Mai

30. APRIL/1. MAI
Für Südländer sind die Trinkgepflogenheiten der Leute aus dem Norden unverständlich.
Nordeuropa, und da ist Deutschland keine Ausnahme, trinkt, möchte man sagen, nur um sich zu vergnügen. Man trinkt aus keinem anderen Motiv und zu keinem anderen Zweck als der Freude am Trinken.
Der 1. Mai in Berlin erzeugt einen ähnlichen Eindruck, aber hier geht es um eine andere, gleichfalls schon traditionelle Art der Vergnügung: Die Chaoten schicken sich an zu randalieren, scheinbar aus keinem anderen Grund und mit keinem anderen Ziel, als zu zerstören.
Gestern abend war es noch kalt; die Straße des 17. Juni wirkte bezaubernd mit ihrer neuen Straßenbeleuchtung - zwei Glaskugeln oben und eine weiter unten -, die, fast verdeckt von den Bäumen, die kaum hervorgebrochenen Blätter leicht kräuselte. Nachts läßt es sich eher vorstellen, wie Berlin einmal aussehen wird, wenn seine riesigen Prachtstraßen wieder richtig belebt sind. Aber am anderen Ende der Straße brauchte man seine Phantasie nicht schweifen zu lassen. Alles war voll, alles war grün, sogar ohne Frühling: Die ganze Breite der Straße war von Polizeiwagen und Polizeiuniformen (in der Farbe von Babars grünem Anzug) eingenommen, in Vorbereitung auf die Nacht vom 30. April zum 1. Mai.
Und am 2. Mai freute man sich in der Presse, daß die traditionelle »Walpurgisnacht« sowie der folgende Tag dieses Mal »ordentlich« verlaufen seien, ohne reguläre Straßenkämpfe wie im vergangenen Jahr im Bezirk Prenzlauer Berg. Dazu muß man wissen, daß Berlin innerhalb Deutschlands eine Ausnahme darstellt: Der 1. Mai liegt hier nicht wie anderswo in der Hand der Gewerkschaften; er ist nicht der »Tag der Arbeit«; in Berlin wird er »Revolutionärer 1. Mai« genannt, und Organisatoren sind die »Autonome Kommunistische Gruppe«, die »Revolutionären Kommunisten«, das »Anti-Olympische Komitee«* (*Berlin hatte sich für die Ausrichtung der Olympischen Spiele beworben.), die Gruppe OSTBLOCK... kurz alles, was sich in Deutschland als Randgruppe bezeichnet: die »undogmatische« Linke, der »stalinistische« Flügel, die kurdische Linke...
Bestimmte Leute in diesen Kreisen hatten im Sinn, den zehnten Jahrestag der Kreuzberger Krawalle würdig zu begehen, das heißt ebensoviel kaputtzuschlagen wie 1987, um so die in der »Szene« zum Mythos gewordene Kreuzberger Revolte wieder aufleben zu lassen.
Da aber Saberschinsky, der Polizeipräsident von Berlin, für die tausend wirklich »militanten« Demonstranten (militant bedeutet schon fast »gewaltbereit«) 5000 Polizisten aus Berlin und anderen Bundesländern aufgeboten hatte, war das Ergebnis bescheiden: »Fünf in Brand gesteckte Autos, eine zerstörte Telefonzelle, neunzehn eingeschlagene Schaufenster, sieben kampfunfähig geschlagene, leichtverletzte Polizisten, ein verprügelter Kameramann und demgegenüber 325 Festnahmen«. Das Spektakel endete mit dem Status quo.
Einer der Grundbegriffe, die in Deutschland und Frankreich denkbar unterschiedlich verwendet werden, ist ganz gewiß der Begriff der Gewalt. Bei uns macht man sich nicht genügend klar, daß das Wort »Gewalt« im Deutschen eine ganze Reihe von Bedeutungen einschließt, für die dem Französischen verschiedene Begriffe zur Verfügung stehen. Gewalt kann die von den Demonstranten in Kreuzberg oder Prenzlauer Berg geforderte und ausgeübte Gewalt (la violence) sein, aber auch die »Autorität« der Professoren und selbstverständlich die des Staates, der das Gewaltmonopol besitzt: Er allein ist zur Ausübung von »Gewalt« (la coercition) berechtigt. Folglich spricht man von der »öffentlichen Gewalt« (la force publique). Und schließlich bedeutet Gewalt auch »Macht« (le pouvoir), denn die Trennung der Machtbereiche im Montesquieuschen Sinne heißt Gewaltenteilung.
Ein solches Sprachwirrwarr mag auf einen Franzosen etwas befremdlich wirken, aber nicht in dem Maße wie die Gewaltdiskussion, die im politischen Diskurs in Deutschland in regelmäßigen Abständen auftaucht und die Gewalt zum Thema erhebt. So wird zum Beispiel über die Frage debattiert: Unter welchen Bedingungen ist es legitim, Gewalt anzuwenden? Die Grünen haben lange Zeit die Ansicht vertreten, daß dem Staat das Gewaltmonopol im Namen einer höheren moralischen Pflicht, die nicht nur den passiven Widerstand, sondern auch den aktiven Ungehorsam rechtfertige, abgesprochen werden könne. (Kurioserweise klang in der Debatte der französischen Intellektuellen um das Debré-Gesetz mit ihrer Losung des »zivilen Ungehorsams« die Grünen-Diskussion der achtziger Jahre an, in der dieser Begriff im Mittelpunkt der Polemik stand, als hätte er so lange gebraucht, um sich bei uns durchzusetzen.)
Eine ebenso endlos diskutierte Frage ist die nach den Grundlagen des staatlichen Gewaltmonopols, nach dessen Beziehungen zur Justiz, zur Demokratie-Vorstellung usw. Die deutsche Fähigkeit, die Dinge tief auszuloten, kann sich hier ausgiebig erproben. Dagegen begegnet man im deutschen Alltag einer Art »stiller« Gewalt, an der niemand wirklich Anstoß nimmt. Sie taucht in den Zeitungen lediglich als kurze Pressenotiz auf, was beweist, daß sie genauso akzeptiert wird wie Regen oder Hagel. In Frankreich spricht man nicht einmal darüber. In den achtziger Jahren gingen mit einer gewissen Regelmäßigkeit Strommasten in die Luft, ohne großen Schaden zu verursachen oder gar Menschenleben zu fordern; all das spielte sich noch im Fahrwasser der Baader-Meinhof-Gruppe ab. In den neunziger Jahren waren es vornehmlich Eisenbahngleise, die gesprengt wurden, eine Schiene hier, eine Weiche dort. Der »Castor«-Transport mit seinem Atommüll stellte den Höhepunkt dieses Syndroms dar.
Ebenso haben die Häuser die Tendenz, leicht in Flammen aufzugehen: Abgesehen von den Bränden, die Schlagzeilen machen, wenn eine rassistische Tat dahinter vermutet wird (Solingen usw.), stößt man beim aufmerksamen Lesen der Zeitung immer wieder auf kleine Benzinkanister, selbstgebastelte Brandsätze und Molotowcocktails, die in Wohnhäusern oder in - zumeist türkischen - Geschäften ernsthaften Schaden angerichtet haben, wobei nur schwer zu durchschauen ist, ob es sich dabei um eine Abrechnung mafioser Kreise oder um einen Akt der Verzweiflung handelt.
Wie es aussieht, geht die deutsche Öffentlichkeit also schlecht und recht mit ihrer Gewalt um, wenn sie sie auf diese Weise intellektualisiert, kanalisiert, akzeptiert, bekämpft.
Fragt sich nur, wie ein Deutscher die französische Gewalt wahrnehmen mag. Noch nie hat man deutsche Bauern Lkws anzünden, Erdbeeren wegschütten, Schweinegerippe zu hohen Bergen auftürmen sehen, um damit die Autobahnen zu blockieren - ohne daß die Polizei eingreift. Es scheint, als verfahre der Teufel mit jedem Land anders, als könnte jede Gesellschaft in einen anderen Abgrund stürzen. So wie eine Carte du Tendre, eine Topographie der Liebe, gibt es auch eine Topographie der Gewalt: in Gestalt von Grausamkeit, Brutalität, Perversität, Unterdrückung oder auch von Feigheit oder Gleichgültigkeit..., für jeden etwas samt den Gefahren, die auf einen lauern. Und in Frankreich? Das ist kein Thema, das im deutsch-französischen Dialog häufig angesprochen wird.

2. MAI

Besuch in W.

»Welcome in Schloßhotel W!«
Kerzendorf war schon ziemlich erschreckend, aber wie soll man W. beschreiben? Schon mehrere Monate lang hatte ich mich trotz meiner Befürchtungen mit dem Gedanken getragen, für ein paar Stunden nach W. zu fahren. W. war der einstige Besitz der B.s, die ich gut kannte. Zufällig hatte ich in den Lokalnachrichten einer Zeitung gelesen, daß man das Schloß zu einem Hotel umgebaut hatte; ich freute mich darüber, denn ich wußte von den Bemühungen der B.s, diesen Ort, von dem sie immer mit einer solchen Sehnsucht sprachen, zu bewahren; es war ihnen also offenbar gelungen.
Knapp zwei Stunden von Berlin entfernt (aber alles hängt von den Staus ab), liegt W. an der Straße nach Frankfurt an der Oder, der Stadt Kleists und heute Grenzstadt zu Polen. Wir fahren also durch die Mark Brandenburg, die Fontane so lieb und teuer war; überall Sandboden, der an die französische Gegend der Landes erinnert, mit der gleichen Art Kiefern, nur ein wenig kleiner und von dunklerem Grün, hin und wieder ein paar Birken und Seen, dazu ein blaßblauer Himmel, und überall der Eindruck von zurückhaltender, eleganter Strenge, wobei man nicht weiß, ob diese einem ästhetischen Willen entspringt oder von der Beschaffenheit des Bodens rührt. »Üppigkeit« ist das ganze Gegenteil von dem, was einem hier begegnet, obwohl man nicht eigentlich von Armut sprechen kann; aber alles ist hier von spärlichem Wuchs: Die Bäume und selbst die Blumen in den Gärten gedeihen nur mühsam. Hinzu kommt, daß es die fünfzig fetten Jahre des Westens hier nicht gegeben hat, und ab Fürstenwalde wirkt die Gegend seltsam verlassen, als befände man sich am Ende der westlichen Welt oder in einer einsamen Steppe, als durchquere man ein »Grenzland«. Was übrigens die genaue Bedeutung des Wortes »Mark« ist, die Mark Brandenburg ist das Gebiet an der Grenze von Brandenburg.
Ein ebensolches Gefühl müssen die Protestanten aus dem Süden Frankreichs gehabt haben, die aus ihrer Heimat vertrieben worden waren und denen der Kurfürst von Brandenburg angeboten hatte, sich auf seinem Territorium niederzulassen, und die sich fragten - wenn man ihren Briefen Glauben schenken darf -, »warum die Hand Gottes sie so weit weg geführt hatte«, in dieses Land mit seiner fremdartigen, spröden Schönheit.
Die B.s hingegen müssen sich hier wie im Mittelpunkt der Welt, wie »zu Hause« gefühlt haben. Ein Satz, den ich irgendwo bei Jünger gelesen habe und der mich schon immer nachdenklich gestimmt hatte, kam mir wieder in den Sinn: Wir sind immer Mittelpunkt der Welt und zugleich Randerscheinung..., heißt es da sinngemäß.
Wir sind auf holprige Überlandwege abgebogen: Diese alten preußischen Landstraßen haben wie durch ein Wunder die Zeit überstanden; sie haben noch immer eine doppelte Fahrbahn, links das Pflaster und rechts der Sommerweg, der Sandweg, der nicht so holprig ist und wo man etwas schneller fahren kann, wenn es nicht gerade zu schlammig ist... Ein ländlicher Zauber, der mich etwas an einen weit entlegenen Landstrich, vielleicht an die Normandie, erinnert.
Und auf einmal steht es vor uns, wir sind angekommen. Es gibt sogar ein Hinweisschild und eine Tafel mit der Aufschrift: »Willkommen im Parkhotel Schloß W.« Das Schloß ist mit einem etwas zu hellen Barock-Gelb verputzt, die Wege vor dem Schloß tragen noch den alten unschönen Betonbelag; an der Einfahrt steht ein kleines Portal aus weißem Gips mit einer großen Vitrine voller Flaschenattrappen; entlang des Zufahrtsweges harren ein gutes Dutzend langer weißer Stangen der Fahnen, so als befände man sich auf einem Gebrauchtwagenmarkt; die Rasenfläche ist -wie bei einem Gewerbe-Center - in regelmäßigen Abständen von Steinquadern begrenzt, um die Autos so am Weiterfahren zu hindern... und da steht auch etwas aus Schmiedeeisen, eine Venus von der Größe eines Gartenzwergs... Das kann nicht das Anwesen der B.s sein. Wir müssen uns wohl geirrt haben, denn W., was von dem slawischen Wort »Wolf« abgeleitet ist, taucht in Brandenburg häufig als Ortsname auf.
Wir schreiten die Wege ab, linker Hand die Ställe, rechter Hand die Remise, an der in gotischen Buchstaben jetzt »Remise« steht, hinter uns die Kirche, die, als einzige unverändert, wie verlassen auf ihrer von Immergrün bewachsenen kleinen Anhöhe liegt: Alle diese Schlösser sind einander ähnlich, mit ihren Stallungen, die so erstaunlich dicht ans Schloß gebaut sind, und, im rechten Winkel dazu, dem See an der Vorderfront, mit der Kirche, dem Haus des Verwalters und dem des Pfarrers... Doch als wir dann ins Schloß hineingehen, lüftet sich das Geheimnis, im Verkaufsständer neben der Rezeption liegt eine Broschüre aus: Geschichte des Schlosses von W. Seit 1361 sind Hermersdorf, Trebnitz und W. im Besitz der Familie Schapelow. 1643 wird der letzte Schapelow von schwedischen Raubrittern ermordet, und die drei Dörfer werden von den Zietens (aus der Familie des berühmten Husarengenerals Friedrichs II.) erworben, bis sie dann 1792 an die Pannewitz und über die weibliche Linie an die B.s übergehen - bis zum Krieg. Nach dem Krieg dient das Schloß als Krankenhaus, dann als Altersheim und schließlich als Ausbildungsstätte für die Kombinate der Umgebung.
Am 31. August 1992 wird W. über die Treuhandanstalt an die aus Westfalen stammende Familie H. verkauft, die das Haus wieder instandsetzt. Am 26. Juli 1994 öffnet das Parkhotel Schloß W. seine Pforten.
Eine ganz einfache Geschichte... Nachdem die Mauer gefallen war und die beiden deutschen Staaten beschlossen, einen gemeinsamen Weg zu gehen, mußte eine juristische Basis für die Vereinigung geschaffen werden, was mit dem Einigungsvertrag vom 31. August 1990 erfolgte. Nach recht zähen Verhandlungen wurde er vom Parlament der DDR, der Volkskammer, gegen die Stimmen der alt-neuen Kommunisten (pds) und eines Teils der Grünen (Bündnis 90) angenommen. Der Vertrag legt fest, daß die vom Staat nach 1949, dem Gründungsjahr der DDR, beschlagnahmten Liegenschaften ihren früheren Besitzern zurückerstattet werden: »Rückgabe vor Entschädigung« lautet die offizielle Formel; die unter der sowjetischen Besatzungsmacht im Zuge der Bodenreform zwischen 1945 und 1949 konfiszierten Besitztümer werden demgegenüber nicht an ihre Eigentümer zurückgegeben.
Die Bundesregierung hatte diese Klausel unter Hinweis auf die sowjetischen Forderungen aufgenommen: Als Bedingung für ihre Zustimmung habe die damalige Sowjetunion gefordert, daß die Bodenreform unangetastet bliebe. Heute existiert die Sowjetunion nicht mehr, und nach etlichen Indiskretionen von russischer Seite scheint es gar nicht mehr so sicher, daß eine solche Forderung je erhoben wurde. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, das sich mit dieser Frage befaßt hat, entschied jedoch eindeutig zugunsten des Status quo.
Das Ergebnis: Diese Alteigentümer haben - zum überwiegenden Teil - ihre Besitztümer nur wiedergesehen, um sie abermals zu verlieren.
Sie haben sicherlich alles versucht, Subventionen zu erhalten, um damit eine Stiftung oder ein Begegnungszentrum zu finanzieren..., aber in der Regel kam ein Rückkauf gar nicht in Frage. Im Krieg gefallen, beim Einmarsch der Russen erschossen oder in der Gefangenschaft gestorben, infolge des Attentats vom 20. Juli 1944 hingerichtet - wie sollten die wenigen Überlebenden, die in den Jahren 1946-1947 aus ihrem Heim vertrieben wurden und auf die Ostseeinsel Rügen flüchteten, wo viele von ihnen umkamen, es anstellen; wo sollten sie oder ihre Nachkommen das für den Kauf notwendige Kapital hernehmen, sie, die sich im Westen ein neues Leben haben aufbauen müssen - ebenso wie die knapp zwölf Millionen anderer Deutscher.
Für viele dieser Familien hat die Wiedervereinigung eine Wunde aufgerissen, die sie für geheilt hielten. Sie hatten dieses Kapitel abgeschlossen. Die Unerreichbarkeit der Stätten ihrer Kindheit schützte sie. Als die Mauer fiel, kehrten sie bangen Herzens dorthin zurück und haben einen noch bittereren Verzicht hinnehmen müssen. Entweder war kein Stein auf dem anderen geblieben, so wie in Kerzendorf, oder das Haus war, mit seinen zerbrochenen Scheiben und dem durchlöcherten Dach, Vandalen in die Hände gefallen, wenn man nicht - eine ganz besondere Freude - mit ansehen mußte, daß es zum Kauf angeboten wurde und die Treuhand es ohne große Umstände an den Meistbietenden verkaufte.
So ist es auch mit W. geschehen. Nichts mehr hatte hier etwas mit den B.s zu tun.
Aber all diese sepiafarbenen Familienfotos hinter der Rezeption? »Das hier haben doch die H.s aus Westfalen gekauft...« Und tatsächlich, wenn man näher herantrat, sah man, über die ganze Breite der Wand verteilt, das Münsterland des zur Neige gehenden, opulenten 19. Jahrhunderts vor sich: pausbackige kleine Mädchen, tüchtige Matronen, dickbäuchige Herren mit gewichtiger Miene.
Nie habe ich so gut verstanden wie hier, warum Gesetze keine rückwirkende Gültigkeit haben und wie klug dieses Prinzip ist.
Wir wurden durch die freundlich wirkenden Zimmer und die Konferenzsäle geführt. »Sehen Sie, das war der Salon, wo der Weihnachtsbaum gestanden haben muß..., ach ja, und da stehen die >Blauen Bände<, die Klassiker der DDR, die Gesammelten Werke von Marx und Engels, unverzichtbar in jeder offiziellen Einrichtung, und da, am Treppenabsatz, die andere Bibliothek... Oh, nein, Sie brauchen nicht zu suchen, diese Bücher sind ganz sicher erst später hierher gekommen, Sie werden nirgends ein >v. B.< darin finden..., die Russen werden alles verbrannt haben.«
»Ich wünschte, Sie hätten unrecht, schauen Sie mal: Storm, Fontane, Kleist, Stifter, Eichendorff, Körner, was für ein Deutschland! Was ist daraus nur geworden? Was für ein Wahnsinn...«
»Kommen Sie, gehen wir essen.«
Das Essen war ausgezeichnet und die Bedienung sehr zuvorkommend...
Als wir aufbrechen wollen, entdecke ich auf der linken Rasenhälfte ein Buchsbaumrondell, das noch aus alten Zeiten stammen mußte, ich hätte wetten mögen, daß sich vor noch nicht allzu langer Zeit in seiner Mitte ein Stern aus roten Blumen von der allerschönsten Sorte - Begonien oder Fuchsien? - befunden hatte.
In diesem Augenblick kommt jemand auf uns zu: »Sie kennen doch die alten Besitzer. Wenn Sie wollen..., die Gräber sind nicht hinter der Kirche, sondern hier im Park.« Wir gingen los, an prächtigen Bäumen vorbei, auf hellen Sandwegen, auf die matt die Sonne schien. Wir haben die Gräber nicht gefunden..., ich bedaure es nicht.
Ich mußte an die B.s denken. Durch sie und ihre Freunde, die in einer Kleinstadt im Schwarzwald studierten, hatte ich, noch keine zwanzig Jahre alt, mit einem Male Deutschland (das der sechziger Jahre) entdeckt. Sie hatten fast alle ein Schicksal hinter sich, das mir unwahrscheinlich schien. In Städten geboren, von denen ich nicht einmal die Namen kannte - geschweige denn von deren Existenz ich wußte: Breslau..., ach ja, das ist ja Wroclaw, oder Frankfurt, aber an der Oder -, hatten die Ältesten unter ihnen ganz genaue Erinnerungen an den Zusammenbruch Deutschlands, und alle hatten sie zerstörte Familien: gefallene Väter, ausgewanderte Verwandte (und ich war noch so naiv, unverblümt zu fragen, warum sie denn in Argentinien seien), kränklich aussehende Mütter, die lang anhaltende Depressionen hinter sich hatten und an etwas litten, worüber man nicht sprach... Jeder hatte sein Geheimnis, seine Last, sein erdrückendes Stück deutsche Geschichte zu tragen; es erinnerte unablässig an eine andere Welt, umhüllte einen ganz und gar, und allzuoft hinderte sein riesiger Schatten eigentlich am Weiterleben.
Die B.s gehörten mütterlicherseits zur Familie der Stülpnagels. Stülpnagel war ein Name, den ich kannte. Er stand auf einer Abbildung in meinem Geschichtsbuch für die Abiturklasse, rechts unten auf einem Plakat, das während der Okkupation an den Mauern von Paris hing und in Französisch und Deutsch verkündete, daß man für jeden von »Terroristen« getöteten Wehrmachtssoldaten zehn französische Geiseln erschießen würde. Stülpnagel war der Militärkommandant von Paris. Stülpnagel - der Name eines Ungeheuers.
Die andere Hälfte der Geschichte und ihr Ende erfuhr ich dann von den B.s. Stülpnagel hatte mit den Verschwörern des 20. Juli 1944 konspiriert. Als er die Nachricht erhielt, daß das berühmte Köfferchen mit der Bombe in den Arbeitsräumen der Wolfsschanze, dem Führerhauptquartier Hitlers in Ostpreußen, abgestellt worden war, ließ er die in Paris amtierenden Nazi-Würdenträger der Gestapo und des Sicherheitsdienstes verhaften... und erfuhr ein paar Stunden später, daß Hitler am Leben geblieben war. Der familiären Tradition gemäß lud er daraufhin zu einem prachtvollen Fest ins »Lutetia«, das er im Laufe des Abends verließ, um der aus Berlin eingetroffenen Vorladung Folge zu leisten. Kurz vor Verdun, unweit der Maas, bat er seinen Chauffeur zu halten und schoß sich eine Kugel in den Kopf. Die Kugel verfehlte ihr Ziel, man mußte ihn aus der Maas herausholen und das Auge entfernen, aber, obgleich blind, mußte er dennoch nach Berlin. Im Bundesarchiv existiert ein Film über die Verurteilung der Verschwörer des 20. Juli. Darin kann man sehen, wie Freisler, der Präsident des Volksgerichtshofs, die Angeklagten anbrüllt und beschimpft: >Sie blaublütiges Schwein...<. Stülpnagel, der ihm von seiner Trage aus zuhört, wird ebenso wie die anderen im Gefängnis Plötzensee an einem Fleischerhaken erhängt. Da Hitler die Sippenhaft verkündet hatte, werden seine beiden Brüder gleichfalls gehängt.
Anscheinend ist nach dem Kauf keiner von den B.s wieder nach W. gekommen.

3. MAI

NEUHARDENBERG

Auf der Rückfahrt von W. - diesmal auf der Hauptstraße - haben wir, ein paar Kilometer weiter, in Neuhardenberg Halt gemacht. Das schöne Schloß, das hier steht, ist ein hervorragendes Beispiel des Schinkelschen Stils, des Baumeisters, der seine Epoche entscheidend geprägt und insbesondere die Architektur der Herrenhäuser vom Ende des vorigen Jahrhunderts beeinflußt hat.
Die Hardenbergs, die ganz direkt am Attentat des 20. Juli beteiligt waren, haben ihrerseits ihre Besitzungen zurückerhalten. Da Hitler sie schon 1944 enteignet hatte, fallen sie nicht unter die Bestimmungen, die für die Jahre 1945-1949 gelten.
Aber das Schloß ist nicht geöffnet.
Dafür ist die Kirche gegenüber - ebenfalls nach Entwürfen von Schinkel erbaut und erstaunlicherweise vollkommen erhalten - offen. Es gibt sogar ein paar Touristen, die wie wir ganz gebannt etwas für eine protestantische Gegend Ungewöhnliches betrachten: den in den Altar eingelassenen gläsernen Schrein mit dem Herz des Staatskanzlers Hardenberg! Dem der Reformen am Anfang des 19. Jahrhunderts, derjenige, der immer in einem Atemzug mit Humboldt und Stein genannt wird und dessen Entlassung Napoleon Friedrich Wilhelm III. befohlen und durchgesetzt hatte. »Das Herz hat den Krieg überlebt«, erzählt man uns, »alle Einwohner sind weggegangen, und als sie zurückkamen, fanden sie es in einem Bauernhof..., unter einer Käseglocke..., ja, tatsächlich!« Dieses dunkle kleine Dingsda, das Herz des großen Hardenberg! Ich muß an das Pingpong-Spiel zwischen Frankreich und Preußen denken, an dem auch er beteiligt war: an das Erstaunen der Franzosen, während des Siebenjährigen Krieges in Roßbach von Friedrich II. geschlagen worden zu sein, an die Verblüffung der Preußen angesichts ihrer Niederlage bei Jena und Auerstedt, an die hartnäckigen Anstrengungen von Stein und Hardenberg, die vom Geist der Französischen Revolution geprägten Reformen »von oben« durchzusetzen, beispielsweise die Gleichheit vor dem Gesetz, insbesondere im Militärwesen, sowie an das Erstaunen der Franzosen, in Sedan geschlagen worden zu sein..., und schließlich an die Jahre 1914 und 1939.
Als wir aus der Kirche heraustreten, plaudern wir noch ein Weilchen mit unserer Fremdenführerin. Ja, sie kennt die Gegend gut. Die B.s? Natürlich, sie war sozusagen die Verwalterin von W., hören wir. Nein, sie sind nicht wiedergekommen. Die Hardenbergs? Hin und wieder. Der alte Hardenberg? Ja, er war mit in die Affäre vom 20. Juli verwickelt. Als die Gestapo ihn abholen kam und das Schloß umzingelte, wollte er sich das Leben nehmen; aber als sie in sein Arbeitszimmer traten, war er noch nicht ganz tot;
sie haben ihn nach Sachsenhausen gebracht. Seine Frau war eine Schulenburg, ja Sch. wurde auch gehängt...
Draußen beginnt es kalt zu werden.

4. MAI

Harry Kupfer

Cosi fan tutte in der Komischen Oper.
In Berlin ist das Leben so einfach: Die Bevölkerungsdichte ist im Vergleich zu Paris derart niedrig, daß man sogar fast immer einen Parkplatz findet. Das Foyer der Komischen Oper ist weiträumig und großzügig. Vor der Vorstellung und in der Pause kann man hier ohne großes Gedränge in aller Ruhe eine Brezel und eine Bowle, diese in Alkohol getränkten Früchte, zu sich nehmen. Es ist beinahe zu ruhig. Doch der Saal ist voll. Wenn Cosi gespielt wird, ist das Haus ausverkauft. Harry Kupfer, der Regisseur, läßt die Oper in deutscher Sprache aufführen. Die Zuschauer folgen also dem Geschehen ohne irgendwelche Technik; die Kostüme sind bezaubernd, die Ausstattung perfekt, originell unprätentiös. Die Inszenierung hat ebenfalls den richtigen Ton getroffen, sie ist buffo, ohne ins Groteske abzugleiten, sie hat nichts Gewolltes oder Manieriertes. Fiordiligi und Dorabella sind verführerisch, man versteht ihre Verlobten, die großartig wirken in ihren hautengen weißen Hosen und etwas wie »Motorradrocker« aussehen, die man ins 18. Jahrhundert versetzt hat. Die Stimmen sind sehr schön. Nichts fällt in irgendeiner Weise aus dem Rahmen, das Ganze ist rundum gelungen. Das ist etwas, worauf sich die Pariser nicht verstehen.
Die Franzosen begreifen nicht, daß ein guter zweiter Platz oftmals ebensoviel wert ist wie »ein erster«, wie jenes »Sich-Auszeichnen«, dem ihr ganzes Trachten gilt. Die Franzosen vergöttern die majors, die Primusse der Elitehochschulen, die »unersetzlichen« Dirigenten, die »unvergeßlichen« Divas, die spektakulären Erfolgsgeschichten, mit einem Wort, die wie auch immer gearteten Ausnahmegestalten.
Zu einem Bernard Tapie, Jacques Attali, Harlem Desir oder Poivre d'Arvor gibt es in Deutschland kaum etwas Entsprechendes, ja nicht einmal zu einem Gerard Depardieu, einer Carole Bouquet oder Catherine Deneuve, außer vielleicht ein paar Sportlern, auf die Deutschland stolz ist: Schumacher, Klinsmann oder Becker und Graf, die die Rolle eines Cantona oder eines Prost einnehmen. Einige Fernsehmoderatoren von Unterhaltungssendungen haben die Gunst des Publikums errungen, so wie die berühmt-berüchtigte Schreinemakers, aber sie hält selten lange an, und die Elite ist in der Regel davon ausgenommen... - außer vielleicht Ulrich Wickert. Kurzum, Claudia Schiffer weckt eher in Frankreich als in Deutschland Träume.
Auch wenn es seine »Stars« hat, schwärmt Deutschland nicht über die Maßen von ihnen, und auf »brillante junge Leute« schwört man schon gar nicht. Nein, in Deutschland geht der Aufstieg langsam voran.
L'ambition - Ehrgeiz - bedeutet demnach etwas anderes als in Frankreich. Schon das Wort läßt sich nur schwer ins Deutsche übersetzen - am ehesten eben noch mit »Ambition«. Siegen, gewinnen, den Gegner schlagen (alles Begriffe, die um den Sieg kreisen) sind wichtig in Deutschland; aber nicht wie in Frankreich der Begriff »reussir« -»Erfolg haben« -, übersetzbar nur mit »reüssieren«. Keine Preisverteilung in den Schulen, kein Concoursgeneral - der jährliche Leistungswettbewerb der besten Gymnasiasten -, kein Klassenerster.
Man sieht sein Konterfei nicht schon auf dem Plakat und träumt auch nicht davon, Ballkönigin zu werden.
In der Literatur gibt es keinen Rubempre, keinen Rastignac oder Julien Sorel, die das Verlangen nach Erfolg zerfrißt, noch eine Emma Bovary, die daran zugrunde geht, daß ihr selbst der Versuch eines gesellschaftlichen Aufstiegs verwehrt wird.
Die deutsche Literatur befaßt sich da lieber mit Wahlverwandtschaften und der Entfaltung der Seele.
In einer kleinen Sammlung von Aufsätzen über Deutschland, die Paul Valery in seiner Jugend abgefaßt hat (amüsanterweise, weil er, damals noch Student, damit sein Taschengeld aufbessern wollte, wie man im Vorwort des Autors erfährt), schreibt er auch über Moltke, den berühmten General und Kriegsstrategen von 1870. Er legt in überzeugender Weise dar, daß dessen Genie darin bestand, die Armee so zu organisieren, daß sie seiner nicht mehr bedürfte und auch ohne überragende charismatische Einzelpersönlichkeit ausgezeichnet funktionieren würde.
Beim Durchblättern des »Spiegel« fällt mir ein Foto auf: In einem Bahnhof telefoniert ein blondhaariger Mann mit einem Handy. Darunter steht: »Handy: indirekte Einwirkung auf die Chromosomen?«
In der Titelgeschichte erfährt man, daß Tierversuche den Beweis erbracht haben, daß die Wellen der Mobiltelefone das Krebsrisiko erhöhen.

8. MAI
Jahrestag des Kriegsendes: Niederlage oder Befreiung für die Deutschen? Und für welche Deutschen? Von einer Freundin, die für ihre Doktorarbeit recherchiert, bekomme ich recht eigenartige Informationen zugeschickt.
In Breslau hat Kardinal Bertram am 2. Mai eine Totenmesse für Hitler lesen lassen. Am 30. April hat Hitler Selbstmord verübt, und am 5. Mai ist Breslau gefallen.
Wie ist das zu verstehen, versetzt man sich in den Geisteszustand jener Zeit? Ist es Blindheit? Oder Dankbarkeit gegenüber Hitler, weil er der bewaffnete Arm der Kirche gegen die kommunistische Bedrohung war? Und die anderen katholischen Gegenden?
Bayern hat bis zum Schluß Zentrum gewählt und so dem Sirenengesang der NSDAP widerstanden, aber die Zentrumspartei hat im März 1933 en bloc für das Ermächtigungsgesetz gestimmt, das Hitler alle Rechte übertrug.

10. MAI
Was für ein Zauber über diesen Archivbildern von Rauschen lag, die heute vormittag im Ersten zu sehen waren!
Schon seit geraumer Zeit geht das deutsche Fernsehen täglich auf Entdeckungsreise durch die alten Gebiete Ostpreußens zwischen Königsberg (Kaliningrad), Memel (Klaipeda) und Tilsit (Sowjetsk), jenem Ort am Njemen, wo die Begegnung zwischen Napoleon und Alexander I. stattfand.
Rauschen, heute Swetlogorsk, ist ein bezauberndes Städtchen am Rande der Ostsee. Auf den Bildern drängte sich eine friedliche Sonntagsmenge; später, auf anderen, tanzten Paare miteinander, die Frauen in hellen Kleidern und mit blondem Dutt, die Männer mit leichter Weste, über sich den Sommerhimmel mit der untergehenden Sonne. Und dahinter, hinter dem eifrig spielenden Orchester und den blumengeschmückten Tischen der Gastwirtschaft die Ostsee, majestätisch, weit und ruhig im Licht des Nordens daliegend. Nichts als Ordnung und Schönheit, besonnenes Glück und Wohlstand.
All das ist jetzt russisch, wie schon die Namen besagen. Aber es war vor allem dieses heraufbeschworene vergangene Glück, was den heutigen desolaten Zustand, den Verfall und die Verlassenheit noch grausamer erscheinen ließ.
Wenn es sich, wie man bei einem Blick auf die Landkarte annehmen könnte, bei diesen Gebieten um eine ausgelagerte, im Laufe einer Flurbereinigung verlorene Enklave handelte, wäre die Sehnsucht danach schon verständlich. Aber es ist viel schlimmer. Genau besehen handelt es sich hier nämlich um die eigentlichen Ursprünge eines bestimmten Deutschlands, denn diese Territorien sind die Wiege Preußens, jenes Preußens, von dem es heißt, daß es Deutschland »gemacht« habe. Die meisten Deutschen sind sich dessen heute gewiß kaum noch bewußt, und ein großer Teil würde es sogar energisch bestreiten...
Dabei war der Hochmeister des Deutschen Ritterordens, der sich der von Luther angestrebten Säkularisierung anschloß, in der Tat ein Hohenzoller (die Kreuzritter hatten dagegen Litauen kolonisiert). In den Kirchen von Riga und in den Schlössern, zum Beispiel auf der Marienburg an der Nogat, dem heutigen Malbork, findet man heute wieder Erinnerungen daran. Vom Papst und dem Kaiser entsandt (die Goldene Bulle von Rimini stammt aus dem Jahre 1226), hatten sie Kriege geführt und diese Pruzzen an der Ostseeküste kolonisiert und integriert. In der Folge brauchten nur noch Brandenburg und Ostpreußen vereinigt zu werden, damit die Geschichte »Preußens« beginnen konnte.
Der Sohn des Großen Kurfürsten (desjenigen, der die französischen Hugenotten aufgenommen hatte) sollte sich 1701 in Königsberg selbst zum König krönen - außerhalb der Grenzen des Heiligen Römischen Reichs. Sein eigener Sohn wird der schreckliche Soldatenkönig, der wiederum Friedrich II., den Großen, zeugt, auf den Friedrich Wilhelm II folgen sollte, um von 1797 an Friedrich Wilhelm III. Platz zu machen, derjenige, mit dem Napoleon zusammenstößt, dem es nicht gelingen sollte, weder ihn noch seine Frau, die Königin Luise, jemals für sich zu gewinnen. Dann wird es noch Friedrich Wilhelm IV. geben, den der fehlgeschlagenen Revolution von 1848, bevor man bei Wilhelm I. und Bismarck anlangt; und darauf, nach den hundert tragischen Tagen Friedrichs III., folgt schließlich derjenige auf den Thron, den unsere Großeltern noch voller Haß und Verachtung »diesen Wilhelm« nannten.
Eine klare Linie. Und selbst fern, sind die Erinnerungen im Hintergrund immer da..., so wie im Fernsehen heute vormittag.
Ich erinnere mich noch, daß einige von meinen Freunden aus der Studienzeit, die aus diesen Gegenden stammten, Ende der sechziger Jahre Zigaretten rauchten, die sie aus einem orangefarbenen Päckchen nahmen, auf dem in schwarzen Buchstaben reval stand. Sie wußten es bestimmt, aber ich habe lange gebraucht, bis ich entdeckte, daß Reval auch der frühere Name von Tallin ist.
Ich glaube, daß diese Zigarettenmarke auch verschwunden ist.

12. MAI

Cannes wird fünfzig.

Jeden Vormittag bringt das Morgenmagazin einen kurzen Live-Bericht vom Festival (parallel dazu eine ausgezeichnete Sendung über Hongkong, das sich anschickt, wieder chinesisch zu werden). Aber heute, am 12. Mai, hat der Journalist in Cannes einen unmöglichen Ton an sich.
Es muß dort wohl regnen..., jedenfalls wettert Herr X. los. Er explodiert förmlich. »Heute geben die Deutschen hier in Cannes einen großen Galaabend«, verkündet er mit rachsüchtiger Stimme, »die Deutschen haben einen Preis gestiftet, der während einer festlichen Zeremonie vergeben wird, an der Tausende Gäste teilnehmen werden. Wir Deutsche werden den Franzosen und den Amerikanern beweisen, daß das deutsche Kino mindestens ebensoviel wert ist wie das Kino anderer Länder...«. Ich bin verblüfft. Wenn sich dieser schöne deutsche Nationalismus doch zum Zeitpunkt der GATT-Verhandlungen über die kulturelle Ausnahmeregelung so heftig geäußert hätte! Und weshalb unterstellt man, daß der deutsche Film mit dem französischen um die Wette kämpft? Ist doch das Gegenteil der Fall. Er wird nirgends mehr geschätzt als in Frankreich.
Wenn in Deutschland jemand einen Anfall von nationalistischem Fieber erleidet, muß er den Grund dafür offenbar immer gleich mitliefern. »Ja, natürlich, der deutsche Humor ist eben nicht jedermanns Sache«, fügt der auf einmal ganz jämmerliche Gesprächspartner mit bebender Stimme doch in der Tat hinzu.
Der deutsche Nationalismus funktioniert fast immer nach demselben Muster. Seine Aggressivität erwächst aus dem Gefühl, immer benachteiligt gewesen zu sein, immer abgelehnt, diffamiert und diskriminiert worden zu sein, die Rolle des underdog zu spielen, der weder Flotte noch Kolonien besitzt, dem die Aufnahme in die Runde der Großen immer verwehrt wurde, dem man sogar abspricht, eine gewisse »Art« und eine Identität zu haben, und dem man selbst das Recht auf ein einfacheres Verhältnis zur Nation, »wie es die Franzosen« pflegen, verweigert.
Wenn die Deutschen dieses »unkomplizierte Verhältnis zur Nation« hätten, brauchten sie wahrscheinlich nicht mehr aggressiv zu sein. Und wenn sie sich in kultureller Hinsicht mehr als Deutsche empfänden, brauchten sie es weniger auf wirtschaftlichem Gebiet: Für ihre Nachbarn wäre dann besser mit ihnen auszukommen (besonders wenn sie ihnen in Korea begegnen...).
Es ist aufschlußreich zu lesen, was Heine, dessen zweihundertster Geburtstag in diesem Jahr begangen wird, zum Unterschied zwischen den beiden Nationalismen gesagt hat.
Er hat seine Vorstellungen 1835 in Paris niedergeschrieben: »Der Patriotismus des Deutschen... besteht darin, daß sein Herz enger wird, daß es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, daß er das Fremdländische haßt, daß er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Deutscher sein will... Der Patriotismus des Franzosen besteht darin, daß sein Herz erwärmt wird, durch diese Wärme sich ausdehnt, sich erweitert, daß es nicht mehr bloß die nächsten Angehörigen, sondern ganz Frankreich, die ganze Welt der Zivilisation, mit seiner Liebe umfaßt.«
Das ist schmeichelhaft für uns..., trifft aber ziemlich genau zu.
Der französische Nationalismus seinerseits ist nicht aggressiv. Frankreich hatte nicht den Eindruck, von seiner Stärke nie Gebrauch machen zu können. Daher das stets ein wenig verletzte Befremden der Franzosen gegenüber jener deutschen Heftigkeit, die sie nicht kennen und nie gekannt haben. In den furchtbarsten Momenten des Hasses, nach der Literatur zu urteilen, richtete sich ihr Vorwurf gegen die Deutschen vielmehr darauf, daß sie Barbaren, unzivilisierte Menschen seien, die »Krankenschwestern umbringen«, oder aber sie nahmen eine herausfordernde, aristokratische Attitüde an: Sie hielten »den deutschen Rhein in ihrem Glas« hoch, wie es bei Musset heißt.
Nicht auf die Deutschen, sondern auf den Obskurantismus, der die Revolution gefährdete, hatten es die französischen Revolutionsheere abgesehen. Und davor hatte es sich hauptsächlich um Machtkämpfe zwischen den Fürstenhäusern gehandelt.
Der französische Nationalismus äußert sich im Alltag nicht aggressiv - es sei denn, man bezeichnet das eitle Gockelgeschrei als aggressiv. Eher noch hat seine Friedfertigkeit etwas Aufreizendes.
Selbst für einen Franzosen, der in den zwanziger Jahren geboren ist und für den Frankreich einen beträchtlichen Substanz- und Prestigeverlust erlitten hat, kann kein Land mit seiner Kultur, seiner Geschichte, seiner Lebensweise, seinem Raffinement und seiner Landschaft Frankreich das Wasser reichen, gleich ob er es offen ausspricht oder nicht. Ob er nun seufzend »armes Frankreich« ausruft und Le Pen wählt oder gegen das Debre-Gesetz kämpft und »links« wählt, er »liebt Frankreich«. Von langen Reisen wieder heimgekehrt, sagt er sich regelmäßig: »Offen gestanden, je mehr man reist, desto mehr wird einem bewußt, wie schön Frankreich ist.« Er verbringt seine Ferien auf dem Landsitz der Familie. Mit Menschen solchen Zuschnitts (die gewiß an bestimmten ausländischen Städten auch Zauberhaftes entdecken, aber »verglichen mit Paris...«) ist es mitunter schwierig, auch nur halbwegs miteinander ins Gespräch zu kommen. Überzeugt von der Vortrefflichkeit Frankreichs, fühlen sie sich »in ihrem Zuhause« äußerst wohl und interessieren sich nur für ihre Welt, und sie sprechen nur mit Leuten, die über dasselbe Vokabular verfügen.
Seit knapp zehn Jahren beginnen sie allmählich zu begreifen, daß es auch außerhalb Frankreichs ein Leben gibt, und sie lernen »Sprachen«. Aber in Wirklichkeit sind sie noch immer gewissermaßen autistisch. Diese übersteigerte Ichbezogenheit ist einer der Gründe - es gibt noch weitere -, weshalb sie auf die Ausländer so arrogant wirken. Was sie ihrerseits ungeheuer in Erstaunen versetzt, denn sie fühlen sich durch den Erfolg der anderen, vor allem den wirtschaftlichen Erfolg der Deutschen eher voller Komplexe, und erkennen in der Unbekümmertheit und Bestimmtheit, mit der sie behaupten, daß »Frankreich groß, schön und edel ist«, nichts, was den anderen verletzen könnte.
Dialog unter Tauben.

14. MAI
Auf der Bestsellerliste des »Spiegel« hält sich Goldhagen weiter gut: Er steht an achter Stelle. Aber ein Buch, das sich gegen Goldhagen wendet und ihn zu widerlegen versucht, Hitlers Helfer von Knopp, behauptet den sechsten Platz.

15. MAI
Die Medien fahren fort, von den »Helfershelfern Hitlers« zu reden. Selbstverständlich ist das Gold der Schweizer Banken vorrangiges Gesprächsthema, aber heute bleibt mein Blick an einem Satz hängen, der für sich spricht. Es ginge darum, das »in den Tresoren der Banken zwischen Stockholm und Buenos Aires versteckte Nazigold« ausfindig zu machen.

16. MAI
Gestern wurde im Bundestag mit großer Mehrheit eine Gesetzesvorlage angenommen: Sie erklärt die Vergewaltigung in der Ehe für strafbar. Bundestagspräsidentin Süßmuth begrüßt, daß sich auf diese Weise eine Veränderung im Bewußtsein der Öffentlichkeit widerspiegele und damit die Tatsache anerkannt würde, daß die Ehe in keiner Weise die sexuelle Selbstbestimmung der Frau einschränken darf.
Neben der Gewalt und der Drohung wird jetzt auch der Tatbestand, daß das Opfer in eine ausweglose Lage versetzt wird, als kriminelles »Mittel« anerkannt.

17. MAI
Seitdem der Kommunismus nicht mehr die Rolle der bösen Schneekönigin spielt, die von ihrem Schlitten aus mit einem Zauberspruch alles gefrieren und erstarren läßt, kann man beobachten, daß alles wieder in Fluß kommt: Zunächst wurden die Archive geöffnet, jetzt tauchen die Kunstwerke wieder auf.
In diesen Tagen ist von nichts anderem als vom legendären Bernsteinzimmer die Rede, das Friedrich Wilhelm I., der Soldatenkönig, dem russischen Zaren geschenkt hatte (selbstverständlich wird überall sein Marktwert verkündet: 250 Millionen DM). Hartnäckigen Gerüchten zufolge soll es die Wehrmacht 1941 von seinem Standort Zarskoje Selo nach Königsberg geschafft haben, um es dort in Sicherheit zu bringen. Wie es später verschwunden ist, weiß man nicht.
Jetzt ist eine der Tafeln, ein Mosaik, in Bremen wieder aufgetaucht. Die Polizei hat es auf eine Weise sichergestellt, die an einen Thriller im Stil des »Malteser Falken« erinnert, in dem ehemalige Stasi-Mitarbeiter, ehemalige Wehrmachtsangehörige, extrem wenig neugierige Notare, unschlüssige Experten und ein großes Medienaufgebot vorkommen.
Die Deutschen haben sofort ihre Absicht erklärt, diesen Kunstgegenstand an Rußland zurückzugeben.
Das unverhoffte Auftauchen der Tafel ereignete sich zum rechten Zeitpunkt in der ziemlich heftigen Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Rußland, in der es um etwas geht, wofür die Deutschen selbstredend einen Namen haben, Beutekunst, das heißt die Kunstwerke, die man von siegreichen Schlachten »heimbringt«.
Die Duma hatte trotz des Vetos von Jelzin vor kurzem ein Gesetz verabschiedet, das die Rückgabe von Kunstwerken an ihre ursprünglichen Besitzer erheblich behindert. Deshalb sind die Russen über dieses, plötzlich aus der Versenkung aufgetauchte Mosaik nicht gerade begeistert, sie befürchten allzusehr, daß diese so betont großzügige Geste der Deutschen, dieser unbedingte Wunsch, ihnen umgehend ihr Eigentum zurückzugeben, sie in eine schwierige Lage bringen könnte, in der man von ihnen das gleiche erwartet. Im Moment zweifeln sie daher vorsichtig die Echtheit des Fundes an; und die Deutschen bekräftigen indessen laut und deutlich, daß dieses Bild natürlich so schnell wie möglich wieder seinen rechtmäßigen Platz einnehmen soll. (»Und wenn es nur darum ginge, die Verhandlungen fortzusetzen...«, hat ein Beamter verlauten lassen).

18. MAI

IN POTSDAM

Läßt man die Stätten, die an die Hohenzollern-Dynastie erinnern, hinter sich, so stößt man - sofern man von dessen Existenz weiß - nach zehn Minuten Fußweg vom Neuen Palais auf Schloß Lindstedt. Es wird nirgends darauf hingewiesen, denn es ist nicht öffentlich zugänglich. Mit seinen Säulen und Portiken ist das hübsche kleine Schloß ganz im Stil einer römischen Villa erbaut. Hier hält die »Stiftung Preußische Schlösser und Gärten« häufig ihre Sitzungen ab, und hier wird auch die Erinnerung an die Tresckows wachgehalten: Tresckow ist ein weiterer großer Name des 20. Juli 1944. Henning von Tresckow, 1901 geboren, 1941 General im Generalstab der Heeresgruppe Mitte, danach Kommandant des Generalstabs der Wehrmacht an der Ostfront, wurde schon bald zum Zentrum des Widerstands, um das sich die Hitlergegner sammelten. Am 21. Juli 1944, einen Tag nach dem gescheiterten Attentat, hat er sich in der Nähe von Bialystok das Leben genommen.
Aber Hitler gab sich mit einem solchen Strafgericht nicht zufrieden. Tresckow hatte an seine Frau, die Tochter des preußischen Generals und Kriegsministers Falkenhayn, geschrieben, daß man das Attentat versuchen müsse, selbst wenn es mißlingen sollte, »um vor der Welt und vor der Geschichte zu bestehen«.
Grausamerweise ging die Sippenhaft, die Hitler einführte, um die Initiatoren der Verschwörung zu bestrafen, gewissermaßen von der gleichen Auffassung der Geschichte aus: Die Männer und ihre Brüder wurden hingerichtet, die Frauen in Konzentrationslager gebracht und die Kinder von ihrer Mutter getrennt und in Heime gesteckt. Aber in diesen Heimen wurde ihr Name geändert, und es war verboten, ihre Vergangenheit oder ihre Familie zu erwähnen. Uta von Tresckow, die Tochter von Henning, konnte so erst nach dem Kriege identifiziert werden und diejenigen wiederfinden, die von ihrer Familie noch übriggeblieben waren. In den Westen gegangen, überlebte sie dort recht und schlecht, das heißt eher schlecht, denn die damalige Regierung der Bundesrepublik beschloß erst im Jahre 1952, der Witwe von Tresckow eine Pension zu zahlen (so wie allen anderen Witwen der Verschwörer des 20. Juli).
In den fünfziger Jahren, als alle Anstrengungen auf eine Neugestaltung der Gesellschaft gerichtet waren, ging man in der Tat mit diesen Gegnern des Regimes nicht gerade fein um. Die Wiedereingliederung der Mitläufer, ja sogar von Personen, die für die Naziideologie deutlich Stellung bezogen hatten, vollzog sich dagegen zugegebenermaßen ziemlich rasch: So findet man den Verfasser der Nürnberger Gesetze von 1935, einen gewissen Globke, in der Regierung wieder. Ebenso wurden die Richter, die von 1933 bis 1945 im Sinne der Machthaber Recht gesprochen hatten, nur in seltenen Fällen behelligt. Ihre Anwesenheit im Justizapparat und an den Universitäten sollte später von den Studenten der Protestbewegung der sechziger Jahre in Deutschland angeprangert werden.

20. MAI
Ein längerer Artikel im Spiegel von dieser Woche setzt sich mit einem Justizfall auseinander. Nur wenige Tage nach dem Besuch in Lindstedt, berührt er mich auf besondere Weise.
Es ist immer dasselbe. Diesmal handelt es sich um einen jungen Marinesoldaten namens Beck, dessen Schwester darum kämpft, seine Rehabilitation zu erlangen. Er wurde eine Woche nach dem Waffenstillstand, am 15. Mai 1945, als Deserteur erschossen. Der inzwischen verstorbene Richter, der dieses Urteil fällte und vollstrecken ließ, hat im Nachkriegsdeutschland eine beispielhafte Karriere durchlaufen.
Die Gründe dafür sind bekannt. Einer der Glaubenssätze Nazideutschlands - neben der »Dolchstoßlegende« - lautete, daß man den Ersten Weltkrieg zum Teil auch deswegen verloren habe, weil die Armee nicht straff genug geführt wurde; dazu muß man sagen, daß Versuche von Befehlsverweigerung in der französischen Armee strengstens geahndet wurden. In einem Abschnitt von >Mein Kampf< befaßt sich Hitler mit dieser Frage, insbesondere mit der Fahnenflucht, für die er absolute Härte fordert: »Es muß der Deserteur wissen, daß seine Desertion gerade das mit sich bringt, was er fliehen will. An der Front kann man sterben, als Deserteur muß man sterben.«
Was die Richter betrifft, die noch nach dem Selbstmord Hitlers am 30. April 1945, als bereits alles unwiderruflich verloren war, Strafurteile fällten, besagt die gängige Rechtsprechung, daß keine Schuld vorliegen kann, wenn der Richter im Moment der Urteilsverkündung seiner Überzeugung nach entsprechend dem gültigen Recht geurteilt habe.
Daß man heute, fünfzig Jahre später, diese Richter in Ruhe läßt, ist möglicherweise nicht das eigentlich Schockierende, gemäß dem Bibelspruch »Laß die Toten ihre Toten begraben«. Viel schockierender scheint es, wie schwierig es ist, die Opfer zu rehabilitieren. Der Verfasser des Artikels erinnert daran, daß Pfarrer Bonhoeffer, Galionsfigur des inneren Widerstands, der am 9. April hingerichtet wurde - während die Amerikaner am 10. eintreffen und Hitler am 30. April Selbstmord begeht - erst vor zwei Jahren rehabilitiert worden ist.

22. MAI
In einem kleinen Text des bekannten Journalisten Klaus Harpprecht lese ich, daß die Wehrmacht 50 000 ihrer eigenen Soldaten erschossen hat!
Es ist das erste Mal, daß mir eine solche Zahl unter die Augen kommt.

24-/25. MAI

Wochenende in Berlin

Arbeit, und dann ein kleiner Ausflug zu den Galeries Lafayette, die sich sichtlich füllen und germanisieren: Es duftet nicht mehr nach Parfüm, und trotzdem hat die Atmosphäre hier etwas sehr Französisches. Der pyramidenartige, gläserne Keil in der Mitte, der die Schaulustigen anlockt, erinnert an die Architektur der Pariser Warenhäuser; mehr noch aber läßt er mit seiner Transparenz die Stimmung eines regnerischen Nachmittags in Paris aufkommen, wenn sich die Scheinwerfer der Autos auf dem Asphalt spiegeln und mit den Farben der Ampeln vermischen, wenn die Lichter der Cafés auf die Autofenster treffen und mit dem diffusen, flackernden Schein der Lampen an den Glastüren und auf den nassen Bürgersteigen verschmelzen. Fast erwartet man, auch irgendwo den Eiffelturm - mit der Spitze nach unten, wie auf einem Foto von Doisneau - zu erblicken.
Als wir die Galeries Lafayette durch die Friedrichstadt-Passagen wieder verlassen, stoßen wir auf eine Zeitungsauslage, eine Zeitung fein säuberlich neben der anderen - in Berlin gibt es überall Platz. Sie bringen eine beunruhigende Meldung: zwei deutsche Soldaten in Bosnien getötet. Es handelt sich um einen Unfall. Trotzdem, es ist das erste Mal seit dem Krieg, daß deutsche Soldaten bei einer Intervention im Ausland ums Leben kommen. Ein Schock.
Um so mehr, als sich die Deutschen mit der Entscheidung, sich an Out-of-area-Einsätzen der Nato zu beteiligen, sehr schwer getan haben. Das Bundesverfassungsgericht mußte sich einschalten, ehe Deutschland endlich alle seine Bedenken aus dem Weg geräumt hatte...

26. MAI
Die katholische Kirche von Lübeck hat gebrannt.
Das Kupferdach hat die Feuerwehrmänner bei ihren Löscharbeiten erheblich behindert.
Einziger Hinweis: An die Mauern wurde der Name eines Lübecker Pfarrers »gesprayt«, der eine von Abschiebung bedrohte algerische Familie bei sich aufgenommen hat.

27. MAI
Die Wahlergebnisse in Frankreich werden in erster Linie als ein Mißtrauensvotum gegenüber dem Euro gewertet.

28. MAI
Unmöglich, ihn zu übersehen. Er ist in allen Medien. Die Arme voller Blumen, verläßt Markus Wolf nach der Urteilsverkündung das Gericht: zwei Jahre auf Bewährung.
Markus Wolf war der Chef des Geheimdienstes Ostdeutschlands. Er ist einer der führenden Köpfe der Ex-DDR.
Er hat gerade ein Buch geschrieben, in dem er den Versuch unternimmt, die Bilanz seiner Tätigkeit zu ziehen; darin zitiert er einen japanischen Philosophen, der vor Bewertungen »nach relativ positiven oder negativen Kriterien« warnt. »Diese wie jene wechseln je nach historischen Umständen, dem Charakter einer Gesellschaft, des Zeitalters...«. Selbstverständlich... Wie sollte man da nicht aufseufzen? Es ist alles zu verwickelt.

29. MAI

Sportnachrichten

Gestern abend gebärdete sich mein Sohn wie wild vor dem Fernseher, zum großen Ärgernis seiner Schwester und der übrigen Familie. Wider alle Erwartung schlägt Borussia Dortmund im Finale der Champions League den großen Favoriten, Juventus Turin, mit 3:1 haushoch.
Acht Tage zuvor hatte bereits Schalke 04 das Finale des UEFA-Pokals gegen einen anderen italienischen Club, Inter Mailand, gewonnen.
Im vergangenen Jahr wurde die deutsche Nationalmannschaft in England Europameister und Bayern München holte sich wieder eine Meisterschale, ganz zu schweigen von den Fußballweltmeisterschaften, bei denen sich Deutschland seit dreißig Jahren unter den letzten Vier befindet.
Aber wie kommt es, daß die deutschen Mannschaften immer siegen? Ist es Zufall?
»Nein«, erklärt mir ein Fan, »man muß sich vorstellen, daß der Mannschaftssport - und Fußball ganz besonders - einen regelrechten Mikrokosmos der geistigen Verfassung einer Nation darstellt.
Auf der einen Seite des Spielfeldes stehen die romanischen Länder, wo der Fußball König ist, da heben sie ihre Idole heute in den Himmel und verdammen sie morgen bei der ersten schlechten Leistung. Sie wollen auch siegen, aber gewissermaßen auf ästhetische, stilvolle Weise, ja sogar mit Eleganz. Diese italienischen, spanischen, französischen und portugiesischen Mannschaften ziehen uns in ihren Bann; im Mittelpunkt stehen die Einzelpersönlichkeiten, sie vollbringen wahre Bravourleistungen, technische Meisterwerke. Das sind die Künstler des Fußballs.
Auf der anderen Seite stehen die Handwerker. Das sind ganz generell die angelsächsischen, insbesondere aber die deutschen Fußballclubs. Sie haben sich mit Haut und Haaren der elementarsten Taktik des Mannschaftssports verschrieben: solidarisch sein, um gemeinsam zu siegen. Dabei spielt der Name des Torschützen oder die Qualität des Tors kaum eine Rolle. Wenn jemand eine Klasseleistung bringt, um so besser, aber das zählt nur wenig. Die Einzelpersönlichkeit bleibt in der Umkleidekabine. Das gemeinsame Ziel befindet sich am anderen Ende des Spielfelds, in diesem mit einem Netz umspannten kleinen Viereck, das der Ball sooft wie möglich treffen muß. Alles andere sind nichts als Worte und Stimmungen, Meisterstücke oder Glücksfälle. Am Ende des Spiels wird die Rechnung präsentiert, und egal, ob man gesiegt oder verloren hat, man braucht nichts zu bedauern.
Auch in diesem Jahr mußten die Romanen wieder gegen diese Wand anrennen. Im Gegensatz zu den deutschen Mannschaften, die alle der gleiche Wille zusammenschweißt, im Dienste der Gruppe alles aus sich herauszuholen, hatten sich ihre Mannschaften mehr und mehr zerstritten und verzettelt oder ganz und gar aufgelöst.
Ja, natürlich lassen sich Entschuldigungen und Gegenbeispiele finden, man kann Zweifel anmelden und sich damit trösten, daß man versucht habe, eben brillant Fußball zu spielen. Aber im Grunde ist es so, wie es ein abgetretener, großer englischer Spieler, Gary Linecker, maliziös ausgedrückt hat, als man ihn um eine Definition des modernen Fußballs bat: >Fußball? Zwei Mannschaften mit elf Spielern laufen einem Ball hinterher, und am Ende sind es die Deutschen, die gewinnen.«

31. MAI
Die Vergangenheit Ostdeutschlands bildet immer wieder Blasen, die an der Oberfläche der Aktualität zerplatzen.
Nach dem Prozeß gegen Wolf ist jetzt der Prozeß gegen Generäle des Kollegiums beim Ministerium für Nationale Verteidigung der ehemaligen DDR zum Abschluß gekommen. Laut Schuldspruch sind sie für den Tod von Flüchtlingen, die zur Zeit der Mauer versucht haben, die Grenze zu überschreiten, verantwortlich und werden zu Gefängnisstrafen zwischen einem und drei Jahren verurteilt.