Juni

2. JUNI
Seit heute morgen kommentieren die Deutschen ausführlich die Wahlergebnisse in Frankreich. Die offiziellen Stimmen sind im Moment noch sehr zurückhaltend. Fernsehen, Radio und Zeitungen bewegen sich im Rahmen des sachlichen politischen Kommentars. Unterhaltender ist es, sich anzuhören, was die Deutschen auf der Straße dazu sagen. Die konservative Rechte verdreht nur die Augen: »Diese Franzosen mit ihrer Leichtfertigkeit und ihrem Hang zum Risiko! Wenn man die Macht hat, setzt man sie nicht aufs Spiel, es sei denn, man wird dazu gezwungen...« Und die Linke meint: »Ach ja, die Franzosen haben wenigstens Temperament. Sie wagen noch etwas...«. Ein Freund, den seine Firma für zwei Jahre nach Frankreich geschickt hat, sagt sogar: »Haben Sie in Le Monde gesehen, die Meinungsumfrage hat ergeben, daß fünfundzwanzig Prozent der Franzosen mit ihrer Stimme die Regierungspartei abstrafen wollten... Können Sie sich so etwas in Deutschland vorstellen? Nein, wir könnten das nicht, wir sind keine Nation von >Frondeuren<; wir sollten uns von den Franzosen eine Scheibe abschneiden...« Worauf es von rechts wie von links entsetzt zurückschallt: »Von den Franzosen? Sie sind wohl verrückt, sie würden uns noch mit in ihr Chaos hineinziehen!«
In der Tat, jenseits vom Politikgeschäft und von Zufallssiegen auf der einen oder der anderen Seite sind die Deutschen insgesamt, wie es ein Journalist vom WDR heute morgen im Fernsehen so schön gesagt hat, nicht so »revolutionär« wie die Franzosen. Verfallen die Deutschen in Weltuntergangsstimmung, tendieren sie im allgemeinen nach rechts und werden noch konservativer - wenn nicht ganz und gar reaktionär - und sie schließen die Reihen.
Zu diesem generellen Phänomen kommt noch ein anderes, wesentliches Moment hinzu: die Überalterung der Bevölkerung. Sie fällt in Deutschland stärker ins Gewicht als in Frankreich, da die Geburtenrate hier noch niedriger liegt (es ist auffällig, wenn man in Fotoalben aus der Vorkriegszeit blättert, wie jung - und wie mager - die Leute waren). Eine Bevölkerung, die das mittlere Alter überschritten hat, neigt nun einmal nicht zu Abenteuern.
Wenn die Franzosen ein solches Gefühl überkommt, tritt die gegenteilige Wirkung ein; die Franzosen messen ökonomischen Fragen nicht eine so große Bedeutung bei wie die Deutschen der neunziger Jahre. Derselben Meinungsumfrage in Le Monde zufolge stehen der Euro und die Kriterien von Maastricht bei den Franzosen erst an achter Stelle auf der Prioritätenliste der zukünftigen Regierung.
Im Gegensatz zu den Deutschen interessieren sich die Franzosen auch mehr für Personen als für Programme. In Deutschland wird kaum jemand die Frage stellen: »Hat er das Zeug zum Staatsoberhaupt?« In Frankreich ist das die einzige Frage, die die Leute wirklich interessiert. Mag den Franzosen der Neunziger nach jahrelangem Konsumieren à la USA auch nicht mehr der Sinn nach großen Aufschwüngen stehen, mag es ihnen auch an einer nationalen günstigen Leitfigur von Format mangeln - wenn sie unzufrieden sind, scheinen sie doch noch über genügend Agilität zu verfügen, um an Revolution zu denken oder zumindest Lust zu verspüren, denjenigen die Macht zu entreißen, die sie in Händen haben.
Solche entgegengesetzten Reaktionen gegenüber demselben Gefühl von Unmut trennen uns, sie spalten uns und verstärken das Unverständnis. Um so mehr, als die Deutschen sich nicht genügend klarmachen, daß unser Mehrheitswahlrecht mit zwei Wahlgängen eine stärkere Fluktuation im Parlament zur Folge hat als ihr Verhältnis-
Wahlsystem, und es ihnen schwerfällt, die Auffassung von der Rechten und der Linken, wie sie in Frankreich herrscht, zu durchschauen. Rein semantisch betrachtet, gibt es bei ihnen keine »Rechte«, sondern - wie bei uns im 19. Jahrhundert - »bürgerliche« Parteien. »Die Rechte hat gewonnen«, heißt heute noch >Sieg der Bürgerlichen<. Lediglich die extrem liberalen und mehr noch die linken Zeitungen sprechen von der »Rechten«. In Deutschland muß man also praktisch links sein, um von der Rechten zu sprechen, ansonsten scheint die soziale Zugehörigkeit unstreitig den entscheidenden Ausschlag darüber zu geben, welcher politischen Richtung man angehört. Allerdings gibt es in Deutschland auch eine Kaviar-Linke, die Toskana-Fraktion (die, wie ihr Name besagt, ihre Ferien in Italien verbringt und ähnliche Gepflogenheiten hat wie ihre amerikanischen Amtskollegen vom »Brie and white wine set«).
Aber dieses Unverständnis, diese Unterschiede sind nur die Spitze des Eisbergs. Die kulturelle Biographie der beiden Länder ist zu verschieden, als daß die Begriffe »links« und »rechts« den gleichen Sinn hätten. Damit muß man leben.

3. JUNI
In einem Artikel über Italien, den ich in einer konservativen Zeitung gelesen habe, wird über den Prozeß gegen die beiden SS-Leute berichtet, die die Massaker in den Ardeatinischen Höhlen verschuldet haben.
Das geringe Interesse, das der Prozeß auslöst, veranlaßt den Journalisten zu ein paar Überlegungen. Er zollt den Italienern Bewunderung, zum einen wegen ihrer Ruhe, ihrer Klarsicht und Gelassenheit, mit der sie ihre Vergangenheit beurteilen, aber vor allem weil sie »schon im November 1942, als die ersten alliierten Bomben auf die wichtige Hafen- und Industriestadt Genua fielen, die Lust am Krieg verloren und ganz realpolitisch-nüchtern die Gefahren einer Niederlage in Rechnung stellten... Ihr Realitätssinn ersparte den Italienern die Bombardierung der Städte und den Tod Unzähliger, der Welt die Zerstörung der Hälfte ihrer Kunstwerke.«
Nebenbei läßt sich der Artikel über die Schmach, die sozusagen dem Status des Besiegten eigen ist, vae victis, aus, oder über das Verhalten der Wehrmachtssoldaten, das bei weitem »anständiger« gewesen sei als das der Alliierten (die »Goumiers« von Monte Cassino), für einen Franzosen nicht gerade angenehm, so etwas zu lesen; entscheidend aber ist die Auffassung, die dem gesamten Artikel zugrunde liegt, daß nämlich die Italiener nicht »verraten« hätten, sondern »vernünftig« gewesen seien. Wenn man das liest, sagt man sich, daß die Deutschen von heute offensichtlich nicht mehr »bis zum bitteren Ende« kämpfen, daß sie den Kelch nicht mehr bis zur bitteren Neige leeren würden.
Wenn dem so ist, müßte man nicht mehr erleben, wie fanatisierte fünfzehnjährige Kinder, als »Werwölfe« gemustert, mit ihrer Panzerfaust auf Panzer losstürmen und wie hohe Beamte in den Monaten April und Mai, als bereits alles eindeutig verloren ist, noch Menschen erschießen und hängen lassen. Denn das Erstaunliche ist nicht, daß ein Richter nach dem Tod Hitlers im Frühjahr 1945 ein Todesurteil ausgesprochen hat, das Erstaunliche ist, daß es ausgeführt wurde: In den Reihen der geschlagenen Armee herrschte also noch immer eine solche Gläubigkeit, daß die Soldaten des Exekutionskommandos nicht auf die Idee kamen, einfach die Gewehre wegzuwerfen.
Allem Anschein nach verliert sich diese Eigenschaft. Jener Charakterzug, den die Deutschen gern Nibelungentreue nennen - in Anspielung auf die nordische Sage, die auch Wagner inspiriert hat - existiert offenbar nicht mehr. Die Deutschen haben sich verändert.

4. JUNI
Seit ein paar Tagen erneute Zunahme der Brandanschläge in Deutschland. Das Fernsehen fühlt sich verpflichtet, darüber - knapp - zu berichten, ohne sich in Vermutungen zu ergehen; die Vorfälle werden lediglich erwähnt; die Zeitungen beschränken sich auf Kurzmeldungen.
Am 31. Mai sterben drei Menschen in einer Dresdner Obdachlosenunterkunft.
Am 2. Juni brennt ein Asylbewerberheim in Essen.
Am 3. Juni ist es ein Heim für Behinderte in Gladbeck.
Nach den Verlautbarungen der folgenden Tage handelt es sich augenscheinlich nicht um eindeutig rechtsradikale Anschläge. Eher um ein soziales Übel. Es wird davon geredet, daß häufig Kurden mit im Spiel seien. Inzwischen erregt dieses Problem eine solche Aufmerksamkeit, daß der Spiegel vom 2. Juni einen Plan von Lübeck mit den hauptsächlichen Brandstätten der letzten Jahre abdruckt. Es ist beeindruckend: Innerhalb von zwei Jahren sind insgesamt elf türkische Restaurants, libanesische Geschäfte, Obdachlosenunterkünfte, Asylbewerberheime, aber auch Sporthallen, Papierlager... und selbstverständlich Kirchen und die Synagoge Großbränden zum Opfer gefallen.
Laut Polizeibericht gab es 1995 hundertneunundvierzig kriminelle Brandstiftungen. Mehr oder weniger schwer, mehr oder weniger in den Medien publik gemacht, sind sie auf alle Fälle nie richtig aufgeklärt worden.

5. JUNI

50 Jahre Marshallplan

Alle Zeitungen sind heute voll davon. Auszüge aus der Harvard-Rede von George Marshall, in der er seinen Willen bekundet, gegen »Hunger, Verzweiflung und Chaos« anzukämpfen; Zeitbilder. Im Fernsehen nehmen die Bilder von den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag mit den bewegten Gesichtern der Verantwortlichen breiten Raum ein.
Deutschland denkt darüber nach, was es den Vereinigten Staaten zu verdanken hat.
Nichts ist schwieriger für uns zu begreifen und nichts ist schwieriger in den französisch-deutschen Beziehungen als die deutsch-amerikanischen Beziehungen.
Wir haben mit den Deutschen das Grundprinzip gemeinsam, daß »wir auf der Seite der Amerikaner stehen«, aber die Verärgerung, der Verdruß, das Gefühl, auf kulturellem Gebiet an die Wand gedrückt und überrollt zu werden und wenig angesehen zu sein, sind in Deutschland unbekannt. Dem begegnet man - unter vorgehaltener Hand - höchstens bei den großen Industriebossen, die die Denkweise der D'Amato- und Helms-Burton-Gesetze nicht allzusehr schätzen. Bis heute wird jeder auch noch so schwache Angriff auf die Vereinigten Staaten sofort von jener Vorstellung zum Schweigen gebracht, die sich still und leise, aber unverrückbar festgesetzt hat: Wir haben die Vereinigten Staaten zweimal unterschätzt, wir werden es nicht noch ein drittes Mal tun.
Im Alltag hört man so gut wie nie, daß sich jemand über den übermächtigen Einfluß der Vereinigten Staaten beklagt. Zu Recht, aber auch zu Unrecht, denn Deutschland ist weniger und zugleich mehr amerikanisiert als wir.
Weitaus weniger, wenn man bedenkt, daß in Deutschland an den Stadträndern keine »amerikanische« Atmosphäre herrscht wie in unseren großen »Gewerbecentern«, da sich die Struktur der kleinen Läden besser erhalten hat; weniger auch, weil der soziale und religiöse Zusammenhalt (Vereine, Einfluß der Kirche usw.) auf dem Lande und in den Kleinstädten mehr Bestand hat, insbesondere im ländlichen Süden. Das Phänomen der Globalisierung und »Banlieusardisation«, dieses »Vormarschs der Vorstädte«, mit all seinen Attributen - Sweatshirt, Nike oder Reebok, Fernsehen, McDonald's, Einkaufszentren, CDs, cd-roms, Kassetten, Comics und dem letzten Spielberg - hat noch nicht den Gregorianischen Kalender, die Kinderlieder, die Bilderbücher vom Pere Castor, die Sonntagskleider, den dafoutis, diesen hausgemachten Kirschkuchen, und das »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!« in einem solchen Maße ihres Sinns entleert. In einem Dorf in Bayern ruft niemand »Braiaan (Brian), komm, wir wollen Allowien (Halloween) feiern!« so, wie in den Dörfern der Provence, wenngleich man im Ruhrgebiet häufig »Kevin, komm nach Hause!« hört (allerdings folgen deutsche Eltern schon seit langem ihren eigenen Vorstellungen bei der Wahl der Vornamen, während das bei uns neu ist). Die T-Shirts sind dort freilich ebenso mit großen Buchstaben, Markennamen und englischen Wörtern bedruckt, aber hierin zeigt sich der Unterschied: Es schockiert weniger als in Frankreich, es erscheint weniger fremd, weniger aufgesetzt, so, wie man auch Happy birthday singt, ohne sich im mindesten nach etwas Anspruchsvollerem zurückzusehnen, das es heute nicht mehr gibt. Wahrscheinlich, weil Deutschland Amerika innerlich näher ist. Zunächst aufgrund der Sprache. Von einer in die andere zu wechseln ist nicht schwer, und das Deutsche hat eine ganze Reihe amerikanische Wörter aufgenommen, die die Sprache amerikanisieren, ohne daß man dem Beachtung schenkt: »Er ist clever, ausgepowert...«. Und schließlich, ganz ohne Frage, weil Deutschland nach dem Krieg bei Amerika in die Schule gegangen ist. In den achtziger Jahren hatte die Friedensbewegung eine gewaltige antiamerikanische Welle ausgelöst, auf ihre Weise auch ein Ausdruck dafür, sich als Deutsche zu definieren. Heute, da das vorbei ist, bedarf es schon einer gewissen Anstrengung, um sich die Heftigkeit der Attacken eines großen Teils der Linken gegen die Nato zu vergegenwärtigen.
Um sich von der Hinterlassenschaft zu befreien, die die Deutschen in den Ruin geführt hatte, haben sie voller Eifer das Modell des Siegers, der Vereinigten Staaten, komplett übernommen. Betrachtet man dieses amerikanische Modell jedoch genauer, erhebt sich die Frage, ob die Symbiose deshalb so leicht vonstatten ging, weil es sich um eine Rückkehr zum Entsender handelte - die Hinwärtsbewegung hatte ein paar Jahre zuvor stattgefunden. Zumindest ist das die Auffassung, die ein amerikanischer Universitätsprofessor, Allan Bloom, in einem vor ein paar Jahren vielbeachteten Werk, Der Niedergang des amerikanischen Geistes, vorbringt. »In einer seltsamen Art und Weise teilte man Nietzsches psychologische und soziale Thematik zwischen beiden auf. Freud konzentrierte sich auf das Es oder das Unbewußte, das Sexuelle als Antriebskraft für die interessantesten geistigen Phänomene... Weber hingegen beschäftigte sich überwiegend mit der Problematik der Werte, der Rolle der Religion bei ihrer Entstehung und der Rolle der Gemeinschaft. Der größte Teil der Terminologie, die uns heute so vertraut ist, stammt meist direkt von Freud und Weber... Herbert Marcuses Akzent verwandelte man in ein Middle-Western-Näseln; das Markenzeichen >echt deutsch< ersetzte man durch >made in USA<, und das neue amerikanische Lebensgefühl erweist sich, sieht man nur richtig hin, als eine Disneyland-Version der Weimarer Republik für die ganze, brave Familie...« Die Amerikaner hätten den »Nihilismus mit einem Happy-End« adoptiert; aber auch wenn er sich dagegen verwahrt, »unter jedem amerikanischen Bett einen deutschen Intellektuellen zu sehen«, schreibt Bloom: »Wer hätte schon im Jahre 1920 ernsthaft geglaubt, daß Max Webers fachspezifische soziologische Terminologie eines Tages in den USA zur Umgangssprache werden würde, ausgerechnet in den Vereinigten Staaten, dem Land der Spießer, das allerdings mittlerweile zur mächtigsten Nation der Welt aufgestiegen war?«
Andere amerikanische Intellektuelle mögen eine andere Meinung vertreten, aber diese erhellt die geistige Symbiose zwischen Deutschland und Amerika, die mangelnde Gegenreaktion auf bestimmte Eingriffe Amerikas und bestätigt den Eindruck, den man gewinnen kann, wenn man nach mehreren Jahren England- und Deutschlandaufenthalt als Zwanzigjährige in die Vereinigten Staaten kommt und dort, anstatt in dieser ehemaligen Kolonie erwartungsgemäß auf England zu stoßen, vor allem... Deutschland vorfindet. Man muß wissen, daß es eine sehr bedeutende deutsche Auswanderungsbewegung in die Vereinigten Staaten gab, die den Mittleren Westen kulturell stark geprägt hat, und daß, wie es heißt, Harvard eine »deutsche« Universität ist. Aber ohne Nationalsozialismus und Krieg, ohne die Emigration in die Vereinigten Staaten in den dreißiger Jahren hätte das alles nicht so tiefe Spuren hinterlassen, es hätte keine Vermittler wie Bruno Bettelheim gegeben, und die Filme von Woody Allen stünden für Allan Bloom nicht am Ende der direkten Linie Nietzsche-Heidegger-Erich Fromm-Riesman.
Von den Deutschen also zu verlangen, sich in irgendeiner Weise von den USA abzugrenzen, wäre, wie man sieht, zuviel verlangt. Es ist verständlich, daß sie diesen Wandel ihrer eigenen Kultur so bereitwillig angenommen haben, und damit auch die Simplifizierung, Banalisierung und Kommerzialisierung, die uns - wie lange noch? - ein wenig fremd ist.
Vor allem sollte man bei der Aufzählung der obligatorischen Gefühle der Deutschen gegenüber den Vereinigten Staaten nicht die Dankbarkeit vergessen, die sie mit gutem Grund empfinden: Sie haben weder die Carepakete noch die Berliner Luftbrücke 1948 und eben auch nicht den Marshallplan vergessen. Von der Dankbarkeit zum Kniefall ist es nur ein kleiner Schritt, zumindest solange man nicht das Bedürfnis verspürt, sich von der Bevormundung zu befreien und solange die gegenseitigen Interessen übereinzustimmen scheinen.

6. JUNI
Fragt sich nur, wie die siebzehn Millionen Ostdeutschen, die nicht davon profitiert haben, auf diese Feiern der deutsch-amerikanischen Freundschaft reagieren.
Ich hätte eine ostdeutsche Zeitung lesen müssen; aber ich war im Westen, wo es keine gibt, denn sieben Jahre nach dem Fall der Mauer ist die Medienlandschaft, vor allem die der Presse, noch immer weitgehend in Ost und West aufgeteilt. Die Westdeutschen lesen Wessi-Zeitungen und die Ostdeutschen Ossi-Zeitungen. Aber in einer Westzeitung entdecke ich ein großes Foto von einer ostdeutschen Kundgebung: 1950, eine ruhige, geordnete Kundgebung, mittendrin ein riesiges Transparent, auf dem »Yankee go home!« steht und ein Arbeiter mit sowjetischen Zügen zu erkennen ist, der den von einem verschlagenen Onkel Sam offerierten »Marshallplan« empört zurückweist. Schon 1950 also spürte die DDR, daß die Bundesrepublik sie einholen und überholen würde, und hatte das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen.

6. JUNI
Mir fällt auf, daß zwischen Frankreich und Deutschland Gerüchte über Fragen der Regierungsbildung kursieren.
In der Tat, je häufiger Begegnungen stattfinden, je besser sich die Leute kennen, desto stärker wird auch der Einfluß aufeinander.
Doch bei diesem »französisch-deutschen« Karussell, auf diesen zahllosen gemischten Kolloquien und Konferenzen, sind so gut wie keine Ostdeutschen vertreten.

7. JUNI

Rechtschreibung

Wieder ein großer Aufmacher in der Zeitung über die Rechtschreibreform. Wie eine Fieberkurve zieht sie sich nun schon monate- ja jahrelang durch die deutschen Nachrichten. Wir hatten auch unsere Rechtschreibreform, deshalb ist es um so ergötzlicher zu beobachten, wie man in Deutschland mit dieser Frage umgeht. Für einen Franzosen erscheint die deutsche Rechtschreibung nicht allzu schwierig. Kein Vergleich mit den phonetischen Fallstricken des Englischen. Und kein Vergleich mit der halsbrecherischen geistigen Akrobatik des Französischen, was die Angleichung der Perfektpartizipien angeht. Im Prinzip wird alles so geschrieben, wie man spricht. Die einzige Unklarheit besteht bei solchen Fragen wie: Wird ein Wort zusammen, also in einem Wort, oder auseinander geschrieben? Wird es groß geschrieben? Schreibt man »ss« oder »ß«? Und wo wird ein Komma gesetzt?
Sicherlich im Sinne einer Demokratisierung oder Integration war der Gesetzgeber also darauf bedacht, »Fremdwörter« slawischer, jiddischer, angelsächsischer und französischer Herkunft, von denen es im Deutschen nur so wimmelt, einzudeutschen (Scharm anstatt Charme).
Die Beschlüsse waren kaum gefaßt, als sich die deutsche »Wachskugel« auch schon in Bewegung setzte: Die Verlage veröffentlichten ihre neuen Wörterbücher, die Schulbuchverlage brachten Lehrbücher mit der neuen Rechtschreibung  heraus,... und  angesichts dieses  Resultats wurden die deutschen Intellektuellen auf einmal wach. Die Unterschiede erscheinen manchmal nur geringfügig, aber was würden wir sagen, wenn wir diese Zeilen aus Racines Drama Bérénice so vor uns sähen:
»pour jamais, ah, seigneur, songez-vous en vous-même
combien ce mot est cruel quand on aime?«
anstatt:

»Pour jamais! Ah! Seigneur! Songez-vous en vous-même
Combien...<
(»Für immer! Ach, habt Ihr denn selbst auch empfunden,
Wie tief, wenn man liebt, diese Worte verwunden?«)

Von der prosaischen und ahistorischen Tristesse von Scharm einmal ganz abgesehen...
Der Protest lief ganz nach deutschem Muster ab: auf juristischer, wirtschaftlicher und auf Länderebene. Klage bei den Verfassungsgerichten der Länder, lange Betrachtungen über die bereits entstandenen Kosten (die Ziffer von 130 Millionen DM taucht immer wieder auf), endlose Erörterungen darüber, ob die Grundrechte des Individuums dadurch angetastet würden und ob es demnach zulässig sei, vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Beschwerde einzulegen. Zu einer solchen Lösung scheint der Verfasser eines Artikels vom 7. Juni 1997 in der FAZ zu neigen, den ich gerade lese.
Auf jeden Fall ist die Rechtschreibreform beim gegenwärtigen Stand der politischen Debatte in Deutschland ein erfrischendes Thema - und betrifft gleichermaßen ganz Deutschland, obwohl es vor allem von Schriftstellern aus dem Westen aufgegriffen wird.

10. JUNI
Das Verfassungsgericht Münster hat sein Urteil verkündet: Garzweiler II wird genehmigt. Es wird also weitere Löcher in der Art von Garzweiler I geben: 200 Meter tief mit einer Länge von zehn und einer Breite von drei Kilometern.
Die Koalition in Nordrhein-Westfalen ist erschüttert, aber sie zerbricht nicht. Die Grünen hoffen noch, das Projekt zu verhindern, für sie ist es ökonomisch nicht rentabel.
Rheinbraun behauptet indessen hartnäckig das Gegenteil: Die Braunkohle sei immer noch die am wenigsten kostspielige Energiequelle, die neuen Kraftwerke viel effizienter und der CO2- und SO2-Ausstoß bei den neuen Filtern weitaus weniger umweltschädlich.
Und es geht um 9000 Arbeitsplätze.

13. JUNI
Eine gute Sendung auf Arte: die Auswahlkriterien für die Aufnahme an der Universität in Frankreich und in Deutschland.
In Frankreich im wesentlichen Streß, in Deutschland die Strapazen des Langstreckenlaufs.
Anmerkung: In Bayern, genauer gesagt, in Niederbayern, legen zweiundzwanzig Prozent einer Altersklasse das Abitur ab. Und niemand meint, daß es mehr sein müßten.

14. JUNI
Der Umzug von Bonn nach Berlin läßt nach wie vor viel Tinte fließen und liefert immer wieder neuen Gesprächsstoff.
In Berlin werden die Gebäude vorgeführt, in die die jeweiligen Ministerien einziehen werden. Manche ziehen nur zu einem Teil um: Der Minister und das Kabinett werden ihren Sitz in Berlin haben, bestimmte Dienststellen bleiben in Bonn. So ist es auch beim Verteidigungsministerium, das in den Bendlerblock ziehen wird. An der Grenze zum Tiergarten gelegen, ist dieser Bau kein beliebiger Ort. Er war das Hauptquartier der Verschwörer des 20. Juli; hier waren die Dienststellen von Admiral Canaris und das Oberkommando des Heeres (OKH) untergebracht, dessen Leiter Olbricht und Stauffenberg waren. Und von hier brach Stauffenberg auf, um in der Wolfsschanze in Ostpreußen das berühmte Köfferchen unter dem Schreibtisch von Hitler zu deponieren - und hier wurde er nach dem Fehlschlag mit seinen Verbündeten Merz von Quirnheim, Haeften und Olbricht hingerichtet.
Es heißt, daß dies einer der Hauptgründe für Rühe sei, hier einzuziehen.
Andere, vor allem Fachministerien, ziehen überhaupt nicht um. Sie bleiben in Bonn.
Das Bundeskartellamt dagegen wird aus denselben Gründen nach Bonn gehen, aus denen es in Berlin war: um die Nähe zur Macht zu meiden.

17. JUNI
Eine kleine Anmerkung zum heutigen ehemaligen deutschen Nationalfeiertag. Er war dem Gedenken des 17. Juni 1953 gewidmet: dem Tag des Volksaufstands in der DDR.
Ausgelöst von den Protesten der Berliner Bauarbeiter, handelte es sich um ein Aufbegehren der Bevölkerung gegen die zunehmende Sowjetisierung der Gesellschaft unter der Führung Ulbrichts, des Ersten Sekretärs der SED: die Beseitigung der letzten Reste an Privateigentum, der letzten nichtsozialistischen ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen.
Frühere deutsche Nationalfeiertage feierten den Sieg von Sedan (Sedanstag) oder die Ausrufung des Kaiserreichs im Spiegelsaal von Versailles.
Alle deutschen Nationalfeierlichkeiten waren also dem Gedenken an Ereignisse gewidmet, die sich im Ausland abgespielt haben. Seltsam.

18. JUNI

Restauration auf deutsch

Seit ein paar Tagen sind die Zeitungen wieder voll davon, und der Ministerpräsident, dem wir heute einen Besuch abstatten, setzt uns auf seine lebhafte Art die Gründe dafür auseinander:
»Es ist eine sehr komplizierte Angelegenheit mit all diesen Eigentumsfragen in den neuen Ländern. Sehen Sie, hier in X., dieses große Areal im Stadtzentrum, das auf der Karte als Freifläche ausgewiesen ist, soll wieder bebaut werden. Aber vor dem Krieg und den Bombardements war dies ein dicht besiedeltes Viertel mit ganz verschiedenen Eigentümern. Schauen Sie, dieses Grundstück hier gehörte zum Beispiel einem jüdischen Geschäftsmann, der Ende der dreißiger Jahre enteignet wurde; es wurde dann von einem Deutschen gekauft, der in den fünfziger Jahren in den Westen gegangen ist und vorher alles für Ostmark - also für eine >weiche< Währung - verkaufen mußte. Um ihm zu helfen, ist die Kirche über einen Mittelsmann, der ihm im Westen zumindest eine kleine Summe, ein kleines Startkapital, ausgezahlt hat, als Käufer aufgetreten. Heute fordert sein Sohn alles zurück, er droht sogar damit, gegen die Kirche einen Prozeß anzustrengen...! Er ist nicht der einzige..., auch wenn so etwas nicht allzu häufig vorkommt. Er wird den Prozeß gewinnen..., mal sehen..., zumindest kämen wir dann weiter... Wenn dann nicht auf einmal ein jüdischer Enkel aus New York oder sonstwoher auftaucht, um den Grund und Boden zurückzufordern, den man seinem Großvater in den dreißiger Jahren weggenommen hat. Und das ist nur ein Grundstück von zweihundert...«
So sieht das psychische Drama aus, das sich fast überall in Ostdeutschland abspielt, seitdem der Einigungsvertrag festgelegt hat, daß »Rückgabe vor Entschädigung« geht. Es war vorauszusehen, daß diese Entscheidung Aufschub bedeuten und endlose Streitfälle zur Folge haben und so den Wiederaufbau hinauszögern würde. Diese Entscheidung ist jedoch gemeinsam getroffen worden.
Tatsächlich war der Gedanke, von dem sich die Initiatoren dieses Beschlusses haben leiten lassen, vor allem moralischer und juristischer Natur: »Wir haben altem Unrecht nicht neues Unglück, neues Unrecht hinzufügen wollen«, erklären sie. »Man mußte versuchen, dem Recht wieder Geltung zu verschaffen. Wir leben in einem Rechtsstaat. Eines seiner wichtigsten Rechte ist das des Eigentums; unser Sozialsystem und unsere Verfassung beruhen zum Teil darauf. Man muß alles tun, damit es respektiert wird. Die unselige Ausnahmeregelung für die Jahre von 1945-1949 ist uns von außen auferlegt worden. Das ist sehr bedauerlich.«
Man hört jedoch niemals Äußerungen aus politischer Sicht. Es ist äußerst selten, daß der historische Hintergrund auch nur erwähnt wird und die Ereignisse in einen globalen Rahmen gestellt werden. Die Angelegenheit wird nie in den Kategorien von Revolution und Restauration betrachtet. Dabei läßt sich die DDR ohne die Folgen der Revolution
von 1917 nicht begreifen. Und vom materiellen Standpunkt aus war das, was sich zwischen 1945 und 1949 abgespielt hat, in der Tat eine Revolution mit ihren klassischen Merkmalen: Unterdrückung der Eliten und Umwälzung der Eigentumsverhältnisse; die Wiedervereinigung zieht also - nolens volens - eine Restauration nach sich, allerdings eine, die nicht beim Namen genannt wird.
Andererseits lassen sich zugegebenermaßen auch nicht unsere französischen Maßstäbe anlegen: 1917 ist nicht 1789. Das DDR-System kann keine Errungenschaft, kein Ideal vorweisen - jedenfalls keine, die die alte Bundesrepublik als solche anerkannt hätte - zumal diese Revolution von innen heraus in Frage gestellt wurde, von den Regimekritikern und vom Volk selbst, das schließlich die Wende herbeigeführt hat. Und wenn von Revolution die Rede ist, bezieht sich das auf diese Wende, die mitunter als solche bezeichnet wird - obgleich die Bürgerrechtler aufgrund des Übergewichts der Rechten mehr oder minder an die Seite gedrängt worden sind, nachdem man sie nicht mehr brauchte.
Fragt man also einen Ostdeutschen, ob ihm Restauration angst mache, antwortet er im allgemeinen mit Nein, er hält es für ausgeschlossen, daß der Kommunismus zurückkehrt!
Als Folge einer solch verschwommenen, derart irritierenden politischen Situation nehmen die Deutschen offenbar zu pragmatischen Lösungen Zuflucht und suchen Antwort auf alle ihre Probleme im Bürgerlichen Gesetzbuch, verwechseln mithin »das Weltgericht mit dem Amtsgericht«. Dementsprechend urteilt man den Chef des Geheimdienstes, Markus Wolf, ab, macht man den Generälen des Nationalen Verteidigungsrates, dem beratenden Organ der Volksarmee, und den Mauerschützen den Prozeß, so wie man auch Erich Honecker aburteilen wollte.
Aber was tun, wird man erwidern, soll man »die Schuldigen ungestraft« lassen?
Wie dem auch sei, viele Deutsche scheinen davon überzeugt, daß man das Rad der Geschichte zurückdrehen und die Vergangenheit auslöschen könne, als hätte sich in Deutschland nicht ein Erdbeben abgespielt, das ganz Europa, ja, die ganze Welt erschüttert hat. Nur wenig ist vom ostdeutschen System in Betracht gezogen worden, so wie beispielsweise das Gesetz über die Abtreibung, das Gegenstand langer Debatten war.
Die Deutschen erwecken häufig den Anschein, als versuchten sie alles, um sich einzureden, daß sich nichts ereignet habe, oder als wollten sie es ganz und gar >ungescbehen machen<.
Es wäre nahezu ideal, wenn alles seinen früheren Zustand einnähme, wenn alles der Bundesrepublik zum Verwechseln ähnlich sähe. Bis hin zu den Straßennamen.
Für einen Franzosen hat das schon etwas recht Merkwürdiges, erinnert er sich an Ludwig XVIII., der nach nur fünfundzwanzig Jahren zurückkehrte, um sehr wohl die Monarchie, aber schon nicht mehr das »Ancien Regime« wiederherzustellen.
In der Tat hat schon Marx gesagt, daß Deutschland das einzige Land sei, das eine Restauration ohne Revolution erlebt habe. Dieser Satz ist im konformistischen Deutschland nur selten zu hören... Aber ist es nicht fast eine Tautologie, in diesen Zeiten von einem konformistischen Deutschland zu sprechen?

19. JUNI
Der heftige Streit, der die Koalition erschüttert hat, ist im Abklingen. Gezwungen, entsprechende Mittel zur Einhaltung der Maastrichter Kriterien zu beschaffen, hatte Waigel beschlossen, den Wert der Goldreserven der Bundesbank höher anzusetzen. Allgemeines Protestgeschrei des Polit- und Wirtschaftsklüngels und auf dem Umschlag des Spiegel: die »Gold-Bombe«. Die Opposition verlangt den Rücktritt des Ministers.
Aber heute hat sich alles beruhigt. Überall sieht man Fotos mit einem lächelnden Herrn Waigel, CSU-Finanzminister, an der Seite von Herrn Tietmeyer, Präsident der Bundesbank. Alles in Ordnung.

19. JUNI
Wittenberg, Jena, Dresden, Magdeburg... Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen, auch sie erstehen neu..., aber mit welcher Mühsal und Langsamkeit. Wie schwierig ist es, selbst mit fähigen, intelligenten und gutwilligen Leuten, an die Gegenwart anzuknüpfen, wenn man fünfzig Jahre lang in etwas hineingerissen war, was aus der zeitlichen Distanz eher wie ein schwarzes Loch der Geschichte erscheint.
Restauriert sind diese Stätten wunderschön. Jene Staatskanzlei zum Beispiel, deren architektonische Gestaltung von einem jungen Denkmalspfleger in hervorragender Weise wiederhergestellt wurde, ist eine Augenweide und verspricht glückliche Zeiten... Nur die Tische passen nicht hierher, und auch die Gardinen sind nicht gerade das, was man sich vorstellt. Nach sieben Jahren wirkt immer noch alles ein bißchen wie eine frisch bezogene Wohnung. Plötzlich ertappt man sich bei dem Gedanken, was hätte sein können, wenn... Es ist zu traurig.

20. JUNI
Das große Fest der Evangelischen Kirche, der Kirchentag, ist in vollem Gange, und ich bedaure, dieses Jahr nicht dabeizusein.
Ich hätte gern am ersten Kirchentag, der im wiedervereinten Deutschland im Osten stattfindet, teilgenommen. Der letzte, der im Osten stattfand - im Jahre 1954 - war gleichzeitig der letzte gemeinsame Kirchentag der DDR und der Bundesrepublik.
Dieses Jahr sind die gewohnten Massen junger Leute nach Leipzig eingeladen, um dort in einer »Atmosphäre frohen Feierns« zum »Sprechen, Singen, Beten und Zuhören« zusammenzukommen.
Bei den verschiedenen Foren, Werkstätten, Begegnungen, an denen Hunderttausende Menschen teilnehmen werden, wird man über die unterschiedlichsten Themen sprechen. »Zusammen leben: Und der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein« (Jesaja, 32, 17) oder »Die Zukunft: Säet euch Gerechtigkeit und erntet Liebe« (Hosea, 10,12). Die Bibelstunden, die gewöhnlich am frühen Vormittag stattfinden, spielen wieder eine zentrale Rolle. Als Gesprächspartner sind bereits rund fünfzig Persönlichkeiten angekündigt, darunter Johannes Rau, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Antje Vollmer, Vizepräsidentin des Bundestags, Reinhard Höppner, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, eine ganze Reihe von Bischöfen, Pfarrern und Theologieprofessoren, der stellvertretende Vorsitzende der IG Metall, Abgeordnete... Diese Zusammenkünfte, ein Mittelding zwischen Meditation und Bibelarbeit, hatten mich vor zwei Jahren in München sehr beeindruckt.
Daneben gibt es noch eine Fülle weiterer Veranstaltungen: Begegnungen für Hörgeschädigte, Treffen der Posaunenchöre, eine Andacht für Motorradfahrer, Gospel- und Rockkonzerte... Und das Ganze schließt mit einem Gottesdienst, der 100 000 Gläubige vereinen wird.
Ich weiß noch, wie mir dieses bunte Treiben der jungen Leute in ihren zu weiten Hosen in München gefallen hat, diese Atmosphäre dort, die so geprägt war von dem Willen zu begreifen, nachzudenken, etwas zu tun, daß man Lust bekam, selbst mitzumachen, und alles in dieser den Deutschen eigenen organisierten Unordnung.
Wir haben in Frankreich zweifellos nichts Vergleichbares. Frankreich ist ein katholisches und laizistisches Land. Man unterscheidet hier zwischen »konfessionell« und »nichtkonfessionell«, was sich im Konflikt um die Privatschulen widerspiegelt. Auf der einen Seite die (katholische) Kirche und auf der anderen die laizistische Welt, die sich von der moralischen Autorität der Kirche abgegrenzt wissen will.
In Deutschland verläuft die Trennlinie anders: Sie teilt die beiden Konfessionen, die katholische und die protestantische. Noch heute ist die CDU im großen ganzen katholisch, und die SPD protestantisch. (Der rheinische Katholizismus ist liberal und entspricht in etwa dem unseren; vielleicht ist er etwas weniger von »linkschristlichen« Strömungen durchzogen; der bayerische Katholizismus dagegen ist klerikal und von der Gegenreformation geprägt und steht dem Papst nahe). Der Begriff »laizistisch« hat in Deutschland also eine sehr präzise Bedeutung: Er bezeichnet einzig und allein die Protestanten oder Katholiken, die nicht Pfarrer oder Priester sind.
Der »Laie« spielt in der deutschen evangelischen Kirche folglich eine eindeutig größere Rolle als in der katholischen Kirche, denn in der protestantischen Kirche gibt es keinen Klerus, und der Pfarrer stellt eine Art Lehrer dar, der mit ganz weltlichen Aufgaben betraut ist. Die Organisation der Kirchentage liegt also in Händen von Laien, sie übernehmen die Leitung, legen die Themen fest usw.
Mit Hilfe »seiner Laien« deckt der deutsche Protestantismus so das Feld ab, das in Frankreich dem »Laizismus« überlassen ist.
Deshalb gibt es auf dem Kirchentag auch »Politische Nachtgebete<:, macht man sich Gedanken »über die Verantwortung
der Christen für die Zukunft Europas«. Es geht in der Tat darum, das ganze Vorfeld der Politik zu besetzen, sich an allen Überlegungen zur Gesellschaft, ihrer Struktur, ihren Bestrebungen, den Gefahren, denen der Bürger ausgesetzt ist, seinen Rechten und Pflichten usw. zu beteiligen.
Ein solches Zusammengehen der Religion oder Theologie mit Politik oder Philosophie ist für einen Franzosen freilich irritierend, zumindest in den ersten Jahren, die er in Deutschland zubringt. Aber gerade dieser Umstand hat es der Evangelischen Kirche ermöglicht, vor der Wende die Protestrolle gegenüber dem ostdeutschen Staat zu übernehmen, wodurch allerdings die tatsächliche Abkehr der Bevölkerung vom christlichen Glauben verdeckt wurde.

20. JUNI
»Was bei den Deutschen schrecklich ist«, flüstert mir die bildhübsche, feinsinnige Gattin eines holländischen Diplomaten bei einem Empfang in Paris zu, »ist, daß sie den Eindruck erwecken, als ob sie unverletzbar seien.«
Unverletzbar? Nein, eher wie gepanzert, weil sie sich verletzbar fühlen. Deshalb ist ihnen auch nichts wichtiger als »Sicherheit«. Im Dienst, in der Freizeit, im Privatleben - sie versichern sich gegen alles; sie fürchten unablässig um ihre Gesundheit, die sie schrecklich ernst nehmen: Kein Volk greift weniger leicht zu Medikamenten, die Einnahme von Antibiotika ist eine bedenkliche Sache, und bei einer Angina muß man das Zimmer hüten. Das ist einer der Gründe ihrer Sorge um die Umwelt: Wenn der Wald stirbt, wenn das Loch in der Ozonschicht immer größer wird und sich das Klima erwärmt, was wird dann aus ihnen?
Ungewißheit und Zweifel flößen ihnen ebenso Angst ein, und sie schützen sich davor, indem sie mit einer Schlichtheit und einem Eifer Wissen anhäufen, die ihnen zuweilen das Aussehen eines arrivierten Vetters vom Lande verleihen.
Und manchmal, wenn ihr Panzer ganz fest geworden ist, halten sie ihn für ihre Haut.

21. JUNI
Ich hatte schon eine geraume Weile nicht mehr den deutschen Fernsehsender n-tv gesehen, die Entsprechung unserer LCI, aber stärker auf die Wirtschaft ausgerichtet. Er gehört zu fünfzig Prozent CNN.
In welchem Maße »wirtschaftlich«, das hatte ich vergessen.
Solange es sich um die Börsennachrichten handelt, hat das Ganze noch ein gewisses Niveau, auch wenn sie in einem pseudoamerikanischen Tonfall und mit leicht überdrehter Stimme ohne Pause vorgetragen werden. Aber die Werbung ist grauenhaft: Da geht es ganz eindeutig nur ums »Sparen«. Alle drei Minuten: sparen bei Steuern, bei Versicherungen, beim Hausbau usw. Dagegen ist natürlich nichts einzuwenden, aber leider Gottes breitet sich das Sparen auch auf die Sprache aus, auch bei ihr wird gespart.
Das erinnert an jene berühmte Werbung aus den sechziger Jahren: Der weiße Riese mit Riesenwaschkraft und Riesenrabatt. Und wenn es zufällig einmal nicht ums Sparen geht, wird einem empfohlen, prächtige Gedenkmünzen oder wunderschöne Sissipuppen zu kaufen.
Einzig und allein der Wetterdienst hat etwas Erfrischendes: Bild und Ton sind angenehm verhalten, und es gibt Nachrichten aus der ganzen Welt mit genauen Temperaturangaben von all den Hauptstädten, in die man aus geschäftlichen Gründen fahren muß - das ist das Busineßwetter. Nach dem Busineßwetter kommt das Biowetter, das Deutschland in Zonen einteilt, in denen je nach Luftdruck ein gutes oder schlechtes gesundheitliches Befinden zu erwarten ist: »Im Südosten Kopfschmerzen und Apathie, im Norden erhöhter Blutdruck und Rheumaschmerzen...«, verkündet eine einschmeichelnde Stimme. Darauf folgt eine gute Sendung, abermals über die Gesundheit, die selbstredend >Fitt for Job< heißt.
Ansonsten..., ja, es gibt auch ausgezeichnete Sendungen wie die mit Lothar Späth, in denen man sich noch ein wenig Zeit nimmt, den Dingen auf den Grund zu gehen, ohne dabei in wüstes Palavern zu verfallen wie in den Talkshows, und in denen Journalisten und Gäste der schleichenden Kommerzialisierung der Sprache noch Widerstand zu bieten scheinen.
Hoffentlich bleibt es so.

22. JUNI

Lebensborn

Der Spiegel von dieser Woche rührt an eine der Seiten des Nazidramas, die die Phantasie der Menschen im nachhinein mit am stärksten beschäftigt hat, an einen dieser in der Tat »wahnsinnigen« Aspekte der Ideologie, die André Francois-Poncet in seinen Erinnerungen eines Botschafters in Berlin so deutlich herausgestellt hat: Der Spiegel hat die Archive des Lebensborn durchforstet.
Mit dem Lebensborn verfolgten die Nazis die Idee, zur Schaffung einer deutschen »arischen« Eliterasse beizutragen. Bemüht, ihren Kriterien entsprechendes »Menschenmaterial« von »guter Qualität« zu bekommen, ermunterten sie die deutschen Soldaten in den besetzten, vorzugsweise in den »nordischen« Ländern, Beziehungen einzugehen - in erster Linie in Norwegen, das wegen seiner Wikingerherkunft auf sie eine besondere Anziehungskraft ausübte - um dann die Früchte dieser Verbindungen einzusammeln.
Außerdem organisierte man Razzien, bei denen Kinder mit den gewünschten Kriterien (Augenfarbe, Haarfarbe, Distanz zwischen Stirn und Hinterkopf) aufgegriffen und gegen den Willen ihrer Eltern nach Deutschland verschleppt wurden.
Hieraus hat Michel Tournier die Inspiration für seinen Erlkönig geschöpft, die schreckliche Geschichte jenes Riesen, der auf seinen Streifzügen durch das Land Kinder einfängt und sie in die tiefsten germanischen Wälder Nazideutschlands entführt.
Die Tatsachen sind - wenn auch nur ungenügend - seit langem bekannt, aber jetzt hat die Öffnung der Archive im Osten dem ein neues Kapitel hinzugefügt.
Nach dem Krieg hat man versucht, die Herkunft dieser Kinder aufzudecken, soweit es noch Spuren gab (viele waren bei der Geburt gar nicht ins Standesregister eingetragen worden). Einige von ihnen konnten, mitunter erst fünfzehn oder zwanzig Jahre später, ihren Eltern zurückgegeben werden. Und das scheint, nach den jetzt zugänglichen Akten, die Geheimdienste der DDR auf eine besonders glänzende Idee gebracht zu haben.
Warum die Identität jener Kinder nicht dazu benutzen, Spione in den Westen zu schleusen? »Maulwürfe«? Manche norwegische Familie sah also auf einmal einen Mann bei sich auftauchen, bei dem es sich, wie ihnen versichert wurde, um den 1942 oder 1943 verschwundenen Sohn handelte..., dabei war es ein Stasi-Agent.
Der Spiegel hat zwei oder drei solcher Fälle aufgedeckt und damit eine Flut von Leserbriefen ausgelöst. Deutsche hört man häufig sagen, daß diese »Vergangenheit nicht vergeht«: Und in der Tat, durch die Öffnung der Archive im Osten wird diese Vergangenheit immer wieder daran gehindert zu vergehen.

24. JUNI

Die Berliner Philharmonie

Gewöhnlich mag ich die Philharmonie nicht allzusehr, trotz all ihrer einhellig anerkannten technischen Qualitäten. Ich finde sie etwas unpersönlich, zu wenig gegliedert, ich mag es nicht, wenn das Licht während des Konzerts fast ganz anbleibt, und daß es kein richtiges Foyer gibt, gefällt mir auch nicht. Heute, vielleicht weil ich dank einer Einladung einen sehr guten Platz habe - ganz nahe am Orchester, aber auch nicht zu sehr - stört mich das alles nicht, und bei dem Licht kann ich den Text mitverfolgen.
Ich hatte ihn nie gelesen; ich hatte Haydns Schöpfung immer nur flüchtig und nur in Ausschnitten auf Platten oder im Radio gehört. Ich hatte mich nie richtig mit dem berühmten Oratorium auseinandergesetzt.
Für eine in Musikdingen wenig bewanderte Französin ist das, auch wenn sie Deutschland gut kennt, ein Ereignis. Es ist, wie die Deutschen sagen, >ein Erlebnis<, etwas, was man intensiv erlebt, was einem für einen Moment den Atem verschlägt.
Alles, was mich in Deutschland schon immer ergriffen hat, alles, was es so anziehend und unersetzlich macht, findet sich hier wieder. Die Intensität, die sich in diesem Land aller Dinge und aller Wesen bemächtigt, hat sich heute abend in Musik umgesetzt und erhebt sich mit faszinierender und entwaffnender Sicherheit; sie nimmt Gestalt an in den Worten, die unverschnörkelt und geradlinig direkt auf ihr Ziel zugehen, indem sie die Dinge mit einer alles mit sich reißenden, brutalen Schlichtheit benennen. »Verzweiflung, Wut und Schrecken begleiten ihren Sturz«. Diese Schlichtheit, diese Sicherheit, diese wie hypnotisierte Unbeirrbarkeit, die an Ekstase grenzt, ist nur - das versteht sich von selbst - um den Preis eines Verzichts zu erlangen, um den Preis der Seele für etwas Höheres als das eigene Ich, für die Weltenordnung, für den Glauben. Und ebendiese Art, sich seines Selbst zu entledigen, ist es, was einen erschauern läßt, diese Fähigkeit, nicht mehr in sich selbst, sondern in dem, was man sagt, singt und tut, ganz und gar aufzugehen, völlig zu vergessen, einen Blick zurückzuwerfen, das eigene Leben wahrzunehmen, und so imstande zu sein, Dinge auszusprechen..., Dinge, die, ins Französische übersetzt, fast peinlich wirken, die einen genieren würden, weil sie zu intim oder zu »platt« sind und weil man sie für geschmacklos halten würde, so, als wenn ein barfüßiges, rotwangiges hübsches Mädchen auf einem Ball am Hofe auftauchte oder man in einer höfischen Unterhaltung ein Hühnerauge erwähnte. Oder wie die Glucke in Paul Gerhardts Lied »Geh aus mein Herz und suche Freud«, das auch auf Beerdigungen gesungen wird...

In vollem Glanze steiget jetzt
Die Sonne strahlend auf
Ein wonnevoller Bräutigam Ein Riese,
stolz und froh...

greift das Rezitativ den Gesang nun wieder auf.
Ich stelle immer wieder verblüfft fest, wie schwierig es ist, derartige Texte ins Französische zu übertragen, da sie übersetzt auf einmal beinahe ins Einfältig-Alberne abzurutschen drohen. Ich weiß auch nicht, ob in dieser Hinsicht die ersten Szenen des Prinzen von Homburg von Kleist oder der Anfang von Büchners Dantons Tod schwieriger sind, welches von beiden einen im Französischen mehr schaudern läßt... Aber die Kraft dieses Gedankens, der ubeirrt seinen Weg verfolgt, besteht gerade darin, die Geschmacksentgleisungen auf so großartige Weise zu ignorieren, um sich darüber hinaus, in ungewöhnlichere Gefilde emporzuschwingen und einen genau in dem Moment zu erreichen, da man am wenigsten damit rechnet und dieser ungehobelten Wortungetüme schon überdrüssig ist, so wie in den Filmen von Wim Wenders, wenn man, wie von einem Pfeil durchbohrt, just in dem Moment wie angenagelt sitzenbleibt, da man angesichts des lauteren - oder undurchschaubaren - Geredes schon zu gähnen begann und mit seinen Gedanken schon ganz woanders war, drauf und dran, sich aus seinem Sessel zu erheben und zu gehen.
Aber dann dieses Rezitativ. Die Stimme, die sich jetzt erhebt, hat nichts Ekstatisches mehr, hat nichts mehr von dieser halluzinatorischen Sicherheit, von dieser glorreichen und siegesgewissen Schlichtheit; sie leidet. Sie schwillt an, aber überschlägt sich, wie von einem unsichtbaren Gurt zurückgehalten, an keiner Stelle. Es ist der Ton der Matthäuspassion, dieselbe unendliche Verhaltenheit, diese teuer erworbene Ergebenheit, dieselbe Demut desjenigen, der in seine Selbsterniedrigung einwilligt und das Leid angenommen hat. Der es angenommen hat, um, wie es scheint, zu entfliehen und eben jenen friedlichen Hafen, den Glauben, zu erlangen, um die unwägbaren Fährnisse des Irdischen, den klaffenden Abgrund des Sinnlosen, die Versuchung der Leere zu fliehen, ebenso wie die Faszination und fatale Anziehungskraft des Nichts, des Todes, jenen schwindelerregenden Nihilismus, der sich unmerklich durch die deutsche Biographie - durch ihr literarisches und musikalisches Schaffen, durch ihre Geschichte und ihren Alltag - zieht, und zwar in einem solchen Maße, daß es inzwischen zu einem Gemeinplatz geworden ist; ein großartiges Beispiel dafür sind jene annähernd fünfhundert Balladen, die fast alle mit einem plötzlichen, aber sanften, geheimnisvollen, schmerzlosen Tod enden, einer bestimmten Weise also, sich aufzugeben, so wie es das Kind im Erlkönig tut - nahezu jeder deutsche Dichter hat eine solche Ballade geschrieben. Diese Selbstbeherrschung, dieser beschwerliche Weg zum rettenden Glauben, Belohnung für den Verzicht auf jegliche Unbeschwertheit, ist es, was in der Stimme Gabriels mitschwingt, wenn er Uriels Gesang aufnimmt, was einem das Blut erstarren läßt und einen zugleich überwältigt.
Dabei stellt sich auf einmal die Frage, warum in Gottes Namen haben die deutschen Mystiker, die Jakob Böhmes und Meister Eckharts, nicht all dieses Leiden auf sich nehmen können? Hätten sie es nicht kanalisieren, nach außen leiten können? Luther mochte sie nicht, bei ihm wäre eine Heilige Theresa von Avila undenkbar; wohl seinetwegen gab es immer nur Theologen... und Philosophen in Deutschland, die, anstatt sich dem Mystizismus auszusetzen, die Metaphysik auf die Erde zurückholten, sie verinnerlichten, sie ins Diesseits integrierten, so wie Hegel, der das Göttliche in die weltlichen Institutionen verpflanzte...
Aber wenn man heute abend in der Berliner Philharmonie zum Philosophieren neigt, hat das, neben der Musik, einen ganz menschlichen Grund: den Bariton Thomas Quasthoff. Ein schönes, sensibles Gesicht, und das aus gutem Grund!... Denn abgesehen vom Gesicht, ein unförmiger Körper, ein kleinwüchsiger Mensch, wie man heutzutage sagen würde, mit Händen, die vergessen haben, Arme zu kriegen... »Betrachte sie, o meine Seele...«. Und aus diesem grausamen Körper steigt die sicherste, kräftigste, harmonischste und schönste Stimme empor, die man sich nur denken kann. Ein Traum-Raphael.
Aber als er am Ende des Oratoriums den Adam sang, als er dem Schöpfer all seine Lobpreisungen und all seinen Dank entgegenschmetterte, als er mit einer Eva von geradezu provozierender Schönheit - Eva Banse - das ideale Urpaar verkörperte, und schließlich im Verein mit den Chören und Eva mit den Worten

Singt dem Herren alle Stimmen
Dankt ihm alle seine Werke
Laßt zu Ehren seines Namens
Lob im Wettgesang erschallen
Des Herren Ruhm
Er bleibt in Ewigkeit

... endete, und als die überwältigte Menge ihm stehend Ovationen darbrachte, als er sich aus den Niederungen des Daseins emporzuschwingen schien und selber zum Paradigma der Erlösung - oder zumindest der Sehnsucht nach ihr - geworden zu sein schien, ja, sogar zur Allegorie der von Haydn besungenen heilen Welt, da sagte ich mir mit zugeschnürter Kehle und selbstvergessen Beifall klatschend, daß ich wüßte, warum ich Deutschland liebe.

25. JUNI

Potsdamer Platz

Ebenso wie in Paris und fast überall in Frankreich herrscht nun schon seit Tagen in Berlin jenes Juniwetter, bei dem begreiflich wird, warum sich Nordeuropäer in Südeuropa Ferienhäuser kaufen.
Die schönsten Tage des Jahres zerbröseln einer nach dem anderen: 21., 22., 23. Juni; in der Mark Brandenburg sind die Kirschen an den Bäumen noch grün, Regen, Wind und Kälte überziehen alles gleichermaßen. Morgen ist der 24. Juni, und man wird ein Jahr warten müssen, ehe es wieder einen 23. Juni gibt: Der diesjährige ist unwiderruflich perdu, wenn man den 23. Juni als ein Frohlocken der Lust versteht, des Lebens in Wärme und strahlendem Licht.
Unter solchen Umständen, bei einem solchen Landregen, scheinen sich die Entfernungen in Berlin noch mehr zu dehnen: Die Straßen werden beim Überqueren noch breiter, die Bürgersteige ziehen sich beim Gehen noch mehr in die Länge, genauso wie die Gebäude, an denen man entlangschreitet, und die Gärten, Parks und Grünanlagen, von denen die Stadt übersät ist, erinnern mich unweigerlich an die Antwort des französischen Botschafters, als Friedrich II. ihn fragte, ob »unser Berlin Paris ähnlich sei«, und er vorwitzig erwiderte: »Ganz und gar, Eure Majestät, außer daß wir in Paris weder säen noch ernten.«
Heute geben sich die Berliner am Potsdamer Platz freilich weder mit Säen noch mit Ernten ab.
Mit Spie-Batignolles besichtigen wir diese riesige Baustelle, die größte Europas. Die Technik verleiht ihr ein etwas träges Aussehen (überhaupt ist das eins der auffälligsten Dinge in den neuen Bundesländern: Überall wird gearbeitet, aber nirgends regt sich etwas. Auf den Gerüsten, die das halbe Land überziehen, sucht man immer nach ein paar Arbeitern), dabei verbraucht das Baugeschehen auf dem Platz drei bis vier Milliarden DM und beschäftigt 3000 Arbeiter. Unter der Spree müssen Tunnel für eine Straße, für Fern- und U-Bahn gebaut und der Lehrter Bahnhof, wo der Transrapid enden soll, muß umgebaut werden, damit das Viertel, in dem sich das Brandenburger Tor, der Reichstag, das Bundeskanzleramt und die Firmensitze usw. befinden, wieder ein urbanes Aussehen erhält. Neben diesem völlig umgewälzten, gigantischen Gelände, aus dem ein Wald von Kränen emporragt, nimmt sich dagegen die Baugrube der Pariser Markthallen, die den Parisern seinerzeit schon so erstaunlich erschien, eher wie Sandeimer und Schaufel am Meeresstrand aus.
Ganz Europa findet sich am Bett der umgeleiteten Spree ein. Der deutsche Arbeiter kostet den Arbeitgeber 75 DM in der Stunde, der französische 54 DM, der irische und walisische weniger, der portugiesische noch weniger und der polnische Arbeiter, der zudem keine Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft genießt, am allerwenigsten. Um die Genehmigung zur Einstellung von Arbeitern aus dem Osten - tschechischen, slowakischen usw. - zu erhalten, muß man anscheinend Kontingente erwerben, die nur »deutschen« Unternehmen zugebilligt werden. Es heißt, daß sich im gesamten Berliner Raum Zehntausende von fachkundigen und billigen »Schwarz«arbeitern aus dem Baugewerbe aufhalten, die morgens auf einen Job hoffen, bereit, den beim Gießen der Betonfundamente und beim Einrammen der Pfeiler eingetretenen Rückstand wieder aufzuholen. Die deutschen Arbeiter sind unterdessen arbeitslos.
Aus ebendiesem Grund hat die Regierung ein Gesetz erlassen, das selbstverständlich einen Namen hat: Entsendegesetz. Es legt einen Mindestlohn (15 DM pro Stunde) für alle fest und verpflichtet ein in Deutschland ansässiges portugiesisches Unternehmen beispielsweise, einen portugiesischen Arbeiter genauso zu bezahlen wie ein deutsches Unternehmen einen Deutschen.

27. JUNI
Haydns Schöpfung läßt mich nicht los.
Die klassische deutsche Kultur könnte einen Beobachter wahrhaftig zu der Behauptung veranlassen - wenn er keine Angst vor großen Worten hat - daß die Deutschen in gewisser Weise einen privilegierten Zugang zum Göttlichen haben. Wer sich davor etwas scheut, könnte einfach sagen, daß die Deutschen eine metaphysische Ader haben und sich auf ihre offensichtlichen intellektuellen Leistungen berufen.
Aber diese Himmelsstürmerei, diese Vertrautheit mit den Höhen, oder als was man das auch immer bezeichnen mag, sind zugleich sehr lästige Gaben. Denn sie verleihen Deutschland jenes janusköpfige Aussehen, in dem die gute und die schlechte Seite stets miteinander verwoben sind.
Für Thomas Mann erklären sich die schrecklichen Irrwege Deutschlands aus diesem Hang zum Erhabenen, aus diesen herausragenden geistigen und emotionalen Qualitäten (und selbstverständlich durch das Fehlen anderer). Nur sie vermochten - in ihrer pervertierten Form - derart zerstörerische Wirkungen hervorzubringen. Wenn man gründlich darüber nachdenkt, wird durch sie der Mythos von Luzifer greifbar. Nur der größte Erzengel konnte so tief fallen.
Und das Publikum vorgestern in der Philharmonie, steckt in ihm noch etwas vom Erzengel, und was? Was hat sich davon im Jahre 1997 erhalten?