April

2. APRIL
Ich komme wieder einmal aus Berlin.
Wie immer mit seltsam gemischten Gefühlen.
Die Stadt ist so riesig. Sie hat eher die Ausmaße der Ile-de-France, der Begriff Berliner Innenstadt ist hier fehl am Platz. Es gibt ein Zentrum, Berlin-Mitte, das im 18. Jahrhundert errichtet wurde und dem nahekommt, was wir uns unter einer Stadt vorstellen; alles andere ist eine Riesenfläche mit städtischem Habitus, aber dünnbesiedelt, teils aufregend und bunt, teils eintönig, mit allen Einflüssen, allen Spuren der Gegenwart und der Zukunft.
Der Krieg ist immer noch da, mit seinen manchmal ganz bewußt stehengelassenen Ruinen und Baulücken. So hat man die Gedächtniskirche in dem Zustand erhalten, in dem sie sich nach den Bombenangriffen befand; auch die Mauer ist noch da mit ihren brachliegenden Grenzstreifen; ebenso der Alexanderplatz hinter dem Brandenburger Tor; die DDR mit ihren aneinandergereihten Plattenbauten und symbolträchtigen Monumenten wie dem Palast der Republik.
Mit den russischen Zeitungen, die jetzt in Berlin erscheinen, weht hier ein Wind aus Osten herein; aber mit den eilends angebrachten weißen Schildern, auf denen in roten Buchstaben »Shop« oder »Café« steht, weht ebenso ein Wind von Westen herein.
Über allem herrscht eine ruhige, technische Aufbruchstimmung, mit Hunderten von Kränen und Gerüsten allerorten, mit gesperrten Straßen und Umleitungen.
Eine Welt für sich.
Für die Franzosen schien es normal, daß Berlin wieder Hauptstadt wird: Das entspricht dem Lauf der Geschichte. Gewiß beunruhigt sie das auch ein bißchen. Mit Berlin beginnen die unendlichen Weiten des Ostens; einmal am Ural, ist es nur noch ein Sprung bis Wladiwostok.
Aber andererseits ist Berlin eine Großstadt oder wird es wieder sein. Mit dem Schwung, der Lockerheit und der Offenheit einer wirklichen Metropole.
Vielleicht wird es einfacher sein, mit einem Berliner zu reden als mit einem Frankfurter Bankier, einem Unternehmer aus Stuttgart, einem anglophilen Reeder aus Hamburg, einem Münchner Industriellen oder einem Politiker aus Bonn.
Im Flugzeug sehe ich, daß in einer Berliner Zeitung Comics von Claire Bretecher abgedruckt sind. Das verbindet...

3. APRIL
Die Frage der bosnischen Flüchtlinge und ihrer Rückführung, erzwungen oder nicht, sorgt regelmäßig für Schlagzeilen in den Zeitungen. Heute befaßt sich ein Artikel auf der ersten Seite der FAZ mit den einunddreißig Waisenkindern aus Sarajevo, die vor viereinhalb Jahren evakuiert worden waren. Mittlerweile zwischen fünf und zehn Jahren alt, haben sie, ohne ihre Muttersprache verlernt zu haben, die deutsche Sprache erlernt und kehren jetzt in Begleitung ihrer bosnischen Erzieherin zurück, von Psychologen, die übrigens noch ein paar Wochen mit ihnen zusammenbleiben werden, bestens auf diese Umstellung vorbereitet...
Die Kinder waren auf Initiative zweier Abgeordneter nach Deutschland gebracht worden, denen man in der Folge ihren Eifer vorgeworfen hat, da zwei Babys während der Evakuierung von Heckenschützen getötet worden waren. Die bosnische Regierung hatte Protest eingelegt und ihre Rückkehr gefordert. Im Oktober 1996 war aufgrund einer Protestwelle der Bevölkerung die Rückkehr am Vorabend noch gestoppt worden.
Solcherlei Fragen bilden den Hintergrund des aktuellen Geschehens in Deutschland.

4. APRIL
Selbstverständlich haben die Perspektiven, die das Klonen des berühmten Schafs eröffnet, die deutsche Öffentlichkeit ebenso aufgeschreckt wie die französische. Der Spiegel hat diesem Thema seine Titelgeschichte gewidmet; auf der Umschlagseite ist eine Armee, bestehend aus einer ununterbrochenen Reihe von drei sich ins Unendliche wiederholenden Menschentypen zu sehen: Hitler, Einstein und Claudia Schiffer, die in Hunderten von Exemplaren an einem nachsichtig blickenden Schaf vorbeimarschieren.

5. APRIL
Dieser Eindruck, daß Berlin »eine Welt für sich« ist...
Heute erfahre ich, daß eine der Hauptsorgen des Berliner Zoos - mitten in der Stadt - die Füchse sind.

6. APRIL
Ob in den Medien, den gedruckten wie den audiovisuellen, oder im Gespräch, ich bin immer wieder erstaunt über das Verlangen der Deutschen, die Welt zu begreifen, sie zu verstehen, und es verblüfft mich, daß sie keine Mühe scheuen, es zu befriedigen.
Eine ausgezeichnete Fernsehsendung, »Mona Lisa«, befaßt sich mit Problemen von Frauen. Heute geht es um Renten, Familienbeihilfen, Ehegattensplitting..., und wie es scheint, findet niemand das Thema abschreckend.
Politiker von einem gewissem Rang haben sich herbemüht, um ihren Standpunkt darzulegen, und in dem allgemeinen Mahlstrom, der Deutschland derzeit erfaßt hat, beteiligen sich alle Gesprächsteilnehmer mühelos an den Fachgesprächen zu Fragen der Krankenversicherungsreform, der Steuerreform und der Reform der Rentenversicherung.
Und das in einer Sendung, die am Sonntagabend läuft und sich vornehmlich an Hausfrauen wendet.
Das erinnert mich an die Blütezeit der Friedensbewegung, in deren Umfeld ein allgemein hohes Informationsniveau herrschte; etwas Entsprechendes gab es in Frankreich nur unter Experten.

7. APRIL

Trieglaff

Wir fahren nun schon seit Stunden durch Polen; entlang der nackten Felder, aus denen hin und wieder ein vereinzeltes Haus oder ein Weiler aufragt, ziehen sich die Straßen, grau unter einem grauen Himmel, in die Länge. Von Stettin fahren wir in Richtung Danzig quer durch Pommern, wo es heute kalt und trübe ist. Dabei ist es schon April, und die durchdringende, fahle Kälte erfüllt mich mit Sehnsucht. Mein Gott, wie gut kann ich Mozart verstehen: »Komm lieber Mai und mache die Bäume wieder grün...«. Bei uns zu Hause blühen die Mandelbäume bereits im Februar - und selbst wenn es kalt ist, gibt es noch Farben; hier habe ich den Eindruck, als sei ich in einem Schwarz-Weiß-Film gefangen.
»Ja, es dauert«, sagt Rudolf von Thadden, der mich auf diese Fahrt mitgenommen hat. »Stellen Sie sich vor, mit welch einer Ungeduld man in dieser Jahreszeit das Ende des Winters erwartet; als ich Kind war, ist das bei uns immer eine schwierige Zeit gewesen, zum Glück gab es Ostern. Sie werden sehen, gleich zeige ich Ihnen... Wir sind nur noch gut zehn Kilometer von Trieglaff entfernt. Sehen Sie, da steht schon das Ortsschild: Trzygléw. Die M.s erwarten uns, ich habe ihnen unser Kommen angekündigt, sie freuen sich auf unseren Besuch. Ich war schon sehr lange nicht mehr hier, aber ihr Sohn war im vergangenen Sommer drei Monate bei uns in Göttingen gewesen, um Deutsch zu lernen. Sie verwalten, was bei dem Anwesen noch zu verwalten ist, seitdem das Landwirtschaftliche Institut geschlossen ist...«. Seine Stimme ist gedehnt.
Über uns die auseinanderstiebenden, zerfransenden grauen Wolken, fahren wir noch ein Weilchen, dann kommt der schwierige Moment, da man aussteigen, sich zurechtmachen und lächeln muß - wir sind angelangt.
Trieglaff ist nicht das klassische Gutshaus »à la Schinkel«, das man in dieser Gegend erwartet hätte, es ist mehr und weniger zugleich. Großzügiger und mit mehr Einfallsreichtum gestaltet, aber deshalb vielleicht weniger geschlossen wirkend, hat es etwas vom Anspruch eines richtigen Schlosses. Jedenfalls muß von ihm ein großer Zauber ausgegangen sein.
Mit seinen 1150 Hektar (4600 Morgen), an die sechzig Pferden, zweihundert Kühen, tausend Schafen, Gänsen (die den Kindern Angst machten), Hühnern usw. muß rings um das Schloß und die immer noch nahegelegenen Stallungen ein lebhaftes Treiben geherrscht haben. Die beiden Seen hießen schlicht Herrensee und Bauernsee. Der Herrensee wird heute nur schlecht unterhalten und verschlammt, und am Bauernsee hat man zwei merkwürdige graue Plattenbauten mit Sozialwohnungen errichtet, zu denen keine befestigte Straße führt. In den Häusern rings um das Schloß, in denen vor dem Krieg vierhundert Menschen lebten, wohnen heute noch dreihundertsechzig, von denen lediglich zweiundzwanzig einen Arbeitsplatz haben. Wir gehen einmal um den See herum: Er ist noch zugefroren, aber nicht mehr fest genug, als daß man sich daraufwagen könnte. Auf dem Rückweg zählt Rudolf von Thadden auf: »Die Schule, das Pfarrhaus, das Haus des Inspektors - die Russen haben ihn bei ihrem Eintreffen sofort erschossen, eine Geschichte mit einem Schlüssel, sie haben gedacht, daß er etwas verbergen wollte..., und dort wohnte die Mamsell, die Verwalterin; die Schmiede, die Brennerei, die Handwerkerhäuser: Den Tischler haben sie bis 1949 behalten..., sie brauchten ihn... Da, sehen Sie, das war die Kirche.« Wahrhaftig, überall auf der Welt, wo es Kirchen gibt, öffnet sich das Portal der Kirche auf einen schattigen Platz hin - man ahnt noch, daß dort auf der von alten Eichen eingefaßten Rundung eine kleine Kirche gestanden haben muß; die leere Stelle, die sie hinterlassen hat, schreit zum Himmel.
Aber im Grunde wäre es besser, wenn es den Friedhof gleich daneben auch nicht mehr gäbe.
Der Friedhof ist entweiht. Alles ist umgestürzt. Die Grabsteine sind zerbrochen, die Trümmer überallhin verstreut, hier könnte ein noch fast unbeschädigtes Kreuz eine Grabstelle andeuten, wenn in dieser Wüstenei noch irgendein Schriftzeichen zu erkennen wäre.
»Die Gräber sind alle geöffnet worden... Was weiß ich..., vielleicht haben sie Schmuck gesucht? Oder war es Rache?... Da hat mein Bruder E. D. gelegen, er ist 1942 an den Folgen seiner bei Kaluga erlittenen Verwundung gestorben; hier befand sich ein Kreuz für L., der 1943 bei Orel gefallen ist, und hier war eins für B.; er ist im Februar 1945 an der pommerschen Grenze gefallen. Er war siebzehn... Und dort stand eine Bank, ich sehe noch meine Mutter darauf sitzen..., und auf dieser Allee gelangte man direkt zum Schloß... Da entlang wurden immer die Särge getragen, bis zu dieser Stelle...«
Glücklicherweise ist der kleine Torbogen, der den Eingang zum Friedhof bezeichnet, unversehrt geblieben, so daß man die Inschrift darauf noch entziffern kann. Es handelt sich um den bekannten Vers aus dem Johannesevangelium: »Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubet, der wird das ewige Leben haben«, aber was nicht überliefert ist oder jedenfalls nicht so bekannt, ist der kleine Zusatz, der danach folgt: »Glaubst Du das?« »Ach ja«, erläutert Rudolf von Thadden mit verschmitztem Blick, »das ist unsere pietistische Tradition. Heute würde man das als einen religiösen Ausdruck der Romantik bezeichnen; es handelte sich um eine konservative, antirationalistische Strömung im Gefolge der Napoleonischen Kriege, eine Erweckungsbewegung - nach einer Niederlage. Mein Ururgroßvater Adolf - damals konnte man noch so heißen - war daran stark beteiligt. Von daher auch die Verbindung zu Bismarck, denn Bismarck ist wegen dessen Tochter Marie oft hierhergekommen. Kennen Sie den berühmten Brief von Bismarck über seine Glaubenskämpfe? Er hat ihn anläßlich des Todes von Marie von Thadden, an der er als junger Mann sehr hing, geschrieben. Sie hatte einen Blanckenburg vom Nachbargut geheiratet, er hatte eine ihrer Freundinnen, eine Puttkamer, geheiratet..., Marie ist im Wochenbett gestorben - bei ihrem ersten Kind... Aber im Gefolge des Krieges von 1866 haben sich die Beziehungen zwischen den Thaddens und Bismarck sehr gelockert; daß Bismarck Österreich geschlagen hat, gut, aber daß er Hannover annektierte und die Dynastie stürzte, hat meinen Ururgroßvater zutiefst schockiert. Er hätte ein solches Vorgehen von Seiten der Sozialisten - zu denen er eine große Distanz hatte - für angemessen gehalten, aber von Seiten eines Monarchisten erschien ihm das nicht nur unmoralisch, sondern entbehrte für ihn auch jeder inneren Logik. Dabei hatte er keine Neigung zum »Großdeutschen«, er war auch kein Anhänger des Kaiserreichs: Wie viele der Seinen meinte er, daß sich die Leute aus dem Süden, die Bayern, die Badener und Württemberger, zu sehr von den Preußen unterschieden; die Thaddens wollten das Elsaß nicht haben - Schlesien dagegen schon...
Nun, mit einem Wort, Bismarck ist also nie mehr nach Trieglaff gekommen, bis zu der großen Versöhnung, von der es noch eine Spur gibt. Kommen Sie mit, das wird Ihnen gefallen.«
Und tatsächlich, als wir am See entlang nach Hause gehen, stoßen wir auf eine Art Steinplatte, in die »BTB 1891« eingraviert ist. Nach der Entlassung des alten Kanzlers haben sie hier wieder zueinandergefunden, Bismarck, Thadden und Blanckenburg, und ein Erinnerungszeichen hinterlassen wollen. Wer wird es sich heute in Polen noch ansehen? Für wen mag es ein Anstoß sein, über deutsche Geschichte nachzudenken?
Das Haus ist jetzt offenbar geöffnet, so daß man es besichtigen kann: Es ist imposant. »Schauen Sie, diese große Empfangshalle; während des Krieges mußte hier alles verdunkelt werden, damit die Flugzeuge nachts nicht den geringsten Anhaltspunkt hatten. Ich bin vor Angst beinahe gestorben, mit diesem blauen Lämpchen da in der Nische als einziger Beleuchtung..., und der französische Kriegsgefangene, der bei uns als Gärtner arbeitete, Robert Héricotte, den ich sehr gern mochte, zeigte mir am Tage die Flugzeuge, die unbekümmert über uns hinwegflogen, und erklärte mir, daß wir den Krieg verloren hätten... Meine Mutter wußte das natürlich auch. Ich sehe sie noch vor mir an der Fensterbrüstung, mit dem Rücken zu mir, an dem Abend, bevor die Russen kamen. Sie hatte sich sorgfältig gekleidet, blickte auf den Hof hinaus und weinte.
Sie hatte von meinen Brüdern Briefe aus Rußland bekommen, auch vom drittältesten, F. L., der - glücklicherweise - nur schwer verwundet wurde; sie hatten auch vieles erzählt, wenn sie zum Urlaub nach Hause kamen; sie konnte sich gut vorstellen, wie die Rache der Russen aussehen würde. Ich denke, daß sie sie in gewissem Sinne weniger gehaßt hat als diejenigen, die sie ihrer Ansicht nach dahin gebracht hatten: die Nazis. Als die Gestapo 1937 kam, um meinen Vater zu verhaften, sah ich ahnungslos, wie sie beim Eintreffen der beiden Männer in ihren langen Mänteln bleich wurde. Damals haben sie ihn noch ein paar Monate später wieder freigelassen. Mein Vater dachte in politischen und kirchlichen Kategorien - er hatte schon die Barmer Erklärung von 1934 unterzeichnet, die gegen die Kirchenpolitik von Hitler protestierte - aber bei meiner Mutter war es eher ein instinktives Gefühl: Sie fand sie ganz einfach häßlich, feige, scheinheilig, brutal, schlecht erzogen, verlogen... Sie hatte also Grund zu weinen. Alle um sie herum waren verschwunden: ihre Söhne, ihr Mann, den die Russen, nachdem er aus Löwen in Belgien zurückgekehrt war, nach Workuta verschleppten, wo sie ihn erst zehn Monate später wieder freiließen. Von unserem Zuhause war am Abend des dritten Tages so gut wie nichts mehr übriggeblieben: Die russischen Soldaten hatten mit den Bildern angefangen, auf die Generäle in Uniform geschossen, und dann alles zerstört, was ihnen in die Quere kam, das Klavier zerhackt, die Bibliothek verbrannt, alle Möbel einschließlich der Betten kurz und klein geschlagen - sie selbst schliefen auf Strohsäcken - und schließlich sogar die Badezimmer unbenutzbar gemacht. Ein paar Offiziere hatten sich in einem Flügel des Hauses eingerichtet. Ich war alles, was meiner Mutter geblieben war.
Wir sind bis Januar '46 geblieben; ich habe gearbeitet und im übrigen aus der Bäckerei der russischen Armee immer mal auch was gestohlen. Eines Abends hat man mir befohlen, die Kühe, die die Russen beschlagnahmt hatten, in Richtung Osten zu treiben... Es ist mir aber gelungen, nachts zu fliehen... Später sind dann die Russen weggezogen und die Polen sind geblieben... Sie sehen, was von all dem heute noch übrig ist... Seit der Wende und dem Zusammenbruch des Kommunismus ist die Landwirtschaft in dieser Gegend noch mehr heruntergekommen. Das Schloß ist das ganze Jahr über geschlossen. Die M.s kümmern sich noch darum, mehr aus Anhänglichkeit denn aus Pflichtgefühl: Sie haben die Landwirtschaftsschule, die hier eingerichtet war, verwaltet. Sehen Sie, das ist irgendwie rührend.«
Ja, es ist rührend - oder grausam unbeholfen - dieser köstliche Garten im nachgemachten Rokokostil, an der Stelle, wo sich einmal der Vorhof mit Buchsbaumhecken und Kieswegen befand.
Die M.s laden uns zum Tee ein. Es sind wirklich in jeder Hinsicht fähige Leute: In den oberen Teichen haben sie eine Forellenzucht angelegt - wir haben keine Zeit, um sie uns anzusehen, dafür erzählen sie uns von der Gegend hier. Es scheint, als unternehme man unendliche Anstrengungen, damit die aus dem Osten hierher gekommene polnische Bevölkerung in diesen pommerschen Gebieten, aus denen nach 1945 alle Deutschen vertrieben wurden, festen Fuß faßt.
Auf der Rückfahrt im Auto sagt Thadden nicht viel, doch auf einmal fragt er mich: »Kennen Sie Chamisso? Ja, ein bißchen? Adelbert von Chamisso, oder vielmehr Louis-Charles de Chamisseau. Er wurde 1781 in Boncourt in der Champagne geboren. Die Französische Revolution hat ihn nach Deutschland getrieben. Er hat sich dort der Gelehrtengesellschaft angeschlossen und unter anderem ein sehr schönes Gedicht in Deutsch geschrieben, das mich tief berührt - sehen Sie, er träumt von Boncourt:

Sei fruchtbar, O teurer Boden
Ich segne dich mild und gerührt,
Und segne ihn zwiefach,
wer immer Den Pflug nun über dich führt.

Auch ich wünsche ihnen das. Daß sie gute Pommern werden und daß der Boden ihnen fruchtbar sei.« Dann seufzt er: »Aber warum bloß mußte Hitler die Deutschen verführen?«
Es wird Abend, wir fahren schnurstracks Richtung Westen, sehr schnell, auf Straßen, die man wahrlich gut kennen muß... Nach und nach verändert die Landschaft ihr Gesicht: Am ersten Verkaufsstand fahre ich achtlos vorüber, beim zweiten merke ich auf und beim dritten ist unübersehbar, daß wir uns unweit der deutschen Grenze befinden. Auf einer Fläche von bald einem halben Hektar reihen sich hier dicht an dicht die Gartenzwerge und Störche mit ihrem unter dem Flügel vergrabenen roten Schnabel... Die Polen warten auf die Deutschen: Videokassetten, Zigaretten, Schokolade - eine Art Duty-free-Zone hat sich hier jenseits der Grenze breitgemacht, um die Deutsche Mark anzulocken; alle Schilder sind in Deutsch. Das erinnert mich an jene Kirche in Chojna (das ehemalige Königsberg in der Neumark), die gerade rekonstruiert wurde und an der ein großes rotes Transparent prangte, auf dem in Deutsch stand: »Diese Kirche wird mit Unterstützung der Deutschen Vereinigung christlicher Kirchen von X. wiederhergestellt.« Schaudervoll.
Die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland werden nicht so schnell aufhören, uns zu beschäftigen. Auch wenn die offizielle »Versöhnung« seit langem vollzogen ist. Die Landsmannschaften, die Vertriebenenverbände, haben anerkannt, daß die erlittenen Verluste und das geschehene Unrecht aus einem früheren - dem von Hitler verübten - Unrecht erwachsen sind. Sie haben damit ein beachtliches Maß an politischer Klugheit und Großherzigkeit bewiesen.
Was die in Polen verbliebenen deutschen Minderheiten angeht, lassen sie sich nur schwer auf einen Nenner bringen. Wer hat nicht einmal im Laufe mehrerer Generationen einen deutschen Großvater oder eine deutsche Großmutter gehabt? Wer will nach Deutschland auswandern und sich dort als Deutscher anerkennen lassen? Und wer zieht es vor, in Polen zu bleiben und von der Unterstützung zu profitieren, die der deutsche Staat seinen in Schlesien und Pommern gebliebenen Landsleuten nach wie vor gewährt?
Die Tatsache, daß Polen auf wirtschaftlichem Gebiet eher eine Erfolgsstory schreibt, macht die Sache etwas leichter. Warschau prosperiert.
Trzygléw aber ist immer noch 220 Kilometer von Berlin und 500 von Warschau entfernt.

8. APRIL
Ein enger Freund von uns ist Schweizer. Nach einem längeren Aufenthalt in Frankreich und anschließend in Deutschland ist er wieder zurückgekehrt und hat die Leitung einer großen deutsch-schweizerischen Zeitung übernommen - um dann erneut nach Deutschland zu gehen. Er fühlt sich sowohl in der einen wie in der anderen Kultur vollkommen zu Hause.
»Mittlerweile weiß ich tatsächlich immer gleich, wo ich bin, ganz unabhängig von der Sprache«, sagt er zu mir. »Wenn man mir während eines Abendessens ein paar nette Worte sagt, mir etwas von der Macht der Medien, ihren perversen Beziehungen zur Politik und den letzten Skandalen erzählt, das Ganze mit Bonmots gewürzt, dann bin ich in Frankreich.
Aber wenn man mich mit tiefgründigem Gesichtsausdruck und leicht besorgter Stimme fragt: >Haben Sie keine Probleme damit, daß Sie morgens etwas schreiben, das abends in den Papierkorb wandert?<, dann weiß ich, daß ich in Deutschland bin«.
Seinem Tonfall nach zu urteilen, hat er eine Schwäche für die zweite Art von Abendessen.

10. APRIL
Ich sehe die Fahnen einer Publikation über eine Tagung in Genshagen durch. Es ist die zweite Durchsicht, und die Fahnen nennen sich nicht mehr Fahnen, sondern Umbruch.
Ich bin immer wieder erstaunt über die Neigung der Deutschen, jeder Sache einen Namen zu geben. Nicht nur, daß sie, wie jedermann weiß, für alles Apparate erfinden, beispielsweise zum Ausblasen von Ostereiern oder zum Bemalen der Eier, damit man sich nicht die Finger schmutzig zu machen braucht, obendrein geben sie ihnen auch noch eine Bezeichnung. Nichts entgeht diesem Genauigkeitsdrang.
So gibt es eine ganze Reihe von Gegenständen, Vorgängen und Begriffen, für die das Französische keinen Ausdruck hat. Vor einiger Zeit fiel mir das »Gesetz über den Beschleunigungsprozeß von Verfahren zur Entlastung der Gerichte« in die Hände. Es war in einer solch komprimierten Form abgefaßt, daß es ganz offensichtlich für jemanden, der nicht von vornherein wußte, worum es sich handelte, unverständlich bleiben mußte. Was im übrigen in Deutschland häufig der Fall ist, wo es manchmal so scheint, als wende man sich mehr oder weniger an ein Publikum von Eingeweihten und erwarte letzten Endes gar nicht, von allen verstanden zu werden.
Aber diese Genauigkeit hinsichtlich der Bezeichnung einer Sache wirkt noch weiter. Sie vermittelt den Eindruck von großer intellektueller Stärke: Nichts ist dem begrifflichen Zufall überlassen, alles wird erfaßt.
Sie vermittelt jedoch auch den Eindruck, als würde sie einer gewissen Angst entspringen, als wollte man sich auf intellektuellem Wege den größtmöglichen Teil der Welt sichern. Dabei fällt mir sofort die Stelle im ersten Teil des Faust ein, an der der Schüler sagt: »Denn was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen«.
Der schon sprichwörtlich gewordene Ausspruch gehört zu jenen Sätzen, für die die Deutschen auch einen Begriff haben und die sie als »geflügelte Worte« bezeichnen.

13. APRIL
Wie lange schleppt Deutschland nun schon diese »Mykonos«-Affäre mit sich herum, als hätte es einen Klotz am Bein! Es geht um dasselbe Problem wie bei der Diskothek »La Belle«: ein Attentat, festgenommene Schuldige, ein Prozeß, ein Urteil und heftige Proteste aus Teheran.
Rafsandschani erklärt, Deutschland habe »das Herz von Millionen Iranern und Moslems in der ganzen Welt gebrochen...«
Alle Botschafter der Europäischen Union verlassen den Iran.

15. APRIL
Die Öffnung der Archive im Osten löst eine Schockwelle nach der anderen aus; in Deutschland zwangsläufig noch stärker als anderswo im Westen. Die Stasi-Archive halten die Deutschen in der ehemaligen DDR seit Jahren in Atem, ist es doch möglich geworden, alles über sich selbst und den Freundes- und Bekanntenkreis zu erfahren: Wer hat die Stasi informiert, worüber usw.?
Und nun versetzt die große Ausstellung über die »Verbrechen der Wehrmacht« die Deutschen erneut in Aufruhr, zähneknirschend die einen, wißbegierig die anderen.
Das Hamburger Forschungsinstitut, das diese Wanderausstellung erarbeitet hat, wird von Jan Philipp Reemtsma, einem untypischen Industriellen, Sohn des Begründers des Zigarettenimperiums, finanziert. (Es ist das zweite Mal in diesem Jahr, daß er von sich reden macht: Er hat außerdem ein Buch über die Entführung, deren Opfer er vor einiger Zeit wurde, veröffentlicht.)
Heute ist die Ausstellung in Frankfurt am Main eröffnet worden.  Friedrich Kahlenberg, Präsident des Bundesarchivs, hat eine ausgezeichnete Rede gehalten; er erläuterte, warum er die Archive der Ausstellung zur Verfügung gestellt hat, und verbürgte sich für die Echtheit des Materials aus dem deutschen wie aus den sowjetischen Archiven in Krasnogarsk, Minsk und Kiew.
Es handelt sich dabei häufig um Fotos, die Deutsche mit deutschen Kameras aufgenommen haben und die den Soldaten der Roten Armee während ihres siegreichen Vormarsches in die Hände gefallen sind. Anscheinend haben sie alle persönlichen Gegenstände von gefallenen oder gefangengenommenen deutschen Soldaten systematisch durchsucht, um solche Dokumente in die Hände zu bekommen.
Der Zustrom ist groß: 20 000 Besucher kamen während der ersten Woche in die Paulskirche (die berühmte Frankfurter Kirche, in der 1848 die Nationalversammlung tagte). Man erwägt, bis 21 Uhr zu öffnen... In der Schlange der geduldig wartenden Besucher viele junge Leute. Es ist ihnen anzusehen, daß sie endlich begreifen wollen: Warum diese Deutschen - in ihrem Alter - inmitten von knieenden Opfern, warum dieses Lächeln auf ihren Gesichtern? Welcherart waren die Beziehungen der Wehrmacht zu den Nazis, und in welchem Maße haben sie miteinander kooperiert?
Man sollte ihnen den Brief zu lesen geben, der aus einem anderen Archiv, dem Evangelischen Zentralarchiv, stammt und den ein Wehrmachtsoffizier, Reinold von Thadden, von dessen Söhnen drei an der russischen Front gefallen sind, am 8. Januar 1947 geschrieben hat.
Der Brief Reinold von Thaddens ist an einen Theologiestudenten, Viktor Köhler, gerichtet, der wie er Wehrmachtssoldat war.
»... Jawohl, der Weltkrieg II war ganz ausschließlich ein Angriffskrieg Deutschlands und ein Verbrechen der nationalsozialistischen Führung... und das haben auch alle verantwortlichen Soldaten in Generalstabsstellungen vor Ausbruch des Polen-Krieges gewußt.
Dieser Vorwurf trifft in erster Linie Hitler selber... In zweiter Linie trifft er die Bonzen seiner Partei und in dritter Linie die Generäle der Wehrmacht, die teils aktiv, teils wider besseres Wissen passiv, den großen Volksbetrug einer angeblichen Notwehrhandlung in die Tat umsetzten...
Vor allem müssen wir die Frage nach der vaterländischen Pflicht im Sinne des Miterleidens, Mit-Tragens, Mit-Schuldigwerdens, des Kämpfens und Sichopferns im Kriege grundsätzlich trennen von der Frage nach der Teilhaberschaft an dem deutschen >Gesamt-Verbrechen< überhaupt. An dem Hitler-Abenteuer, an seinem Aufstieg zur Macht, an dem Werden der Parteiallmacht und an dem fürchterlichen Entstehen des >totalen Staats< trägt das deutsche Volk allerdings die wesentliche Urheber-Schuld. Nicht erst seit 1933 oder gar 1939, sondern seit den Zwanziger Jahren, als es noch frei über sein Schicksal verfügte. Wer die Nazis waren, konnte man auch schon vor der Kirchenverfolgung, vor den Juden-Massenmorden und vor den Greueltaten der SS im Osten wissen und man hat es auch weithin sehr gut gewußt. Aber man hat sie nicht nur aus Schwäche gewähren lassen, sondern auch ihren >Aktivismus<, ihre >Unbedenklichkeit<, ihre >Einsatzbereitschaft< vom deutschnationalen, vom militärischen Standpunkt aus freudigst bejaht und begrüßt. Hätte z.B. das >altpreußische Heer< in der alten >Reichswehr< und im Reserveoffizierscorps des Landes im Jahre 1934 anders auf die Ermordung von Schleicher, Bredow, Ketteler bei den Nazi-Massen-Massakern nach dem sog. Röhm-Putsch und anders im Februar 38 auf die Blomberg-Fritsch-Affaire reagiert, dann wäre es vielleicht niemals zum Kriege und niemals zu dem entsetzlichsten Zusammenbruch aller Zeiten gekommen... Verhängnisvoller aber fast als dies waren die weitverbreiteten nationalistischen Ideologien und unkontrollierten Gefühlsströmungen aus dem Gedanken-Repertoire von Treitschke, Clausewitz und den alldeutschen Propagandisten wie Hugenberg nach dem i. Weltkrieg, die schon damals zum mindesten als antiquiert hätten bezeichnet werden müssen.
Damit stehen wir aber vor dem schwersten Thema unseres Gesprächs: dem Anteil unserer christlich-konservativen, unserer vaterländischen Schichten... an dem eigentlichen Schuldigwerden unseres Volkes. Und da muß ich nun allerdings sagen, dieser Anteil wiegt in meinen Augen ganz besonders schwer. Weil man von uns ganz etwas anderes erwarten konnte, darum ist unser gänzliches Versagen vor dem Kriege wie unsere beträchtliche Mittäterschaft im Kriege, unser gedankenloses Übertragen schon längst nicht mehr echter patriotischer Wertbegriffe auf die Verhältnisse der sehr veränderten Jetztzeit, wie unser gerührtes Ja zu den Praktiken der braunen Mörderbande eine einzige Kette unverzeihlicher Vergehen. Wir wußten doch in Wirklichkeit sehr genau, wie es seit 1935 in der gleichgeschalteten Wehrmacht in steigendem Maße aussah, und gleichwohl haben wir bei  Kasinofesten  und  Kriegervereinsaufmärschen, bei den Offiziersübungen im Frieden und bei unserem vaterländischen Unterricht im Kriege immer so getan, als ob Hitler der >alte Kaiser< Wilhelm I wäre, ein Mann wie Beck, Manstein oder Model, eine Art >Vater Roon<, und die mit SS-Formationen vermengte, mit  SS-Geist durchsaugte  und von SS-Befehlen  schließlich   geführte Wehrmacht des Dritten Reiches ein Garde-Bataillon Friedrich Wilhelms I, eine Lützow-Freischar der Freiheitskriege oder das stürmende Maikäfer-Regiment bei St. Privat. Vor allem haben wir unter Eidesbeteuerungen am laufenden Band mit den sittlichen Grundbegriffen wie >Treue<, >Ehre<, Hingabe, Opfer gegenüber dem >Führer< in geradezu unverantwortlicher Weise Schindluder getrieben!...«

Reinold von Thadden weiß, wovon er spricht: Wegen seiner Nähe zu den Kreisen der Bekennenden Kirche und wegen seiner Unterschrift unter die Barmer Theologische Erklärung hatte ihn die Gestapo in den dreißiger Jahren einige Zeit lang gefangengehalten; während des Krieges war er Kreiskommandant der Stadt Löwen, deren Ehrenbürger er 1946 wurde.

24. APRIL
Die FAZ veröffentlicht in ihrer Literaturbeilage regelmäßig Gedichte. Heute ist es ein schwedisches Gedicht von Hjalmar Gullberg, das von Heinrich Detering ins Deutsche übertragen wurde:

Nehmt doch die Fotos fort

Nehmt doch die Fotos fort. In dieser Frühe
macht das uns Toten bloß den Abschied zäher.
Sich einzufinden ist nicht ohne Mühe
in diesen Frieden, der tatsächlich höher

als die Vernunft ist, wie in den Annoncen.
Laßt uns allein. Wir wollen keine Klagen.
Profil und Name, marmorn oder bronzen,
wenn wir uns wandeln und uns übertragen

in neue Worte, stören: Laßt das bleiben.
In dieser Nacht sind wir die Flocken feinen,
lautlosen Schnees. Gesichter an den Scheiben,
wem ruft ihr Namen nach? Wir haben keinen.

Es macht um so betroffener, als einem sofort das Gedicht von Peguy in den Sinn kommt, das berühmte Alles ist gut; es ist das genaue Gegenteil - antipantheistisch, wider die Nacht und den Schnee. »Gerade eben bin ich hinübergegangen ins Zimmer nebenan... Gebt mir den Namen, den ihr mir immer gabt. Sprecht zu mir, wie Ihr immer zu mir sprächet . Ruft meinen Namen, wie Ihr es immer tatet... Ich erwarte Euch... gleich auf der anderen Seite des Weges... Ich bin nicht weit... Seht, alles ist gut.«

24. APRIL
Über ernste Dinge muß man leichthin reden und über leichte ernsthaft, sagte meine provenzalische Mutter in meiner Kindheit immer zu mir. »Gleitet voran, Sterbliche, verharrt nicht auf der Stelle«, fügte sie, einen Vers von Pierre-Charles Roy zitierend, gereizt hinzu, wenn man nicht lockerließ. Und für die, die immer noch nicht begreifen wollten, fuhr sie mit einer Zeile aus einem Stück von Edmond Rostand fort: »Erst in der Nacht ist es schön, ans Licht zu glauben.« Sie hat bis heute einen Abscheu vor endlosen Aussprachen und langen Debatten, vor Erklärungen und Geständnissen, sobald sie nur die geringste Spur von Emphase oder Ernsthaftigkeit bergen; nichts scheint ihr abgeschmackter als ein direktes Kompliment, nur lautes Beten zu Hause ist vielleicht noch schlimmer (um zu beten, geht man - zu gegebener Zeit - in die Kirche).
Mit einem Wort, »ein bißchen Haltung«, keine Innenschau, kein Selbstmitleid.
Es ist wohl in der Tat so, daß sich Gegensätze anziehen, wie sollte man sonst begreifen, daß es unter den Franzosen, die sich für Deutschland interessieren, so viele Leute gibt, die, wie auch die meisten Hugenotten, aus dem Süden Frankreichs stammen. Sie fühlen sich von dem besonderen Zauber, der die Deutschen umgibt und der doch dem ihren zumeist völlig entgegengesetzt ist, angezogen: ein bestimmter Drang, den Dingen und Gefühlen auf den Grund zu gehen, die Unbekümmertheit, diese beim Namen zu nennen, der Mut, sich dem anderen gegenüber zu entblößen und die Fähigkeit, nach dem Erhabenen zu streben, ohne Angst, sich der Lächerlichkeit preiszugeben... Vielleicht hat ja die Provence mit Preußen auch die Klarheit des Himmels gemein.

25. APRIL
Am Telefon die äußerst angespannte Stimme eines deutschen Freundes:
»Haben Sie gestern den Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über Braudel gelesen?«
»Ja, mit Vergnügen, er wird in Deutschland im allgemeinen nicht so besonders gut aufgenommen.«
»Und haben Sie gelesen, was seine Frau sagt?«
»Nein...«
»Aber gerade das ist in höchstem Maße wichtig! Sie erklärt, daß er einen Teil seines Werkes über das Mittelmeer in Deutschland abgefaßt hat, in einem Kriegsgefangenenlager.«
»Ja freilich, das Gefängnis ist ein hervorragender Ort zum Schreiben. Das hat eine lange Tradition: Kriminelle haben dort ihre Memoiren verfaßt. Denken Sie nur an Noblesse oblige: >My memoirs...<. Auch Benoist-Mechin hat einen Teil seines Werkes Geschichte der deutschen Militärmacht da geschrieben, ja sogar Hitler...«
Das lastende Schweigen am anderen Ende des Telefons gibt mir zu verstehen, daß mein Humor nicht geschätzt wird, und so versuche ich einzulenken:
»Wissen Sie, daß Napoleon III. in der Festung von Harn geschrieben hat?«
»Aber begreifen Sie nicht, er hat in deutscher Gefangenschaft geschrieben, während des Krieges.«
»Ja und?« erwidere ich gereizt.
»Aber in Rußland, in Workuta, in Wologda wäre das undenkbar gewesen! Niemals hätte ein gefangener deutscher Offizier auch nur eine Zeile schreiben können! Und das beweist, daß die deutschen Lager...«
»Aber Alexander, es handelt sich hier um ein Stalag. Niemand hat jemals behauptet, daß die Oflags und Stalags eine unmenschliche Hölle gewesen wären. Sicherlich war das keine Sommerfrische, aber was meine Onkel erzählt haben... Oder nehmen Sie die Kriegstagebücher von Sartre und die Berichte von Freunden des ehemaligen Präsidenten Francois Mitterrand: Die Gefangenen haben kleine Zeitungen gemacht und Vorträge gehalten..., ja gewiß, sie hatten Hunger und waren verlaust...«
»Ach, meinen Sie? Wirklich? Wissen Sie..., seit Goldhagen lebt man... dermaßen mit der Vorstellung, daß alle Deutschen Ungeheuer sind; nun zu hören, daß Braudel im Gefängnis geschrieben hat, ist eine regelrechte Erleichterung!«
Ich bin betrübt:
»Aber Alexander, immerhin gibt es zwischen Deutschland und Frankreich eine militärische Tradition. Kennen Sie den Film Die große Illusion von Renoir? Hier weiß man das, vielleicht vergißt man das bei euch allzu schnell. Im übrigen ist Die große Illusion ein französischer Film. Aber wie können Sie annehmen, daß die Franzosen keinen Unterschied zwischen einem Stalag, einem Kriegsgefangenenlager, und einem KZ, einem Konzentrationslager, machen würden? Ich finde das fast ein bißchen verletzend; als wenn  Sie  unsere  gemeinsame Vergangenheit leugnen würden: Jahrhunderte voller Schlachten, Karl-Alexander.«
Lachen.
»Vielleicht haben Sie recht. Auf jeden Fall haben Sie mich aufgeheitert...«
Als ich auflege, bin ich diejenige, der nicht wohl zumute ist.

26. APRIL

STAU

Wenn man mich fragte, welches der gemeinsame Nenner zwischen dem Osten und dem Westen seit der Wiedervereinigung sei, das neue Wort, das das Land am stärksten geeint und uniformiert habe, würde ich ohne zu zögern antworten: »der Stau«. Dieser Stau ist zu einem Schlüsselwort, zu einer Beschwörungsformel geworden: Man wird pünktlich sein, zum Essen, um das Flugzeug zu nehmen, einen Vortrag zu halten, seinen Neffen zu verheiraten oder einen Vertrag zu unterzeichnen..., wenn..., ja wenn es keinen Stau gibt.
Der Stau ist der stockende Verkehr, die »Verstopfung«, die zur nationalen Plage geworden ist, seit sich das durch die Wiedervereinigung völlig durcheinandergeratene deutsche Straßennetz als permanent unzureichend erwiesen hat, insbesondere von West nach Ost.
Der deutsche Staat läßt jährlich etwa 100 Milliarden DM nach Ostdeutschland fließen, wovon ein Großteil in die Infrastruktur geht: die Elektrifizierung der Eisenbahn, die Einrichtung von Telefonnetzen und selbstverständlich die Erneuerung des Verkehrsnetzes. Die Straßenbauarbeiten sind also noch ein zusätzlicher Grund für Staus, und so kommt es auf den miserablen und überfüllten zweispurigen Autobahnen häufig zu Verkehrsunfällen, vor allem mit Lkws. Überdies sind es die Ostdeutschen schlichtweg nicht gewöhnt, mit derartigen Problemen umzugehen: Keinerlei Autoansturm machte ihnen in der Vergangenheit zu schaffen, und erst allmählich sind die Bürgermeister dazu übergegangen, ein Umleitungsschild aufzustellen, wenn sie das Zentrum ihres Städtchens wegen irgendeines Festes absperren. Fernsehen und Radio sind bemüht, dem entnervten Autofahrer zu Hilfe zu kommen und geben regelmäßig Staumeldungen durch, doch im Moment und noch ein paar Jahre lang ist jedes Vorankommen mit dem Auto vom Zufall abhängig. Aber dann wird alles wahrscheinlich nur noch eine schöne Erinnerung an vergangene Schlachten sein, und man wird gerührt vom Stau zwischen Frankfurt an der Oder und Berlin und dem schon geradezu obligatorischen zwischen Magdeburg und Braunschweig erzählen.
Unterdessen gewöhnt man sich daran.