1. MÄRZ
Die Galeries Lafayette in Berlin sind, bis jetzt jedenfalls, kein richtigen Erfolg, das Publikum bleibt aus. Doch die Leute sind zufrieden, ja stolz, daß sie ein großes, renommiertes Pariser Warenhaus in ihrer Stadt haben. Aber es steht im Osten..., und die Gewohnheiten halten sich hartnäckig: Im Osten kaufen die Leute aus dem Osten.
Das erste, was sie beim Hereinkommen umfängt, sind Parfümdüfte. Selbst in Westdeutschland haben raffinierte Düfte weniger Heimatrecht als in Frankreich, wo man seit jeher »parfümierter« gewesen ist. Dann werden sie von den Feinstrumpfhosen zu 40 DM verschreckt, und die winzigen »Kleidchen« geben ihnen schließlich den Rest (zumal, wie es scheint, die größeren Größen fehlen).
Und die Leute aus dem Westen, die sich weniger abschrecken lassen würden, gehen weiter ins KaDeWe, dessen Atmosphäre ihnen vertrauter ist.
Trotz allem ist das vielleicht ganz normal. Man spricht immer vom großen Erfolg der Hugenotten in Preußen im Jahre 1685, aber in Wirklichkeit lagen die Dinge nicht so einfach. Von den Historikern, die sich mit dem »Refuge« befaßt haben, wissen wir, daß die französischen Emigranten, Handwerker aus dem Textil- und Ledergewerbe und dem Druckereiwesen, wegen ihrer Spitzenkragen, ihrer weichen Lederstiefel, ihrer Seidenstrümpfe und ihres feinen Papiers von den Preußen mit Verachtung gestraft wurden und daß sich eine Verschmelzung erst in der folgenden Generation vollzogen hat. Die Söhne, die schon heimisch geworden waren, wußten die Preußen in ihren ewigen Baumwollstrümpfen für sich einzunehmen und brachten ihnen bei, Charme und Malheur zu sagen und achselzuckend et peut-être zu seufzen, woraus ein paar Jahrhunderte später etepetete geworden ist, eine Bezeichnung für eine etwas gestelzte Person.
Die Galeries Lafayette müssen nur ein bißchen abwarten.
3. MÄRZ
Gestern hat es beim »Castor« offenbar Zwischenfälle gegeben, erwartungsgemäß vor allem in Norddeutschland: Verschiedene Bahnanlagen (Schienen, Oberleitungsmaste, Stellwerke usw.) sind beschädigt worden.
Aber dieses Mal geht die Regierung die Sache behutsam an und vermittelt ihr Anliegen geschickter. Wie im Fernsehen zu sehen und in den Zeitungen nachzulesen ist, wenden sich die Polizeigewerkschaften mit beschwörenden Worten an die Demonstranten, sie mögen die Polizeibeamten nicht dazu zwingen, zu dicht an die Container heranzugehen, ansonsten wären diese der Gefahr einer Verstrahlung ausgesetzt. (Ach, schau an, es hieß doch, es sei gar nicht gefährlich! hört man daraufhin.)
Überall sieht man Interviews mit äußerst sympathischen, blutjungen Polizisten, die erklären, daß »sie selbstverständlich Skrupel haben und vor einer Gewissensentscheidung stehen, aber daß sie ihre Pflicht tun werden und hoffen, daß alles so glimpflich wie möglich verlaufen wird«.
Aber gewiß, wer hätte schon das Herz, einen Stein auf das reizende junge Mädchen zu werfen, das (nicht in Uniform) auf der letzten Seite der FAZ abgebildet ist und sich über seine Bedenken und Ängste ausläßt?
In dem Bemühen, die Bevölkerung aufzuklären, stehen die großen Atomgesellschaften der Regierung in nichts nach: Sie beteuern ihrerseits die absolute Unschädlichkeit des Konvois, die Strahlung sei niedriger als die, welcher man bei einem Transatlantikflug von vergleichbarer Dauer ausgesetzt sei, und sie betonen, daß ein Drittel der Elektrizität in Deutschland aus Atomkraft gewonnen wird.
Glogowski, der Innenminister von Niedersachsen, kündigt an, daß 30000 Polizisten gebraucht würden. An manchen Schulen wird unterdessen gestreikt, die Schüler besetzen die Gymnasien, um die Polizisten daran zu hindern, sich dort einzuquartieren.
Und die Bauern versperren mit ihren Treckern die Zufahrtsstraßen.
4. MÄRZ
Kommunalwahlen in Hessen. Die großen Parteien haben an Stimmen gewonnen, aber nur in geringem Maße. Es ist wieder von einer großen Koalition die Rede.
»Große Koalitionen«, die Allianz von rechts und links, von CDU und SPD, gibt es bereits auf Länderebene, aber einzig und allein im Osten: in Berlin, in Mecklenburg und in Thüringen.
6. MÄRZ
Jetzt sind die Behälter also in Gorleben eingelagert.
Der Weg dorthin mußte mit Knüppeln und Wasserwerfern freigekämpft und ein paar Tausend Demonstranten von den Schienen »geräumt« werden, ehe der Konvoi im sicheren Hafen gelandet ist.
Ende des Zwischenspiels.
Aber warum das alles? fragt man sich in Frankreich. Wenn man die Zeitungen liest, die Leute hört, das Informationsmaterial der Parteien liest, findet man keine ausreichenden Erklärungen.
In Deutschland empfindet niemand diese Ausbrüche als seltsam.
Die Schriften, die die Protestverbände verbreiten, liefern schon eher Hinweise. Ihre Lektüre scheint auf einen durchgehenden Zug zu verweisen, der schon die achtziger Jahre stark geprägt hat: der Wille, »Widerstand zu leisten«, und zugleich, es in dieser Hinsicht besser zu machen als die vorhergehende Generation. In diesem Rahmen wird der »Atomstaat« von heute einem »Polizeistaat« gleichgesetzt, gegen den Widerstand zu leisten »richtig« und Gewaltanwendung legitim ist.
Hieraus spricht die fest verankerte Überzeugung, daß Atomkraft den »Tod«, eine Gefahr für das Universum bedeutet, da man die Technologie nicht wirklich unter Kontrolle habe und der Staat, der die Bevölkerung einem solchen Risiko aussetzt, folglich kriminell sei. »Wir kämpfen für das Leben«, sagen die Protestler, »und gegen die Macht- und Geldgier der Atomlobby«, fügen sie hinzu. Wir sind die Guten.
Daß sich diese Bewegung vor allem in den Reihen der Opposition, bei den Grünen und in der SPD, findet, ist ganz normal; daß die Schulen sich dem anschließen, versteht sich von selbst, da die Lehrer häufig Alt-Achtundsechziger sind. Schon erstaunlicher ist, daß sich die Bauern in einem solchen Ausmaß dieser Bewegung anschließen. Es ist anzunehmen, daß die Furcht vor der Atomkraft die von den Deutschen »am meisten geteilte« Ansicht ist -allerdings stärker im protestantischen Norden als im katholischen Süden. Ostdeutschland scheint indes noch zu zögern.
6. MÄRZ
Ich registriere, daß Tempo in Frankreich Reklame macht.
Ein Tempotaschentuch ist für einen Deutschen, was für uns ein Kleenex ist. Ein Trostspender, ein Fleckentferner, etwas, das bei einem Mißgeschick und bei den »kleinen Pannen«, die das Leben laufend mit sich bringt, Abhilfe schafft, etwas, woran man sich festhalten kann. Hast du mal ein Tempo?
Tempo macht also Werbung; wir erfahren in aller Ausführlichkeit, daß es mit seinen vier Lagen absolut »sicher« ist und beim Naseputzen nichts an die Finger kommt - zum Beweis eine saubere Hand mit über die ganze Breite des Bildschirms ausgestreckten Fingern.
Wie sollte das keine deutsche Werbung sein!
Doch Kleenex will dem nicht nachstehen: Schon tollen vor einer ländlichen Kulisse glückliche Paare umher, und das kurze Einblenden des wohlbekannten Päckchens suggeriert uns die Ursache ihres Glücks. Zweifellos eine französische Werbung.
7. MÄRZ
Kaum ist es um den Castor-Transport zur Ruhe gekommen, gibt es schon wieder Demonstrationen: Bergarbeiter aus dem Saarland und dem Ruhrgebiet protestieren gegen die Pläne der Regierung, die ihnen gewährten Subventionen zu kürzen.
Bonn möchte die zugebilligten Zuschüsse (den Kohlepfennig) von derzeit rund 9 Milliarden DM pro Jahr auf 3,8 Milliarden dm senken.
Das würde bedeuten, von den 90 000 Bergleuten, die Deutschland noch zählt, 30 000 in die Arbeitslosigkeit zu schicken. Wer wird sich mit ihnen solidarisieren?
8. MÄRZ
Aus einer Berliner Tageszeitung erfahre ich heute morgen, daß die Franzosen immer mehr Tomaten und Gurken essen und immer weniger Artischocken und Blumenkohl. Der Verzehr von Chicorée ist gleichgeblieben.
Artischocken essen wir immer noch häufiger als die Deutschen, obwohl da in den letzten fünfzehn Jahren ein gewisser Fortschritt zu verzeichnen ist: Die Au-pair-Mädchen bei uns zu Hause versuchen nicht mehr, die ganze Artischocke zu verspeisen. Aber an den Zahlen von Credoc ist ganz deutlich abzulesen, daß immer mehr französische Frauen berufstätig sind... und die Rezepte ihrer Mütter immer mehr in Vergessenheit geraten. Das erwähnt der Artikel nicht.
10. MÄRZ
Die Demonstrationen gehen weiter, die Bergleute sind auf der Straße; in Düsseldorf haben 5.000 demonstriert, im Saarland werden weiterhin die Autobahnen blockiert.
Aus diesem Grund hat Rau, der sozialdemokratische Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, eine »Kohlekonferenz« einberufen. »Die Teilnehmer, die Landesregierungen von Nordrhein-Westfalen und dem Saarland, Vertreter politischer Parteien, der Wirtschaft, von Gewerkschaften und Kirchen sowie Kommunalpolitiker aus den Revierstädten, zeigten sich in einer Düsseldorfer Erklärung >bestürzt über die Ankündigung der Bundesregierung zur künftigen Finanzierung der heimischen Steinkohle<«, schreibt die Zeitung.
Es könnte kein besseres Beispiel dafür geben, wie man in Deutschland mit Konflikten umgeht. Alle nehmen daran teil.
13. MÄRZ
Liebenberg
Im März spazierenzugehen ist schauderhaft. Es regnet, es ist ungemütlich, aber selbst bei strahlender Frühlingssonne - oder an einem prachtvollen Wintertag - kann ich mir nicht vorstellen, daß dieser Ort jemals Lebensfreude ausgestrahlt hätte.
Dazu muß man wissen, daß Liebenberg lange Zeit hindurch von der Nomenklatura der DDR genutzt wurde (hohe Parteifunktionäre verbrachten hier die Wochenenden).
Mag auch das übliche Linoleum fehlen - statt dessen gibt es überall glänzendes Parkett -, mag man auch überall die Absicht spüren, diesem Schlößchen einen besonderen Anstrich zu verleihen, an diesem Ort schlägt einem noch immer jene Atmosphäre von Gleichgültigkeit oder unbesonnener Achtlosigkeit entgegen, die all die Orte dieser Art, die ich mir in Osteuropa habe ansehen können, kennzeichnet - als wenn vierzig Jahre lang dort niemand ein Gespür für etwas gehabt hätte, jedenfalls für nichts, was den Alltag ausmacht. Und trotzdem hat man sich Liebenberg als einen glücklichen Ort vorzustellen: 1906 nördlich von Berlin in der Nähe von Gransee erbaut, hat es eine Familie, Kinder, eine ganze Sippschaft beherbergt, es war das Seehaus »des jungen Paars«, während das große Schloß daneben, von dem praktisch nichts erhalten ist, dasjenige war, welches Fontane gekannt hat.
Die Räume mit ihren ausgewogenen Maßen haben immer noch etwas Ansprechendes, doch ebenso wie man sich diesen Ort nur schwer als einen glücklichen vorstellen kann, bedarf es reichlicher Vorstellungskraft, um sich zu vergegenwärtigen, daß eben hier der Skandal ausbrach. Denn Liebenberg gehörte den Eulenburgs.
Die Eulenburg-Affäre: eine gespenstische Geschichte, die in der besten Tradition der Vermischung von Affären und Politik die Klatschseiten der Berliner Skandalchronik füllte. Und wenn es bei den Hohenzollern um einen Sittenskandal geht, steckt sehr häufig eher ein Mann als eine Frau dahinter.
Das heißt nicht, daß es in Deutschland keine weibliche Tradition gegeben hätte: Königin Luise, feinsinnig, schön, kultiviert, die Seele des Widerstands gegen Napoleon, die es vorzog, ins Memelgebiet zu fliehen, anstatt in Berlin zu bleiben, hat die Zuneigung ihres ganzen Volkes gewonnen; eine Marie von Thadden, aus der pietistischen Bewegung kommend, hat großen Einfluß auf Bismarck ausgeübt, den sie drängte, eine ihrer Freundinnen zu ehelichen; eine Bettina von Arnim oder eine Karoline Schlegel oder auch eine Henriette Vogel, die sich gemeinsam mit Kleist das Leben nahm, die Berliner Salons usw.
Aber daneben gibt es in Deutschland eine Tradition, die man die des Jünglings nennen könnte und der auch die Eulenburg-Geschichte zuzuordnen ist. Der Begriff des Jünglings, unübersetzbar im Französischen, ist eine Art Umschreibung des idealen jungen Mannes, der etwas vom Studenten, Ritter, Pagen und von jenem jungen Epheben hat, der sich seit Jahrhunderten in allen bürgerlichen Salons aus der Ferse den bekannten Dorn zieht, etwas auch vom fanciullo col delfino - nach deutscher Art. Er taucht in vielen Balladen auf, wo er in der letzten Strophe eines schaurig-schönen Todes stirbt. Er ist auf den Gemälden der Nazarener zu sehen, jener deutschen Maler, die sich in Rom zu einer Art Geistesgemeinschaft zusammengeschlossen hatten, er befand sich im Kreis um den Dichter Stefan George, und es muß ihn wohl auch irgendwo im Tabakskollegium gegeben haben, jenem Rauchsalon, wohin sich der Soldatenkönig mit seinen Kompagnons zurückzog, so wie er es auch Friedrich II erleichtert haben muß, sich mit seinen Hunden zu begnügen (mit denen er doch immerhin begraben sein wollte).
Es handelt sich nicht um Homosexualität, zumindest nicht um offen bekundete, wie sie etwa für Henri III. in der französischen Geschichte verbürgt ist. Eher handelt es sich um eine in der geistigen Biographie der Deutschen vorhandene Sinnesart, die bei uns weniger entfaltet ist (wenngleich wir uns an den Prince Erik aus den Abenteuerbüchern unserer Kindheit erinnern). Es ist eine Art Verherrlichung männlicher Exklusivität, ein gewisser Hang zu einer Freundschaft unter Auserwählten, wie man sie nur selten findet.
Das Ende des vergangenen Jahrhunderts liefert dafür edle Beispiele. So schreibt Kanzler Bülow in seiner Jugend beispielsweise an Eulenburg: »Als Du mich mit dem brüderlichen Du anredetest, kamst Du den Wünschen wie dem Gefühl meines Herzens entgegen... Als schwesterliche entstiegen einst unsere Seelen dem rätselhaften Born alles Daseins; nur andere Hüllen und verschiedenfarbige Flügel wurden uns gegeben... Die höhere Einheit, in welcher wir uns begegnen, ist das völlige gegenseitige Verständnis, welches zur Sympathie führt und zu jener Harmonie zwischen zwei Menschen, die das Köstlichste ist, was dieses arme Leben bieten kann... Solange ich lebe, mein lieber Philipp, wirst Du an mir einen treuen Freund haben.«
Man mag die Worte und den Ton heute belächeln, aber die darin enthaltene ätherische Auffassung von der Seelengemeinschaft, der feste Glaube an die Freundschaft und die Treue stehen in einer Linie mit den großen Tugenden, die den Ruf der Deutschen begründet haben: Mut, Selbstaufopferung, Zielstrebigkeit.
Was in der wilhelminischen Epoche häufig zur bloßen Kasino-Schnöselei (Generäle im Ballettröckchen) verkommt, findet sich in pervertierter und korrumpierter Form im Nationalsozialismus wieder, der die in Filmen weidlich ausgeschlachtete Variante des Homosexuellen hervorgebracht hat, wie sie beispielsweise jene SA-Männer verkörpern sollen, die sich in der Nacht des »Röhm-Putsches« am Chiemsee bei München Orgien hingeben.
Wahrscheinlich hätten die Nazis nicht so leichtes Spiel gehabt, diesen Teil der deutschen Tradition zu mißbrauchen und zu verfälschen, hätte es in Deutschland einen vertrauteren Umgang mit dem Sexuellen gegeben, wäre es stärker in das öffentliche Leben integriert worden. Aber es ist nun einmal eine Tatsache, daß es in Deutschland - entweder ins Sublime erhoben oder in den Bereich des Vulgären abgeschoben - häufig ausgegrenzt wurde.
Das ist auch heute noch so, man sieht Sex, aber spricht nicht davon. In den Städten ist er allgegenwärtig, in den Eros-Centern, auf den Fotos in den Auslagen der Zeitungshändler, in den vermischten Nachrichten, aber er zählt nicht wirklich zu den Dingen, die sich gehören.
Es ist ein Gemeinplatz unter Germanisten, daß in Deutschland das Vokabular der Schimpfwörter vor allem skatologischer Natur ist, während die Franzosen eher ein Vokabular mit sexuellem Sinngehalt verwenden (allerdings stelle ich im Gegensatz dazu fest, daß sich bei den deutschen Jugendlichen das Wort >geil als Ausdruck der Zustimmung definitiv eingebürgert hat, während die Franzosen unweigerlich alles, was nicht ihre Zustimmung erhält, »besch...« finden).
Dennoch würde ein Politiker in einer politischen Rede niemals ein Wort mit sexuellem Anstrich verwenden, auch nicht, wenn es der psychoanalytischen Sprache entstammt; nichts in einem deutschen Parlament könnte zum Beispiel etwas von einem »Phallussymbol« an sich haben.
Die Anzüglichkeit, der etwas freie Scherz, der anstößige Witz, die Stammtischzote, die schlüpfrigen Untertöne und frivolen Sprüche sind in Deutschland ebenso wie die mitschwingende Erotik, die obszöne Anspielung, die gewagte Anekdote und die unanständige kleine Geschichte aus einer normalen Unterhaltung verbannt und in Gegenwart von Frauen ausgeschlossen. Im Deutschen würde das übrigens auch peinlich klingen.
In Frankreich treibt man es mitunter freilich auf die Spitze; manche Radiosendungen, die sich durchgängig dieses lockeren Tons bedienen, sind ausgesprochen vulgär; Les Grosses Tetes von Philippe Bouvard aber wären in Deutschland undenkbar, und Johnny Hallyday könnte dort nicht Que je t'aime singen.
In Deutschland scheinen die Leute, noch mehr als in Frankreich, tagsüber ihre Nächte zu vergessen.
Unter diesen Umständen also konnte Philipp Eulenburg nur unrettbar verloren sein, als die Presse, mittels des Journalisten Harden, ihre Attacken gegen ihn begann und ihm unterstellte, den Kaiser korrumpiert und seine unheilvollen Neigungen bestärkt zu haben.
Der Kaiser verteidigte ihn nicht.
14. MÄRZ
Eulenburg (Fortsetzung)
Nach seinen Briefen zu urteilen, scheint »Phili« Eulenburg in Wirklichkeit vor allem entzückt gewesen zu sein über die Bewunderung, die ihm der junge Herrscher entgegenbrachte, ihm, der dichtete, komponierte und mit soviel Innigkeit seine nordischen Balladen vortrug. Jedenfalls hatte er das Verlangen, diesen jungen Prinzen zu beschützen, der so früh Herrscher wurde und auf dem die Welt so schwer lastete.
Dies ist nicht das Bild, das uns in Frankreich von ihm überliefert ist. Stimmt das, welches uns letzten Winter vorgeführt wurde? Denn den ganzen Winter über haben wir uns in Frankreich gegen Mitternacht jeden Sonntagabend fröstelnd vor den Fernseher gehockt und uns alle diese »zerschmetterten Adler« angeschaut: wie sie auf Yachten und auf Hochzeiten tanzen, sich auf Empfängen begrüßen und bei Paraden salutieren, alle diese Hohenzollern, Romanows, die von Habsburg und von Sachsen-Coburg-Gotha, alle miteinander versippt und verschwägert; und wir haben sie mit ihrem traurigen Lächeln, ihre Welt unter sich begrabend, in den Abgrund stürzen sehen.
Wie allein und isoliert daneben Frankreich auf dem Bildschirm schien! Und das war es in den Köpfen dieser Leute tatsächlich, insbesondere bei dem, der unter all diesen leichten Geschöpfen ein bißchen aus dem Rahmen fällt. Neben den so schönen Romanow-Töchtern oder Zita von Habsburg, neben der bildhübschen Königin Mary und Georg V., der seinem Vetter, Zar Nikolaus II, so erstaunlich ähnlich sieht, wirkt Kaiser Wilhelm mit seinem Arm immer ein wenig wie das häßliche kleine Entlein.
Etwas von diesem Gefühl spürt man auch in seinen Memoiren, die er im holländischen Exil schrieb und die 1922 in Leipzig erschienen sind. Er muß ständig etwas kompensieren, sich ständig für etwas rechtfertigen, sich über all diejenigen entrüsten, von denen er nicht genügend anerkannt wird, zuallererst über seinen kranken, fernen Vater, dann natürlich über Bismarck und über seine Großmutter Königin Victoria, die ihm Briefe »in großmütterlichem, aber zugleich autoritärem Ton« schreibt. Und der Zar sieht die Bemühungen Deutschlands, in China Handelsniederlassungen zu eröffnen, auch nur ungern, während Eduard VII., nach Victoria, immer deutlicher eine »Umzingelungspolitik« betreibt. All das ist ungerecht, zu ungerecht für ein starkes, fleißiges, leistungsfähiges Land, für einen ehrbaren, frommen Herrscher, um das Wohl seines Volkes besorgt und vor allem daran interessiert, dieses Land zu modernisieren. Wilhelm II. hat die Herausforderungen, die die moderne Zeit, die Industrialisierung und die Technik stellten, sehr wohl begriffen. So ist denn, wie er es wiederholt zum Ausdruck bringt, seine Armee sein ganzes Leben gewesen, sie war sein ganzer Stolz, für sie habe er gearbeitet, für sie habe er gelebt. »Bei meinen Soldaten habe ich mich heimisch gefühlt«, und die Flotte, die es seinem Volk endlich erlauben sollte, sich zu verteidigen, ist für ihn, ebenso wie für Tirpitz, eine Herzensangelegenheit gewesen. »Die deutschen Werften gingen, von ihm ermuntert und angefeuert, mit deutschem Wagemut getrost an die große Aufgabe heran. Sie haben diese glänzend gelöst und dabei ihre ausländischen Konkurrenten weit überholt. Das vorzügliche technische Können der deutschen Ingenieure sowie die bessere Bildung des deutschen Arbeiterstandes kamen hierbei zur vollen Geltung... Das Volk wachte auf, fing an, über den Wert der Kolonien (eigene Rohstoffversorgung ohne Vermittlung des Auslandes!) und Handelsbeziehungen nachzudenken und sich für Handel, Schiffahrt und Reederei usw. zu erwärmen.«
Soweit zur Politik. Und zur Religion? Wilhelm II. glaubt an die Offenbarung: Gott offenbare sich »bald in diesem oder jenem großen Wesen oder Priester oder König, sei es bei den Heiden, Juden oder Christen. Hammurabi war einer, Moses, Abraham, Homer, Karl der Große, Luther, Shakespeare, Goethe, Kant, Kaiser Wilhelm der Große. Die hat er ausgesucht und Seiner Gnade gewürdigt, für ihre Völker... Herrliches, Unvergängliches zu leisten. Wie oft hat mein Großvater dieses nicht ausdrücklich betont, er sei ein Instrument nur in des Herrn Hand.«
Was den Katholizismus betrifft (er rühmte sich, ihn nicht zu unterdrücken, wie es Bismarck tat), sieht er Papst Leo XIII. ein letztes Mal vor dessen Tod im Jahre 1903 und empfängt seinen apostolischen Segen, »für mich, die Dynastie und das Deutsche Reich... Interessant war mir, daß der Papst mir bei dieser Gelegenheit sagte, Deutschland müsse das Schwert der katholischen Kirche werden. Ich wendete ein, daß das alte römische Reich deutscher Nation doch nicht mehr bestehe, daß die Voraussetzungen andere geworden wären. Aber er blieb dabei.«
Begreiflich, daß in einem solchen Weltbild Frankreich nur schwer einen Platz fand.
Zar Alexander III. (mit dem er sich besser versteht als später mit dessen Sohn Nikolaus II.) und er klagen einander - auf französisch - ihr Leid: »... dieser gräßliche Berliner Kongreß... Es ist die Schuld des Kanzlers... Er hat unsere alte Freundschaft zerstört... und das Gefühl eingegeben, der russischen Armee nach ihrem blutigen Feldzug von 1877 schweres Unrecht zugefügt zu haben.«
»Und«, ergänzt Alexander, »jetzt sind wir also mit dieser verfluchten französischen Republik zusammen, die voller Haß gegen Euch ist und voller subversiver Ideen, die uns im Falle eines Krieges gegen Euch unsere Dynastie kosten werden!«
Was Wunder, daß Wilhelm II. an diesem Land, abgesehen von der Sprache, vor allem die »subversive« Seite wahrnimmt. Ein laizistisches, in seinen Augen also ein »religionsloses« Land, ein Land ohne rechtes Maß, schwankend zwischen Bonapartismus und Revolution und einem absurden Gleichheitswahn frönend, mit dem es die deutschen Sozialdemokraten infiziert und diesen so »richtigen« Wahlspruch der Hohenzollern, »Suum cuique« - »Jedem das Seine« -, gefährdet.
Ein Land schließlich, dessen Ambitionen die eigenen Möglichkeiten übersteigen und das nur davon träumt, »Revanche für Sedan« zu üben und das sowohl historisch wie ethnisch doch eindeutig deutsche Elsaß zurückzugewinnen.
In diesem Denken kam auch nicht die geringste Auseinandersetzung mit der Ideologie der Revolution und folglich der Französischen Republik vor, ein Mangel, den fatalerweise die überwältigende Mehrheit seines Volkes, die Aristokratie und das Bürgertum, mit dem Kaiser teilte... Die Sozialdemokraten rekrutierten sich natürlich aus den Kreisen der Arbeiter.
Dieses Unverständnis führte dazu, in Frankreich nurmehr einen Teil jenes »gallo-angelsächsischen« Bündnisses der Entente zu sehen, deren Expansionsbestrebungen große Beunruhigung auslösten und Wilhelm II. zufolge dazu beitrugen, auf einen Krieg hinzusteuern, »den Deutschland nicht gewollt haben konnte, denn die seit langem feststehenden Ziele der Alliierten könnten dadurch verwirklicht werden, Deutschland hingegen hätte auf keinen Fall etwas zu gewinnen«. Nichts einleuchtender als das.
An all diese Dinge muß man denken, wenn man Liebenberg besucht, an diese ganze versunkene Welt, deren Spuren man wieder nachgehen kann.
Was mögen die Ostdeutschen nach vierzig Jahren kommunistischer Herrschaft darüber denken?
15. MÄRZ
Etwa zur selben Zeit, da Marie Darrieussecqs Roman Schweinerei in Deutschland sein Publikum findet, hat ein sehr deutsches Buch, Der Vorleser von Bernhard Schlink, in Frankreich das seinige gefunden.
Es ist freilich seltsam, daß dieses durch und durch deutsche Buch in Frankreich ein solch starkes Echo hervorgerufen hat. Es geht um die Liebesbeziehung eines Jungen von fünfzehn Jahren mit einer Frau von über dreißig, von der er nichts weiß - vor allem nicht, daß sie Analphabetin ist und Aufseherin in einem Konzentrationslager war.
Er erfährt es erst - nachdem er sie seit langem aus den Augen verloren hatte - als er sie als Jurastudent während eines KZ-Prozesses zufällig wiedersieht.
Das Thema des »Nazismus« wird sehr unaufdringlich behandelt. In dem Roman geht es um die psychologische Analyse der Personen. Alles ist so ungemein »echt« (man möchte schwören, daß es zumindest teilweise autobiographisch ist); insbesondere die soziologische Analyse stimmt, die Atmosphäre der fünfziger und sechziger Jahre ist ausgezeichnet wiedergegeben.
Was berührt die Franzosen in einem solchen Maße an dieser ersten Liebe eines Halbwüchsigen im Deutschland des Wiederaufbaus? Haben wir dazu schon soviel Abstand, daß wir die gleiche Sehnsucht nach den Jahren der Unschuld, nach der Einweihung in die Liebe, nach jenen Lehrjahren verspüren? Droht uns angesichts der ernüchternden Neunziger die gleiche tiefe Niedergeschlagenheit und Mutlosigkeit zu befallen? Kurzum, ist es paradoxerweise die Frische des Buches, die uns, Franzosen wie Deutsche, so gefangennimmt?
Sind die fünfziger Jahre bereits zu unserer gemeinsamen Jugend geworden?
16. MÄRZ
Im Konflikt zwischen Bergarbeitern und Regierung zeichnet sich endlich ein Kompromiß ab. Alle Beteiligten haben finanzielle Zugeständnisse machen müssen. Der Bundeshaushalt wird die bis zum Jahre 2005 vorgesehene Gesamtsumme (55,3 Milliarden) mit einer Finanzhilfe von 1,65 Milliarden für die Kohlekraftwerke, die Stahlwerke und die Grubenschließungen aufstocken. Hinzu kommen 1,6 Milliarden DM für das Saarland, das zu arm ist, um selbst etwas beizusteuern. Nordrhein-Westfalen wird zu den bereits vorgesehenen 8,86 Milliarden noch 750 Millionen dazugeben, und die Kohleindustrie wird zwischen 2001 und 2005 einen Betrag von einer Milliarde DM entrichten, der aus den Gewinnen der Tochtergesellschaften abgezogen wird, die nicht im Kohlegeschäft angesiedelt sind.
Die abschließende Diskussion zwischen dem Kanzler und dem Vorsitzenden der IG Bergbau fand im Beisein des Wirtschaftsministers, der Vorstandspräsidenten von Ruhrkohle und Saar-Bergbau statt, meldet die Zeitung. Für ein Land, das den Wirtschaftsliberalismus predigt und schnell dabei ist, die Subventionierungen bei anderen anzuprangern, immerhin ein schönes Ergebnis. Aber man muß verstehen, daß das Länder- und Gewerkschaftsgleichgewicht in Deutschland davon abhängt.
18. MÄRZ
Ich nehme an einer Expertenrunde teil. Es geht um die Zusammenarbeit auf kulturellem Gebiet. Man stößt auf die übliche Schwierigkeit: die Hoheit der Länder in diesem Bereich (der Bund, die Bundesregierung, hat nichts zu sagen...).
Ein Franzose beklagt, daß insbesondere in manchen Ländern, an bestimmten Schulen, nur eine Fremdsprache Pflicht sei, denn selbstverständlich würde dann Englisch gewählt werden. Könnte man nicht... so wie in Frankreich... bei den Ländern darauf dringen, daß zwei Fremdsprachen unterrichtet werden?
»Nein und abermals nein«, ruft sein deutscher Amtskollege empört dazwischen, »unmöglich, die freie Entscheidung der Länder auf irgendeine Weise zu beschneiden!« Und einlenkend fügt er hinzu: »Führt die Situation in der Praxis denn nicht in beiden Staaten zum gleichen Ergebnis?
Die Schulen, die bis zum Abitur gehen, bieten zwei Sprachen an, manchmal sogar drei; die anderen, die früher aufhören, verlangen von ihren weniger begabten Schülern nur eine Sprache, um das Risiko eines Mißerfolgs nicht noch zu erhöhen - und das ist an französischen Schulen ganz sicher genauso...«
Schweigen in den Reihen der französischen Delegation...
Wie soll man auch die Auffassung vom gleichen Recht auf gleiche Bildung für alle vermitteln?
Nicht einmal die Radikalsten unter den deutschen Linken haben sich diese Idee jemals ernsthaft auf ihre Fahnen geschrieben. Die Gesamtschule, die vornehmlich in den SPD-regierten Ländern anzutreffen ist und allen sozialen Schichten einen gemeinsamen Grundlehrstoff anbietet, ist fast überall ganz offensichtlich gescheitert.
Seither hat sich die Überzeugung wieder durchgesetzt, daß alles aufs Beste bestellt ist, wenn jeder bei seinem Leisten bleibt. Die Angst vor dem échec scolaire, dem Versagen in der Schule, bringt weder die Eltern noch die Kinder um ihren Schlaf, und das Abschlußzeugnis entscheidet in keinem Fall über das gesamte Berufsleben..., und auch wenn es in Deutschland Selfmademan-Karrieren gibt, wie es die Lebensläufe von manchen Vorstandsmitgliedern belegen, wird daraus weder eine Theorie noch ein Mythos gemacht. Keine »Meritokratie«: Der Gastwirt wird nicht - wie Murat unter Napoleon - Marschall von Frankreich, das Bäuerlein, das barfüßig durch den Schnee läuft, wird nicht, dank des wachsamen Auges seines Lehrers, zum Ambassadeur de France - zum »Botschafter Frankreichs« - aufsteigen, und Gigi, die Heldin in Colettes gleichnamigem Roman, wird nicht den Erben der Zuckerfabrik Lachaille heiraten, noch der Prinz die Schäferin, und warum sollten sie auch? Jeder steht an dem Platz, wo ihn Gott hingestellt hat, und so soll es auch bleiben.
20. MÄRZ
Zwei deutsche Freunde, auf der Durchreise in Paris, sind auf ein Glas Wein zu mir nach Hause gekommen.
Einer von ihnen, ein früherer FDP-Abgeordneter, ist Umweltexperte.
»Manfred, da du gerade hier bist, erklär mir doch mal Garzweiler. So ein unsinniges Projekt, eine ganze Region aus Gründen der Energiegewinnung zu verwüsten - und dann noch für eine solche umweltschädliche Energie!«
»Sieh mal, es handelt sich doch lediglich um fünfzig Quadratkilometer, ihr habt dieselben Sachen gemacht mit euren Staudämmen, am Verdon zum Beispiel. Man verspricht sich dadurch eine Menge Arbeitsplätze..., und außerdem ist man sich zumindest im klaren darüber, was man tut. Ich erinnere mich, als ich noch ein junger Abgeordneter war, an eine Zusammenkunft mit französischen Politikern zur Kernenergie. Ich habe eine Frage zur Müllaufbereitung gestellt, worauf der Präsident der Kommission mir herablassend auf die Schulter klopfte und erwiderte: >Wir haben das schon alles geregelt, junger Mann...<
Gar nichts ist geregelt..., und Garzweiler kann, wenn die Braunkohle abgebaut ist, wieder erschlossen und rekultiviert werden.«
20. MÄRZ
Ich habe in Deutschland noch nie eine Bemerkung, sei sie auch noch so harmlos, zum ewigen Thema »sie und wir« fallenlassen können, ohne daß man mir nicht sofort vorgeworfen hätte, von den Deutschen zu reden, ein Begriff, der - nach einem offenbar allgemein verbreiteten Empfinden - nicht existieren würde.
Seit der Wiedervereinigung stelle ich allerdings eine zunehmende Akzeptanz dieses Solidaritätsbegriffs fest. Man sagt sogar mehr und mehr »wir Deutschen«, ohne daß das
grammatische Kardinalproblem damit gelöst wäre: Muß es nun »wir Deutsche oder »wir Deutschen« heißen?
Abgesehen davon frage ich mich dagegen immer wieder, wie man ständig so viele Gattungsbegriffe verwenden kann, für die wir im Französischen kaum eine Entsprechung haben: »Die Wirtschaft wird niemals akzeptieren...«, »das entspricht nicht den Auffassungen des Handwerks...« usw. Bis ich heute die folgende Frage hörte (es ging um die Erzeugung von genmanipulierten Maissorten): »Herr Generalsekretär des Bauernverbandes (das Gegenstück zur FNSEA bei uns), werden sich die deutschen Bauern freiwillig dafür einsetzen, diese Sorten als genmanipuliert zu kennzeichnen?« Beim Beschwören dieser Geschlossenheit der deutschen Bauern tauchte sofort jenes Institut des Bauernverbandes in Bayern vor mir auf, das mich eingeladen hatte, seinen Mitgliedern zu erläutern, was ich über Europa zu sagen hätte. In dem prächtigen, holzgetäfelten Saal mit dem Kruzifix an der Wand lauschten alle diese Landwirte mit ihrem ausgeprägten Dialekt und ihren Lederhosen und -Westen andächtig meinen Ausführungen, was Europa über die gemeinsame Agrarpolitik hinaus aus französischer Sicht noch bedeuten könnte. Ich hatte wieder einmal den Eindruck, eine dieser Weihnachtspyramiden vor mir zu sehen: Ganz unten die Hirten, die ihre Landesvertreter in die Etage darüber entsenden, die ihrerseits den obersten Chef wählen - Freiherr von Heereman, seit annähernd zwanzig Jahren regelmäßig wiedergewählt (nach den letzten Nachrichten nicht mehr) -, und das Ganze durch den warmen Schein der Kerzen der Intelligenz und der guten Organisation in Gang gehalten... Vielleicht ist dies der Grund, warum man im Deutschen so viele Gattungsbegriffe verwendet.
22. MÄRZ
Wer will, kann mich wegen meiner Bemerkung zu den Weihnachtspyramiden und den Gattungsnamen in Deutschland der Falschaussage bezichtigen: Es gibt in Deutschland keinen Gattungsbegriff für magistrature, im Deutschen gibt es »Richter« und »Staatsanwälte«; und, unglaublich, aber wahr, es gibt auch keine einheitliche Bezeichnung für charcuterie - Fleisch- und Wurstwaren (köstlich oder zu fett) -, dafür gibt es Wurst, Schinken, Speck, Gepökeltes..., und das in Bonn ebenso wie in Berlin.
In den Zeitungen sind Fotos von den Baggern in Garzweiler zu sehen: Die Maschinen von 220 Meter Länge und einem Gewicht von 1300 Tonnen scheinen aus einem Science-Fiction-Film oder von einer der großen Baustellen Australiens zu kommen. Grüne Alpträume.
24. MÄRZ
Richard Schröder ist auf der Durchreise in Paris. Ein ostdeutscher Intellektueller, Mitglied der letzten und einzig frei gewählten Volkskammer der DDR und danach eine Zeitlang SPD-Abgeordneter im Bundestag, der bereitwillig auf den Begriff der Nation und auf ihre Bedeutung für das neue Deutschland eingeht. Das ist allzu selten der Fall, als daß es nicht auffallen würde.
Er spricht vom Osten.
»Aber nein, diese DDR-Nostalgie darf sich nicht festsetzen«, sagt Richard Schröder, »am besten, man ruft sich die kleinen Geschichten wieder ins Gedächtnis, die damals in der Bevölkerung die Runde machten, die von den sieben Wundern zum Beispiel:
- Erstes Wunder: Obwohl niemand arbeitslos ist, hat die Hälfte der Leute nichts zu tun.
- Zweites Wunder: Obwohl die Hälfte der Leute nichts zu tun hat, fehlt es an Arbeitskräften.
- Drittes Wunder: Obwohl es an Arbeitskräften fehlt, erfüllen und übererfüllen wir den Plan sogar.
- Viertes Wunder: Obwohl wir alle Pläne erfüllen und sogar übererfüllen, gibt es in den Läden nichts zu kaufen.
- Fünftes Wunder: Obwohl es in den Läden nichts zu kaufen gibt, haben die Leute fast alles, was sie brauchen.
- Sechstes Wunder: Obwohl die Leute fast alles haben, was sie brauchen, beklagt sich die Hälfte pausenlos.
- Siebentes Wunder: Obwohl sich die Hälfte pausenlos beklagt, stimmen 99,9 Prozent für die Kandidaten der Nationalen Front<...«
25. MÄRZ
»Ein Mann mit Charakter fährt Punto.« »Eine Frau mit Charme fährt Punto.«
Die Agentur, die Fiat mit der Werbung beauftragt hat, weiß sehr wohl, daß ein solcher Slogan nur in Frankreich ankommen kann; in Deutschland wäre er, schätze ich, von den Frauenverbänden als sexistisch attackiert worden.
26. MÄRZ
Ich muß um so mehr an diese Werbekampagne von Fiat denken, als ich heute in Berlin eine junge Frau sagen höre: »Nein, nein, sie möchte ihr Auto lieber in einer Tiefgarage parken, die ein bißchen weiter weg von unserem Treffpunkt liegt: Da gibt es Frauenparkplätze«
27. MÄRZ
Gründonnerstag
Heute ist Gründonnerstag, die übliche Bezeichnung für den jeudi saint, den Heiligen Donnerstag.
Und heute ist der von Krupp festgelegte Stichtag für eine Einigung mit Thyssen, andernfalls würde erneut das offizielle Kaufangebot von Krupp an die Thyssen-Aktionäre gelten.
Die geplante feindliche Übernahme von Thyssen durch Krupp hat viel Staub aufgewirbelt. Die Rolle der Banken, die ihre Fäden in alle Richtungen zu spinnen und sowohl den Angreifer als den Angegriffenen zu unterstützen scheinen, ist in diesem Zusammenhang sehr angefochten worden.
So etwas zählte in Deutschland bis jetzt zu den Dingen, die »sich nicht gehören«.
28. MÄRZ
Karfreitag
In Deutschland ist heute Feiertag.
Für das protestantische Deutschland ist der Tag vielleicht noch wichtiger als Weihnachten, weil er dramatischer und tiefgründiger ist. An diesem Tag hört man die Matthäuspassion.
Undenkbar, daß das Ultimatum von Thyssen am Karfreitag auslaufen würde.
29. MÄRZ
Der Osterhase hat seine Eier vorbereitet.
Alle Kinder in Deutschland haben welche angemalt, und in jeder Familie steht im Flur oder im Wohnzimmer ein »Osterstrauß« aus Forsythien- oder anderen Blütenzweigen, an denen bemalte Eier hängen.
30. MÄRZ
Ostern in der Lausitz
Seitdem sich das vereinte Deutschland wieder bis zu Oder und Neiße erstreckt, hat es eine Region hinzubekommen: die Lausitz. Hier, in der Gegend um Bautzen und Kamenz, einem Teil Sachsens, leben die Sorben, eine slawische Minderheit, die ihre Sprache und ihre Traditionen bewahrt hat.
Daß jede Region ihre eigenen Bräuche hat, ist für uns Franzosen etwas ganz Normales: Nach der Messe tanzen Folkloregruppen auf dem Dorfplatz oder treten im Festsaal auf. Aber in Bautzen hatten sich 48 000 Schaulustige eingefunden, um das Osterreiten der katholischen Sorben mitzuerleben. Singend und betend die Auferstehung Christi verkündend, formierten sich von verschiedenen Kirchen aus die 1 600 Reiter im schwarzen Frack und Zylinder auf ihren Schimmeln zu langen Prozessionszügen, die dann alle an einer bestimmten Stelle zusammentrafen.
Ob es sich nun um den Karneval oder die Bergleute handelt, die mit ihrem Wortschatz und ihren Traditionen gleichfalls eine Welt für sich bilden, um die Bayern oder andere Gruppen, man ist immer wieder erstaunt, wie ausgeprägt und weitverbreitet der Sinn für Folklore in Deutschland ist.
Dasselbe gilt übrigens auch für die Prozessionen, die freilich nichts Folkloristisches an sich haben. In Frankreich sind Prozessionen mitten durch die Stadt nicht - oder nur schwer - vorstellbar. Es ist noch nicht allzulange her, daß ich in Bonn zu einem wichtigen Treffen beinahe zu spät gekommen wäre: Der Verkehr war durch einen endlosen Fronleichnamszug völlig zum Erliegen gekommen.