2. AUGUST
In einem Hotel an der italienischen Riviera, wohin ich für ein paar Tage einen hübschen kleinen Abstecher gemacht habe, stoße ich an der Bar auf eine Zeitung: »Riviera-Côte d'Azur-Journal< mit dem Untertitel »Provence-Languedoc-Roussillon-Korsika-Monaco-Piemont - Kultur und Wirtschaft-:.
Auf der ersten Seite sieht man ein Foto von Saint-Tropez mit Louis de Funes als Polizist, eine Werbung für ein Hotel in San Remo sowie einen Aufruf zu den Katholischen Weltjugendtagen mit der »Bildung einer sechsunddreißig Kilometer langen Menschenkette«.
Auf den Innenseiten findet man alle Kulturprogramme von der ligurischen Küste und alles, was man über die Steuerkontrollen in Frankreich wissen muß. Außerdem Bilder von Persönlichkeiten, Werbung für Fluggesellschaften und Artikel zu Themen wie »Leben und arbeiten dort, wo andere Urlaub machen«.
Das »Europa der Regionen« ist für manche (übrigens eher für Deutsche als für Franzosen) bereits eine Realität. Hier handelt es sich freilich auch um ein Europa der Reichen, vor allem aber kündet es von einer langjährigen Vertrautheit. Wird sich eine solche Vertrautheit im Osten ebenso rasch einstellen? Wird zum Beispiel die Euro-Region Sachsen-Böhmen-Schlesien, die in Dresden Kurt Biedenkopf vorschwebt, alsbald ihre Zeitung in den Hotelbars auslegen und ihren entsprechenden Gendarmen präsentieren?
5. AUGUST
Eine kühle Sommernacht in der Provence, nichts Ungewöhnliches, wenn man etwas weiter weg von der Küste ist.
Man muß wohl noch unter dreizehn sein, um mit einer solchen Lust um elf Uhr abends in das erleuchtete Schwimmbecken zu springen. Ich schaue mit Vergnügen zu, wie sich die Körper unserer Kinder im Wasser spiegeln und phantastische Schatten auf die Lorbeerbüsche werfen, als sich der kleine Trupp auf einmal, offenbar von etwas Neuem angezogen, in der hintersten Ecke des Beckens zusammendrängt und Schreie höchsten Erstaunens ausstößt.
Sie haben einen dicken Frosch gefunden, oder auch eine Kröte, für diese Stadtkinder etwas Ungewohntes. Es sind
an die zehn Kinder, zur Hälfte deutsche und zur Hälfte französische, die der Sommer hier zusammengeführt hat
und die sich jetzt auf die Eltern stürzen: Sie wollen einen »Käfig« für den Frosch haben, (Sie? Nein, Louis ist es, der einen Käfig möchte, und Victor; und Axel sucht schon nach etwas Geeignetem. Aber Andreas und Florian brummen vor sich hin: »Der arme Frosch, laßt ihn doch in Ruhe.« Die Fronten sind sehr schnell klar: Die französischen Kinder wollen ihren Frosch, die Deutschen wollen das Glück des Froschs.
Wo haben sie das gelernt? Wer hat ihnen gesagt, daß der Begriff Umwelt in Deutschland und in Frankreich eine unterschiedliche Bedeutung hat, wer hat ihnen erklärt, daß »zivilisieren« in Frankreich heißt, die Natur, die man als etwas außerhalb des Menschen Befindliches empfindet, zu verbessern, sie zu »unterdrücken«, während ein Deutscher in der Natur völlig aufgeht und sich als deren festen Bestandteil - einschließlich der Tiere, seiner Brüder - versteht.
Haben Schule, Familie, Fernsehen schon so weit ihr Werk getan, daß sie diese kleinen Franzosen in streitbare Rationalisten, kalte Beobachter der Natur, und diese kleinen Deutschen in geradezu animistische Pantheisten verwandelt haben, die mit der Natur bangen und beben?
Entfaltet sich die Seele auf andere Weise, wenn man als Kind »Die Mutter schüttelt's Bäumelein, da fällt herab ein Träumelein« und »Leise, Peterle leise« gehört und die Abenteuer von »Hänschen im Blaubeerenwald« oder den »Wurzelkindern« gelesen hat, oder wenn man den französischen Kinderliedern lauscht, in denen von den Liebschaften der Schäferinnen im Regen und von ihren Schafen die Rede ist, die ein rosa Bändchen um den Hals ziert? Ein Kinderzimmer in Deutschland hat unzweifelhaft noch immer ein völlig anderes Gepräge, ist von einer völlig anderen Atmosphäre erfüllt als ein französisches: Es hat mehr Zauber - und weniger Charme.
Wie lange noch? Werden die Kinder schon bald im Verein Dragon Ball Z sehen, noch ehe die Fernsehserien für die Zwölf- bis Vierzehnjährigen, eigens zugeschnitten für die soziokulturellen Schichten der weißen middle upper-class, Besitz von ihnen ergreifen?
Werden diese Kinder, wenn sie in zwanzig Jahren zur nächsten Klimakonferenz fahren, dank der Globalisierung einander gleichen? Wird es einen europäischen Konsens über das Verhalten gegenüber der Natur, den Tieren und der Ozonschicht geben?
Wird man endlich genaue Abmachungen bezüglich des Pelzhandels und der Tierversuche getroffen haben? Und werden sie alle den Mann im Mond sehen?
Oder aber war es schon jetzt bloßer Zufall, daß sich angesichts des Frosches so deutlich voneinander unterschiedene Fronten auftaten?
8. AUGUST
Alexandra
Meine Freundin Alexandra von Sch., die Patentante meiner ältesten Tochter, ist für vierzehn Tage zu uns in die Provence gekommen. Zusammen mit ihrem dreizehnjährigen Sohn Florian. Florian hat diese liebenswürdig-ungenierte Art sich zu geben, wie man sie von deutschen Kindern im allgemeinen gewohnt ist; aber Florian ist überdies ein Multitalent. Während des Schuljahres sind seine Nachmittage folgendermaßen aufgeteilt: dreimal wöchentlich Violoncello (er spielt in zwei Orchestern), dreimal Schwimmen, zweimal Fußball (und am Wochenende Wettkämpfe). Höchstens beim Tennis können sich unsere Kinder mit ihm messen.
Da Florian obendrein auch noch hübsch und nett ist, vergöttern ihn alle, und wir werden jeden Tag von unseren Kindern gefragt, warum sie erst um 17 Uhr von der Schule kommen und dann noch zwei Stunden lang Hausaufgaben machen müssen.
Als Kind hat man es in Deutschland besser, schließen sie. Wahrscheinlich haben sie recht, ein Teil der Gesellschaft ist immer privilegiert. In Deutschland sind die Kinder in ihrem unmittelbaren Umfeld König, in der Öffentlichkeit dagegen nehmen sie eine Minderheitenposition ein und werden nur ungern akzeptiert (mit Kindern ist es schwierig, eine Wohnung zu finden, in die Kirche oder ins Restaurant zu gehen).
Frankreich ist das Land der Frauen, sagt man; aber vermutlich ist es - gleich wo - stets leichter, ein Mann zu sein.
Eines Abends kamen wir während des Essens auf unser jeweiliges Alter zu sprechen, und von da auf den Geburtstag von Alexandra. Allein der Tag, an dem Alexandra geboren wurde, enthält schon ein ganzes Stück deutscher Geschichte. Ich konnte nicht umhin, sie zum Erzählen zu drängen. Alexandra von Sch. ist am 13. Februar 1945... in Dresden geboren. An dem Tag, an dem dort 200 000 Menschen durch englische Bombenangriffe ums Leben kamen. Ihre Mutter wohnte in B., einem Gut in der Umgebung von Dresden. Als sie im Februar 1945 kurz vor der Entbindung stand - Deutschland befand sich bereits in voller Auflösung - war die einzige Einrichtung in diesem Außenbezirk von Dresden, die sich noch mit Geburtshilfe abgab und am einfachsten mit einem eigens hierfür ausgeliehenen Pferdewagen zu erreichen war, ein NSV-Heim. Dort meldete sich die junge Frau. Schon ganz benommen von Schmerzen, beging sie jedoch einen folgenschweren Fehler: Sie vergaß, den Führer zu grüßen, dessen Bild den ganzen Eingang beherrschte.
Durch dieses ungewöhnliche Versäumnis mißtrauisch geworden, verlangte die Oberschwester augenblicklich ihren Parteiausweis. Sie besaß aber keinen. Sie hatte nie einen Grund gesehen, einen zu haben... Unter diesen Umständen weigerte sich die Oberschwester, sie aufzunehmen.
Wieder auf der Straße, spürte sie, wie sie von Panik erfaßt wurde: Der Wagen war weg, um irgendwo seine Kartoffeln abzuliefern, und die Wehen hatten eingesetzt. Wohin? Eine junge Frau machte ihr verstohlen Zeichen. »Kommen Sie, ich bin Hebamme hier, ich habe alles mit angehört, Sie finden nirgendwo etwas, wo Sie hingehen können. Wenn Sie wollen, lasse ich Sie durch eine kleine Nebentür herein. Ich werde Ihnen im Keller bei der Entbindung helfen.«
Ausgerechnet während der Entbindung trafen die ersten Fliegerstaffeln ein. Die oberen Stockwerke des NSV-Heims wurden in Mitleidenschaft gezogen, aber im Keller kam das Baby unbeschadet zur Welt.
Alexandra hatte eine leiderfüllte Kindheit. Drei Monate vor ihrer Geburt war ihre Mutter nach Ostpreußen, der Heimat ihres Mannes, gefahren, um in seiner Nähe zu sein - er befand sich an der russischen Front - und um die Angelegenheiten auf dem Landgut etwas zu regeln, das kurioserweise unmittelbar an die Wolfsschanze, Hitlers Hauptquartier, grenzte (in den Erinnerungen von Paul Schmidt, dem Dolmetscher von Hitler, wird es als etwas ganz besonders Düsteres beschrieben: eine öde Gegend mit dunklen Wäldern, in die nie ein Sonnenstrahl drang).
Da die Russen jedoch schon bedrohlich nahe waren, bat sie um die Genehmigung - die sie schließlich auch erhielt - mit dem Zug zurückzufahren, was außerordentlich schwierig war, denn die Machthaber wollten in keiner Weise den Gedanken an eine bevorstehende Niederlage aufkommen lassen: Jeder Aufbruch wurde als Verrat angesehen. Kaum in Dresden angekommen, erfährt sie, daß die russischen Truppen vor einer kurzen deutschen Gegenoffensive zurückgewichen sind und Goldap zurückerobert ist. Zusammen mit ihrer Schwester nimmt sie den letzten, völlig leeren Zug nach Osten, aber als sie zu Hause eintreffen, haben sich dort alle Nazigrößen der Umgebung einquartiert. In einer Szene, die haargenau aus Marguerite Yourcenars Buch Der Fangschuß stammen könnte und noch in keinem großen Roman verarbeitet wurde - das Vom Winde verweht dieses Landstrichs ist noch nicht geschrieben worden - setzt sie sich ans Klavier, während ihre Schwester den Alkohol hervorholt. Tief nachts, als alles im Schlaf liegt und kein Laut mehr zu hören ist, wickeln sie alles, was sich unter diesen Umständen wegschaffen läßt, in Teppiche und Pelzmäntel, spannen einen Planwagen an und legen den Weg, den sie gekommen sind, in umgekehrter Richtung zurück, quer durch Deutschland, das in Schutt und Asche liegt, bis nach Dresden und nach B., immer in Sorge, nicht von den Russen eingeholt zu werden.
Die Russen trafen im Frühjahr ein und setzten sich in B. fest. Inzwischen hatte sie erfahren, daß ihr Mann verwundet worden war und sich in Gefangenschaft befand, aber ihrem Bruder war es gelungen, den Kontrollen zu entkommen und sich bis nach Hause durchzuschlagen; er hielt sich in der Gegend versteckt und wartete ab, bis er in den Westen gehen konnte.
Der Druck wurde immer stärker. Man hatte schon das Haupthaus räumen und sich im Gärtnerhaus einrichten müssen. Zudem gingen Gerüchte über einen bevorstehenden Abtransport aller Familien von Großgrundbesitzern aus dem Osten um: Ein adliger Offizier, den man entdeckte, würde wahrscheinlich auf der Stelle erschossen oder nach Sibirien geschickt werden. Der Bruder mußte jedoch mit Essen versorgt werden. Also schob sie drei Monate lang Alexandra im Kinderwagen spazieren, mit all den Schätzen unter der Matratze, die sie hatte auftreiben können: Brot, Wurst, Käse - rare Lebensmittel, nicht ungefährlich, falls man sie entdeckte und nach ihrer Herkunft fragte. »Am nervenaufreibendsten war, daß die Russen Kinder vergöttern - und Alexandra war ein so hübsches Baby! Sobald uns die russischen Soldaten sahen, kamen sie auf uns zu, nahmen es hoch und hätschelten es, und ich bin vor Angst gestorben, daß sie die Vorräte entdecken...«
Schließlich kann ihr Bruder übersiedeln, ihr Vater stirbt. Im BBC, den sie heimlich hört, verdichten sich die Gerüchte über einen Abtransport der Junker. Sie beschließt, dem zuvorzukommen und geht in den Westen. Sie erfährt die typische Demütigung der Flüchtlinge, die im Westen von Verwandten aufgenommen werden, die nichts verloren haben und denen man zur Last fällt: ständig ein schlechtes Gewissen, ständig schlechte Erinnerungen. Sie verläßt die Familie. Es beginnt die Zeit des Schwarzmarkts. Als ihr Mann 1947 nach Hause zurückkehrt, hält sie sich über Wasser, indem sie mit Kaffee, Zigaretten und silbernen Teelöffeln Schiebergeschäfte betreibt; entsetzt zieht er es vor, völlig mittellos zu leben. Aber als sich nach 1949 alles stabilisiert hat und er 1953 eine ordentliche Stelle in einem Verlag bekommt, als sich die bleiernen Jahre mit ihrer Sicherheit, ihrem Wohlstand und ihrer Ruhe über das Land legen, da bricht sie zusammen. Alexandra wird für Jahre bei Pflegeeltern, einem Försterehepaar, aufwachsen.
Diese Geschichte ist - mit unterschiedlichen Details - so exemplarisch, so repräsentativ für das Schicksal dieser Familien aus dem Osten, gleich welcher Schicht sie angehören (der Film von Helma Sanders-Brahms, Deutschland bleiche Mutter, vermittelt davon eine recht gute Vorstellung), daß sie unbedingt erzählt werden mußte. Sie hat den Wert eines historischen Paradigmas.
Hat die unmittelbare Nachkriegsgeneration zweifellos viel erlitten, scheinen mir ihre Kinder dagegen um so robuster zu sein. Die kleinen Blücher, Bülow, Schlieffen, die mir hier und da begegnen, haben das kräftige Aussehen von jungen Pflänzchen, die fest Wurzel geschlagen haben.
12. AUGUST
Heiratsannoncen
In der Tat, jetzt stecken wir mittendrin, aus dem Stand sind wir in das, was die Deutschen als Sommerloch bezeichnen, gefallen, jene Zeit, in der den Medien nichts mehr einfällt.
Bis jetzt haben zum Glück die Wolkenbrüche mit ihren Überschwemmungen die Zeitungsspalten gefüllt, aber nun überschlagen sich alle, um überhaupt irgend etwas zu finden.
Also schlachten Leser wie ich ihre Zeitung von A bis Z aus, so daß ich heute in der FAZ sogar die Heiratsannoncen studiere.
In Frankreich findet man solche Annoncen im Chasseur francais. In den großen Tageszeitungen tauchen sie nicht auf, und die vergleichbaren Annoncen in Libé haben genausowenig wie die im Nouvel Observateur mit Heirat etwas am Hut.
In Deutschland gibt es freilich keinen Minitel rose, denn der Minitel ist dort nicht verbreitet und zu einem gesellschaftlichen Phänomen geworden wie bei uns. Banale Feststellungen, gewiß, aber schließlich sagt die Art und Weise, wie sich Männer und Frauen suchen und aufeinander zugehen, viel über eine Gesellschaft aus.
Die FAZ, die Zeitung des Establishments, trägt auf ihre, stets sehr angemessene Weise zu einer solchen Annäherung bei.
Rechts oben auf der Seite gibt eine Agentur klar zu erkennen, welche Klientel sie ansprechen will - Universitätseliten, Führungskräfte, Prominenz (VIP) - und bringt die Anzeige einer seiner Kunden: »München, renommierte Anwältin, eigene Praxis, außergewöhnlich attraktive Klassefrau, Chanel-Typ, internationales Format, viersprachig, beruflich außerordentlich erfolgreich, ausgezeichneter Ruf, verkehrt in ersten Kreisen, ausgesprochen weltoffen, im Privatleben begeisterungsfähig und unternehmungslustig, aufgeschlossen und liberal - mit diesen Qualitäten und ihren finanziellen Verhältnissen wäre sie die angenehme und anregende Frau an Ihrer Seite...!«
Ausgezeichnet.
Dann, nicht ganz so furios, aber gleichfalls international und polyglott: »Bezauberndes Anwesen an der Cote d'Azur, mit Park und Blick aufs Meer, luxuriös, romantisch, hinreißend schön und anregend..., so wie seine Besitzerin, blond, junggebliebene Fünfzigerin, Weltfrau, zierlich, elegant... managt Ihren Besitz, spricht vier Sprachen, kennt die Welt und möchte gern wieder das tun, was sie dreißig Jahre lang getan hat: einen wunderbaren, aufrechten und ein bißchen >verrückten< Ehemann verwöhnen.«
Die Herren stehen dem in nichts nach und geben sich ebenso weltoffen: »Topmanager, kennt sich auf dem internationalen Parkett aus, Elitemensch, 43, 1,96, Name, Herkunft und Stellung absolute Weltklasse... Hat Kultur und Musik >im Blut<, erstklassiger Tänzer, guter Klavierspieler, liebt Opern..., wünscht sich konstruktive, bereichernde und dauerhafte Ehe.«
Es gibt auch sympathische Anzeigen: »Frau, 51, angenehmes Äußeres, feinfühlig, wechselt aus beruflichen Gründen von Bonn nach Berlin, sucht intelligenten und gefühlvollen Partner.«
Und beunruhigende: »Suche deutsche Frau zum Heiraten.«
Aber alle bewegen sie sich innerhalb der gleichen zwei Pole: dem Abgekapselten, Privaten, Romantischen, Sensiblen, »Anregenden« einerseits und der weiten Welt andererseits.
Wenn, wie La Bruyere sagt, »die Provinz der Ort ist, von wo der Hof, im richtigen Blickpunkt gelegen, als etwas Wunderbares erscheint«, brauchte ein Land ohne Hof, ohne Zentrum, statt dessen einen anderen Gegenstand der Bewunderung: an die Stelle des Zentrums trat die Welt. Die klassische deutsche Tradition ist die des Kosmopolitismus, des Weltbürgers, die von Goethe, Schiller und ihren Nacheiferern - mit dem Motiv der Verinnerlichung als Kontrapunkt - unaufhörlich beschworen wird.
Unsere Welt hingegen ist das Hexagon...
Als ich die Zeitung zusammenfalte, fällt mein Blick auf die Rubrik: Deutschland und die Welt.
In Heiratsannoncen spiegeln sich letztlich alle Träume, alle Wünsche eines Landes wider; sie wären ein nutzbringendes Thema für eine Doktorarbeit - vielleicht gibt es sie ja schon, und irgendein intelligenter Kopf in irgendeiner amerikanischen Universität hat sich bereits über diese unersetzliche Quelle an soziologischen Informationen gebeugt. Ich hätte große Lust, sie zu lesen.
Die Heiratsannoncen bringen mich auf eine andere Erfahrung mit Deutschland, die in dieselbe Richtung geht.
Als wir mit einer Gruppe von Geschäftsleuten mehrere große deutsche Unternehmen im Süden des Landes besichtigten, bot sich uns ein frappierendes, paradoxes Bild: Die ein wenig schüchtern wirkenden Herren erläuterten uns mit einem starken schwäbischen Akzent, aber in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, die Graphiktafeln, auf denen ihre Erfolge in allen Ecken der Welt genauestens verzeichnet waren.
21. AUGUST
Fontane
Was ist an Fontane nur so bestechend?
Im Halbdunkel eines Zimmers mit fast geschlossenen Fensterläden lese ich den Stechlin. Ich lese nun schon seit ein paar Tagen darin, und es ist immer noch nichts passiert. Ein alter Herr wird wahrscheinlich sterben und ein junger scheint heiraten zu wollen, das ist alles. Ich gestehe, daß ich eine Schwäche für den Stechlin habe, weil darin auch ein Genshagen erwähnt wird. »... und wenn Sie Schritt reiten,..., so hol ich sie bei Genshagen noch wieder ein«, sagt der Sohn Stechlin zu seinen Freunden.
Das ist allerdings kein ausreichender Grund, vierhundert Seiten lang ihr Leben bis ins kleinste Detail aufmerksam zu verfolgen.
Doch Fontane nimmt einen gefangen, ohne irgendwelche Effekte zu benötigen; er versteht es, das Dasein in seinen Einzelheiten festzuhalten; das ganze menschliche Drama spielt sich im Alltäglichen, ja im Banalen ab. In der Art, wie er ein Essen zu Ehren des Sohns der Familie, der zu Besuch gekommen ist, oder wie er ein Haus beschreibt, das an einem Weihnachtsmorgen zum Leben erwacht, ist bereits eine ganze Gesellschaft, eine ganze Epoche - und eine ganze Welt von Gefühlen enthalten.
Den französischen Leser erinnert dieser Sohn einer Hugenottenfamilie (in Meine Kinderjahre hört man seine Eltern sagen: »Meinst du das wirklich, Louis, vraiment?« - »Ach, es ist nur eine facon de parler«) mit seinem Hang zur soziologischen Beschreibung an Proust und Stendhal, aber das Interessante ist, in welchem Maße er sich von dieser Tradition bereits entfernt hat. Schon in Schach von Wuthenow, der Erzählung einer verletzten Eigenliebe, in der die Gesellschaft eine vorrangige (und verhängnisvolle) Rolle spielt, spürt man, daß das Gefühl hier nicht mehr nur ein Gefühl des Gekränktseins ausdrückt. Es umfaßt mehr.
Aus ebendiesem Grund bietet die Lektüre von Fontane tausenderlei kleine semantische Freuden. Man kann verfolgen, wie die französischen Gefühle bei ihrer Übertragung ins Deutsche umgewandelt werden. Fontanes Gestalten haben, so wie Lewin von Vitzewitz, ein Schamgefühl ihrer Empfindungen, die noch am ehesten zutreffende Übersetzung unserer pudeur, ein Wort, das in diesem Sinne im Deutschen kaum existiert; Effi Briest beklagt sich in einem Brief an ihre Mutter, daß ihr Mann nicht »nachsichtig« genug ihr gegenüber sei - was man sonst bei keinem anderen deutschen Autor lesen wird. Die Dinge werden oftmals eher angedeutet als direkt ausgesprochen.
Für einen Franzosen liegt der besondere Reiz Fontanes hauptsächlich darin, daß er französische Dinge noch halb mit dem Blick eines Franzosen, aber bereits aus der Distanz des deutschen Auslands betrachtet.
Vor dem Sturm zum Beispiel beschreibt die Unruhe, in die die Nachricht von der Niederlage der Grande Armee Preußen versetzt. Soll man das ausnutzen, um sich von diesem nur widerstrebend akzeptierten Verbündeten abzuwenden? Soll man die Franzosen verraten? Der Vater ist dafür, der Sohn, der seiner Mutter, einer Madeleine von Dumoulin, sehr ähnelt (der Vater ist über ihren indirekt von den Franzosen verschuldeten Verlust untröstlich), dagegen.
In demselben Roman läßt sich auch die Reaktion Deutschlands auf die Französische Revolution ablesen. In einer kleinen Kirche lenkt der Pfarrer die Aufmerksamkeit seiner Schäfchen - die, zumindest was Lewin von Vitzewitz betrifft, eher geneigt sind, ein Rotkehlchen, das sich im Schnee badet, zu beobachten - auf seine Weihnachtspredigt zurück, wenn er schließt: »Gott will kein Weltenvolk, Gott will keinen Babelturm, der in den Himmel ragt, und wir stehen ein für seine ewigen Ordnungen, wenn wir einstehen für uns selbst. Unser Herd, unser Land sind Heiligtümer nach dem Willen Gottes. Und seine Treue wird uns nicht lassen, wenn wir getreu sind bis in den Tod. Handeln wir, wenn die Stunde da ist, aber bis dahin harren wir in Geduld.«
Alles ist darin enthalten: die Abwehr des französischen Universalismus, die Konzentration auf die eigene Besonderheit, gestützt auf die Bekräftigung des Bündnisses von Vernunft und Glauben.
Alles, was Heine so sehr angst machen sollte.
Aber offen gestanden, läßt man sich auch ganz einfach von der Anmut der Welt, die er beschreibt, verführen. In diese großen Häuser, in diese Gegend, hat sich etwas vom französischen Geist von ehemals - etwas Liberales und zugleich ein Hauch Ancien Regime - hinübergerettet und ist dort in einer anderen, mit dem Exil schlichter gewordenen Form wiedererstanden. Er hat zur Blüte Preußens, zum »preußischen Arkadien«, diesem heute völlig vergessenen, glücklichen Preußen beigetragen, als sich Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit noch miteinander zu verbinden verstanden. Jenes Preußen, das - vor allem durch die Feinheit seiner Gefühle - bei Fontane so verführerisch erscheint.
22. AUGUST
Deutsche Touristen
»Da, schau sie dir an, deine lieben Deutschen... da hast du sie... Nein, hör mal... Was willst du? Also, mich packt das Grauen, wenn ich sie nur sehe... Paß auf!... Du wirst noch einen überfahren.«
Tatsächlich hatte ich auf dieser engen, kurvenreichen Straße der Provence den siebenten Motorradfahrer der kleinen Kohorte nicht gesehen.
Amüsiert über die offenkundige Ablehnung, die sie bei meiner Freundin hervorriefen, sah ich sie mir etwas genauer an. Alle in schwarzer Lederkleidung, mit oder ohne Beifahrerin, alle das gleiche Motorrad mit dem Kennzeichen HOL.
»Oh! HOL, weißt du, was das ist? Holzminden, ein nettes Städtchen an der Weser, ich habe ein paar Freunde da. Ich versichere dir, wenn sie ihr schwarzes Lederzeug ablegen, gehen sie nur beim Fußgängerüberweg über die Straße - und an der Ampel nur bei Grün. Das ist der örtliche Motorradclub auf Urlaub. Also, ehrlich gesagt, ich glaube nicht, daß sie Lust haben, in dieser verlorenen Provence die Hell's Angels zu spielen. Sie sind gut ausgestattet, weiter nichts. Weißt du..., in Deutschland, wie in ganz Nordeuropa, gibt dir die Gruppe so ein Gefühl von Sicherheit, während sie bei uns eher etwas Beunruhigendes hat... Aber du wirst sehen, mit der Globalisierung droht uns das Kollektivphänomen genauso. Hast du gehört, daß sie beim Papstbesuch eine >Menschenkette< bilden wollen? Ich gebe dir nicht mehr lange, dann stehst du auch mit der Kerze in der Hand auf der Straße. Das nächste Mal, wenn du gegen irgendwas demonstrierst, wirst du an mich denken mit deiner tropfenden Kerze...
Komisch, ich bin immer wieder erstaunt über diesen Hang zur Einmütigkeit bei den Deutschen. Man würde meinen, daß sie Angst vor dem Trennenden haben, du kennst ja die Worte aus der Ode an die Freude: wieder binden, >was die Mode streng geteilt.< Seltsam, daß diese Neigung zum Zusammenschluß und diese Schwierigkeit zu integrieren so nebeneinander existieren: ob es sich nun um Männer und Frauen, Kinder in der Öffentlichkeit, Ausländer in Deutschland, Protestanten und Katholiken oder um Ossis und Wessis handelt.
Die Fachleute würden sagen, daß das die Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges sind. Jener Bürgerkrieg zwischen protestantischen und katholischen Fürsten, aus denen die >Ausländer< die Schweden und Franzosen, Nutzen geschlagen haben. Bei Kriegsende 1648, nach dem Westfälischen Frieden, hatte Deutschland praktisch vierzig Prozent seiner Bevölkerung verloren und war in unzählige Kleinstaaten geteilt... Ein Land ohne natürliche Grenzen, ohne konfessionelle und staatliche Einheit, mit einer Bevölkerung, die mit der konfessionellen Spaltung und der Angst vor dem Fremden lebte... Du lachst, erscheint dir das nicht überzeugend?«
»Ganz und gar nicht! Sie und Angst? Mir machen sie angst..., aus welchen Gründen auch immer. Haben sie es denn nötig, so perfekt zu sein? Diese makellosen Lederanzüge, diese auf Hochglanz polierten Motorräder, diese glänzenden Schutzhelme und glitzernden Motorradtaschen; man würde meinen, eine Armee vor der Inspektion... Nicht zum Aushalten.«
»Sie müssen sich wohl auf diese Weise Sicherheit verschaffen. Nichts darf ihrer Kontrolle entgehen. Kein Unkraut im Garten, kein Staub auf dem Nachttisch, kein Schmutz auf den Schuhen, das macht angst. Und erst wenn sie sich in dieser Ecke der Provence gründlich umgeschaut haben, fahren sie wieder weg. Die hier waren aus dem Westen, aber ich habe in diesem Jahr auch viele aus dem Osten gesehen. Das ist genau dasselbe. Vielleicht kommen sie ja unbewußt hierher, um eine Welt zu sehen, die anders zu ihnen spricht, mit anderen Vergnügungen als denen der Effizienz und der Kontrolle über ihre Umgebung, alles kompensiert mit Bier... Vielleicht spüren sie, daß die Beziehung zwischen der Welt und den Menschen hier eine andere ist, >unter diesem Himmel, in dieser reglosen Himmelsbläue, wo das Pendel der Zeit stillzustehen und uns vergessen zu haben scheint<, wie es Colette in ihrem Haus La Treille muscate in der Provence beschrieben hat.
Nein, lach nicht, die Franzosen haben nun mal die Rolle, die Deutschen zu betören. Wir haben das nur vergessen, genauso wie sie.«
23. AUGUST
Günter de Bruyn
Ich hatte ihn schon einmal bei einem Frühstück auf dem Kirchentag in München gesehen; feinsinnig, schmal, zurückhaltend, fast schüchtern; er war genau so wie man ihn sich vorstellt, wenn man sein Buch Zwischenbilanz, den Bericht seines Lebens, liest: die Kindheit in den dreißiger Jahren, die Zeit des Heranwachsens während des Krieges und die Jugend in der frühen DDR, wieder unter dem Joch einer Diktatur. Wie man ihn sich vorstellt: das heißt am allerwenigsten als jemand, der sich unterzuordnen, mit den Wölfen zu heulen bereit und für Gemeinschaftsunterkünfte und Komitees geeignet ist, also am wenigsten für das Leben geschaffen, das er lange Jahre hindurch hat führen müssen.
Seinen Hang zur Einsamkeit und zu endlosen Spaziergängen hat er später befriedigt, und er hat ein schönes Buch darüber geschrieben, feinsinnig und einfühlsam wie er selbst, Mein Brandenburg. Er war zu einer dieser »Lesungen«, wie sie in Deutschland üblich sind und wie wir sie in Frankreich nicht kennen, nach Genshagen gekommen und hatte daraus einige Abschnitte vorgelesen. Jetzt habe ich Zeit, das Buch ganz durchzulesen. Es ergründet, was das Besondere an Brandenburg ist: die Tatsache, daß es nicht auf der Grundlage einer ethnischen Idee entstanden ist, daß sich im Mittelalter hier slawische und deutsche Völker miteinander vermischt haben, daß es in der Zeit der Gegenreformation Flüchtlinge aus nahezu allen Gegenden Europas aufgenommen und die Industrialisierung seiner Hauptstadt mit Arbeitern bewerkstelligt hat, die von fast überallher kamen - ein Brandenburg, das nicht den deutschen Königsweg, demzufolge sich eine Nation aus Stämmen bildet, beschritten hat.
24. AUGUST
»Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist.« - Goethe
Der Satz ist in Deutschland berühmt. Er ist mir jetzt als Motto bei einem Text von Fontane wiederbegegnet - aus einleuchtenden Gründen. Er mußte einem Hugenotten ins Auge springen.
Tatsächlich liegt in der unterschiedlichen Auffassung von Höflichkeit in Frankreich und Deutschland eine der häufigsten Ursachen für Irritation, Ärger, ja, für Mißverständnisse zwischen den beiden Ländern.
Seit Jahrhunderten erträgt man in Deutschland das, was man als die Affektiertheit der Franzosen empfindet, nur schwer, genauso wie das »Bäurische« der Deutschen in Frankreich ein Lächeln hervorruft.
In seinem Buch Die höfische Gesellschaft liefert Norbert Elias auf höchst überzeugende Weise einige Erklärungen
für dieses Phänomen. Zusammenfassend kann man sagen, daß sich in Frankreich, wo es einen zentralen Hof gab, die
höfischen Sitten über das gesamte Territorium ausgebreitet haben, zumal es schon früh zu einer Annäherung von Bourgeoisie und Aristokratie kam, auch wenn der König die Roturiers, die Nichtadligen, vor allem deshalb begünstigte und sie an den Hof berief, weil er eigentlich ein Gegengewicht zur Macht seines Adels brauchte.
In Deutschland hingegen hat sich die Aristokratie an den zahlreichen kleinen Höfen entwickelt, abseits der bürgerlichen Welt. Dazu kommt die unterschiedliche Art und Weise, wie sich in Frankreich und Deutschland die geistigen Eliten herausgebildet haben. Folgt man Elias weiter, so rekrutierten sich die gebildeten Schichten in Deutschland in weitem Maße aus Gelehrten oder zumindest aus Studierten; in Frankreich vollzog sich die Auswahl nicht an der Universität, sondern am Hofe, in der »Welt«. In Deutschland war das Buch das vorherrschende Kommunikationsmittel, in Frankreich kommunizierten die Menschen - trotz ihrer Liebe zum Buch - vornehmlich mittels der Konversation. Verglichen mit der Trennung von Universität und höfischer Gesellschaft in Frankreich ist die Vorrangstellung der Universität in Deutschland unübersehbar.
Das ist also der Grund, wird man sich sagen, weshalb die Leute am Telefon sofort ihren Namen nennen - ohne sich zu fragen, ob es nicht Sache der Person sei, die anruft, sich vorzustellen, je nachdem, welche gesellschaftliche Stellung sie einnimmt. Deshalb werden die Höflichkeitsformeln am Ende eines Briefes also kaum variiert: Man sendet »freundliche«, »herzliche« oder »beste« Grüße, so wie es unter Kollegen üblich ist. Und deshalb auch fordert die automatische Telefonansage einen auf: »Bitte, warten Sie« statt »Sie werden gebeten, sich bitte gedulden zu wollen«.
Aber selbstverständlich ist das nicht alles.
Am Hofe, wo die Männer - abgesehen von ihrer Rolle als Krieger - zum Müßiggang verurteilt waren, glich das Leben einem einzigen Repräsentieren. Um bei Hofe anerkannt zu werden und es zu etwas zu bringen, war das »Sehen und Gesehenwerden« von höchster Bedeutung, man mußte zu den Auserwählten gehören, zu denen, die »bien en cour« sind, die »in der Gunst des Königs« stehen. Jedes Zeichen hatte eine Bedeutung. Jede Anspielung auf eine mögliche Gunst, jedes auch noch so geringe Privileg konnte die Stellung des Betroffenen verändern, also mußte er lernen, die Gesellschaft zu beobachten, sie zu ergründen und seine eigenen Affekte so zu beherrschen, daß er nicht selbst durchschaut wurde.
Der Schein hatte also eine reale Funktion. Um zu überleben, mußte man imstande sein, »faire sa cour«, »seine Aufwartung zu machen«, »paraître«, »etwas zu gelten« und »tenir son rang«, »seinen Rang zu halten«. All das kann man in den Memoiren des Herzogs von Saint-Simon nachlesen, genauso wie in dem hübschen Büchlein Vom Geist der Etikette am Hof (und der Sitten der guten Gesellschaft jener Zeit) von Madame de Genlis, das sie geschrieben hatte, um Elisa, der Schwester von Napoleon, eine Vorstellung vom Leben am Hofe Ludwigs XV. und Ludwigs XVI. zu vermitteln, wo sie einige Zeit verbracht hatte. Wenn man das liest, wird deutlich, in welchem Maße Formen und Sitten für sie mit einem Sinn behaftet waren, nämlich den Anstand zu wahren, was man jedermann zu dessen Wohlgefallen schuldig war. Denn »alle Sitten von ehemals waren dazu ersonnen, in der Gesellschaft Gefallen zu erregen«, in einer Gesellschaft, in der der »bon ton«, ein »anständiger Ton«, herrschen mußte. »Dieser anständige Ton war einst nichts anderes als der reinste Ausdruck von Anstand und Höflichkeit, denen Geist und das Bedürfnis zu gefallen noch Anmut und Eleganz hinzufügten.«
Wichtig für Madame de Genlis war, daß die Formen gewahrt blieben: »Keine Frau hätte gestanden, ein anstößiges Buch gelesen zu haben, zum Beispiel die Erzählungen von La Fontaine, Die Jungfrau, Candide usw. Ein solches Geständnis hätte nur wenige Leute entsetzt, aber alle hätten es als schlechten Ton empfunden. Man verzichtete ziemlich leicht auf Tugend, aber man ließ es niemals an Anstand fehlen.«
Für Madame de Genlis gab es also nichts Angenehmeres als das Leben am Hofe, vor allem das Reisen, ganz besonders, wenn es nach Fontainebleau ging, von dem es hieß, daß »sich zwei zerstrittene Personen wieder versöhnen, wenn sie dort einander begegnen«.
Liest man Beschreibungen desselben Lebens am Hofe aus der Feder von Deutschen, entsteht freilich ein gänzlich anderer Eindruck. Das bekannteste Zeugnis, die Briefe der Liselotte von der Pfalz, die mit dem Bruder von Ludwig XIV. verheiratet war, scheinen eher Schilderungen aus der Hölle zu sein (aber die Memoiren der Schwester von Friedrich II. über den Hof des Soldatenkönigs geben eine noch grauenhaftere Wirklichkeit wieder). Die Herzogin beklagt sich darüber, daß Ludwig XIV. abgewartet habe, die Pfalz zu verwüsten, bis sie ihn gebeten habe, sie zu verschonen. Sie sieht die Perfektheit der Formen nicht, aber deren Falschheit.
Und das trennt Deutsche und Franzosen auch heute noch. Für einen Franzosen steckt die Wirklichkeit in der Repräsentation der Dinge, deshalb beobachtet man sich in Frankreich gegenseitig, man achtet darauf, wie der andere lebt, man tauscht Zeichen aus, auch wenn sich das alles nicht mehr im Spiegelsaal von Versailles abspielt. Die Deutschen sind mitunter etwas erstaunt, wenn sie »wegen nichts« eingeladen werden: keine Musik, kein richtiges Gespräch, nur ein Essen mit ein bißchen Unterhaltung. Eine Konversation ist für sie kein Gespräch, und sie begreifen nicht, daß »faire acte de presence«, »sich zeigen«, für die Franzosen schon einen Sinn an sich hat. Die Welt der Zeichen und des Scheins entzieht sich ihnen oder aber ist ihnen unerträglich.
Sie können also kaum etwas mit Andeutungen anfangen, und sie verstehen selten, was nicht direkt ausgesprochen wird, selbst wenn es durch eine Geste ausgedrückt und unterstrichen wird und für den französischen Gesprächspartner so eindeutig erscheint, daß er es als eleganter empfindet, es unausgesprochen zu lassen. Ebensowenig haben sie einen Sinn dafür, was ein Detail ist. Für sie liegt der Teufel im Detail, wie man jetzt auch schon bei uns sagt, und folglich hat alles das gleiche Gewicht. De minimis non curat praetor ist in Deutschland keine geläufige Maxime, in einem Atemzug werden einem zwei Dinge auf einmal erzählt, einerseits etwas Niederschmetterndes oder Hocherfreuliches und andererseits etwas völlig Belangloses, zum einen etwas, was einem wesentlich und zum anderen etwas, was einem unendlich banal erscheint und was man am liebsten mit einer ungeduldigen Handbewegung wegwischen möchte.
Man begreift, warum Rousseau in Deutschland Erfolg hat. Noch heute machen die Franzosen auf »representation«, setzen sich immer ein bißchen »in Szene«, die ganze Gesellschaft erscheint ihnen wie eine einzige riesige Bühne, und nichts amüsiert sie mehr, als darüber herzuziehen.
Bücher mit soziologischen Analysen gibt es zuhauf: Studien über die bcbg, die Bon-chic-bon-genre-Schickeria, die NAPPIES, die Neuilly-Auteuil-Passy-Oberschicht, über die Beurs, die in Frankreich geborenen Nordafrikaner, oder über die aristokratischen Sitten wie in dem Buch Le comte de Mirobert se forte comme un charme.
In Deutschland, wird man erwidern, existierten diese sozialen Klassen nicht mehr, es gebe weder ein kultiviertes Bürgertum mehr noch einen Adel, die einen besonderen Lebensstil bewahrt hätten; mit dem großen Kartenmischen nach dem Krieg sei alles in der breiten Masse eines gleichverdienenden, gleichförmigen Mittelstands aufgegangen.
Das ist nur die halbe Wahrheit. Auch in Deutschland gibt es selbstverständlich ein System der »distinction«, eine »Rangordnung«. Sie ist sogar häufig noch geschlossener als unsere, aber sie ist verborgener und vor allem »verschämter«; man spricht nicht darüber, und noch viel weniger lacht man darüber.
Daß die soziologische Betrachtungsweise in den beiden Ländern unterschiedlich ist und sich daran unterschiedliche Auffassungen von Höflichkeit knüpfen, brauchte die Verständigung nicht zwangsläufig zu erschweren..., man muß es nur wissen.
ENDE AUGUST
Die Glut der Sonne hat nachgelassen, mit seinem unveränderlich klaren, goldenen Licht kündigt sich die Milde des September an, und es scheint, als legten die entfliehenden Tage eine Atempause ein.
Dies ist genau der Moment, da man aufbrechen muß, da man von dieser Abgeschiedenheit Abschied nehmen und ins »richtige« Leben nach Paris und Berlin zurückkehren muß.