September

4. SEPTEMBER
Der Immobilienmarkt im Osten befindet sich weiterhin in der Krise, vor allen Dingen bei der Vermietung von Büroräumen, heißt es in einem Artikel einer Fachzeitschrift.
Der Westen dagegen erholt sich wieder, insbesondere Frankfurt am Main, wo sich die ersten Banken aus Osteuropa ansiedeln.

6. SEPTEMBER

Diana und kein Ende...

Diana und kein Ende, wie die Deutschen sagen: Diana, die Rose von England, ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose... Der erste Todesfall im globalen Dorf.
Auf der Fahrt nach Hause war die Nachricht wie eine Bombe eingeschlagen. In Deutschland ist man nicht weniger erschüttert als bei uns, und jeder fragt sich, warum er so betroffen ist, warum er zu den 2,5 Milliarden Zuschauern gehört, die begierig die Bilder von den Begräbnisfeierlichkeiten verschlingen. Liegt es daran, daß man sich noch so gut an ihre Hochzeit erinnert? Alice Schwarzer, die berühmte deutsche Feministin, gesteht, daß sie den Artikel für »Emma«, das monatliche Kampfblatt der alten Feministinnengarde, an dem sie gerade schrieb, stehen und liegen ließ und ins Nebenzimmer zum Fernseher stürzte, um den Augenblick, in dem Diana aus der Hochzeitskutsche steigen würde, nicht zu verpassen.
Ähnlich wie die Prinzessinnen von Monaco hat Diana von ihrer Hochzeit bis zum Tod unser Leben begleitet; mit einem strahlenden Lächeln im glitzernden Schnee von Gstaad, wenn wir an einem regnerischen Januartag in Paris an einem Zeitungskiosk vorbeikamen; oder - auf Hochglanzpapier - schlank und braungebrannt im makellos sitzenden Badeanzug, wenn wir uns bleichgesichtig auf unsere Juni-Prüfungen vorbereiteten... Deshalb ist ihr Tod auch ein bißchen unser Tod. Sie nimmt einen Teil unserer Erinnerungen mit sich fort. Und wie ein Donnerschlag, oder eher wie ein Paukenschlag, ertönt in unseren betäubten Ohren das furchtbare memento mori.
Dabei war sie schon als Lebende in eine Art Olymp eingegangen, wo sie der Erdenschwere zu entkommen schien. Sie war schön wie eine Göttin, leicht, unbeschwert und dank ihres Vermögens frei von Alltagssorgen, und sie hatte die Gabe, allgegenwärtig zu sein: heute in Angola, morgen in New York, in Saint-Tropez oder in Portofino - eine königliche Prinzessin und eine Königin des Showbusineß, und so voller Mitgefühl.
Die deutschen Zeitungen verschließen sich dieser Anziehungskraft nicht. Mit Inbrunst stürzt sich die gesamte Sensationspresse auf das Ereignis und vergießt Tränen über die »Ikone«, bemitleidet die jungen Prinzen und verurteilt die Hartherzigkeit der königlichen Familie - Bild, Stern, Welt am Sonntag, Frau im Spiegel, Bunte, Neue Revue... Aber die anderen Zeitungen, die dem ebensoviel Platz einräumen, berichten darüber mit eindeutig mehr Distanz als es bei uns der Fall ist.
Sie ist nicht in Deutschland gestorben, sie war dort seltener als in Frankreich, wo wir sie gewissermaßen adoptiert hatten. Vielleicht waren die Deutschen auch weniger empfanglich für diesen Liebreiz, diesen echten Charme, den sie ausstrahlte, für diesen verstohlenen Augenaufschlag, diese gleichsam herausfordernde Schüchternheit, diese Herzlichkeit gegenüber den Menschen, womit sie ihre Umgebung, wo auch immer, bezauberte. Und dann dieser Teint!
Jedenfalls wird dieses gesellschaftliche Phänomen mit einer gewissen Ernsthaftigkeit analysiert: auf kultivierte Weise in der Zeit, rücksichtsloser in anderen Zeitungen. Natürlich befassen sie sich auch damit, was für Großbritannien geradezu etwas Revolutionäres darstellt: Die Königin hat ihren Gang nach Canossa angetreten, sie hat ihre Kokarde getragen: sie mußte halbmast flaggen. Aber im übrigen ist das Ganze für diese Medien ein gesellschaftliches Problem.
Wie kommt es, daß über einen Tod, den man noch zehn Jahre zuvor als eine Schande empfunden hätte, so viele Tränen vergossen werden? In einem Auto zu sterben, das mit halsbrecherischer Geschwindigkeit dahinrast, mit einem Betrunkenen am Steuer und in den Armen eines zwielichtigen Playboys: All das wäre Grund genug gewesen, um die Angelegenheit schweigend zu übergehen. Ohne Vorbehalt lassen sich die deutschen Zeitungen darüber aus, daß die Mutter von Dodi die Schwester von Kashoggi ist und geben zu verstehen, daß sie es für einen gewissen Widerspruch halten, gegen Personenminen zu kämpfen und zugleich dem berühmtesten Waffenhändler der Welt nahezustehen. Ebenso ungeniert verbreiten sie sich über Dianas Naivität und verweisen auf ihren notorischen Mangel an Bildung (man könnte in der Tat meinen, daß Diana auch an der Auffassung der herrschenden Klasse Englands über weibliche Erziehung gestorben sei, wonach verhindert werden soll, daß ihre Töchter jemals etwas Intelligentes sagen oder denken könnten, was ein Zeichen von schlechter Erziehung wäre).
Die Frage bleibt also offen: warum diese Massen? Warum diese Seligsprechung Dianas? Befindet sich unsere Gesellschaft auf dem Weg in eine rasante Infantilisierung? Haben die Bilder wirklich schon alle Macht über uns gewonnen? Ohne religiöse oder andere Überzeugungen stürzen sich die Massen auf ein Traumbild, eine Art Schwester, mit der man sich in einer Gesellschaft, in der es keine Vaterfigur, keine Autorität, keine normsetzende Institution mehr gibt, identifizieren kann.
Ist es das endgültige Totengeläut für die christlichen Werte, die das Abendland Jahrhunderte hindurch geformt haben: Selbstaufgabe, Aufopferung, Hingabe, der Glaube an Werte, die von mehr Belang sind als das eigene Ich? Sind allein humanitäre Angelegenheiten an ihre Stelle getreten?
Die rebellische Prinzessin, die das Glück hic et nunc wollte, drückte vor den Fotografen Aidskranke an sich; die seriösen Deutschen sind versucht, so etwas als Kitsch zu bezeichnen.

6.  SEPTEMBER

Apropos Kitsch

Es gibt den englischen Kitsch, nach dem Muster der Königsfamilie und hübscher, unbesonnener junger Mädchen mit sonnigem Gemüt und schimmerndem Teint, die das stiff upper lip-Prinzip erschüttern - die »steife Oberlippe« zum Beben bringen - und die im Fernsehen, statt never explain, never complain, ihre Herzensangelegenheiten ausbreiten.
Und dann gibt es den deutschen Kitsch. Ein Freund hat mir davon eine ganz besondere Kostprobe zugeschickt, auf die er beim Durchforsten der Archive gestoßen ist:

Lieber Gott im Himmel droben,
Alle Engel, die dich loben,
Laß ringsum mein Bettchen stehen,
Wenn ich muß zur Ruhe geh'n!

Doch das schönste Engelein
Mit dem lieben Gottesschein
Und dem silbernen Gefieder
Sende unserm Hitler nieder.

Es behüte seinen Schlummer
Und verscheuch ihm allen Kummer,
Daß er morgens froh erwache
Und sein Deutschland glücklich mache.

Verfaßt von einer Schülerin einer katholischen Grundschule für Mädchen in Breslau im Jahre 1936.
Solcherart Machwerk könnte man so gut wie überall in Deutschland finden, in katholischen ebenso wie in protestantischen Gegenden.

7. SEPTEMBER
Es gibt Tage, an denen ich die Frankfurter Allgemeine Zeitung köstlich finde.
Ja, lamentiert heute ein Journalist, Hans Scherer, auf der letzten Seite der Literaturbeilage, gestern hatte er zu leiden.
Auf Einladung des Deutschen Fremdenverkehrsverbandes hat er an einer Präsentation von Werbefilmen über Deutschland teilgenommen. (Deutschland nimmt den vierten Platz als Reiseland, den siebenten bei den Deviseneinnahmen und den ersten bei der Devisenausfuhr ein).
So weit, so gut: Außer Bingener Mäuseturm und Loreleyfelsen gab es nun auch den Brocken, wo die Hexen tanzen, Dresden mit seinen wunderbaren Museen, Weimar, die Stadt Goethes und Schillers, und Luthers Wartburg zu sehen... Und dann erscheint dieser feiste Mönch doch tatsächlich im Film; man hatte ihn auf einen Regiestuhl mit der Aufschrift Luther gesetzt, während eine Stimme sagt: »Visit Germany, the home of the monk who loved bibles, beer and ballads.«
Aber ja doch, wurde ihm versichert, nach Aussagen von Experten aus der Werbebranche sei das genau das Bild, das die Amerikaner von Deutschland sehen wollen.

8. SEPTEMBER

Schulbeginn

Es gibt noch andere, die Eifer bezeigen. Diesmal sind es Schüler, die einen Film gedreht haben und damit in die Medien kommen: »Ausländer sein in Deutschland«. Frau Nolte, die Familienministerin, bescheinigt ihnen, daß sie »die wahren Botschafter Deutschlands« seien. Ihr Film wurde in Gegenwart höchster Vertreter des Bundes im Haus der Geschichte in Bonn aufgeführt.
Man weiß nicht, was abgründiger ist, die Gutwilligkeit der Deutschen oder die offensichtliche Fremdheit, das »Anderssein« des Ausländers in Deutschland. Und auf welcher Seite der Barrikade standen die »ausländischen« Schüler der Schule?

9. SEPTEMBER

Noch einmal Schulbeginn

Die Abtreibung war in Deutschland schon immer ein heikles Thema, besonders in der Zeit der Wiedervereinigung. Mit der gegenüber der westdeutschen liberaleren ostdeutschen Gesetzgebung stand man vor einem Problem. Würden sich die Frauen aus dem Osten so wie die Frauen im Westen künftig bei einer Beratungsstelle, die über die Berechtigung des Eingriffs befand, die Genehmigung dazu einholen müssen?
Für diese Frage, einen der am heftigsten debattierten Punkte im Einigungsvertrag zwischen den beiden Republiken, fand sich schließlich eine relativ liberale Kompromißlösung.
Die Statistik spricht heute von 130 000 Schwangerschaftsunterbrechungen in Deutschland für das Jahr 1996. Hamburg und Bremen stehen an der Spitze und liegen damit eindeutig über dem Bundesdurchschnitt, gefolgt von Berlin, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Brandenburg. Bei dieser Aufzählung der Länder Ostdeutschlands fehlt lediglich Sachsen.
Das bestätigt die Tatsache, daß die Geburtenrate in Ostdeutschland seit 1990 ganz erheblich gesunken ist. Ungewißheit, Angst vor einer unsicheren Zukunft und insbesondere der Verlust der sozialen Infrastrukturen (Kinderkrippen usw.) sind die Hauptursachen. In diesem Jahr, wo die Kinder der Wiedervereinigung eingeschult werden, ist die Klassenstärke im Osten stark zurückgegangen.

12. SEPTEMBER
Beim Durchblättern einer alten Nummer der »Welt« vom April halte ich bei einer Karikatur inne, die ihren ganzen Witz aus unserer Debatte über die 35-Stunden-Woche bezieht.
Fest ausschreitend, greift der Vorsitzende der Gewerkschaft IG Metall in seine Saatschale und verstreut mit weit ausholender Armbewegung »35-Stunden-Körner« über ein Feld, auf dem ein Schild verspricht: »Hier wachsen Arbeitsplätze«.
Gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen und - mit leichter Verzögerung - die gleichen Debatten.
(Die Welt, Sonnabend, 12. April).

13. SEPTEMBER
Nach dem Buch Mein Herz so weiß von Javier Marias, das ein Bestseller war, nach Der Vorleser von Bernhard Schlink
und nach den Erinnerungen von Richard von Weizsäcker zieht jetzt ein anderes Buch in Deutschland die Aufmerksamkeit auf sich, die Erinnerungen an Kreisau von Freya von Moltke.
Ich habe sie gelesen und war ebenfalls sehr eingenommen davon. Liegt es daran, daß sie von einer schon sehr alten Dame geschrieben worden sind? Das Buch strahlt eine ausgesprochene Gelassenheit aus. Die Moltkes bzw. diese Moltkes (die Großneffen des Moltke von 1870, die Verwandte in Südafrika haben), und vornehmlich Helmuth James von Moltke, bildeten eines der Zentren des Widerstands gegen Hitler.
Freya von Moltke, die Ehefrau von Helmuth James, erzählt aus heutiger Sicht von den Bemühungen, ein Widerstandsnetz zu schaffen, dessen Mitglieder sich Gedanken über ein Deutschland nach Hitler machten, von den Zusammenkünften in ihrem Haus im schlesischen Kreisau, von ihren Verbindungen zu sozialistischen und Gewerkschaftskreisen und zur Kirche. Helmuth James vertrat eindeutig fortschrittlichere Überzeugungen, als es in seiner Gesellschaftsschicht gemeinhin üblich war.
Freya von Moltke schreibt mit entwaffnender Natürlichkeit, sie spielt sich weder als Schloßherrin auf - sie ist frei von jeglichem Standesdünkel und Kastengeist - noch als große Widerstandskämpferin, sie ist zu bescheiden, als daß sie ihrem Widerstandsunternehmen mehr Gewicht beimessen würde, als es gehabt hat - auch wenn die Folgen tragisch waren, denn nach dem Attentat Stauffenbergs verfolgen die Nazis unerbittlich all jene, deren Geist ungebrochen ist.
Sie ist eine Frau durch und durch: Das Denken ist bei ihr nie losgelöst von den Dingen des Alltags, es ist eins mit dem Leben, und dann verfügt sie über eine Selbstgewißheit und Stärke, die nur die Güte verleiht. Eine junge Frau aus dem Dorf verrät die Kreisauer Treffen, weil sie meinte, so zu verhindern, daß »noch mehr deutsche Soldaten sterben müßten«; einer Tante, einer überzeugten Nazianhängerin, die sie überrascht, aber nicht denunziert hat, bescheinigt Freya von Moltke: »Ich war sicher, daß sie nichts unternehmen würde...«, denn sie war »eine treue und gute Person«; den Schmerz über die Hinrichtung des über alles geliebten Mannes jedoch behält sie für sich.
Sie vermag die politischen Konstellationen jener Zeit deutlich heraufzubeschwören. Die deutschen Truppen befinden sich in völliger Auflösung, die in der ganzen Gegend einquartierten Weißrussen unter General Wlassow versuchen verzweifelt, den vorrückenden siegreichen sowjetischen Truppen zu entkommen. Eines Morgens findet sie die ganze Familie eines benachbarten Hofes tot vor. Sie hatten sich alle in die Küche geflüchtet, wo sie von Deserteuren der Wlassow-Armee, auf der Suche nach Zivilkleidung, umgebracht worden waren.
Über die Russen, gleich ob weiß oder rot, schreibt sie, »... nur Angst machte sie wild, die konnten sie nicht vertragen.« Ansonsten betrachtet sie sie, gemessen an dem, was man üblicherweise liest, bei weitem fatalistischer: Der russische Kommandant, den sie fragt, ob er wisse, wie sich seine Soldaten benähmen, erwidert ihr knapp, »daß jeder Mann eine Frau brauche«; und wahrscheinlich hat sie unter ihrer Herrschaft weniger gelitten, weil sie ein Stück Papier besaß, auf dem in Russisch geschrieben stand, daß ihr Mann von den Nazis erschossen worden war.
Wirkliche Probleme hat sie vielmehr mit den Polen. Über sie, die zu fürchten sie mindestens zweimal wahrhaftig allen Grund hatte, schreibt sie: »Es waren Menschen, die in Deutschland viel gelitten hatten, und der Haß stand ihnen ins Gesicht geschrieben.«
Mehrmals begibt sie sich unter den Schutz der Russen, um den Polen zu entrinnen. Bis sie schließlich aufbrechen, das Haus, die Ländereien, das polnisch gewordene Kreisau und Schlesien für immer verlassen muß. Sie geht ohne Bitterkeit, ohne Haß, findet sich damit ab, daß sie in doppelter Hinsicht auf der Seite der Verlierer steht: Sie - ihr Mann und viele Freunde - haben gegen die Nazis verloren, und wegen der Nazis hat sie ihr Haus und ihre Heimat verloren.
Sie beschließt ihr Buch mit dem Wunsch, daß das heutige »Krzyzowa« und die deutsch-polnische Stiftung, die dort gegründet wurde, zum Aufbau Europas beitragen mögen.
Aber wie früher ist Kreisau auch heute noch drei Stunden von Berlin entfernt.

14. SEPTEMBER
Woher kommt diese unterschiedliche Haltung bei den Landsmannschaften Ostpreußens, Schlesiens und Pommerns auf der einen und den Heimatverbänden der Sudetendeutschen auf der anderen Seite?
Gewiß ist die Ausgangsposition nicht ganz zu vergleichen. In den Gebieten östlich von Oder und Neiße (immerhin ein größeres Territorium als das der DDR) wurde die deutsche Bevölkerung vertrieben, nachdem sie den Krieg und den Einfall fremder Truppen miterlebt hatte. Ihre Aussiedlung war zudem teilweise durch das Eintreffen von Bevölkerungsgruppen gerechtfertigt, die ihrerseits aus weiter östlich gelegenen Gebieten vertrieben worden waren: Laut Potsdamer Abkommen handelte es sich hierbei um Umsiedlungsmaßnahmen.
In der Tschechoslowakei (Böhmen und Mähren) dagegen war die Bevölkerung vom Krieg verschont geblieben, und die Sudetendeutschen mußten das Gefühl haben, daß das Unheil wie aus heiterem Himmel über sie hereinbrach. Um so mehr, als sie mit den Tschechen seit jeher in enger Gemeinschaft gelebt hatten; in Prag gab es eine deutsche und eine tschechische Universität.
Außerdem stammten die 1945 aus dem Sudetengebiet Vertriebenen eher aus dem Kleinbürgertum und dem Mittelstand: Gewerbetreibende, Kleinunternehmer, Beamte, Bauern; fiel ihnen der Aufbruch daher schwerer? Vielleicht verfügten sie, die nicht das Glück hatten, Verwandte in Südafrika, englische Freunde usw. zu haben, über weniger Mittel, um sich woanders ein neues Leben aufzubauen. Aber womöglich liegt es ja auch daran, daß sie keine Freya von Moltke oder Marion Dönhoff haben.

15. SEPTEMBER
Der erste Russe, den Freya von Moltke in Kreisau zu Gesicht bekommt, ist ein Radfahrer mit einem riesigen Fliederzweig auf dem Lenker... So manche Deutsche, allen voran die Ostpreußen, die von ihrer ersten Begegnung mit den Siegern aus dem Osten kein so idyllisches Bild bewahren, dürften sie darum beneiden.
Um sich davon zu überzeugen, daß jene nicht übertreiben, wenn sie von einer Hölle sprechen, die über ihnen zusammenschlug, genügt es, die Ostpreußischen Nächte von Solschenizyn zu lesen. Das ist ein langes Poem, ein Epos von Gemetzel und Plünderei, von Vergewaltigung und Brandschatzung mit einem eindringlichen Refrain: das Erstaunen und der zügellose Neid der russischen Soldaten (häufig Truppen aus Zentralasien), die »Dörfer stets nur an Chausseen und kein Dorf - ohne Chaussee....« entdecken, »wo man hinsieht immer Ziegel spitze Türme Schlösser Giebel ewig Backstein überall...«, und die nicht anders darauf reagieren, als diesen anmaßenden Luxus der Besiegten zu zerstören.
Je weiter man nach Westen kommt, desto später und im allgemeinen desto weniger brutal hat sich diese Begegnung vollzogen.
Abhängig von ihrer geographischen Verwurzelung und natürlich auch von ihrer wirtschaftlichen und sozialen Herkunft haben die Deutschen also ein sehr unterschiedliches Bild von den Russen. Für die einen blieb die Nazipropaganda, die sie zu Schreckgespenstern gemacht hatte (gegen die bis zum letzten Mann gekämpft werden mußte) noch hinter der Realität zurück: Die Politkommissare herrschten mit eisernem Terror. Andere wiederum bewahren eine fast rührende Erinnerung an die Kolonnen russischer Soldaten, die nach Kriegsende - im Austausch gegen die Amerikaner - singend in die Städtchen Mecklenburgs und Thüringens einzogen; so, wie sie auch singend von den Feldern heimkehrten, als sie ein paar Monate später bei der Ernte arbeiteten.
Das entspricht ganz der Vielschichtigkeit des deutsch-russischen Verhältnisses.
Zuallererst fällt die Nähe der Verwandtschaft auf: Vergleicht man die Ausstellung »Paris - Berlin« mit der Ausstellung »Berlin - Moskau«, scheint letzterer beinahe etwas Inzestuöses anzuhaften. »Ein Russe«, sagte mir vor kurzem ein Berliner, der es wissen muß, »fühlt sich in Berlin wohl, er ist im Westen und doch noch zu Hause: sind in Moskau drei Grad minus, dann sind in Berlin ein Grad minus und in Paris zehn Grad plus. Und jedermann weiß, daß Katharina II. eine Prinzessin von Anhalt-Zerbst gewesen ist und der Großvater von Lambsdorff, dem früheren Wirtschaftsminister, Page am Zarenhof war.«
Zum anderen steckt den Deutschen noch immer die Panik in den Knochen, die sie 1945 empfanden, als Chaos und russische Anarchie mit aller Gewalt über sie hereinfielen.
»Die Russen kommen« war noch lange nach dem Krieg gleichbedeutend mit der Ankündigung einer Naturkatastrophe und bezeichnete ein weit verbreitetes Kinderspiel.
Dabei steht es ihnen gar nicht zu, sich als Opfer zu betrachten, denn wie sollten sie die zwanzig Millionen sowjetischen Toten vergessen? Sind sie doch vielmehr die Henker eben dieser Sieger.
Doch dann, tempora mutantur et nos in illis; haben sie miterlebt, wie aus den stolzen Siegern im Laufe der Jahre jene armen »Iwans« wurden, an die man in den Kasernen Ostdeutschlands Lebensmittelpakete verteilte..., bis sie schließlich von dort abzogen. Sie mißfielen sich also keineswegs in der Pose des offiziellen Wohltäters, mit der sie ihr schlechtes Gewissen beruhigen und dieses Gefühl von Überlegenheit, gepaart mit der Gewißheit, etwas Gutes zu tun, hegen konnten; aus eben diesem Grunde haben sie ihnen denn auch nach ihrem Abzug aus der DDR - nicht zuletzt, um ihn auf diese Weise zu beschleunigen - in Rußland Häuser gebaut.
Heute gern »Wohltäter«, gestern Opfer und Henker, und immer blutsverwandte Nachbarn, wie soll man sich in den Gefühlen, die Deutsche und Russen miteinander verbinden, zurechtfinden? In ihnen bündelt sich ein ganzes Spektrum von Gefühlen: von der Angst, der Verachtung, der Geringschätzung bis hin zur Bewunderung und zum Mitleid, stets verbunden mit einer gewissen Vertrautheit und der Erinnerung an eine alte Freundschaft...
Eine schwierige Analyse.

18. SEPTEMBER

Katastrophen

Wahrlich eine Woche, in der das Schicksal die Deutschen hart getroffen hat. Zuerst jenes Flugzeug der Luftwaffe, das vor der afrikanischen Küste Namibias mit einem amerikanischen Flugzeug zusammengeprallt ist: zwölf Tote. Ein paar Tage später erfährt die Welt mit Bestürzung, daß in Bosnien ein Hubschrauber mit Friedenstruppen an Bord zerschellt ist: darunter ein Deutscher. Und heute nun ist ein Bus mit deutschen Touristen von fanatischen Islamisten attackiert worden: Man spricht von neun Toten. Das Fernsehen hat heute vormittag einen Amateurfilm ausgestrahlt, der vom Fenster des Hotels, wo der Bus parkte, aufgenommen wurde. Grauenhaft.
Aber was mich am meisten verblüfft, ist die relative Ruhe, mit der die Öffentlichkeit diese Folge von Schreckensnachrichten aufnimmt. Offenbar ist von den Touristen in Kairo nichts storniert worden, im Gegenteil, am nächsten Morgen sind welche wieder in einen ähnlichen Bus gestiegen.
Ganz und gar untypisch für Deutschland, aber erfreulich.

19. SEPTEMBER
Allerdings erzählt mir eine deutsche Freundin, daß ihr Bruder sie diesen Sommer, als sie sich nichtsahnend in den Landes aufhielt, von Münster aus anrief und fragte, ob man in Frankreich auch von dem Killermoskito reden würde.
Seit drei Tagen wird in den Nachrichten des deutschen Fernsehens ausführlich über die beunruhigende Geschichte einer kalifornischen Stechmücke berichtet, deren Stich aufgrund einer unglückseligen Kreuzung tödlich sein soll.
Meine Freundin fiel aus allen Wolken, worauf ihr Bruder beruhigt nach San Francisco fuhr. Die Neigung der Deutschen zur Schwarzseherei ist also doch nicht ganz verschwunden.

20.  SEPTEMBER
Gestern habe ich in Deutschland an der Fernsehsendung eines Nachrichtensenders teilgenommen. In Köln.
Ich war ein paar Stunden zu früh eingetroffen, und so konnte ich mir das Vergnügen gönnen, mir noch einmal den Dom mit der »Mailänder Madonna«, den Glasfenstern und dem »Dombild« von Lochner anzusehen.
Eine Fremdenführerin, eine von denen, die ihren Beruf mit wahrer Leidenschaft ausüben, erzählte, daß man nur durch Dürer mit Sicherheit wüßte, wer der Schöpfer des Altarbildes ist. Äußerst sparsam, notierte er jede kleinste Ausgabe. Auf diese Weise weiß man, was er ausgegeben hat, um im Kölner Dom den berühmten Altar bewundern zu können: »Soundsoviele Pfennige für die Besichtigung des Altarbildes von Lochner«, schreibt er und ergeht sich dann in einer enthusiastischen Beschreibung.
In einer Seitenkapelle, da wo unter dem Marienbild immer ein ganzes Meer von Kerzen leuchtet, standen zwei junge Männer, deren Kleidung so akkurat aussah, daß sie die Blicke auf sich zogen und ich mich nicht zurückhalten konnte, sie anzusprechen: schwarzer Kordsamt mit Posamenten in kräftigem Blau, Weste, weiße Hemden mit weiten Ärmeln und Halskrause, Uhrenkette, Schlaghosen mit einem Einschnitt am Rand, der mit demselben leuchtenden Blau eingefaßt war.
»Ja, wir sind von der Bauzunft«, erzählen sie mir. »Nein, nein, ein paar Brüderschaften haben sich in Europa noch erhalten. Wir legen einen Schwur ab, daß wir uns dreieinhalb Jahre lang nie weniger als sechzig Kilometer unserem Zuhause nähern. Ja, jetzt sind wir schon zwei Jahre von einer Baustelle zur anderen unterwegs, um alle Techniken kennenzulernen, wir waren in Portugal, Spanien, England und Schweden... Jetzt geht's nach Frankreich. Ja«, sagen sie sichtlich stolz, »es gibt uns seit dem Mittelalter.«
Aus dem Mittelalter scheint auch der... was ist er?... Diakon? Priester? zu stammen, mit seinem roten Chorhemd und der von einem Lederband gehaltenen Holzschale für die Opfergaben um den Hals. Ich beobachte ihn schon seit einer Viertelstunde: Er ist ebenso reglos wie eine Statue oder zumindest wie ein Museumswärter - ein Bild aus einer anderen Zeit.
Das Rheinland hat etwas Beständiges.
Zum Glück hat Köln auch immer noch seine Hauptstraße mit dem unverwüstlichen Kaufhof (was etwa unserem Prisunic entspricht), wo seit den sechziger Jahren - seit ich Deutschland entdeckt habe - im Erdgeschoß die gleiche Unterwäsche für Herren und Damen verkauft wird, und vor allem jene Damenhöschen aus Wolle, die fast bis zum Knie reichen und im Sonderangebot als Viererpack zu haben sind.
Aber dafür gibt es auch etwas Neues: Es wird erst um 20 Uhr geschlossen. »Ja«, erklärt mir eine Verkäuferin in den Vierzigern, »hier beim Dom lohnt sich das, aber sonst..., weiter weg, nicht.«
Und in der Tat erweist es sich an diesem Tag als unmöglich, meinem liebsten Laster im Rheinland zu frönen: einen großen Teller Reis mit Zucker und Zimt zu verschlingen. Es ist nach halb sieben. Immerhin finde ich zwei Straßen weiter einen Suppenkaspar, einen Imbißladen mit einem Struwwelpeter-Schild, wo man eine Suppe essen kann.
Wer kennt noch den Struwwelpeter, der sich weder die Haare kämmen noch die Nägel schneiden lassen wollte? Oder Konrad, der immer am Daumen lutschte, bis der Schneider kommt und ihm radikal beide Daumen abschneidet? Oder Paulinchen mit dem gräßlichen Schicksal: »... ein Häuflein Asche blieb allein...«, weil sie mit dem Feuerzeug gespielt hatte? Oder den besagten Suppenkaspar, jenen Trotzkopf, der sich vier Tage hintereinander weigerte, seine Suppe zu essen und am fünften Tag - als Strafe des Himmels - an Entkräftung starb?
Auch wem die Gestalten Heinrich Hoffmanns nicht schon als Kind begegnet sind, dem bleiben sie tief im Gedächtnis haften. Die Strichführung der Zeichnungen ist von grausamer Einfachheit, und Reim und Rhythmus lassen einen nicht mehr los. Die kindliche Welt, die sie beschreiben, ist absolut ohne Ausweg, so wie sie den Kindern der damaligen Zeit erschienen haben mag.

»Konrad«, sprach die Frau Mama,
»ich geh aus, und du bleibst da.«

Ich habe freilich einen Ausweg gefunden, es ist mir gelungen, den Inhaber des Suppenkaspar zu erweichen; er reichte mir über den Tresen, was es noch an Warmem gab: eine Erbsensuppe mit einem Plastiklöffel. Großartig.
Im Rheinland herrscht eine Wärme, eine Ruhe und eine Bodenständigkeit, im Vergleich zu denen der Osten noch verletzlicher erscheint.

26. SEPTEMBER

Vulgarität

Eine Werbung auf n-tv (dem Informationssender, der in allen Büros deutscher Politiker nonstop läuft) verdrießt mich nach der diesjährigen Sommerpause ganz besonders.
Es handelt sich um steuerbegünstigte Investitionen. »x DM Steuern pro Monat«, verkündet jemand mit Stentorstimme, »das macht soundsoviel in zehn Jahren und soundsoviel in dreißig Jahren!« Die Stimme wird immer lauter und stößt schließlich ein verzweifeltes »Muß das sein?« aus.
Man kann die Vorzüge zweier unterschiedlicher Lebensweisen, man kann aber auch ihre Mängel miteinander vergleichen.
Die französische Vulgarität ist ziemlich genau erfaßt. Cabu hat sie in seinen Zeichnungen recht hübsch definiert. Der gräßliche beauf, die französische Spielart des Spießers, abgeleitet von beau-frère - Schwager - in seinem schmuddeligen Unterhemd, schlecht rasiert, mit fettigem Haar, der die Zigarettenasche in sein Rotweinglas fallen läßt und in schulmeisterlichem Ton über Gott und die Welt doziert. Alles an ihm ist nachlässig, die Kleidung, die Gedanken, die Sprache. Abscheulich.
Nichts dergleichen bei der deutschen Vulgarität. Die deutsche Vulgarität ist sauber, ja geradezu auf Hochglanz poliert; der beauf stößt einen mit seiner Wurstigkeit ab, sein deutscher Vetter, der Spießer, bringt einen durch sein vereinnahmendes, blitzblankes Wesen um; der beauf schwatzt über alles, der Spießer weiß alles und geht mit seinem Wissen überall hausieren; der beauf hat ein dehnbares gutes Gewissen, der Spießer hat das Recht auf seiner Seite und läßt es alle wissen.
Ich kann nicht sagen, welcher von beiden mehr Unheil anrichtet, aber bei dieser Werbung sehe ich das Bild des zweiten vor mir.

27. SEPTEMBER
Im deutschen Fernsehen weiß man immer, wieviel ein Preis einbringt; und in den Zeitungen weiß man, was eine Katastrophe kostet.
In Italien bebt die Erde; die Bildunterschrift lautet: Die Kuppel von San Francesco d'Assisi ist eingestürzt (x Millionen DM Schaden).

27.  SEPTEMBER
In allen Zeitungen dieselbe Schlagzeile: das Scheitern der Steuerreform.
Auf der ersten Seite des Wirtschaftsteils der FAZ erklärt der Präsident des Bundes der Steuerzahler, daß »das Scheitern der Steuerreform eine nationale Schande« sei.
Einer schiebt die Schuld auf den anderen. Großaufnahmen zeigen Waigel, Schäuble und ihre Koalitionspartner von der FDP mit düsterer Miene.
Doch seltsamerweise entsteht der Eindruck, als habe die Opposition die meiste Schuld. Anstatt der SPD zugute zu halten, daß sie ihrer Oppositionsrolle nachkommt, scheint die öffentliche Meinung die SPD für unseriös zu halten und wirft ihr vor, die Regierungsprojekte, die das Land voranbringen sollen, nicht zu unterstützen. Das heißt den Wolf tadeln, daß er nicht Hirte ist; aber es paßt zu der wenig politischen Denkweise, die in Deutschland ziemlich häufig anzutreffen ist.

27.  SEPTEMBER

Indonesien brennt.

Die durch El nino verursachten Klimaschwankungen haben die Brandrodungen der großen Holzunternehmen in unkontrollierbare Feuersbrünste verwandelt.
Selbstverständlich schenken die Deutschen diesem Geschehen mehr Aufmerksamkeit als wir. In den entsprechenden Zeitungsartikeln stoße ich wieder auf eine typisch deutsche sprachliche Besonderheit: diese Art, die Welt, in der wir leben, zu personifizieren, zu vermenschlichen. Ich habe die Gewohnheit, die Erde als Mutter Erde zu bezeichnen, immer als genant empfunden, der Rhein ist nie mein Vater gewesen, und es sind die Wälder, die brennen und nicht »das grüne Kleid der Erde«, wie es über einem Artikel in der Süddeutschen steht. Diese mangelnde Distanz hat mir seltsamerweise immer Unbehagen verursacht.
Und selbstverständlich sind die aufsteigenden Rauchwolken krebserregend. Ohne Anführungszeichen.

28. SEPTEMBER
In der Art Familienpension im Berliner Grunewald, wo ich sehr häufig übernachte, sind heute morgen so gut wie alle Gäste in Sportkleidung - mit Startnummern - zum Frühstück erschienen.
Erst nach der ersten Tasse Kaffee wird mir klar, daß sie am Marathonlauf von Berlin teilnehmen. Das Paar neben mir kommt aus Franken (nicht aus Bayern, wie sie betonen), aber außer den Deutschen gibt es unter den 18 000 Läufern 427 Franzosen sowie Teilnehmer aus den Niederlanden, Dänemark, Amerika... Plötzlich begreife ich, warum sich letzten Freitag im Flugzeug Paris-Berlin diese zwei afroamerikanischen Behinderten mit ihren Wettkampfrollstühlen befanden. Wie sollte man auch nur eine Sekunde daran zweifeln, daß die Deutschen einen Marathon organisieren würden, ohne daran zu denken, sie einzuladen?
In der Zeitung lese ich, daß wahrhaftig hundertzwanzig Querschnitts gelähmte teilgenommen haben. Wofür wir handicape, Behinderter, sagen, gibt es im Deutschen den Ausdruck Rollstuhlfahrer. Als solche würde ich lieber in Deutschland als in Frankreich leben.

29. SEPTEMBER
Das Kino beginnt um 20.30 Uhr und befindet sich gleich neben der Neuen Wache. Wo kann man vorher noch schnell etwas essen?
Für den Kudamm ist die Zeit zu knapp, das ist zu weit. Eher etwas in Richtung Neue Synagoge, in dieser Art Berliner Marais-Viertel, das jetzt groß in Mode ist.
»O ja, gehen wir zum Juden.«
Überrascht sehe ich denjenigen an, der diesen Satz, den ich in Deutschland für verschwunden hielt, ausgesprochen hat. Gewiß gehen wir »beim Araber an der Ecke« oder auch »beim Italiener« einkaufen, wir gehen auch in ein jüdisches Restaurant, aber ich dachte, daß die Deutschen...
Seit dem Fall der Mauer hat sich die Situation freilich verändert. Rund um die Neue Synagoge, deren goldene Kuppel wieder weithin leuchtet, ersteht das jüdische Viertel von Berlin zu neuem Leben.
Die jüdische Gemeinde soll 40 000 Mitglieder umfassen, wovon ein großer Teil aus Rußland kommt; so gibt es jetzt auch wieder russische Zeitungen in Berlin.
Das Viertel ringsum bietet im ersten Moment einen wenig attraktiven Anblick, es wirkt eher destroyed, doch hier, in dieser Landschaft von baufälligen und funkelnagelneuen Häusern, ersteht das kulturelle Berlin neu. Rund um die Oranienburger Straße und die Hackeschen Höfe, in diesen Riesengebäuden mit ihren zahlreichen Höfen, die von Pabst und Lang verewigt wurden, haben sich Galerien, Kneipen, Buchhandlungen und Künstlerateliers angesiedelt. Die Straßen bevölkern Gestalten von recht gefährlichem Aussehen, mit ihren abrasierten oder gefärbten Haaren, gepiercten Ohren und Nasen und ihren abgerissenen Sachen, ganz Grunge-Look, aber sie sind von entwaffnender Höflichkeit, wenn man sie anspricht - ein in Deutschland häufig anzutreffender Widerspruch.
Das Viertel macht dem Prenzlauer Berg Konkurrenz, wo die Subkultur und die früheren Regimekritiker des Ostens zu Hause sind und wo sich jetzt kleine indische, pakistanische und türkische Restaurants niedergelassen haben, worauf die Ostdeutschen besonders stolz sind, baß erstaunt, daß sie auf einmal solche Kosmopoliten geworden sind.
Man muß zugeben, daß der Kollwitz-Platz einen großen Charme besitzt, auch wenn alle umliegenden Häuser wie die schlimmsten New Yorker Metros außen und innen mit Graffiti verunstaltet sind.
In dem gewaltigen Ballungsgebiet von Berlin existieren klar abgegrenzte Bezirke, gewissermaßen kleine Inseln, wo sich das Leben auf eine unabhängige, manchmal chaotische und aufregende Weise abzuspielen scheint.
Und alle Diskos und Clubs, vor allem die »allerneuesten«, die »supertrendigen« wie der »Tresor« oder das »Delicious Doughnuts«, befinden sich im Osten.

30.  SEPTEMBER
Heute wurde der Grundstein zum künftigen Bundeskanzleramt gelegt. Helmut Kohl ist zu diesem Anlaß angereist. Allmählich ahnt man, wie der Potsdamer Platz und insbesondere das Regierungsviertel einmal aussehen werden.
Ebenso beginnt man zu ahnen, wie Berlin insgesamt einmal aussehen wird. Die Stadt will sich ein solides Erscheinungsbild geben, mit einer dichteren Bebauung - von Phantasie und Innovationsgeist ist dabei freilich nicht allzuviel zu spüren. In erster Linie will sie ihren Einwohnern und denjenigen, die die Stadt besuchen kommen, ein Gefühl der Sicherheit vermitteln. Eine normale, moderne Stadt, die an das Berlin von vor dem Krieg, vor Nationalsozialismus und Kommunismus, vor all diesen unheilvollen Zeiten anknüpfen soll.
Darum bemüht sich ein Architekten-Trio, von dem es heißt, daß es Berlin beherrscht: Kleihues, Kollhoff und Sawade. Gewiß, da sind auch noch Renzo Piano, Pei, Jean Nouvel, Aldo Rossi... und Norman Foster, der den Reichstag umgestaltet. Aber ihre Entwürfe sind mit jeder Überarbeitung immer braver geworden.
Wir werden ein großes, ein schönes modernes Berlin bekommen.