantriebskräfte für das Massensterilisationsprogramm gewesen. In den Vereinigten Staaten ist heute eine enorm hohe Zahl Farbiger - darunter besonders rassisch unterdrückte Jugendliche - zu einem Tei des Reservoirs an ständig Arbeitslosen geworden. Bedenkt man das puertorikanische Beispiel, so ist es kaum zufällig, daß die Zunahme von Sterilisationen mit der hohen Arbeitslosenrate Schritt hält. Auch die Weißen, die in wachsender Zahl unter den brutalen Folgen der Arbeitslosigkeit zu leiden haben, müssen darauf gefaßt sein, zum Ziel der staatlichen Sterilisationspropaganda zu werden.
Die Verbreitung des Sterilisationsmißbrauchs war in den späten siebziger Jahren vermutlich größer als je zuvor. Obwohl das Ministerium für Gesundheit, Bildung und Soziales 1974 Richtlinien herausgab, die offenkundig dazu bestimmt waren, unfreiwillige Sterilisationen zu verhindern, hat sich die Situation trotzdem verschlechtert. Als das »Projekt für das Recht auf Nachkommenschaft« in der »Amerikanischen Bürgerrechtsunion« 1975 ein Gutachten über Lehrkrankenhäuser erstellte, kam heraus, daß 40 Prozent dieser Einrichtungen die HEW-Richtlinien überhaupt nicht kannten.[59] Nur 30 Prozent der von der ACLU (American Civil Liberties Union) untersuchten Krankenhäuser wollten gerade damit beginnen, den Richtlinien zu entsprechen.[60]
Der Hyde-Zusatzartikel von 1977 hat hinsichtlich der Praxis der Zwangssterilisation noch eine weitere Dimension eröffnet. Ein Ergebnis dieses durch den Kongreß verabschiedeten Gesetzes war die Streichung von Bundesmitteln für Abtreibungen in allen Fällen, außer bei Vergewaltigung oder bei Gefahr von Tod oder schwerer Krankheit. Nach Sandra Salazar vom Gesundheitsministeriurn in Kalifornien war das erste Opfer des Hyde-Zusatzartikels eine siebenundzwanzigjährige Chicana aus Texas. Sie starb an den Folgen einer illegalen Abtreibung in Mexiko, kurz nachdem in Texas die von der Regierung finanzierten Abtreibungen eingestellt worden waren. Es gibt aber noch viel mehr Opfer - die Frauen, für die die Sterilisation die einzige Alternative zur Abtreibung wurde, weil jene für sie nicht mehr erschwinglich war. Die Sterilisationen werden weiterhin staatlich gefördert und sind für arme Frauen auf Verlangen kostenlos.
Das ganze letzte Jahrhundert hindurch wurde der Kampf gegen den Sterilisationsmißbrauch hauptsächlich von den Puertorikanerinnen, den Schwarzen, den Chicanas und den Indianerinnen geführt. Ihrer Sache hat sich die Frauenbewegung als ganze bis jetzt nicht angenommen. In den Organisationen, die die Interessen der weißen Frauen aus der Mittelklasse vertreten, ist eine gewisse Abneigung zu spüren, die Forderungen der Kampagne gegen den Sterilisationsmißbrauch zu unterstützen, da diesen Frauen sehr oft das Recht auf Sterilisation verwehrt wird, wenn sie sich zu diesem Schritt entschieden haben. Wie die farbigen Frauen bei jeder Gelegenheit genötigt werden, auf Dauer unfruchtbar zu werden, werden die weißen Frauen aus ökonomisch gesicherten und wohlhabenden Verhältnissen von den gleichen Kräften genötigt, sich zu vermehren. In ihren Augen stellen die »Wartezeit« und andere Details wie die Forderung nach der »Zustimmung aufgrund von Information« nur weitere Erschwernisse für ihresgleichen dar, sich für eine Sterilisation zu entscheiden. Was auch immer diese Erschwernisse für die weißen Mittelstandsfrauen bedeuten mögen - für die rassisch unterdrückten und armen Frauen steht das grundsätzliche Recht auf Nachkommenschaft auf dem Spiel. Der Sterilisationsmißbrauch muß aufhören.