Oktober

1.  OKTOBER
Eine dieser »Loch-Ness«-Diskussionen, die im politisch-wirtschaftlichen Leben Deutschlands regelmäßig wiederkehren, betrifft den Solidaritätszuschlag, die zusätzliche Steuer für die Bundesländer im Osten. Die Liberalen von der FDP wollen ihn schon lange streichen (was soll dieser ganze Finanztransfer in den Osten?), die CDU ist unschlüssig, und die FAZ kommentiert diese Ausweichmanöver in langen, ausführlichen Leitartikeln.
Merkwürdigerweise gibt es nur relativ wenig Protest aus den neuen Ländern.

3. OKTOBER
Offenbar ist es jetzt zu einer Entscheidung gekommen: Der Solidaritätszuschlag wird von 7,5 Prozent auf 5,5 Prozent gesenkt. Da der Haushalt nach Ansicht der CDU mit nicht mehr als einer Milliarde an Steuerausfällen belastet werden darf, mußte man etwas finden, um das Loch von 6,5 Millionen DM zu stopfen. Angesichts der medialen Bombardierung kann es keinem deutschen Bürger entgehen, auf welche Weise Waigel das Problem gelöst hat: für 1,5 Milliarden DM will sich die Koalition Erlöse aus dem Verkauf von Grundstücken durch Forderungsverkäufe an ein Bankkonsortium vorfinanzieren lassen. Und die restlichen 5 Milliarden will die Koalition aufbringen, indem sie die Tilgung der Altschulden der ehemaligen DDR im Erblastungsfonds streckt.
In dem Focus-Artikel, der diesen ausgeklügelten Finanzmechanismus auseinandernimmt, werden die getroffenen Entscheidungen nicht etwa der Regierung, sondern der »Koalition« zugeschrieben.
Wenn man die deutsche Presse verfolgt, gewinnt man den Eindruck, als wäre die Koalitionsrunde zum Exekutivorgang geworden. Und der Focus-Artikel erwähnt auch nichts von der Reaktion der Ostdeutschen. Darüber erstaunt, habe ich mir gestern die Mühe gemacht, Zeitungen aus dem Osten durchzusehen. Man findet dort äußerst heftige Proteste von Seiten der Ministerpräsidenten, denen es allen ganz enorm an Geld fehlt.

3.  OKTOBER
Ganz offensichtlich erregen die vom sowjetischen Regime zwischen 1945 und 1949 vollzogenen Enteignungen und die diesbezügliche Ausnahmeregelung im Rückgabegesetz nach wie vor die Gemüter.
Anstatt kleiner und seltener zu werden, tauchen in den Zeitungen immer häufiger Inserate auf, die gegen diese als ungerecht empfundene Maßnahme protestieren. In den letzten Tagen habe ich wieder ganze Seiten davon entdeckt.
Man weiß nicht, was man davon halten soll.
Wie es scheint, hätte man alle mit dem gleichen Maß messen sollen. Diese fünf Jahre nach dem Krieg aus dem Gesetz, das in Ostdeutschland den früheren Zustand wiederherstellt, herauszulösen, läuft letzten Endes auf die Diskriminierung einer bestimmten sozialen Schicht hinaus.
Es sind in erster Linie die Großgrundbesitzerfamilien, die aufgrund der sowjetischen Bodenreform alles verloren haben, während die begüterten städtischen Kreise ihre nach 1949 von der DDR enteigneten Stadthäuser und Fabriken zurückerhalten haben.
Diese Großgrundbesitzer, traditionell meist Offiziersfamilien, hatten schon im Krieg den höchsten Tribut zahlen müssen; und der Widerstand gegen Hitler spielte sich zu einem Teil in denselben Familien ab: im Umfeld der Bekennenden Kirche, des Kreisauer Kreises mit den Moltkes oder der Attentäter vom 20. Juli 1944 mit den Stauffenbergs, Tresckows usw. Sie wurden aufs Entsetzlichste dezimiert.
Wie sollte man da nicht zu der Ansicht gelangen, daß Deutschland diese spezielle Schicht schlecht behandelt?
Jedenfalls ganz eindeutig schlechter als die anderen.
Einige der Betroffenen, letzten Endes eher erleichtert, den alten Familienbesitz nicht wieder zurücknehmen zu müssen, lassen allerdings mit etwas bitterer Ironie die folgende Bemerkung fallen: Wo doch der Großgrundbesitz über 100 Hektar grundsätzlich enteignet und allen anderen alles zurückgegeben worden ist, hätte man da uns nicht 99 Hektar wiedergeben können?

4. OKTOBER

Die Frauen

Nach drei Minuten ist das Wort gefallen; die junge Frau, der ich gestern auf dem Empfang der Deutschen Botschaft anläßlich des Nationalfeiertages begegnet bin, hat es rausgelassen. Ihr Blick flackerte, sie war verletzt, als sie dieses Wort aussprach: Rabenmutter, die böse Mutter aus dem Märchen zu sein, wie die von Aschenbrödel, das ist es, was man ihr vorgeworfen hat, als sie in Deutschland lebte.
Dabei hatte sie doch nur das Wohl ihrer Kinder im Auge - zumindest was man in Frankreich darunter versteht.
Aber eben dieses Wohl begreift man in Deutschland anders. Und da liegt das Problem. Deshalb kennen so gut wie alle Französinnen, die einmal dort gelebt haben - auch wenn sie noch so wenig deutsch können - dieses Wort, das sie bis ins Mark getroffen hat, und zitieren es.
Aber was hat man ihnen denn nun eigentlich Schreckliches vorgeworfen? Auf einen Nenner gebracht, daß sie sich ihrer Kinder entledigen wollen.
Die (west)deutschen Mütter sind entsetzt, wenn sie sehen, daß die französischen Frauen ihre Kinder in der Krippe abliefern, sie der Kinderbetreuungsstelle der Gemeinde überlassen, sie in die Vorschule geben oder einem »Au-pair-Mädchen« anvertrauen. In Deutschland wird ein Kind erst mit sechs Jahren richtig eingeschult. Vorher ist es vielleicht ein bißchen in den Kindergarten gegangen, immer mal für ein paar Stunden, wenn es einen Platz gab und wenn es nicht zu weit weg war. Ansonsten kümmert sich in den allermeisten Fällen die Mutter um das Kind. Was sie auch weiterhin tun wird, dafür ist sie da, sie hat ja schließlich Kinder... Während der ganzen Grundschulzeit gehen die Kinder irgendwann zwischen acht und zwölf Uhr zur Schule (und wenn der Lehrer nicht erscheint, werden sie nach Hause geschickt, es wird schon jemand dasein) und verbringen die übrige Zeit mit ihrer Mutter, die die Nachmittage für sie organisiert: mit Sport, Musik, heißer Schokolade...
In Deutschland Kinder zu haben ist praktisch eine Vollzeitbeschäftigung. Weder der Staat noch die Lebensgewohnheiten sind so beschaffen, die Frauen dazu zu ermuntern, noch etwas anderes zu tun. Sicherlich machen es manche trotzdem, im allgemeinen Ärztinnen in einer Gemeinschaftspraxis oder Rechtsanwältinnen und Lehrerinnen; sie beweisen damit Mut, denn sie sind der mehr oder weniger schweigenden Mißbilligung ihrer Umgebung ausgesetzt. Seine Kinder betreuen zu lassen ist »nicht gut« - im übrigen ebensowenig wie sich bedienen zu lassen - und sie können mit keiner öffentlichen Unterstützung rechnen, weder gibt es eine AGED, eine Beihilfe für häusliche Kinderbetreuung, noch Steuerbefreiung für diese Tätigkeit, und erst recht kein Schulessen und keine Betreuung an schulfreien Nachmittagen oder während der Ferien (der Beschäftigungsgrad der Frauen ist dementsprechend in Frankreich eindeutig höher als in Deutschland, wobei der Unterschied in den begüterten Schichten am größten ist).
Der überwiegende Teil der Mütter rebelliert nicht gegen diese Einstellung der Gesellschaft ihnen gegenüber. Sie akzeptieren es, den ganzen Nachmittag beim Kinderarzt zu verbringen, da er sich nicht an die festgesetzten Sprechstundenzeiten hält. Wer würde denn ernsthaft an eine andere Lösung denken? Wem will man weismachen, daß die Kinder, die von so einem exotischen, desinteressierten jungen Mädchen auf Zeit herumgezerrt werden, nicht mehr oder weniger traumatisiert sind? Und, ganz im Ernst, wenn die Französinnen so sehr darauf bestehen zu arbeiten, dann doch auch deshalb, weil die Gehälter in Frankreich nicht das sind, was sie in Deutschland sind, und schließlich, weil im Falle einer Scheidung - die Scheidungsquote liegt in Frankreich (und speziell in Paris) noch höher als in Deutschland - die französische Gesetzgebung um einiges weniger günstig für die Frau ist, weshalb sie es also nicht riskieren kann, »die Stellung aufzugeben«, es nicht wagen kann, mit der Arbeit aufzuhören.
Bei den deutschen Frauen ist eine gewisse Ungeduld zu spüren; von jungen Studentinnen hört man oft, daß sie Mutter sein und gleichzeitig einen Beruf ausüben möchten - das wäre allerdings ein neues Modell. (Von 1971 bis 1985 haben immerhin eine Million mehr Frauen eine Arbeit aufgenommen, womit sich die Gesamtzahl der weiblichen Arbeitsplätze auf zehn Millionen beläuft).
Aber nach landläufiger Vorstellung ist ein Kind selbstverständlich nur bei seiner Mutter glücklich. Das Mutter-Kind-Paar stellt eine viel engere Symbiose dar als bei uns, die wir das Kind »öffnen«, sozialisieren und ihm Abwechslung bieten wollen.
Einer deutschen Mutter kommt es kaum in den Sinn, daß sich ihr Kind bei ihr, mit ihr langweilen könnte, was jede französische Mutter befürchtet.
Das Gedicht von Storm, das einem der berühmtesten Kinderbücher, einem ständig wiederaufgelegten Klassiker, Der kleine Häwelmann, vorangestellt ist, frappiert mich immer wieder aufs Neue:

Auf meinem Schoße sitzet nun
Und ruht der kleine Mann.
Mich schauen aus der Dämmerung
die zarten Augen an.

Er spielt nicht mehr, er ist bei mir,
will nirgends anders sein.
Die kleine Seele tritt heraus
und will zu mir herein...

Bezaubernd im Deutschen, lassen sich diese Verse sehr schwer ins Französische übertragen...
Die nicht weniger berühmten Illustrationen von Else Wenz-Vietor zur Reise des kleinen Häwelmann erhöhen noch den unendlichen Reiz des Buches.
Auch wenn die Mütter heutzutage ihren Kindern vor dem Einschlafen ganz andere Sachen vorlesen, die Geschichten vom kleinen Tiger von Janosch zum Beispiel - für den Außenstehenden scheinen sie doch immer noch darauf auszusein, daß die kleine Seele ihrer Kinder zu ihnen hereinkäme - viel mehr als in Frankreich.
Man begreift, was für einen Schock die Wiedervereinigung für die Frauen im Osten ausgelöst hat. Sie waren daran gewöhnt, in dieser Hinsicht »à la francaise« zu leben, dieselben, heute aufgelösten Infrastrukturen zu ihrer Verfügung zu haben, ein vollgültiger Teil der Gesellschaft zu sein und dabei gleichzeitig in ihrer Rolle als Mutter bestärkt zu werden.
Wenn man dann noch die Säkularisierung bedenkt, die sich gleichfalls auf das Bild der Frau ausgewirkt hat, war Potsdam - unter diesem Gesichtspunkt - sicherlich näher an Paris als München.

5. OKTOBER

Die Frauen, immer wieder die Frauen

Aber selbst wenn die Kinder größer werden und mit ihrem Fahrrad vom Fußball zur Klavierstunde fahren und so ihre Mutter von der Rolle der Chauffeurin entlasten, wenn sie die Mikrowelle allein bedienen können und sie so von ihrer Rolle der Köchin befreien (die Kinder essen alle zu unterschiedlichen Zeiten), bleibt die Mutterrolle bestimmend, denn eine Frau ist in Deutschland in erster Linie Mutter.
Also entscheiden sich manche Frauen dafür, nicht Mutter zu sein - mehr als in Frankreich. Die Anzahl der Paare, die erklären, keine Kinder haben zu wollen, ist verblüffend. Man hört Sätze wie: »Ein Kind haben? Das kann ich nicht verantworten...«, oder Überlegungen, die von den berechtigten Befürchtungen ausgehen, die die Bevölkerungsexplosion bewirkt: Es gibt heute mehr Menschen auf der Erde als in der ganzen Geschichte der Menschheit zusammen genommen. Warum sollte man bei diesem Irrsinn auch noch mitmachen?
Derartige Argumente sind heute nicht mehr so häufig wie zur Zeit der großen ökopazifistischen Welle in den achtziger Jahren zu hören, dafür sind wirtschaftliche Argumente an ihre Stelle getreten: die ökonomische Krise, die Arbeitslosigkeit. Es wäre unverantwortlich, Kinder in die Welt zu setzen, und warum soll man sich im übrigen um jeden Preis reproduzieren wollen?
Wie dem auch sei, das Ergebnis liegt auf dem Tisch: Deutschland hat eine der niedrigsten Geburtenraten der Welt, sie liegt bei knapp 1,2 Kindern pro Frau.
Dann gibt es aber auch jene, deren Revolte radikaler ist, die sogenannten Emanzen, die Verfechterinnen der Emanzipation, die Anführerinnen der Frauenbefreiung und die Vorkämpferinnen des Feminismus. Diese in den sechziger Jahren hochgeschwappte große Welle hat sich gelegt, es gibt heute viel weniger Fraueninitiativen und autonome Lesbengruppen, gleichwohl hat die vom amerikanischen Modell à la Germaine Greer ausgehende Bewegung weit mehr an Bedeutung gewonnen als bei uns. Erst vor kurzem erzählte mir ein Journalist vom zweiten französischen Fernsehen, daß er von einer feministischen Veranstaltung in Deutschland berichten wollte. Doch als erstes stellte er fest, daß er unter den Fernsehleuten der einzige Mann war, und dann bekam er zu hören, daß man ihn nur zur Eröffnung des Kongresses zulassen würde. Er, der gekommen war, um sie zu unterstützen und ihnen einen Platz in den Medien zu sichern!
Aber diese Vorstellung einer Komplizenschaft zwischen Männern und Frauen konnte in der Tat nur einem Franzosen in den Sinn kommen. Denn allein die französische Gesellschaft scheint diesen vertrauten, freundschaftlichen Umgang der Geschlechter miteinander zu pflegen. Mona Ozouf spricht in ihrem bemerkenswerten Essay über die französische Besonderheit, Les mots des femmes, sogar von einer für Frankreich spezifischen Vermischung der Geschlechter.
Gewiß hat sich das im Laufe der Zeit auch gewandelt; die Stellung der Frauen im 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Aufklärung, während der Revolution oder im 19. Jahrhundert war nicht immer dieselbe, und sie variierte auch entsprechend ihrer sozialen und geographischen Herkunft. Noch heute gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen Paris und der Provinz. Aber nichtsdestoweniger ist es etwas völlig anderes, ob man in Frankreich oder in Deutschland Frau ist.
Dabei hatten wir dasselbe Mittelalter wie die Deutschen, dieselbe höfische Liebe, dieselben Heldenepen und dasselbe Rittertum. Doch in der Folge haben wir offenbar unterschiedliche Wege beschritten, denn heute unterscheiden sich unsere weiblichen Archetypen voneinander.
Zuallererst hat sicherlich Luther dazu beigetragen, daß die Frauen »wieder von der Bühne abtreten«, denn er hat die Klöster säkularisiert und den Frauen fortan ein einziges Schicksal zugewiesen: die Ehe. Keine herausragenden Äbtissinnen mehr, keine Mère Angelique, jene berühmte Äbtissin von Port-Royal, mehr.
Vor allem aber hat sich Deutschland ohne ein richtiges Zentrum entwickelt, ohne einen hinreichend bedeutenden Hof mit seinen Intrigen, die es den Frauen ermöglichten, ihren Einfluß geltend zu machen.
Im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation gibt es keine Entsprechung für eine Diane de Poitiers; keine Damen de Maintenon, de Montespan, Pompadour, du Barry usw.
Im Jahrhundert der Aufklärung, als die Salons in voller Blüte stehen, als der Einfluß der Frauen in einer monarchischen Gesellschaft des Müßiggangs ihren Höhepunkt erreicht, verstärkt sich die Annäherung der Geschlechter in Frankreich. Männer und Frauen kommen miteinander in Berührung und vermischen sich in einer Weise, sagt Montesquieu, »daß es nunmehr ein einziges Geschlecht gibt und wir unserem Verstande nach alle Frauen sind, und sollten wir über Nacht ein anderes Aussehen annehmen, man eine solche Verwandlung gar nicht bemerken würde«.
Auch in Deutschland blühen zur selben Zeit und etwas später die Salons auf. Am Ende des Jahrhunderts hatten sich die berühmtesten um zwei junge Frauen jüdischer Herkunft gruppiert: Rahel Varnhagen und die entzückende Henriette Hertz. Selbstverständlich stehen diese beiden Kreise miteinander in Verbindung. Liest man die Aufzeichnungen von Henriette Herz, sieht man Mirabeau vor sich, der gegen 1787 im Auftrag von Vergennes in Berlin weilt: »... breiteste Nase, erdenklich größter Mund mit dicken wulstigen Lippen, aber man vergaß alles, wenn er sprach.« Man weiß, daß Madame de Stael Schlegel viel zu verdanken hat, und Madame Recamier hatte natürlich Prinz August von Preußen bezaubert, was man bei Sainte-Beuve belegt findet, demzufolge er Benjamin Constant während eines Ausritts auffordert, »ein Stückchen vorzugaloppieren«, damit er mit Julie Recamier zurückbleiben könne.
Und doch ist der Ton in den beiden Salons von dieser Zeit an sehr unterschiedlich. Es genügt, ihre Briefe zu lesen. Alexander von der Marwitz, ein preußischer Junker, der in Rahel Varnhagen verliebt ist, beschreibt ihr die hinter ihm liegende Woche so: »Nicht leer, nicht geängstet habe ich mich die Zeit her gefühlt, aber ohne Erhebung, ohne den stillen, innern Frieden, den reinen, ungetrübten Herzensschlag, das tiefe Gefühl und die lebendige Empfänglichkeit des Gemüts, ohne den Zug nach dem Einen und Höchsten.«
Worauf sie ihm antwortet: »Wer nicht in der Welt wie in einem Tempel umhergeht, der wird in ihr keinen finden«, und von der »donnernden Musik des Inneren« schreibt. In einem Brief an dieselbe Rahel vergegenwärtigt sich einer der Ihren, der Philosoph Schleiermacher, den Berliner Kreis: »Laß es uns stolz und froh gestehen, daß es nicht viel solche vereinigte Kreise von Liebe und Freundschaft geben mag als den unsrigen, der so wunderbar zusammengekommen ist, fast aus allen Enden der moralischen Welt. Alle sind meiner Seele gegenwärtig, welche gemeinschaftlich dazugehören. Mögen sie sich alle noch immer enger um dich, jeder nach seiner Weise und nach seinen Gaben des Geistes und des Herzens, vereinigen.«
Chateaubriands Briefe an Madame Recamier oder sogar an die sterbende Pauline de Beaumont sind weit entfernt von diesem Ton, und niemand würde behaupten, daß die Liebe, die Freundschaft, die Seelengemeinschaft zu den hauptsächlichen Triebfedern der Pariser Salons gehörten.
Madame de Stael hatte im übrigen diesen Unterschied sehr wohl bemerkt und beklagte zutiefst, daß in Frankreich der Geist das Gefühl abgetötet und sich ein Hauch des Todes über alle Genüsse des Herzens gebreitet habe; und sie mußte deutlich gespürt haben, daß die deutschen Frauen im Bewußtsein der Männer nicht dieselbe Position einnehmen wie die Französinnen, denn sie betont, daß sie im Vergleich zu den Französinnen eine Sanftheit besäßen, die zu ihren Gunsten spricht. In der Regel vom Zentrum der Gesellschaft ausgeschlossen, ohnehin schon durch die Symbiose mit ihren Kindern abgesondert, sind sie in der Tat etwas Besonderes; sie unterscheiden sich von den Männern. Und sie ziehen daraus große Vorteile: Sie werden bewundert, sublimiert, zu Traumgestalten erhoben, beschützt, verwöhnt. Daß die deutsche Frau an Schutz gewinnt, was sie an Freiheit verliert, hatte Madame de Stael ebenso erkannt wie beschrieben.
Doch diese Frauen, in den Augen der Männer perfektere Wesen als sie selbst, diese »Engel«, diese »himmlischen Geschöpfe«, die von ihnen besungen werden und an denen die deutsche Literatur so reich ist - Minna von Barnhelm, Käthchen von Heilbronn, Gretchen aus Faust, Lotte aus Werther..., um nur die zu nennen, die den Franzosen einigermaßen bekannt sind - all diese Geschöpfe voller Reinheit und Güte müssen achtgeben, nicht zu fallen, denn ihr Sturz ist um so tiefer, wie bei Gretchen oder später bei Effi Briest. Was die anderen Frauengestalten der deutschen Literatur betrifft, jene, die nicht in dieses Schema hineinpassen, handelt es sich meist um vornehme, mitunter ausländische (vornehmlich englische) Damen, die raffiniert, verdorben und von Grund auf schlecht sind.
Man soll nicht annehmen, daß dieser Unterschied zwischen den beiden Ländern am Ende der neunziger Jahre völlig verschwunden sei. »In Frankreich sind die Frauen in allen Lebensumständen noch immer viel enger mit den Männern verbunden«, wie Mona Ozouf sagt. Ein Restaurant in Paris zur Mittagsstunde ist nach wie vor einer der wenigen Orte, wo man zahllose Paare zusammen essen sieht, ohne daß sich irgend jemand über die Art ihrer Beziehung - Liebe, Freundschaft, Sehnsucht, Neugier, Interesse, Geschäfte - den Kopf zerbricht.
Ein Titelblatt wie das des L'Express von dieser Woche, »Hundert Frauen, die in Frankreich etwas bewegt haben«, wäre in Deutschland undenkbar; keine Wochenzeitung würde sich an ein solches Thema wagen, und einen Deutschen bringt man leicht in Verlegenheit, wenn man ihn auffordert, zehn berühmte »deutsche« Frauen zu nennen: Elisabeth von Thüringen, Katharina II. von Rußland (eine deutsche Prinzessin von Anhalt-Zerbst), Rosa Luxemburg, Annette von Droste-Hülshoff, Lou Andreas-Salome? Vielleicht noch Marie-Luise Kaschnitz, Gabriele Münter, Käthe Kollwitz... und zählt Sissi von Österreich? Nein? Und Maria Theresia von Österreich auch nicht? Aber Ingeborg Bachmann? Und dann ist ihm auch schon die Puste ausgegangen, während ein Franzose nicht weiß, wo er anfangen und wo er aufhören soll.
Was ist bei dieser noch heute spürbaren »Andersartigkeit« den Unbilden der deutschen Geschichte zuzuschreiben? Auf alle Fälle ist sie vom Nationalsozialismus pervertiert worden, indem er die starke, treue, gebärfreudige deutsche Frau, das deutsche Mädel mit den um den Kopf geschlungenen blonden Zöpfen verherrlicht hat, das, rein und unbefleckt wie ein blanker Taler, ungekünstelt, nicht geschminkt und anständig, dem Führer gerade in die Augen blickt.
Nach 1945 und dem grausamen Erwachen ist es manchen Frauen gelungen, an die Vergangenheit anzuknüpfen, in den Augen einen fernen Widerschein dessen zu bewahren, was ehemals den Zauber ihrer Großmütter und Urgroßmütter ausmachte: die Gabe, die Seelen schwingen zu lassen und dem Kinderlachen zuzuhören, eine magische Atmosphäre zu schaffen, mit angehaltenem Atem genau in dem Moment die Kerzen anzuzünden, da der Geliebte heimkehrt... Andere Frauen wiederum, häufig sogar dieselben, haben diesen Unterschied, der sie von den Männern trennt, auf andere Weise interpretiert. Im Sturm der Amerikanisierung, der nach dem Krieg tobte, sind sie, voller Abscheu gegenüber dem, was der Nationalsozialismus für die Frauen bedeutet hatte, in die Fußstapfen der Angelsachsen getreten. Ihr Anderssein in bezug auf die Männer erschien ihnen als das wesentliche, identitätsstiftende Charakteristikum ihrer Existenz als Frau. Während sich eine französische Frau in erster Linie solidarisch mit der menschlichen Natur fühlt und erst dann als Frau, für sie ein sekundäres Merkmal, definieren sich die angelsächsischen Feministinnen ausschließlich durch ihre Besonderheit. Mit Herder die Besonderheit als den bestimmenden Faktor der Identität begreifend, hat sich bei den deutschen Feministinnen die Vorstellung festgesetzt, daß sie in ihrer Eigenschaft als Frauen etwas von den Männern trennt. Dem Universalismus verbunden, weigern sich die französischen Frauen, sich als eine besondere Kategorie, als eine Minderheit und vor allem als eine unterdrückte Minderheit zu betrachten. Und sie weigern sich, im Mann ihren Feind zu sehen und die Beziehung zwischen den Geschlechtern für einen Kampf zu halten. Unmöglich, in Frankreich ein Gesetz zu verabschieden wie dasjenige, das die Grünen mit Unterstützung der SPD in diesem Frühjahr über die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe durchgebracht haben. Undenkbar die reißerischen Titelblätter der Magazine zu diesem Thema. Sexuelle Belästigung ist in Frankreich kein Kassenschlager: Die große Mehrheit der französischen Frauen bedauert den armen Clinton in den Klauen jener merkwürdigen Personen. Sie schütteln nur den Kopf über die Programme amerikanischer Universitäten, die mit der herrschenden Kultur brechen wollen, einer Kultur, die von ihren Protagonisten weißer, europäischer, männlicher und heterosexueller Herkunft deformiert worden sei. Sie weigern sich zu glauben, daß es keine glückliche Ehe, keine übereinstimmende sexuelle Beziehung noch eine erfüllte Mutterschaft, unterstützt von einer gewollten Vaterschaft, geben soll.
Da haben wir den schlagenden Beweis für die Entfremdung der Französinnen, sagen die deutschen Feministinnen: Das Opfer willigt auch noch ein. Der Mann braucht nicht einmal mehr zu drohen, um zu herrschen. Mag sein, daß die Frauen in Frankreich mitten in der Gesellschaft stehen, mag sein, daß es 1963 unter den französischen Studierenden dreiundvierzig Prozent Frauen gab, gegenüber vierundzwanzig Prozent in Deutschland, aber sie haben nie wirkliche, nämlich politische Macht innegehabt, obwohl es unter ihnen - mehr als in Deutschland - durchaus markante Persönlichkeiten gibt. Die Französinnen bilden das Schlußlicht bei der Teilhabe am politischen Leben. Sie sind die letzten (nach den Türkinnen und Inderinnen), die das Wahlrecht erhalten haben, und ihre Teilnahme am öffentlichen Leben bewegt sich immer noch auf einem besonders niedrigen Niveau, vor allem in der Nationalversammlung. Für diesen paradoxen Zustand gibt es bestimmte, für Frankreich spezifische historische Gründe, stammeln die Französinnen: das lange Mißtrauen der Republik gegenüber der Kirche, in deren Abhängigkeit die Frauen standen - im Gegensatz zu den Männern; der extrem egalitäre Charakter der französischen Demokratie, die sich für die Frauen kein gesondertes Zensuswahlrecht vorstellen konnte. Außerdem war Frankreich ein Agrarland; die jungen Mädchen in Deutschland hatten in den sechziger Jahren mit der Industrialisierung eine Freiheit in den Umgangsformen und Verhaltensweisen erlangt, um die die Französinnen sie beneideten.
Eine solche Argumentation überzeugt die pragmatischen deutschen Frauen kaum, um so weniger, als sie bei jedem Aufenthalt in Frankreich entsetzt sind über die Trägheit der französischen Männer, die sich strikt weigern, Babyflasche, Windeln oder Bügeleisen anzufassen oder sich um Elternversammlungen, Formulare der Familienkasse, oder um Ferienplätze zu kümmern.
Die deutschen Frauen sind geneigt, die Französinnen wegen der Bürde, die sie zu tragen haben, zu bedauern und zu bemitleiden, zumal sie ja obendrein, was unschwer ersichtlich ist, in einer Gesellschaft leben, in der eine eiserne Regel herrscht: die zu gefallen. Den anderen zu gefallen und ansprechend auf sie zu wirken, diese Grundregel haben wir zusammen mit der Regel von den drei Einheiten bereits in der Schule gelernt und alle vollkommen verinnerlicht.
Gefallen ist das richtige Stichwort in einem Land, wo sich alles diesem unbewußten Diktat beugt, wo das Auge eine so große Rolle spielt: in der Architektur, der Malerei, den Parkanlagen, in der Beschreibung des Menschen und der Gesellschaft natürlich mehr als in Musik oder Philosophie - alles muß gefällig fürs Auge sein. So kann man in Frankreich eine ganze Reihe von Sätzen hören, die in Deutschland unbekannt sind oder zumindest nicht mit derselben ungeheuren Eindringlichkeit vorgebracht werden. »Mach dich ein bißchen zurecht, mein Liebling, zieh dir etwas Hübscheres an, so kannst du dich nicht zeigen, mach dich ein bißchen schick, wie siehst du denn aus, bring dich etwas mehr zur Geltung!« usw.
In Deutschland läßt die Feststellung, daß »die kleine Soundso reizend ist«, die Damenkränzchen eher gleichgültig, und es bedürfte im Deutschen eines ganzen Satzes, um auszudrücken, was in dem französischen lapidaren »elle plaît« - »sie gefällt« - mitschwingt.
Tatsächlich ist es in Deutschland für eine Frau nicht so entscheidend, ob sie hübsch ist oder nicht. Es gibt viele schöne Frauen in Deutschland, aber da ihre Umgebung das nicht übermäßig beeindruckt, wissen sie es gar nicht oder messen dem keine allzu große Bedeutung bei, was Franzosen, die gewohnt sind, Schönheit und Eitelkeit einhergehen zu sehen, als außerordentlich wohltuend empfinden.
Claudia Schiffer lebt bekanntlich in Frankreich, und auch Jil Sander verkauft sich dort sehr gut. Demgegenüber ist es in Deutschland für eine Frau nicht wirklich ein Handikap, häßlich zu sein. Stolz auf ihre mangelnde Eitelkeit, scheint es ihr vielmehr Vergnügen zu bereiten, das Werk des Schöpfers zu respektieren. »Nachzuhelfen« erschiene ihr, vielleicht unbewußt, als unter ihrer Würde, zumindest kommt man zu solch einem Schluß, wenn man diese Menge glattrasierter Köpfe und unförmiger Kleidungsstücke sieht, von denen es an den Universitäten und auf der Straße nur so wimmelt - da sie ja frei sind vom Zwang zu gefallen.
Tant pis. Was soll's, sagen sich die Französinnen: lieber geknechtet in der Gesellschaft als frei und außerhalb von ihr, was soll's; um so mehr, als es neben dem Wort plaire - gefallen - das Wort plaisir gibt, beide im Französischen semantisch nicht voneinander zu trennen, was im Deutschen nicht der Fall ist, dort müßte es »Glück« heißen. Und daß nichts - unter anderem - das Glück aufwiegt, Männer zu lieben, die Frauen lieben, das Glück, in einer Gesellschaft zu leben, in der Männer und Frauen überzeugt davon sind, ein gemeinsames Bewußtsein zu haben, dasselbe Grundwesen und dieselbe conditio humana zu teilen.
Wenn ich mir von meinen deutschen Mitschwestern etwas wünschen dürfte, dann würde ich sie bitten - natürlich ohne alle unsere Fehler zu übernehmen - uns im Kampf gegen den angelsächsischen Differentialismus zu unterstützen, der auch in Frankreich immer mehr an Boden gewinnt; sich an unsere gemeinsamen europäischen Ursprünge zu erinnern, an die Rolle, die die Frauen bei der Herausbildung unserer Zivilgesellschaften, in unserem gemeinsamen Mittelalter, gespielt haben; den Sirenengesängen des angelsächsischen Materialismus zu widerstehen, der verkündet, daß sich alles rechnen und man auch in diesem Kampf der Geschlechter die Treffer und Punkte zusammenzählen muß. Das Glück rechnet sich nicht. Die europäische Lebensweise muß diese tiefe Weisheit bewahren, und selbst wenn es nur darum ginge, wäre das für mich schon Grund genug, sich »für Europa einzusetzen«.

6. OKTOBER

Der Papon-Prozeß

In der deutschen Presse zeigt sich die öffentliche Meinung geradezu erleichtert, daß die Franzosen nun auch denselben Dämonen, denselben Gespenstern der Vergangenheit ausgeliefert sind wie sie, dem, was die Deutschen die Vergangenheit nennen, »die nicht vergeht«.
Dabei vergeht die Zeit in Frankreich im allgemeinen durchaus.
Hier kann es mitunter vorkommen, daß es zu spät ist.

7. OKTOBER
Die Saga um die Investitionen von Total im Iran wird von den Print- wie von den audiovisuellen Medien aufmerksam verfolgt; doch diesmal hat man das Gefühl, daß die Deutschen, äußerst diskret und einer europäischen Logik folgend, eher mit den Franzosen an einem Strang ziehen.
Der Satz von Frau Albright, daß »die Europäer diese Geschichte mit dem Iran nicht begreifen«, wird oft zitiert. Man äußert sein Bedauern über dieses schreckliche Mißverständnis, für das man nichts könne, aber... Man findet es genauso bedauerlich, daß D'Amato Clinton soviel Unannehmlichkeiten bereitet...

8. OKTOBER
»Nein«, sagt mir jene Freundin, die lange mit einem Deutschen in einer großen Stadt im Saarland gelebt hat und der ich meine Gedanken zu den Frauen mitteile, »das ist noch nicht alles: Rabenmutter, ja, natürlich, aber das ist nur die erste Tafel des Triptychons. Man muß noch die beiden anderen hinzufügen: Superfrau und Schlampe.«
Sieh an, wenn man in eine andere Gesellschaft wechselt, geht es einem wie Lackmuspapier, das in Flüssigkeit getaucht wird.
»Man hat sich für eine eher gewissenhafte, aufmerksame und relativ ordentliche junge Frau gehalten, politisch ungefähr Mitte rechts. Und auf einmal wird man als egoistisch, nachlässig und supersexy hingestellt, mit >linken< Tendenzen. Das Leben hält einem in der Tat schöne Überraschungen bereit...«, seufzt sie.

9. OKTOBER
Die Flüge Paris-Berlin sind immer häufiger ausgebucht; wenn ich sonntags vormittags von Genshagen zurückkehre, muß ich jetzt manchmal über München fliegen!
Letzten Sonntag stand auf dem Laufband ein »Neurusse« vor mir, den ich ausgiebig mustern konnte: glänzende Schuhe Marke Weston, italienischer Anzug, breiter Schlips (Hermes?), Rolex. Er sprach unaufhörlich in sein Handy, auf Russisch, aber genauso demonstrativ wie ein Italiener.
An ihn muß ich heute vormittag denken, denn das deutsche Fernsehen beginnt seine Nachrichten mit einer betrüblichen Meldung: Der junge Matthias Hintze, zwanzig Jahre alt, ist in einem Wald in Mecklenburg-Vorpommern in einem in die Erde gegrabenen Versteck tot aufgefunden worden. Er war von zwei Russen, die seine Familie zu erpressen versuchten, entführt worden.
Die beiden Russen wurden verhaftet und der Tat verdächtigt, aber nach ihrem Opfer hatte man schon vorher auf einem Gelände gesucht, wo ehemals Truppen der Roten Armee in der DDR stationiert waren.
Schwierig, Deutschland zu verstehen, wenn man nicht bedenkt, was für einen Druck der Osten auf das Land ausübt. Ich esse heute zusammen mit einem deutschen Studienfreund, der Politologe ist. Er lacht, als ich ihn frage, ob diese Entführung eine asiatische Tat sei.
Dazu muß man wissen, daß während des Historikerstreits, der in den achtziger Jahren unter den deutschen Intellektuellen entbrannt war, eine der großen Fragen darin bestand, herauszufinden, ob die faschistischen Greueltaten ein »Ausdruck des absoluten Bösen« gewesen seien, oder ob sie als Antwort auf die durch die Stalinschen Greueltaten hervorgerufene Angst begriffen werden müßten und folglich durch die Vorherigkeit dieser kommunistischen asiatischen Tat erklärbar und somit »historisierbar« wären.
Die Fotos der beiden inhaftierten Russen sind fast zum Erbarmen: eingefallene, unrasierte, verschlagene Bleichgesichter. Aus ihnen werden keine »Neurussen«.

10.  OKTOBER

Apropos Rußland

Nichts bereitet mehr Vergnügen, als denselben Gegenstand aus unterschiedlichem Blickwinkel betrachtet zu sehen.
Eine deutsche Freundin, die in Brüssel arbeitet, hat mir kürzlich das Buch eines russischen Journalisten über Deutschland geschenkt. Zunächst einmal liest es sich sehr unterhaltsam, denn dieser Gorski ist wirklich geistreich. Des weiteren ist Deutschland, von Rußland aus betrachtet, zwar nicht unkenntlich, aber doch... ungewöhnlich.
Zum einen, weil sich die Deutschen den Russen gegenüber offensichtlich nicht so zeigen wie gegenüber den Franzosen, ihr Verhalten verändert sich in der Tat ganz unbewußt entsprechend ihrem Gegenüber, aber vor allem, weil die Ausgangsvorurteile unterschiedlich sind.
Für die Russen, so schreibt der Autor, sind die Deutschen nach dem allgemein vorherrschenden Klischee Leute mit dünnen Beinchen und dünnen Seelchen. Uns dagegen erscheinen die Deutschen in keiner Weise »dünn«. Das erinnert mich an eine russische Freundin, die mir eines Tages einmal gestand: »Auf uns Russen wirkt ihr alle so engherzig, mit euren kleinen Ländern und kleinen Grenzen. Wie soll man in so kleinen Ländern große Gefühle haben?«
Aber abgesehen von solchen Unterschieden findet man auch Übereinstimmendes. Gorski ist selbstverständlich noch erstaunter als wir über die Staus und die Duldsamkeit, mit der die Deutschen sie hinnehmen (wir können dieses Phänomen besser verstehen). Hinsichtlich des Verkehrs macht er dieselben ironischen Bemerkungen wie jeder beliebige Franzose. »Wer in Deutschland ein Auto fährt, sage ja zu Tschernobyl, den französischen Atomversuchen und dem Abholzen der tropischen Regenwälder«, schreibt er. Die Radfahrer seien die wahren kleinen Helden, die Retter, die Beschützer des Planeten, kurz die »besseren Menschen« (sehr schwer zu übersetzen, im Französischen haben wir »überlegene«, aber keine »besseren Menschen«).
Der Hang der Deutschen zu Sicherheit und Ordnung verblüfft ihn ebenso, wenn nicht noch mehr als uns; und in bezug auf das neue Berlin fürchtet er, daß »ein zweites Bonn dabei herauskommen wird - spießig, steril, sauber, nur zwei bis drei Nummern größer«, denn »die alte Bundesrepublik, sauber, geruchsfrei, hygienisch und abwaschbar wie eine Tupperware-Dose, gestaltet die fünf neuen Länder nach ihrem Ebenbild«. Auch da stimmen seine Befürchtungen mit denen der Franzosen überein, denn wenn in Deutschland etwas erneuert wird, dann stets auf zu perfekte Weise. Die Italiener sind die einzigen, die die außergewöhnliche Gabe besitzen, einen an Zufälligkeit glauben zu lassen. Die Zypresse erweckt immer den Anschein, als wäre sie versehentlich genau in der gewünschten Achse gepflanzt. In Deutschland  zweifelt  man  nicht  eine  Sekunde  daran,   daß  die zuständige Behörde den genauen Pflanzstandort festgelegt hat, und in der Regel gibt es im Hof eines Schlosses sogar ein Schild, auf dem steht, welcher Artikel im Bürgerlichen Gesetzbuch der Straßenverkehrsordnung für den Autoverkehr auf dem Parkplatz maßgeblich ist.

11. OKTOBER
Der Bundesrechnungshof hat seinen Bericht vorgelegt. Wie immer kritisiert er die Verschwendung in den Verwaltungsämtern, aber in diesem Jahr richtet sich die Kritik in erster Linie gegen den Ankauf von hundertachtzig Eurofightern durch die deutsche Regierung.
Der Rafale von Dassault verkauft sich schlecht, der Absatz des Eurofighters, eine Entwicklung mit deutscher, britischer, italienischer und spanischer Beteiligung, steigt indessen stetig.
Wann wird es zu einer europäischen Kooperation kommen?

12. OKTOBER
Die Kritik reißt nicht ab
Insbesondere die Grünen fragen, inwiefern es berechtigt sei, in einer Zeit, in der es keine Bedrohung mehr gibt, soviel Geld für den Kauf von Kampfflugzeugen auszugeben. Die Ostdeutschen zeigen noch weniger Verständnis.

13. OKTOBER
Der Bundesrechnungshof äußert auch seine Besorgnis darüber, daß der Umzug von Bonn nach Berlin die Schaffung zusätzlicher Beamtenposten nach sich ziehen würde. Besteht nicht die Gefahr, daß Doppelstellen entstehen, wenn bestimmte Ämter in Bonn bleiben?
Diese Befürchtungen von Seiten des Rechnungshofs werden in Berlin als Vorbehalt gegenüber dem Umzug empfunden. Berlin hat Eile, von seiner virtuellen zur realen Rolle als Hauptstadt überzugehen.

16. OKTOBER
Die Nachricht, die in allen Zeitungen Schlagzeilen macht: Kohl wünscht Schäuble als seinen Nachfolger.

20. OKTOBER

Trabant-Werke an der Börse notiert

Sieh mal, ein Trabant!
Wenn man heute eines von diesen bonbonfarbenen kleinen Autos sieht, wird einem bereits ganz wehmütig zumute.
Der erste Befreiungsakt der Ostdeutschen nach der Wende bestand darin, ihren Trabant (wenn sie denn nach gut zehn Jahren Wartezeit endlich einen erstanden hatten) auf den Müll zu werfen, um sich einen unvergleichlich leistungsstärkeren Westwagen zu kaufen.
Im April 1991 haben die Zwickauer Sachsenring-Werke schließlich die Produktion eingestellt. Heute arbeiten eben diese Werke, inzwischen auf die Fertigung von Fahrzeugteilen spezialisiert - in erster Linie für Volkswagen - (und mit einer von 10 000 auf 350 Arbeiter reduzierten Belegschaft), jedoch wieder so erfolgreich, daß Sachsenring jetzt an die Börse geht.
Es wird das einzige Unternehmen aus dem Osten sein, das an der Börse notiert ist. Muß man noch hinzufügen, daß es von couragierten Wessis wieder aufgebaut wurde?
In den Geschenkboutiquen der Flughäfen kann man immer noch einen Trabant finden.

21. OKTOBER
Eine Meldung hat heute morgen ganz Deutschland erschüttert.
Ein Mann von vierundfünfzig Jahren, vor fünf Wochen aus der Haft entlassen, aus Thüringen stammend, hat ein kleines Mädchen vergewaltigt, nachdem er es mit einem Revolver bedroht und entführt hat.
Es wird eifrig nach ihm gefahndet. Vielleicht etwas zu eifrig.
Bis jetzt ist seine Schuld noch nicht erwiesen, doch das erste deutsche Fernsehen bringt heute vormittag seinen Namen und sein Foto (seine Identität wurde aufgrund eines Phantombildes nach den Angaben der Kinder festgestellt). Ist es wirklich die Aufgabe eines öffentlichen Fernsehsenders, sich auf diese Weise bei der Jagd auf einen Menschen zu beteiligen? Es ist eigenartig.
Die Redakteure der Fernsehnachrichten sind überzeugt, im Namen des Guten zu handeln. Und das ist in Deutschland etwas sehr Wesentliches. Mitunter scheint es sogar das Entscheidende zu sein. Das Gute, die Wahrheit, das Höhere sind Werte, die nicht in Frage gestellt werden. Daß dieser Wunsch, ein guter Mensch zu sein, vom Marketing oder von den politischen, insbesondere den rechten Parteien hervorragend in eine bestimme Richtung gelenkt wird, ist eine andere Sache. Mit ein bißchen Übertreibung könnte man sagen, daß es einem Deutschen vor allem darauf ankommt, das Gefühl zu haben, auf der »richtigen Seite« zu stehen, zu den »Guten« zu gehören; mit den guten Tutsis gegen die schlechten Hutus, mit den guten Kroaten gegen die bösen Serben, mit den guten Fahrrädern gegen die bösen Autos, mit den guten Bäumen gegen die bösen Maschinen usw. Ein Deutscher muß sich unablässig am Maßstab des Guten und des Bösen messen: Nach diesen Begriffen bewertet er die Welt. Da, wo ein Franzose dazu neigt, seine Haltung nach dem Ergebnis eines Staatsstreichs zu richten (trägt er zur Stabilisierung der Region bei oder bedeutet er ein erhöhtes Sicherheitsrisiko?), fragt sich ein Deutscher eher, ob der Staatsstreich einen Anschein von Legitimation hatte oder nicht, und in welchem Maße die demokratischen Prinzipien verletzt worden sind. Die Mittel haben für ihn Vorrang vor dem Zweck.
Natürlich spricht daraus zum Teil die Reaktion des gebrannten Kindes. Der berüchtigte Satz von Hitler, >der Zweck heiligt die Mittel<, hat in einem Maße dazu gedient, alles zu rechtfertigen, daß die Zurückhaltung der Deutschen heute verständlich ist. Aber Hitler wußte, an wen er sich richtete, wenn er von »heiligen« sprach: an Menschen, die den Spruch Arbeit macht frei am Eingang zu den Konzentrationslagern widerspruchslos anbringen oder lesen würden, ohne sofort darin eklatanten, bitteren Hohn zu erkennen, so wie sie ohne mit der Wimper zu zucken zur Kenntnis nehmen würden, daß über dem Eingangstor von Buchenwald Jedem das Seine stand - Suum cuique, der Wahlspruch der Hohenzollern.
Die Nazis haben von sich selbst niemals geglaubt, gemeinsame Sache mit dem Bösen zu machen, nicht einmal, als der Terror am schlimmsten wütete; nein, es handelte sich um eine »reinigende« Mission, um die »heilbringende« Aufgabe Deutschlands, es ging darum, »hart« zu sein, sich des Führers würdig zu erweisen: Die Reden Himmlers sind in dieser Hinsicht sehr aufschlußreich.
Die Franzosen waren immer eher von der entgegengesetzten Gefahr, dem Zynismus, bedroht und empfinden daher diesen Unterschied in der Haltung der Deutschen ganz besonders. Ohne daß sie sich die Frage nach dem Ursprung dieses Moralismus stellen (es bedürfte einer tiefschürfenden, »wissenschaftlichen« Studie, wie man im Deutschen sagen würde), erwecken die Deutschen bei ihnen offenbar ständig den Eindruck, daß sie sich speziell jenen Satz aus dem Evangelium zu Herzen nehmen, der da lautet: »Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.« Giraudoux sagt sogar, daß »das Rheingold« die Gutgläubigkeit der Deutschen - la bonne foi - sei.
Es ist dagegen unmöglich, im Deutschen zu sagen, daß jemand »schlechten Glaubens« - de mauvaise foi - sei, diese zur Schau getragene Scheinheiligkeit. Der Begriff existiert nicht (genausowenig wie man über »wohldenkende« Leute spöttelt oder sich über »gute Seelen« lustigmacht).
Niemand, zumindest niemand, der ein prägendes Zeichen in der kulturellen Biographie Deutschlands hinterlassen hat, hat so wie Pascal je erklärt, daß »derjenige, der den Menschen zum Engel machen möchte, ihn zum Tier macht«, und deshalb verkennen die Deutschen im allgemeinen, welche Gefahren der Angélisme birgt, dieses Verlangen nach äußerster Reinheit, diese Verweigerung irdischer Realitäten, wofür es im Deutschen ebenfalls kein Wort gibt. Ihre Art und Weise, die Klippen der mauvaise foi zu umschiffen, bestehe eher darin, nach Max Weber über den Unterschied zwischen der Ethik der Überzeugung und der Ethik der Verantwortung nachzudenken, wobei letztere mit dem Gewicht der Realitäten der existierenden Welt beschwert ist. Andererseits erinnern sich die Deutschen, daß Hegel die Probleme der »schönen Seele« erkannt hatte, die durch den Widerspruch zwischen dem Absoluten der Werte, die zu verteidigen sie sich zur Mission gemacht hat, und der Unmöglichkeit, sie umzusetzen, gelähmt wird; aber eben darum flüchtet sie sich in die Ohnmacht und nicht in die mauvaise foi.
Es wäre indessen falsch anzunehmen, daß unsere beiden Gesellschaften immer näher zusammenrücken würden, ohne sich gegenseitig zu beeinflussen, wenn auch oder vielleicht in erster Linie auf unbewußte Weise. Seit dem Krieg »europäisieren sich« die Deutschen, wie es ihre zunehmend negative Haltung gegenüber dem »Blutrecht« bezeugt, und, wenn man Alain-Gerard Slama Glauben schenken soll, haben wir Franzosen uns zu schrecklichen »Moralpredigern« entwickelt, was er zutiefst bedauert. In seinem Buch L'Angélisme exterminateur, etwa mit »Im Würgegriff des Angelismus« zu übersetzen, verweist er »auf die gewaltige Umwandlung, in deren Folge die französische Gesellschaft sich seit ein paar Jahren mehr und mehr an Normen orientiert, die ihrer Kultur fremd sind«. Laut Slama hätten in der Vergangenheit »die Republikaner, gleich welcher Couleur, die Ethik der Überzeugung und die Ethik der Verantwortung immer großartig miteinander in Einklang gebracht... Nicht nur, daß die Republik dem »Angelismus« mißtraute, für sie galt der in der Schule anerzogene Bürgersinn des Individuums auch als Voraussetzung für eine gute Regierung und nicht umgekehrt die tugendhafte Regierung als Voraussetzung für den guten Bürger.« Dagegen seien wir jetzt, unter dem Einfluß der »Länder des Nordens«, einer Art neuer moralischer Ordnung verfallen, wie sie schon unter der Vichy-Regierung hochgehalten wurde: »Wachsamkeit in Fragen der Moral, Rundumbeschwörung der Kollektivschuld, am laufenden Band Prozesse gegen die Verantwortlichen, Heilssuche auf dem Pfad der Tugend, mediales Feiern der >Helden< des Tages, deren Werte sich auf ein Helfersyndrom beschränken, Gesundheitskult, Wohltätigkeitsdrang, der sich in Solidarität (über die Steuer oder den Zivildienst) oder in Nächstenliebe äußert, ganz gleich ob Abbé Pierre oder Coluche dahinterstehen; Kritik des Geldes, Kampf gegen die >sozialen Geißeln< (Alkohol, Rauchen)..., Suche nach gewachsenen Gemeinschaften (New Age oder die >Charismatischen Gemeinden<), das Geschäft mit dem Aberglauben (Verwendung von Horoskopen sogar bei Einstellungen), Abschottung in bezug auf das Ausland, krampfhafte Verteidigung von Sprache und Kultur usw., mit einem Wort, Festhalten an mentalen Strukturen, deren Wirkungen bekannt sind: Ansteigen der Intoleranz und Überhandnehmen der sozialen Kontrolle.«
Für Slama ruht diese neue moralische Ordnung, deren Wirkungen er im Detail beschreibt, vor allem auf drei Pfeilern: der Tyrannei des Konsensus, der Heiligsprechung des Lebens und der Anbetung der Sicherheit. Wer würde darin nicht die großen Triebkräfte der deutschen Gesellschaft erkennen? Es läßt sich nicht leugnen, daß bestimmte Wurzeln dieses »Würgeengeltums«, das uns angeblich bedroht, in einem Land liegen, das sich über dessen Gefahren gar nicht im klaren ist.
Wer immer sich Fragen stellt über den möglichen Wirbel, den der Euro zwischen Deutschland und Frankreich auslösen wird, sollte Slamas Buch lesen. Um so mehr, da sich im allgemeinen bei jedem hinter den schlechten Eigenschaften auch die entsprechenden guten verbergen. Aber was passiert, wenn wir nur die schlechten Eigenschaften der Deutschen übernehmen und umgekehrt? Den »Angelismus« der Deutschen, aber ohne ihre Fähigkeit zu glauben und sich einer Sache hinzugeben? Den Zynismus der Franzosen ohne ihr Urteilsvermögen und ihren Humanismus?
Es wäre an der Zeit, sich solcherart Fragen zu stellen. Die Zeitschriften der Gruppe Prisma Presse Axel Ganz (Gala, Vota...) haben ihren »moralischen Druck« auf das Privatleben von Persönlichkeiten, deren Leben bisher im französischen Sinne des Wortes »privat«, der Öffentlichkeit nicht zugänglich, war, bereits deutlich verschärft.
Oder aber soll man Nietzsche glauben, der ohne übermäßige Besorgtheit prophezeite: »Die Aussicht, welche sich durch diesen sichern Verfall [der Werte] ergiebt, ist aber nicht in jedem Betracht eine unglückselige: die Klugheit und der Eigennutz der Menschen sind von allen ihren Eigenschaften am besten ausgebildet; wenn den Anforderungen dieser Kräfte der Staat nicht mehr entspricht, so wird am wenigsten das Chaos eintreten, sondern eine noch zweckmäßigere Erfindung, als der Staat es war, zum Siege über den Staat kommen.«
Hat Nietzsche damit jene Art beliebigen Neokorporativismus beschrieben, der heute unser Leben bestimmt? Ist dies der europäische Synkretismus der Zukunft?

23. OKTOBER
Gestern abend war vesper horribilis für den FC Paris-Saint-Germain, Bayern München hat 5:1 gewonnen, ein beeindruckendes Spiel, über dessen jeweiligen Stand ich durch die regelmäßigen Aufschreie meines elfjährigen Sohnes sehr genau auf dem laufenden gehalten wurde.
Er ist für Bayern.
»Aber hör mal«, sage ich etwas gereizt zu ihm, »warum bist du dermaßen parteiisch?« »Aber Mama, siehst du denn nicht, wie sie spielen? Guck dir doch mal ihre Dribblings an und diese Ecken... und erst ihre Abwehr! Wie die sich ins Zeug legen! Und sie denken nicht eine einzige Sekunde, daß sie verlieren könnten. Sie sind eben besser, ganz einfach.«
Mein Sohn ist ein besserer Europäer als ich es bin.
Für mich war es ein schwacher Trost, am nächsten Tag auf allen deutschen Fernsehsendern zu hören, daß dieses Ergebnis eine riesige Überraschung war.

24. OKTOBER
Die deutschen Intellektuellen sind begeistert; endlich sind die von Präsident Herzog geäußerten Wünsche in Erfüllung gegangen: Es gibt eine hitzige intellektuelle Debatte in Deutschland.
Und wieder einmal ist sie von Günter Grass ausgelöst worden. Er hat die Laudatio für den mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels geehrten türkischen Schriftsteller Yasar Kemal gehalten, dabei das deutsche Volk der Fremdenfeindlichkeit beschuldigt und die türkische Regierung wegen ihrer Kurdenpolitik sowie die deutschen Waffenlieferungen an eben diese Regierung kritisiert.
Eine ganze Wagenladung voller Zündstoff.
Die regierungsnahen Kreise haben sich damit begnügt zu entgegnen, daß »Günter Grass... sich endgültig aus dem Kreise ernstzunehmender Literaten verabschiedet...« habe.
Aber hat Günter Grass aus der Sicht Frankreichs recht, sind die Deutschen wirklich fremdenfeindlich?
Also... wie soll ich sagen? Nein.
Nein, wenn man die enormen Anstrengungen, die außerordentliche Bereitwilligkeit, die beträchtlichen Summen bedenkt, die sie für die ausgeben, die sie als ihre »ausländischen Mitbürger« bezeichnen. Kein anderes europäisches Land hat soviel für die Asylbewerber getan wie Deutschland; das Asylrecht ist, wenn auch in abgeänderter Form, in der Verfassung verankert. Niemand hat so viele Ex-Jugoslawen aufgenommen, hat so viele Sprachkurse, ausländische Rundfunkstationen und Fernsehsender (zwei türkische allein in Berlin) finanziert, niemand subventioniert soviel, macht soviel positive Werbung, kein Land hat so viele Ausländerbeauftragte (eine Einrichtung der Länder), kurzum, niemand gibt sich soviel Mühe; die Zahlen sprechen für sich: Kein Land integriert die Ausländer auf wirtschaftlicher Ebene so vorbildlich wie Deutschland. Frankreich jedenfalls ganz gewiß nicht.
Man gehe durch die »Türkenviertel« von Berlin oder anderer deutscher Städte - sie sind das ganze Gegenteil zur Goutte d'Or in Paris. In Kreuzberg verrät praktisch nichts die überwiegend (nahezu ausschließlich) türkische Bevölkerung bestimmter Wohngegenden; ein paar Inschriften an Schaufenstern, ab und zu türkische Musikfetzen, ein Geruch nach Döner kebab und ein paar dunkelhäutige Frauen mit auffälligen Kopftüchern, die, immer in Eile, mit einer Schar Kinder auf der Straße unterwegs sind. Das ist alles.
Kein Vergleich mit den Pariser Souks, den arabischen Basaren, wie wir sie aus dem Barbes-Viertel kennen. Es ist in einem solchen Maße anders, daß man sich schließlich fragt..., warum zum Teufel lösen sie sich bloß so im allgemeinen Grau auf?
Man wird an die Geschichten von »Rassismus« und »Fremdenfeindlichkeit« erinnert, die von Zeit zu Zeit durch die Presse gehen, an die »Neonazis« oder »Skinheads«, die in regelmäßigen Abständen irgendwo einen Vietnamesen oder Afrikaner totschlagen; an die Häuser, die immer wieder in Brand gesteckt werden: türkische Geschäfte oder Asylbewerberheime. Wenn es sich in Deutschland um Ausländer und Gewalt handelt, wird die Gewalt ganz offensichtlich eher an den Ausländern verübt und geht nicht, wie in unseren Banlieues, von ihnen aus, aber man muß sich ganz klar sagen, daß diese Vorfälle nur die Entsprechung im kleinen zu unseren traurig-berühmten Ausschreitungen gegen die Nordafrikaner sind und daß sich bei uns so etwas an den Seine-Quais abspielt. Doch vor allem fragt man sich, was geschehen würde, wenn die französische Regierung sich einfallen ließe, die Einwanderung so »streng« und so gerecht wie in Deutschland zu regeln, wo jedes Land seine »Quote« an Asylbewerbern oder Aussiedlern (Übersiedler der Minderheiten aus dem Osten) hat, die dann, zu kleineren Gruppen zusammengefaßt, in mehr oder weniger leerstehenden Gebäuden untergebracht werden. Man stelle sich das Dorf in der Ardeche oder im Lazere vor, wenn sein (seit zwei Generationen nicht mehr genutztes) Schloß plötzlich von sechzig Sinti und Roma (unsere »Zigeuner«) oder von vierzig Malinesen bewohnt wäre, die nachts (da ist es billiger) von den öffentlichen Telefonkabinen auf dem Dorfplatz aus lautstark und unter schallendem Gelächter telefonieren. Es sind häufig solche Situationen, die in Deutschland zu Zwischenfällen führen.
Aber es ist eben auch diese »durchorganisierte«, »eifrige« Seite bei allem, was die »ausländischen Mitbürger« betrifft, die befremdet. Es ist auffällig, wie wenig spontan, eindeutig und selbstverständlich der Umgang mit ihnen ist. Warum hat man ständig dieses ungute Gefühl, warum entsteht dieser Eindruck angestrengter Bemühtheit? Die Schauspielerin mit dem türkischen Vater, die gefragt wird, ob sie sich als Türkin fühlt, anstatt sie zu ihrem letzten Film zu befragen, der türkische Schriftsteller, der zusammen mit deutschen Intellektuellen zweisprachige Bücher über die deutsch-türkische »Solidarität« in Deutschland veröffentlicht. Selbstverständlich gibt es auch gutgehende, kleine türkische Unternehmen, türkische Rockgruppen und türkische Journalisten, die man nicht bei jedem Artikel beglückwünscht, wie gut sie die Sprache beherrschen - aber das ist eigentlich immer noch die Ausnahme.
Der letzte kleine »Ausländer«skandal in Deutschland fand beim Fußballspiel Besiktas Istanbul gegen Bayern München statt (die Bayern haben gewonnen). In den Reihen der Fans tauchten plötzlich Hunderte von Aldi-Plastiktüten auf. So als wenn bei uns bei einer Begegnung mit Tunis die Franzosen Tüten von Tati schwenken würden. Undenkbar (übrigens hat Besiktas den FC Paris-Saint-Germain eine Woche später in Istanbul geschlagen). Aber zunächst einmal kauft nicht nur die maghrebinische Bevölkerung bei Tati ein, und dann hätte es unter den französischen Fans auf alle Fälle eine große Anzahl Nordafrikaner, ganz bestimmt aber beurs, gegeben, die sich nicht hätten entscheiden können. Im Bayern-Stadion dagegen war die Kluft absolut eindeutig.
Da sind sie, und hier sind wir, scheinen die Deutschen unablässig zu sagen. Sie sind anders.
In der Tat hatten die Deutschen kaum Zeit, sich an dieses Anderssein zu gewöhnen. Die Fremdheit des Fremden, des Ausländers, ist es, die nach wie vor Verunsicherung auslöst.
Die dreißig Jahre unter Wilhelm II. waren zu kurz, als daß eine dunkle Hautfarbe, Mandelaugen oder Kraushaar etwas Vertrautes hätten werden können. Leute mit fremdländischem Aussehen fallen in Deutschland auf, sie ziehen weit mehr als in Frankreich die Blicke auf sich, heute noch genauso wie zu der Zeit, als Giraudoux einen seiner Romanhelden voller Entsetzen ausrufen läßt, daß »die Franzosen den Neger an den Rhein gebracht« hätten. Und ich selbst erinnere mich an eine Bäuerin aus dem Schwarzwald, die mir von ihrem Schrecken berichtete, als sie zum ersten Mal einen französischen Soldaten aus Nordafrika gesehen hatte.
Dieser Mangel an Erfahrung wird noch verstärkt durch die provinzielle Seite Deutschlands; nirgends gibt es ein pulsierendes, richtiges Großstadtleben. Paradoxerweise machen weder die Faszination der Deutschen für das Reisen und das Erkunden der Welt noch ihr Kosmopolitismus diese fehlende Vertrautheit mit den Fremden wett. Im Gegenteil, es scheint, als müsse im eigenen Land alles um so idyllischer, perfekter, ordentlicher, anheimelnder sein - eben gemütlich.
Die intellektuelle Basis, der eine solche Haltung entspringt, liegt natürlich in der deutschen Gesetzgebung zur Frage der Nationalität. Hierfür war seit Bismarck das Blutrecht bestimmend und weitgehend selbstverständlich in einem Land, das sich - wie bereits erwähnt - eher um ein Volk als auf einem Territorium herausgebildet hatte und dessen Grenzen immer sehr fließend waren. Dieses Blutrecht hatte in jeder Epoche unterschiedliche Auswirkungen, doch seine Minderheiten hat Deutschland zu jeder Zeit unterstützt: im rumänischen Banat und Siebenbürgen, in Ungarn und in Rußland... Mittels der Sprache, der Kultur und der Religion haben die Deutschen versucht, in diesen entfernten Landstrichen kleine deutsche Zentren am Leben zu erhalten, auf die Gefahr hin, innerhalb der nationalen Identitäten noch mehr zum Fremdkörper zu werden. Dafür unternehmen sie lobenswerte Anstrengungen, um »ihre« Minderheit gut zu behandeln: nichts Erbaulicheres als diese Fotos und Artikel von den berühmten Sorben, die die konservative Presse pflichtgetreu abdruckt, Bilder von der Schule, in der die Kinder sorbisch lernen, Bilder von Kirchen, in denen der Gottesdienst auf Sorbisch abgehalten wird, Bilder von Folkloregruppen, die sorbisch tanzen. Niemand kann sagen, er wäre über diese gehätschelte »Vorzeige«minderheit nicht informiert.
Aber die Welt verändert sich. Ebenso wie unser Bodenrecht in unseren von Arbeitslosigkeit heimgesuchten Banlieues an seine Grenzen stößt, wird das Blutrecht in Deutschland mit der Zeit immer absurder. Als »Deutsche« betrachtet, kehren die Nachfahren jener Bauern heute nach Deutschland zurück, die auf Geheiß der Soldaten-Werber Katharinas II. (es heißt, daß das Märchen vom Rattenfänger von Hameln, in dem alle jungen Leute eines Dorfes verschwinden, auf sie zurückgeht...) aufgebrochen waren, um den Osten zu kolonisieren.
So stößt man in den Aufnahmelagern, wie dem in Friedland in der Nähe von Hannover, auf kasachische Bauern mit Astrachanmützen, die kaum ein Wort deutsch können und einem erklären, daß sie heim wollen; und auf die Frage »Wo war denn Ihre Heimat« kann es vorkommen, daß sie wie im Chor antworten »Elsaß«, ohne auch nur im mindesten zu ahnen, daß sich seit »ihrem« Aufbruch vor etwa zweihundert Jahren ein paar Veränderungen in Europa vollzogen haben. Sie treibt die Sehnsucht nach Deutschland. Bei denen, die zurück wollen, handelt es sich zum großen Teil um Wolgadeutsche, die von Stalin weiter nach Osten, nach Kasachstan oder Sibirien, umgesiedelt wurden; sie träumen von Wohlstand und deutschen Weihnachten; aber ihre Kinder, zumindest die älteren, gehen immer häufiger nur schweren Herzens weg und zeigen ihrer neuen Heimat die kalte Schulter.
Normalerweise gestattet das Gesetz jedem Angehörigen einer deutschen Minderheit (insgesamt wird ihre Zahl auf drei Millionen geschätzt), mit dem Status eines Staatsbürgers nach Deutschland zu kommen. Nach dem Fall der Mauer belief sich der jährliche Strom der Rückkehrer auf etwa 200 000 pro Jahr. Sprachtests, Hilfsprogramme vor Ort und verschiedene andere Maßnahmen haben diese Bewegung deutlich eingedämmt.
Im allgemeinen sind diese Aussiedler in der Öffentlichkeit sehr gut angesehen. Sie sind die Abenteurer, die viel erleiden mußten, die verlorenen Söhne, denen man weder sein Herz noch seine Tür verschließen darf. Doch mit der steigenden Arbeitslosigkeit werden immer häufiger Stimmen laut, die auf die mangelnde Logik dieser Situation hinweisen. Auf der einen Seite Menschen, die außer ihrer weit zurückliegenden Herkunft nichts mehr als Deutsche ausweist, auf der anderen Kinder von Türken oder Italienern, die niemals etwas anderes als Deutschland kennengelernt haben und trotzdem niemals Deutsche sein werden, denn nur ein Prozent der Türken beantragen und erhalten die deutsche Staatsbürgerschaft. Im übrigen werden in Deutschland Jahr für Jahr nur 4000  bis 5000  Personen eingebürgert  (in Frankreich sind es ungefähr 80 000). Der Hauptgrund für das geringe Interesse der Türken, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, ist - außer den finanziellen Problemen und den verwickelten bürokratischen Prozeduren - die Verpflichtung, die türkische Staatsbürgerschaft aufzugeben. Deutschland verweigert  die  doppelte  Staatsbürgerschaft. Das beginnt sich als ein Hemmnis auszuwirken, um so mehr als unterderhand beunruhigende Zahlen kursieren: In den großen Zuwanderungsstädten wie Frankfurt am Main soll der Anteil der nichtdeutschen Mitbürger bei den unter Fünfzehnjährigen bei fünfunddreißig, ja sogar bei vierzig Prozent liegen.
Ware es nicht an der Zeit, den Ausländer nicht mehr nur als  den  schönen  exotischen Vogel anzusehen,  der viel Pflege benötigt (er ist so verletzlich, und er ist der Armut, dem Haß und der Brutalität der Unterprivilegierten der deutschen Gesellschaft ausgesetzt), sondern ihn in irgendeiner Weise in die nationale Gemeinschaft zu integrieren, deren Prinzip eine erwünschte Partizipation und nicht mehr allein die ethnische Herkunft wäre? An der Wende zum dritten Jahrtausend nimmt sich das Fortbestehen dieses ethnischen Nationalitätenbegriffs wie ein phantomhaftes Relikt aus der Zeit vor der Aufklärung aus.
Allerdings kann man das Problem nicht allein mit der Gesetzgebung erfassen. Eine kleine Szene gestern in Roissy gab mir zu denken.
Ein Kind mit dunkler Hautfarbe, gut gekleidet, ließ sich in korrektem Französisch von der Verkäuferin eines kleinen Kiosks ganz ungeniert die Bestandteile der Süßigkeiten aufzählen, die es kaufen wollte. Und in Mars? Und die da? Und in M&M, sind da auch tierische Fette drin? Bei Toblerone angelangt, gab ihm die Verkäuferin wütend den Rat, seine Mutter solle ihm selbst Bonbons machen, wenn er nicht wie »tout le monde«, »wie alle Welt«, essen könne. Ich sah sie mir an, eine schöne junge Schwarze, freilich mit einem ziemlich barschen Gesichtsausdruck.
Im Deutschen ist es schwierig, »wie alle Welt« zu sagen. Es gibt »jeder«, es gibt »wir« und »alle«. Aber dieses vage »man« mit der fließenden und umfassenden Kontur, was zu »wie alle Welt« führt, ist fast unmöglich wiederzugeben. Das hat ganz gewiß vielerlei Gründe..., aber das ist eine andere Geschichte.

26. OKTOBER
Günter Grass hat den Zeitpunkt für seine Rede gut gewählt. Heute fand im Bundestag eine große Debatte über die doppelte Staatsbürgerschaft statt. Es beginnt sich eine Mehrheit abzuzeichnen: SPD, Grüne, Liberale und Teile der CDU sind dafür. Die CSU und der rechte Flügel der CDU sind ganz entschieden dagegen. Wer wird siegen?