Vor mehr als einem halben Jahrhundert sagte Virginia Woolf: »Es ist weit schwieriger, ein Phantom totzukriegen als eine Realität.« [1] Sie bezog sich dabei auf die Metapher des Hausengels, ein Image, dessen man sich zu ihrer Zeit zur Bezeichnung der Guten Frau bediente, die sich aufopferungsvoll um ihren Ehemann, ihre Kinder und ihren Haushalt sorgte. In dem Vortrag, den sie 1931 vor einem Publikum von zukünftigen berufstätigen Frauen hielt, wies sie darauf hin, daß es sich bei diesem Image um ein Trugbild handele, das in nicht unerheblichem Maße das Leben der Frauen beeinflußte und, wie alle Trugbilder, kaum zu fassen und schwer zu zerstören sei.
Die Images, in deren Falle Frauen sich in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts befinden, sind verändert; die Sicherheit des Engels auf dem Sockel der Werte ist gefährdet. Er wurde durch andere Ideale ersetzt, die nun unser Leben beeinflussen und darüber entscheiden, was es heißt, eine gute akzeptierte Frau zu sein. Aber die Worte von Virginia Woolf, die vor mehr als einem halben Jahrhundert zutrafen, sind auch heute noch gültig: Es ist immer noch äußerst schwierig, bestimmte Images aus unserem Vorstellungsvermögen zu eliminieren. Worum handelt es sich bei dem, was wir als Image bezeichnen? Images wurden einmal als in Großbuchstaben geschriebene Persönlichkeiten bezeichnet. Man spricht nicht von Mutter, Ehefrau oder Frau, sondern von der Mutter, der Ehefrau oder der Frau schlechthin. Images repräsentieren keine durchschnittlichen Frauen, die ihren Beschäftigungen im Leben als Mutter oder als liebende und arbeitende Frauen nachgehen. Es handelt sich vielmehr um Ideale, um unserer Phantasie entsprungene Möglichkeiten, wie für uns eine andere Person zu sein hätte, wie wir uns eine andere Person vorstellen oder welchen unserer Träume diese Person zu erfüllen habe. In Großbuchstaben geschriebene Persönlichkeiten sind Images, Bilder unserer Vorstellungswelt, und um ihnen gerecht zu werden, muß eine Frau den Sockel anerkannter Werte erklimmen und ihre eigene Identität verleugnen. Dies erinnert mich an die Geschichte von Aschenputtels Stiefschwestern, die ihre Füße in einen viel zu engen Schuh zwängten, um den Prinzen zum Gemahl zu bekommen. Eine der Schwestern sah sich gezwungen, ihre Zehen abzuschneiden, die andere amputierte ihre Ferse. Wenn wir die Geschichte von Aschenputtel lesen, sind uns die Schwestern meist unsympathisch. Heldin der Geschichte ist das auf seinen Prinzen wartende Aschenputtel. Die Schwestern konfrontieren uns jedoch mit einer Geschichte, in der die Erfahrungen vieler moderner Frauen anklingen.
Da es uns nicht möglich ist, den vorgegebenen Images gerecht zu werden, tun wir uns oft selbst Gewalt an, indem wir wichtige Teile unserer Persönlichkeit amputieren, um uns in die vorgegebenen Schablonen zu zwängen. Bezeichnenderweise ist der Schuh, in den sich die Schwestern zwängen, aus Glas. Er war nie für eine wirkliche Frau bestimmt, die ganz offensichtlich nicht in einem gläsernen Schuh laufen könnte; nur eine Frau, die ein Produkt unserer Vorstellungswelt wäre, könnte einen gläsernen Schuh tragen; nur eine Frau, die bar jeder Realität, als idealisiertes Bild der Weiblichkeit auf den Sockel anerkannter Werte gestiegen ist, könnte einen gläsernen Schuh besitzen. Sam Keen, ein Protagonist der Männerbewegung, ist der Ansicht, daß Frauen für Männer kein Problem darstellen, jedoch die Frau für den Mann ein gewaltiges Problem ist. [3] »Die Frau« ist diese »überlebensgroße weibliche Schattengestalt, die unsere Phantasie beherrscht, unsere Gefühle bestimmt und indirekt viele unserer Handlungsweisen lenkt.« [4] Das idealisierte Bild von der Frau ist für Männer als auch für Frauen äußerst problematisch. Auf der Suche nach der Idealfrau verliert ein Mann nicht nur seine Ziele aus den Augen, sondern beraubt sich auch jeder Möglichkeit, die sich aus der Beziehung zu einer realen Frau entwickeln könnte. Letztendlich werden reale Frauen niemals unseren Idealisierungen gerecht. Trotz, oder vielleicht gerade aufgrund seiner Unwirklichkeit übt das Image einer Frau unglaubliche Macht auf den Mann aus. [5] Falls Männer jemals an wirklichen und gesunden heterosexuellen Beziehungen interessiert sein sollten, müssen sie die Frau in ganz normale Frauen verwandeln, mit denen sie eine wahrhaft gegenseitige Beziehung eingehen können. Während Keens Warnung für Männer gewiß von Bedeutung ist, ist sie für Frauen, die sich in der Falle dieser idealisierten Images befinden, noch weitaus wichtiger. Wenn es Frauen nicht gelingt, von diesem Sockel herabzusteigen, wird es ihnen nicht möglich sein, authentische Beziehungen aufzubauen und ein selbständiges Leben zu führen. Images von archetypischer Macht, verabsolutierte Personifizierungen entstehen durch die Verschmelzung von Symbol und Emotion. [6] Im Gegensatz dazu ist unser alltägliches Leben mit nützlichen Zeichen und Symbolen ausgefüllt, die nicht zu ewigen Werten gerinnen und nur geringen Einfluß auf unser Leben oder unser Verständnis von Wirklichkeit ausüben. Betrachten wir z. B. die Verkehrszeichen, die den Verkehr auf den Straßen regeln: Das Vorfahrtsschild übermittelt zwar eine Information, aber keine emotionale Spannung. Es handelt sich in diesem Fall keineswegs um ein Image, um eine idealisierte Personifizierung. Die Freiheitsstatue ist dagegen ein Symbol der Freiheit, das bei vielen Amerikanern gefühlsmäßig stark besetzt ist. [7] Der Anblick dieses Symbols löst selbst bei den größten Zynikern Emotionen aus. Viele brechen in Tränen aus, und man hat das Gefühl, daß es so etwas wie ein höheres Ziel gibt.
Die Freiheitsstatue ist ein Image, ein Archetyp von Freiheit. Die Fähigkeit, die Ronald Reagan besaß, die Bevölkerung stets von neuem zu begeistern, mag sich aus der Tatsache erklären lassen, daß er das Bild des Gütigen Vaters verkörperte - eines weisen, freundlichen und starken Mannes. Seine Präsidentschaft symbolisierte den Triumph des Guten über das Böse, und trotz des Mißerfolgs vieler seiner politischen Entscheidungen gelang es Reagan, gewaltige Gefühle und starke Loyalität zu mobilisieren, und zwar nicht nur bei seinen Anhängern, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit. Auf dem Partei-Konvent der Republikaner 1992 war das Publikum nochmals von Reagan fasziniert, der erhobenen Hauptes das Image des Gütigen Vaters verkörperte. Ein junger Mann aus dem Publikum sagte voller Ergriffenheit: »Ich mag den Jungen, für mich symbolisiert er das Amt des Präsidenten.« Ohne sich dessen bewußt zu sein, stellte dieser Mann Reagan nicht wie einen Menschen dar, nicht wie einen realen Präsidenten mit seinen Schwächen und Stärken, sondern als eine verabsolutierte Institution, als die Präsidentschaft. Images haben die Macht, uns zu verzaubern und zu verhexen. Sie sind magisch, sind eine Mischung aus Leidenschaft und Phantasie [8] und erwecken in uns das Gefühl von Ehrfurcht und Erstaunen. Es sind Idealisierungen, die das alltägliche Leben transzendieren.
Abgesehen von ihren emotionalen Wirkungen, bieten uns Images ein statisches Muster, nach dem wir unser Leben ausrichten. Sie liefern ein Rezept, wie wir uns zu verhalten haben. Die idealisierte Mutter übt ganz bestimmte Tätigkeiten aus; die idealisierte Ehefrau legt ein ganz bestimmtes Verhalten an den Tag. Ein Image funktioniert wie eine vorgeschriebene, sich nie ändernde Rolle in einem Drama. Ein guter, perfekter Schauspieler mag vielleicht den Eindruck erwecken, daß ein Teil des Vortrags spontan und echt ist. Wenn wir jedoch das Stück oft genug sehen, wissen wir, daß sich das Drama niemals ändert. Unabhängig davon, wer die Rolle besetzt, sie wird immer die gleiche bleiben. Wer auch immer die Zeilen vorträgt, das Image unterliegt keinem Wandel. Man stelle sich eine kafkaeske Geschichte vor, in der eine Person in einer Imagefalle steckt, die ihr gesamtes Leben diktiert. [9]
Bei dieser Person könnte es sich um den Guten Soldaten oder um den Skrupellosen Geschäftsmann handeln. Schließlich wird dieser an seinem Lebensende rückblickend feststellen, daß sein Leben ausschließlich aus einer Aneinanderreihung von Mißerfolgen und verpaßten Gelegenheiten bestand. In seinem Elend bittet er einen Zauberer, sein Leben wiederholen zu dürfen. Er möchte all seine Fehlentscheidungen rückgängig machen. Wenn ihm jedoch dieser Wunsch erfüllt wird, ist er nicht fähig, etwas anderes zu tun, als das Drehbuch zu wiederholen. Die Geschichte bleibt immer die gleiche, und man kann sich vorstellen, daß sie sich, unabhängig davon, wie viele Male die Person die Möglichkeit erhält, ihr Leben nochmals zu leben, in einer nie endenden Aufeinanderfolge des Gleichen erschöpfen wird. Wenn man in die Imagefalle geraten ist und sich mit den vorgeschriebenen Verhaltensmustern identifiziert, verzichtet man auf Wahl und Selbstbestimmung in der Gestaltung seines Lebens. In seiner banalsten Form liefert uns ein Image das Rezept, wie wir unser Leben zu gestalten haben. Wie bei allen Rezepten wird in einer simplen Formel etwas Unveränderbares und Vereinfachtes vorgeschrieben. Vor fast zweihundert Jahren brachte ein Mann, der sich auf der Suche nach einer Ehefrau befand, seine Formel für eine perfekte Partnerin auf den Begriff. Sein persönliches Rezept zur Fabrikation der Frau schlechthin lautete: »Zehn Körnchen Sauberkeit, zwei Körnchen Fleiß und zwei von Liebenswürdigkeit, eine Tasse >Gehirn< angeeignetes Wissen, Talente, die sich in einer silbernen Tasse angesammelt haben vermischt mit einer Handvoll blühender Schönheit.« [10]
Eine Frau, die dieser idealisierten Vorstellung von weiblicher Perfektion gerecht werden möchte, hätte nur dieses Rezept zu befolgen. Solange sie die Zutaten korrekt auswählt, die Maßangaben genau einhält und die Bestandteile vorschriftsmäßig vermischt, entspräche sie erfolgreich dem Idealbild einer Guten Ehefrau. Auf den ersten Blick mag man versucht sein, Image und soziale Rolle zu verwechseln, zumal von beiden Beziehungen festgelegt und Verhaltensweisen vorgeschrieben werden. Beide unterscheiden sich jedoch stark voneinander. Eine soziale Rolle ändert sich je nach den Erwartungen der verschiedenen Gruppen und reagiert auf den Wandel äußerer Umstände. [11] Sie ist eine soziale Einrichtung, derer man sich bedient und anschließend wieder entledigt, ohne allzuviel Loyalität oder Leidenschaft investiert zu haben. Dagegen bleibt ein Image im Hinblick auf Ort und Zeit statisch. Unabhängig von den Umständen oder den Beteiligten bleibt es unverändert. Wenn wir an die Rolle der Ehefrau denken, haben wir eine Reihe von sozialen Übereinkünften vor Augen. Eine bestimmte Frau kann manchmal in die Rolle einer Ehefrau schlüpfen, eben so gut kann sie jedoch diese Rolle nach Belieben wieder abstreifen. Auch mag die Rolle, je nach den persönlichen Eigenschaften der Frau, die diese Rolle bekleidet, variieren. Das Image der Treuen Ehefrau bleibt dagegen konstant. Eine Frau, die mit dem Image der Treuen Ehefrau identifiziert wird, bleibt immer sie selbst. Ihre Eigenschaften ändern sich nicht, auch wenn sie von ihrem Ehemann schlecht behandelt wird; sie ändert sich nicht, wenn sie älter wird; sie ändert sich nicht einmal, wenn sie verwitwet ist. Treue Ehefrauen bleiben auf ewig Treue Ehefrauen.
Vielleicht läßt sich der Unterschied zwischen sozialen Rollen und Images besser verdeutlichen, wenn man die Rolle des Führers mit dem Image des Furchtlosen Führers vergleicht. Die Rolle des Führers ist kontextgebunden.
Verschiedene Gruppen haben unterschiedliche Erwartungen im Hinblick auf die Eigenschaften eines Führers. [12] Pfadfinder verlangen von ihrem Führer etwas anderes als vom Vorsitzenden der UN-Vollversammlung, von dem man ein eher formales und aufgabenorientiertes Verhalten erwartet. Bei einer gefährlichen Bergwanderung wird der Führer einer Pfadfindergruppe weitaus bestimmter und autoritärer auftreten. Bei der Besprechung der Tageserlebnisse am Lagerfeuer mag er sich etwas entspannter und egalitärer verhalten. Betrachten wir dagegen das Image des Furchtlosen Führers: Es existiert jenseits von Zeit und äußeren Umständen, und es erscheint unveränderlich. Vor kurzem hatte ich die Gelegenheit, Sergej Eisensteins Film »Alexander Nevsky« aus dem Jahr 1938 zu sehen. Der Film erzählt die Geschichte eines Furchtlosen Führers aus dem 13. Jahrhundert, der das russische Reich vor der Invasion der deutschen Armeen rettet.
Als ich beschloß, den Film zu sehen, hatte ich erst die Befürchtung, daß er längst überholt sei und daß mich ein derartiges Führerimage in einem Film, der die sowjetische Propaganda am Vorabend des Zweiten Weltkriegs unterstützen sollte, überhaupt nicht ansprechen würde. Tatsächlich machte ich bei der Betrachtung des Films eine andere Erfahrung. Alexander Nevsky präsentierte sich in aller Eindeutigkeit. Er war ein Furchtloser Führer, stark, verwegen und bereit, für sein Vaterland zu sterben, und er besaß die Fähigkeit, das Volk für die gerechte Sache zu mobilisieren. Er war die lebende Verkörperung der Parole »Freiheit oder Tod«. Es spielte keine Rolle, daß der Film vor mehr als fünfzig Jahren gedreht wurde oder daß die Handlung des Films Jahrhunderte zuvor angesiedelt war. Alexander Nevsky war mir ebenso vertraut wie eine Person der Gegenwart, und ich war von der Entschlossenheit und dem Mut Nevskys begeistert.
Teilweise läßt sich die Macht der Images durch deren Allgemeingültigkeit erklären. Wir können sie unabhängig vom Kontext und von der Zeit wiedererkennen. Die äußere Erscheinung kann über ihre innere Bedeutung nicht hinwegtäuschen. Dieser universelle Zauber, der uns in ihren Bann zieht, macht sie aber auch als Modelle, nach denen wir unser Leben ausrichten, so gefährlich. Die Muster sind zu eindeutig, das Verhalten ist zu durchschaubar. Images dulden keine individuellen Besonderheiten. »Eine Konfektionsgröße für alle« kann allzu oft bedeuten, daß diese eine Größe überhaupt keinem paßt. Idealisierte Images, die uns belehren, was es heißt, eine Gute Frau zu sein, sind das gleiche wie Schnittmuster für die Fraulichkeit. Sie produzieren zahllose Kopien mit geringfügigen Abweichungen. Als junges Mädchen verbrachte ich viele Sonnabendnachmittage im Kunsthandwerks-Zentrum unserer Gemeinde, um Gipsmodelle zu formen. Die Modelle unterschieden sich im Schwierigkeitsgrad; Anfänger begannen mit einfachen Formen, die im Lauf der Zeit immer komplizierter wurden. Während die schwierigeren Vorbilder weitaus mehr Spaß machten und eine größere Herausforderung waren, langweilte mich die Einförmigkeit selbst der komplexesten Formen, nachdem ich erst einmal die Technik beherrschte. Es liegt im Wesen eines Modells, identische Produkte anzufertigen. Einige Modelle mögen interessanter als andere sein, aber dennoch handelt es sich nur um Modelle. Ebenso verhält es sich mit den Images. Einige mögen komplizierter, abwechslungsreicher und anspruchsvoller sein, trotzdem handelt es sich um starre und statische Vorschriften, wie das Leben zu gestalten sei. In der Kolonialzeit Neuenglands war das idealisierte Image einer Guten Ehefrau (Good Wife) als standardisiertes Vorbild für Frauen derartig verbreitet, daß die Frau im allgemeinen als »Good Wife« angeredet wurden. [13] Eine Frau wurde z. B. »Good Wife Jones« oder »Good Wife Smith« genannt. Der Begriff der Ehefrau, der ehemals nur eine Rolle umschrieb oder sogar nur eine Anrede war, erhielt nun den Status eines Ideals. Die Gute Ehefrau war liebende Mutter, gehorsame Partnerin, sprang ein, wenn der Ehemann krank war, war eine gute Hausfrau, eine freundliche Nachbarin und eine fromme Christin. [14] Solange sie diese Vorschriften befolgte, hatte sie das Recht, »Good Wife« tituliert zu werden. Man erkannte ihr keinesfalls zu, eine Frau aus Fleisch und Blut mit besonderen Interessen oder eigenen Bedürfnissen zu sein, durch die sie sich von anderen Frauen unterschied, allein ihre Anrede war Ausdruck ihres eigentlichen Wesens. Eine verheiratete Frau im kolonialen Neuengland hatte der Verpflichtung nachzukommen, ein »Good Wife« zu sein. Bezeichnenderweise befinden sich Images auf einem Sockel. Wie Lots Frau, die den Fehler beging, trotz Verbots zurückzuschauen, ist ein Image etwas zur Salzsäule Erstarrtes. Es ist starr und unflexibel. Es gerät ausschließlich durch die Aktivität eines anderen in Bewegung. Ein Image kann ohne weiteres auf der engen Plattform eines Sockels existieren. Die geringste Bewegung könnte aber seinen Absturz und Tod zur Folge haben. Am Anfang des Buches »Feuer im Bauch« greift Sam Keen eine Geschichte auf, in der ihm ein Freund erzählt, daß sich das Leben eines Mannes nach der grundsätzlichen Frage »Wohin gehst du?« zu richten habe. [15] Diese Frage ist eine Frage der Tat und bezieht sich auf eine Absicht und einen Zweck. Eine Frau beginnt ihre Lebensgeschichte niemals mit der Frage »Wohin gehe ich?« Wenn sie das täte, wäre für sie das von Images diktierte Leben unannehmbar. Auf Sockel erhobene Images führen nirgendwo hin. Autonomes Handeln bleibt bei ihnen grundsätzlich ausgeklammert. Sie existieren ausschließlich, um bewundert oder bestaunt zu werden, um Phantasieobjekte anderer Leute zu sein und um als Konstrukt fremder Geschichten zu dienen. Wenn sich eine Frau mit einem Image identifiziert, muß sie nicht ihre eigene Geschichte schreiben, muß sie sich nicht die dominierende Frage »Wohin gehe ich?« stellen.
Der Ursprung der Images
Images, die uns belehren, was es heißt, eine Frau zu sein, sind allgegenwärtig. Das Museum der Weiblichkeit enthält viele Sockel und Podeste. Einige Images sind Teil einer Dauerausstellung und man wird kaum ein Museum betreten können, ohne auf sie aufmerksam zu werden. Andere hingegen sind für Sonderausstellungen reserviert; sie werden nur vorübergehend ausgestellt; schließlich werden sie abgeräumt, um der nächsten Ausstellung Platz zu machen. Tatsächlich wäre es für eine Frau einfacher, die Identifizierung mit Images zu meiden, wenn nur ein oder zwei davon zur Disposition ständen. Falls ein Image nicht allzu sympathisch erscheint, brauchte sich eine Frau nur von ihm abzuwenden. Die Auswahl ist jedoch zu groß. Ob von unseren Familien, von unseren Beziehungen, von unserer Kultur, überall werden uns idealisierte Images angeboten.
Familien-Images
Einer der ersten Orte, an dem uns bestimmte Frauen-Images vermittelt werden, ist unsere eigene Familie. Jede Frau hegt Erinnerungen an ihre Mutter, ihre Großmutter und Vorfahrinnen aus der fernen Vergangenheit. [16] Manchmal erhalten die Lebensgeschichten von Frauen, die vor langer Zeit gelebt haben, den Status eines Images und werden zu persönlichen Schutzpatroninnen. Sie haben aufgehört, wirkliche Frauen zu sein, und sind zu lkonen, zu Vorbildern geworden, die uns leiten und über dem realen Leben schweben. Eine der Frauen, mit der ich mich unterhielt, hatte eine entsprechende idealisierte Vorstellung von ihrer Urgroßmutter. Als ich sie fragte, was sie vom tatsächlichen Leben ihrer Urgroßmutter wisse, erwiderte sie: nur sehr wenig. Ich präzisierte meine Fragen und wollte wissen, ob sie den Wunsch habe, herauszufinden, welche realen Erfahrungen ihre Urgroßmutter gehabt habe. Sie war entsetzt und wollte wissen, warum ich in dieses Image hineinpfuschen wolle. Es war für sie sehr hilfreich, und sie wollte es nicht durch das wirkliche Leben ihrer Urgroßmutter gefährden. Wahrscheinlich sind wir von keiner anderen Geschichte so stark beeinflußt wie von der Lebensgeschichte unserer eigenen Mutter.
Keine andere Lebensgeschichte wird jemals dieser Geschichte ebenbürtig, es ist die Geschichte Unserer Mutter. Als Kinder neigen wir dazu, unsere Mütter als gottähnliche Wesen zu betrachten. Unser Überleben liegt in ihren Händen, und für eine gewisse Zeit hat man den Eindruck, daß sie nichts falsch machen können. Bevor wir beginnen, ihr reales Leben wahrzunehmen, sind unsere Mütter schon längst auf die Sockel heiliger Werte erhoben worden. Es ist kein Wunder, daß es uns nicht gelingt, die wirkliche Frau wahrzunehmen, die darüber hinaus auch noch Unsere Mutter ist. Statt dessen betrachten wir ein Image, eine Idealisierung dessen, was es heißt, eine Frau zu sein. Anders als die universelleren Images, die uns allen bekannt sind, handelt es sich in diesem Fall um ein zutiefst persönliches Ideal, in das nur wenige interessierte Töchter eingeweiht sind. Dennoch ist es letztendlich ein Image, und es besitzt die Macht, unser Leben zu formen, indem es die Spielräume einengen kann, in denen wir unsere Möglichkeiten verwirklichen. Jeder Frau dient das Leben und die Geschichte ihrer Mutter als Hintergrund, vor dem sie ihre eigenen Lebenserfahrungen sammelt. [17] Ob wir gegen das von unserer Mutter produzierte Image rebellieren oder ihrer Lebenserfahrung nacheifern, immer benutzen wir unsere Mutter als Maßstab, an dem wir unser eigenes Leben messen. »In beinahe jeder wachen Minute werden wir von ihrem Geist heimgesucht.« [18]
Bei dem Image unserer Mutter handelt es sich um die Idealvorstellung von einem Leben, das wir nicht ignorieren können. Das Image, das wir von unseren eigenen Müttern produzieren, hat verschiedene Ursprünge. Als erstes steht uns das zur Verfügung, was unsere Mütter über ihr eigenes Leben erzählen. Häufig treten Mütter ihren Töchtern gegenüber als Lebensexpertinnen auf, indem sie berichten, welche Art von Leben sie geführt und welche Entscheidungen sie getroffen haben. Sie können ihren Töchtern empfehlen, den gleichen Weg oder eine andere Richtung einzuschlagen. Mütter vermitteln Botschaften wie »sei wie ich!« oder »sei nicht wie ich!«. Manchmal geben sie zur Verwirrung ihrer Töchter beide Empfehlungen zugleich. Ergänzend zu dem, was eine Tochter von ihrer Mutter über deren Leben hört, ist es ihr natürlich möglich, sich über das von der Mutter tatsächlich geführte Leben zu informieren. Es wurde darauf hingewiesen, daß das Leben einer Mutter und deren besondere Verhaltensweisen einer Tochter die Entscheidungsfreiheiten zur Disposition stellt, wie eine Frau ihr Leben gestalten könnte. [19] Manchmal stimmen die Handlungen der Mutter mit ihren Äußerungen überein. In diesem Fall hört die Tochter nicht nur die von der Mutter verkündeten Lebensratschläge, sondern nimmt zusätzlich das Verhalten der Mutter wahr, das mit diesen Vorschriften übereinstimmt. Manchmal decken sich jedoch die mütterlichen Worte nicht mit ihren Handlungen. Die Mutter sagt zwar, »lebe auf diese oder jene Art«, aber ihre Handlungen sind das Gegenteil davon. Eine Tochter muß sich ebenfalls mit dem Leben auseinandersetzen, das von der Mutter nicht gelebt wurde. [20] Indem sich jede Mutter auf einen besonderen Lebensweg festgelegt hat, mußte sie bestimmte andere Lebensweisen ablehnen. Oft spielt das von der Mutter nicht gelebte Leben eine maßgebliche Rolle, wie ihre Tochter die eigenen Möglichkeiten realisiert. Wie schon gesagt, unterscheiden sich Mütter darin, ob ihnen ihre ungelebten Möglichkeiten bewußt sind. Manche Mütter wissen sehr wohl, welche Möglichkeiten von ihnen nicht wahrgenommen wurden, und sie werden - manchmal mit Bedauern, manchmal mit Befriedigung - mit ihren Töchtern ausführlich über den Weg sprechen, für den sie sich entschieden haben. Anhand dieser ganz persönlichen Informationen über das Leben ihrer Mutter konstruiert sich die Tochter ein entsprechendes Image, das nicht nur die realen Erfahrungen ihrer Mutter widerspiegelt, sondern auch die Phantasien der Tochter über deren Leben, das nun mythische Dimensionen erhält. Diese Geschichte kann idealisiert und romantisiert werden, sie kann sich aber auch in eine Geschichte über ein Ungeheuer, über eine dämonische Mutter verwandeln, die durch das ganze Leben der Tochter spukt. Wenn wir uns der Bedeutung und der Macht der für die Tochter zum Mythos avancierten mütterlichen Geschichte bewußt werden, wird uns verständlich, warum derartig viele Biographien von Töchtern berühmter Mütter publiziert werden. Diese Töchter schreiben über die Mütter, mit denen sie ihre Erfahrungen gemacht haben, aber sie schreiben ebenso über das Image der Dämonisierten Mutter, das sie selbst produziert haben.
Die Art und Weise, wie eine Frau auf das Image ihrer Mutter reagiert, kann sehr vielfältig und unterschiedlich sein, entziehen kann sie sich dem Einfluß dieses Idealbildes nicht. Wenn es sich bei diesem Image um eine besonders strenge Anweisung handelt, die die Tochter glaubt, exakt einhalten zu müssen, wird sie zur Gefangenen der mütterlichen Lebenserfahrung. Die Tochter trifft keine selbständige Entscheidung über ihre Lebensgestaltung. Anstatt besondere Möglichkeiten nur anzudeuten und hervorzuheben, ist das Idealbild von der Mutter ein starres Modell, ein Muster, das entweder genau befolgt oder völlig abgelehnt werden muß. Wenn eine Frau von der Geschichte ihrer Mutter dominiert ist, mag sie voller Schmerz, Zorn und Ressentiment sein. Es ist, als ob es ihr nicht möglich wäre, ihr eigenes Leben zu gestalten, sondern sie muß innerhalb der von ihrer Mutter gesetzten Grenzen und Einschränkungen leben. In einem Buch, in dem Briefe zwischen Müttern und Töchtern veröffentlicht sind, beschreibt Charlene Baldridge ihrer Tochter Lou den Schmerz einer Frau, die sich in den Images ihrer Vorfahren gefangen glaubt: »Der Kreis muß geschlossen werden. Für immer und ewig wirst Du mein kleines Mädchen bleiben, und das tut mir leid und bekümmert mich. Und ich habe folgenden Schluß daraus gezogen: Ich vergebe meiner Mutter, meiner Großmutter, meiner Urgroßmutter und meiner Ururgroßmutter. Mehr kann ich nicht tun. Das vererbte Bewußtsein, daß einem nichts weiter übrig bleibt, als zu erben, und daß sich mit dieser Erbschaft gewiß ein großer Schmerz auftürmt.« [21]
Beziehungs-Images
Jedesmal, wenn wir eine Beziehung eingehen, sehen wir in den Augen des anderen das Spiegelbild eines idealisierten Images. Ehefrau, Mutter, Geliebte und Tochter sind keine wirklichen Frauen, die um sinnvolle Verbindungen bemüht sind. Vielmehr handelt es sich um Frauen, die ein Dasein auf Sockeln führen und den Phantasien ihrer Partner entsprechen. Verhaltenspsychologen haben auf die Wichtigkeit von Beziehungen im Leben einer Frau hingewiesen. [22], [23] Menschliche Beziehungen spielen im Leben einer Frau eine wichtige Rolle, und um diese aufrechtzuerhalten, ändern Frauen nicht nur ihr Verhalten, sondern auch ihre primären Identitäten und ihr Selbstverständnis. Im Laufe ihres Lebens wird eine Frau den Erfolg in ihren Beziehungen als Maßstab für ihren allgemeinen Erfolg und als Bestätigung im Leben betrachten. Ihre grundlegenden Werte sind Ausdruck ihrer Verbindlichkeit zu Beziehungen mit anderen, und wenn sie eine Entscheidung darüber zu fällen hat, was richtig und was falsch ist, rangieren Fürsorge und Zuwendung gegenüber abstrakten Regeln und Werturteilen an erster Stelle. [24] Weil Beziehungen im Leben einer Frau eine maßgebliche Rolle spielen, investieren sie in deren Aufrechterhaltung und Pflege nicht nur viel Zeit, sondern auch viel Energie, da sie sich über all die damit verbundenen Probleme oft den Kopf zerbrechen.
Frauen wissen, daß man Beziehungen viel Verständnis entgegenbringen muß und daß dies große Hingabe und viel Energie und Arbeit erfordert. Keiner von uns weiß von vornherein, wie eine Beziehung zu einer anderen Person aufrechtzuerhalten ist; vielmehr müssen wir die dafür erforderlichen Fähigkeiten erst entwickeln. Erst im Lernen und Verstehen über die Beziehung zu einer anderen Person entdecken Frauen die idealisierten weiblichen Beziehungs-Images. Mit seinem berühmten Satz »Was will die Frau?« formulierte Freud letztendlich nur die Frage, die sich Frauen permanent in ihren Beziehungen stellen. Frauen möchten wissen, was ihre Ehemänner, ihre Freunde und ihre Arbeitgeber von ihnen wollen. Es gehört zu einer Beziehung, die Erwartungen des anderen interpretieren zu lernen. Demzufolge entwickeln Frauen ein besonderes Geschick, die oft subtilen Signale ihrer Partner zu interpretieren und zu verstehen. Ich unterhielt mich vor kurzem mit einem Freund, der eine fünfzehnjährige Tochter hat. Er erzählte mir, daß ihn die Fähigkeiten seiner Tochter, subtile Nuancierungen im zwischenmenschlichen Bereich wahrzunehmen, zutiefst beeindrucken. Scheinbar besaß sie die Gabe zu wissen, was andere meinten, auch wenn diese sich sehr ungenau ausdrückten. Obwohl es sich bei seiner Tochter gewiß um eine vitale und intelligente junge Frau handelte, unterschied sie sich für mich kaum von anderen jungen Frauen. Sie lernte lediglich, eine Frau zu sein, Beziehungen zu interpretieren und zu verstehen, wie diese funktionieren. Beim Entschlüsseln der Wünsche anderer Personen lernen Frauen, die Spiegelung eines Images in den Augen anderer zu entziffern. Den Fingerzeig des anderen richtig zu interpretieren kann jedoch äußerst problematisch sein. Im positiven Sinne gewinnen Frauen dadurch ein stärkeres Einfühlungsvermögen, was schließlich ihren Beziehungen zugute kommen kann. Im negativen Sinn wird Frauen zum erstenmal die Existenz idealisierter Images bewußt, wenn sie beginnen, zwischenmenschliche Andeutungen zu interpretieren. ist dieses Bewußtsein mit dem Wunsch gekoppelt, eine Beziehung um jeden Preis aufrechtzuerhalten, dann besteht eine verstärkte Bereitschaft, sich mit idealisierten Images zu identifizieren. Viele unserer ältesten Geschichten erwähnen die Frau nur in Beziehung zu einem Mann. Wir lernen Hera als Ehefrau von Zeus kennen. Zeus dagegen wird uns als Herrscher des Olymp vorgestellt und nicht als Heras Ehemann.
Sarah ist Abrahams Frau und, in fortgeschrittenem Alter, die Mutter Isaaks. In diesen Geschichten werden Frauen über ihren Beziehungsstatus definiert, Männer hingegen über ihre persönlichen Errungenschaften. Als junge Mädchen widmen wir diesen Botschaften besondere Aufmerksamkeit. Die Geschichten berichten nicht nur über den Beziehungsstatus wichtiger Frauen, sondern empfehlen darüber hinaus, sich besser über diese Beziehungen zu informieren, weil die Frauen erst durch diese Beachtung in der Welt finden. Junge Mädchen fragen sich: »Wer um alles in der Welt sind diese Charaktere - Ehefrau, Mutter, Tochter -, und wie lerne ich, eine von ihnen zu werden?« Unabhängig von dem Wissen, das wir uns selbst angeeignet haben, werden wir auch durch unsere Familiensozialisation mit diesen Idealisierungen von »Frauen-in-Beziehungen« vertraut gemacht. Insbesondere lehren uns zuerst unsere Mütter, wie sich eine Frau in Beziehungen zu verhalten habe. Die wesentliche Aufgabe einer Mutter besteht darin, sich um die Sozialisierung ihrer Tochter zu kümmern, sie zu einer Frau zu erziehen, die von der Gesellschaft akzeptiert wird und weiß, wie sie sich zu verhalten hat, wenn sie der Einladung zum zwischenmenschlichen Drama Folge leistet. [25]
Interessanterweise berichteten mir viele Frauen von ihrem Stolz, Großmütter zu werden. Sie waren nicht nur stolz auf ihre gesunden und lebhaften Enkel, sondern auch darauf, daß sie ihren Töchtern erfolgreich beigebracht hatten, Mütter zu sein. Sie empfanden dies als Anerkennung ihres eigenen Lebens und als Erfolg einer guten Ausbildung, die sie ihren Töchtern zukommen ließen, zumal diese unter Beweis stellten, wie sie sich in einer mütterlichen Beziehung zu verhalten haben.
Deshalb sollte man sich nicht wundern, daß Mütter das Leben ihrer Töchter als Abbild ihres eigenen Lebens betrachten. Schließlich steht es einer Mutter zu, mit Fug und Recht zu sagen: »Ich habe ihr beigebracht, was es heißt, eine Frau zu sein.« Die Widerspiegelung dieser Beziehungs-Images können wir ebenso in den Augen der wichtigen Männer in unserem Leben wahrnehmen. Viele der verbalen Lektionen darüber, was es bedeutet, ein Mädchen zu sein, bekam ich von meinem Vater zu hören, der mich gelegentlich darauf aufmerksam machte, »was einer Dame geziemt«. Seinerzeit kam mir nicht der Gedanke, in Frage zu stellen, mit welchem Recht mein Vater glaubte, sagen zu können, was es heißt, ein Mädchen zu sein. Mein Vater hatte keine Schwestern, seine Familie wurde von wichtigen Männern dominiert. Dennoch nahm ich an, daß er wissen müsse, was es bedeutet, eine Gute Tochter zu sein, und wenn es nun einmal bedeutete, sich »damenhaft« zu benehmen, dann würde ich mich eben dementsprechend verhalten. Obwohl mein Vater keine persönliche Erfahrung haben konnte, Frau in dieser Welt zu sein, hatte er dennoch Erfahrungen mit idealisierten Images von Frauen. Indem er mir sagte, wie ich mich zu benehmen hätte, und mich in damenhaftem Verhalten unterwies, vermittelte er mir seine Version von einem idealisierten Image.
Indem wir die subtilen oder weniger subtilen Anspielungen unserer Mütter, Väter und unserer Kultur interpretieren, lernen wir, wie sich eine Frau in Beziehungen zu verhalten hat, d. h. nicht als alltägliche Frauen, die bemüht sind, ihr Leben so gut wie möglich zu meistern, sondern als idealisierte Images von Frauen in Beziehungen - Mutter, Tochter und Ehefrau.
Kulturelle Images
Abgesehen vom unmittelbaren Einfluß unserer Mütter, Väter und Familien, empfangen wir ebenfalls Botschaften aus dem allgemeinen kulturellen Umfeld, was wir uns unter einer annehmbaren Frau vorzustellen haben. Kulturelle Images werden uns von den uns nahestehenden Gruppierungen übermittelt; darüber hinaus werden sie auch in den Idealen und Traditionen unserer Gesellschaft widergespiegelt. Schließlich werden wir schon als Kinder durch Volkserzählungen und Märchen mit kulturellen Idealen konfrontiert. Neben unserer Familienzugehörigkeit gehört jede von uns zusätzlich einer rassischen, ethnischen oder sozialen Untergruppe an, und innerhalb dieser Gruppierung werden wir mit gruppenspezifischen Weiblichkeitsidealen bombardiert. Oft spiegeln diese Images die Stereotypen der Leute außerhalb unserer eigenen ethnischen Gruppierung wider, und diese Stereotypen werden von den allgemein beliebten Medienporträts institutionalisiert, wie z. B. die Jüdisch Amerikanische Prinzessin, die Dumme Blondine oder die barfüßige, schwangere Soul-Schwester.
Auf den ersten Blick mag der Eindruck entstehen, daß diese Klischees nur einen geringen oder gar keinen Einfluß auf das wirkliche Leben von Frauen haben, zumal es sich nicht gerade um positive Images handelt. Wer möchte sich schon gern nach dem negativen Stereotyp einer Dummen Blondine stilisieren? Obwohl dies gewiß kein positives Klischee ist, handelt es sich trotzdem um einen Idealtypus und konfrontiert uns mit einem starren und streng definierten Frauen-Image. Eine Frau wurde z. B. seit frühester Jugend ermahnt, sich auf keinen Fall so zu benehmen, was sie auch nur im geringsten mit dem Klischee der Jüdisch-Amerikanischen Prinzessin in Verbindung bringen könnte - die verwöhnte, nörgelnde und fordernde junge Frau, die nie zufrieden ist, wenn sie nicht ihren Kopf durchsetzen kann. Um nicht als Prinzessin angesehen zu werden, verleugnete sie viele eigene Bedürfnisse, Wünsche und ein gesundes Geltungsbedürfnis. Sie stellte sich, im wahrsten Sinne des Wortes, lieber in den Hintergrund, als von anderen als eine nörgelnde Prinzessin angesehen zu werden. Bei einer anderen Frau kam es aufgrund des Klischees der Dummen Blondine zum Bruch mit ihren Schwestern. Alle ihre Geschwister waren blond, rosig und hübsch, sie dagegen hatte braunes Haar, braune Augen und eine unterentwickelte Figur. Da sie anders als ihre Schwestern aussah, fühlte sie sich von diesen ausgeschlossen. Ihre Schwestern, denen die Ähnlichkeit mit dem Klischee der Dummen Blondine peinlich war, fühlten sich wiederum von ihr herabgesetzt. Sie konnten sich nicht vorstellen, daß ihre Schwester sie nicht als lächerliche, dumme Frauen betrachtete, zumal die ganze Familie in ihren Gesprächen bei Tisch Witze über Dumme Blondinen machte. Von der Jugend bis ins Erwachsenenalter hinein war das Bild von der dummen, aber attraktiven Frau Ursache von Spannungen und Zwietracht für alle Frauen in dieser Familie, unabhängig von ihrer Haarfarbe. Für eine andere Frau hatte das Image vom barfüßigen, schwangeren schwarzen Teenager maßgeblichen Einfluß. In ihrer eigenen Mittelstandsfamilie wurde dieses Image abwertend und geringschätzig eingestuft; in ihrer Bezugsgruppe war das Image von der schwangeren Soul-Schwester allgegenwärtig, und sie hatte ein starkes Bedürfnis, den Anforderungen dieses Bildes gerecht zu werden und, wie sie sich ausdrückte, »schwanger zu werden und sich zu ruinieren«. Das Image übte eine derartige Macht aus, daß es ihr schwer fiel, anders zu leben, selbst als sie erkannte, daß der Weg, den dieses Bild wies, letztendlich zur Selbstzerstörung führte.
Am bemerkenswertesten an diesen kulturellen Stereotypen ist nicht deren Existenz, sondern daß sie, trotz ihres negativen Beigeschmacks, weiterhin eine starke Macht ausüben. Sind Images erst einmal auf Sockel plaziert, fällt es uns schwer, sie nicht zu beachten, selbst wenn eine Identifizierung mit ihnen öffentlichen Spott und Selbstverachtung nach sich ziehen sollte. Sogar negative kulturelle Images zu meiden erfordert sehr viel Energie. Abgesehen von unserem direkten sozialen Umfeld, werden wir auch im allgemeinen kulturellen Zusammenhang mit Images idealisierter Fraulichkeit konfrontiert. Ob von der Trivialliteratur, den Medien oder den religiösen Ermahnungen, alle präsentieren uns Ideale, wie wir als Frau innerhalb unserer Gesellschaft zu leben haben. Obwohl diese gesellschaftlichen Idealisierungen eine starke Macht ausüben, sind sie von Natur aus vergänglich. Kulturelle Ideale sind an einen bestimmten historischen Kontext gebunden; außerhalb eines begrenzten Zeitraums haben sie weder Bestand noch Bedeutung und treffen nur auf Frauen mit einem besonderen sozialen und kulturellen Status zu. So beschäftigte sich das amerikanische Bewußtsein für eine gewisse Zeit z. B. mit den Images des All-American-Girl, der Wahren Frau oder der Luxus-Dame. Jedes Image stand vorübergehend im Rampenlicht, um anschließend in den Hintergrund zu treten. In jeder historischen Epoche pflegt die Gesellschaft ein besonderes Weiblichkeitsideal, das das Leben der Frauen beeinflußt, die in diesem bestimmten Zeitraum leben. Ein kurzer Rückblick auf einige dieser Images, die auf dem Sockel kultureller Idealisierung gestanden haben, vermittelt einen Eindruck über die vielen unterschiedlichen Vorstellungen der Amerikaner über Frauen im Zeitraum der letzten hundertfünfzig Jahre. In den 1830er Jahren definierte z. B. der Kult der Wahren Fraulichkeit die Wahre Frau als eine Person, die sich vornehmlich in der Küche und im Kinderzimmer aufhielt. [26] Die Wahre Frau stellte ihre Fraulichkeit durch eine Vielzahl von Kindern unter Beweis. Tatsächlich bemaß sich die Güte ihrer Fraulichkeit an der Anzahl ihrer Kinder.
1848 beschrieb ein Fachbuch über Geburtshilfe und Gynäkologie eine Frau folgendermaßen: »Die Ausmaße ihres Kopfes sind im Hinblick auf intellektuelle Fähigkeiten zu klein, aber groß genug für die Liebe.« [27] Dieser anatomische Befund wurde als völlig unproblematisch erachtet, zumal die Wahre Frau sich vornehmlich mit Liebe und Erziehung, nicht jedoch mit intellektuellen Angelegenheiten beschäftigte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Wahre Frau von der Neuen Frau herausgefordert, ein gänzlich anderes Frauenideal. Die Neue Frau war gebildet, intellektuell und wirtschaftlich unabhängig. Obwohl es sich immer noch um eine pflegende und sorgende Frau handelte, richtete sie einen Großteil ihrer fürsorglichen Aufmerksamkeit auf die Welt außerhalb ihres Heims. Die Bewegung der Neuen Frau setzte sich vornehmlich aus Schriftstellerinnen, berufstätigen Frauen und Reformerinnen zusammen. Neben ihren Tätigkeiten als Hausfrauen und Mütter setzten diese Frauen ihr »weibliches Potential« in verschiedenen Bereichen ein. Sie traten ein für die Rechte der Gefangenen, für die geistig Behinderten und für die armen Arbeiterfrauen. [28] Aufgrund ihrer anspruchsvollen Zielsetzungen wurden Neue Frauen als ziemlich seriös und etwas streng angesehen. In den zwanziger Jahren wurde die Neue Frau von der vergnügungssüchtigen Alternative, dem Flapper, herausgefordert. Der Flapper war die sexuell bewußt lebende junge Frau, die, im merklichen Kontrast zu ihren etwas prüden Vorgängerinnen, sehr lebenslustig war. [29] Der Flapper war unser erstes Mädchen, das ihrem Vergnügen nachging. In einem Gespräch über ihre Tochter sagte Zelda Fitzgerald: »Meine Tochter soll kein Genie werden, ich möchte, daß sie ein Flapper wird, denn Flapper sind mutig, amüsant und schön.« [30] Der Flapper war eine junge Frau, die ihren Spaß hatte, sehr ausgelassen war, aber sich schließlich häuslich niederließ und heiratete. Dabei sollte man nicht vergessen, daß sogar für diese selbstbewußte und unabhängige Frau die Ehe immer noch als endgültiges Ziel betrachtet wurde. 1921, auf dem Höhepunkt der Epoche der Flapper, fand zum erstenmal der Schönheitswettbewerb der Miss America statt, ein Ereignis, bei dem das beste Exemplar der vergnügungssüchtigen und gesunden Weiblichkeit gekrönt wurde. Die Epoche des Zweiten Weltkrieges war die Geburtsstunde zweier neuer kultureller Images.
Nieten-Rosie (Rosie the Riveter) war die draufgängerische, patriotische Hausfrau, die ihre Schürze abwarf und ihren Platz am Fließband einnahm, um bei der Kriegsproduktion einzuspringen. Sie war ein derartig mächtiges Image des »Sprich-nicht-vom-Tod-Patriotismus«, daß ihr Bild zahlreiche Propaganda-Plakate schmückte. Obwohl sie sehr beliebt war, verschwand Rosie von der Bildfläche, als die Soldaten heimkehrten, um von der Glücklichen Hausfrau ersetzt zu werden. Lächelnd, inmitten ihrer elektrifizierten Küche mit adrett frisiertem Haar und einer einfachen, aber geschmackvollen Perlenkette, präsentierte sich die Glückliche Hausfrau, um ihrem Ehemann das Gefühl zu vermitteln, daß sich der Kampf für das Vaterland gelohnt habe. 1975 wird uns mit Marabel Morgans Version der Total-Frau ein anderes Beispiel idealisierter Fraulichkeit präsentiert. Die Total-Frau war eine Frau, die sich auf allen Gebieten dem Mann unterwarf. [31] Morgan verfocht die Ansicht, daß die Aufgabe ei ner Total-Frau darin bestand, die Sonderwünsche ihres Mannes zu befriedigen, ob es sich dabei um Salat, Sex oder Sport handelte. Die Total-Frau war eine Version der Total-Ehefrau. Sie war die Köchin, Krankenschwester und Geliebte ihres Mannes, und Morgan war der Überzeugung, daß Total-Frauen Gottesgaben an den Mann wären. Wie man sieht, ist die Lebensdauer jedes dieser kulturellen Images relativ kurz bemessen. Demzufolge fühlen sich Frauen verwirrt und sogar desorientiert, wenn die besonderen Vorbilder, mit denen sie sich identifiziert haben, an Aussagekraft verlieren und durch andere konkurrierende Bilder ersetzt werden. Da kulturelle Images einander nicht ausschließen, ist es möglich, daß man gleichzeitig von mehreren Bildern beeinflußt wird.
Zur Präsidentenschaftswahl 1992 präsentierten uns Marilyn Quayle und Hillary Clinton eine Neuauflage des Wettbewerbs zwischen der Wahren Frau und der Neuen Frau. In ihrem Appell an traditionelle Familienwerte portraitierte sich Marilyn Quayle als eine neuzeitliche Verkörperung der Wahren Fraulichkeit. Dagegen war Hillary Clinton mit ihrer Betonung der beruflichen Karriere und ihrem Engagement für Tätigkeiten und Ideale außerhalb des häuslichen Bereichs eine moderne Version der Neuen Frau, dieser unabhängigen und autonomen Frau, die vor hundert Jahren die Werte und Traditionen der Wahren Fraulichkeit herausgefordert hatte. Wenn kulturelle Images aufeinander prallen, mag das ein gefundenes Fressen für die Medien sein. Bei Frauen, die sich nicht sicher sind, welches Image die Versprechen von Glück und Erfüllung einlöst, trägt das jedoch zur Desorientierung bei. Im Gegensatz zu zeitlich gebundenen kulturellen Images sind die Ideale, mit denen wir in Sagen und Märchen konfrontiert werden, zeitlos. Sie entspringen uralten Geschichten und suggerieren eine Wahrheit, die für uns von Ewigkeit ist. Ein Teil der Macht dieser Märchenbilder rührt daher, daß wir sie in frühestem Kindesalter kennen gelernt haben. Als Mädchen und Jungen leben wir in einer Welt aus Schwarz und Weiß, Gut und Böse, in einer Welt, in der die Dinge absolut und ein für allemal feststehen. Vor kurzem versuchte ich, meiner vierjährigen Nichte eine einfühlsame Erklärung für das Verhalten der Meerhexe aus Walt Disneys Die kleine Meerjungfrau zu geben. Sie sah mich an, als ob ich den Verstand verloren hätte.
In ihren Augen war die Meerhexe eine böse Kreatur ohne Wenn und Aber. Kinder leben nicht in einer Welt relativierender Erklärungen; für sie ist böse böse, und gut ist gut, und dazwischen gibt es nichts. Folglich behalten die Bilder, mit denen wir in unserer Kindheit konfrontiert werden, absolute Macht für und über uns.
Die Feministin Andrea Dworkin behauptet, daß Frauen in und durch Märchen leben. [32] Unsere Märchen berichten uns über die Böse Hexe, den Schönen Prinzen und die Zärtliche Mutter und erteilen uns indirekt Lektionen darüber, wie wir zu leben haben. Nach welchen Kriterien werden von all diesen möglichen Geschichten, von denen viele zumindest einen Protagonisten mit dem Status eines Images enthalten, diejenigen ausgewählt, die als Verkörperung kultureller Wahrheit Bestand haben? Gewiß gibt es mehr Geschichten außer Aschenputtel, Schneewittchen und Dornröschen, die unsere Phantasie gefangen nehmen. Man braucht nur einmal die Regale der örtlichen Bibliotheken zu überfliegen um festzustellen, daß es Tausende von Sagen und Geschichten aus aller Welt gibt. Gewiß ist nicht jede Geschichte eine »große Geschichte«, nicht jede Geschichte hält uns gefangen. Besonders empfänglich sind wir für Geschichten, die von Triumph, Rettung oder Verwandlung handeln. Wir sind begeistert zu sehen, wie eine kleine, schwache Person über jemand Starken und Mächtigen triumphiert, zu beobachten, wie jemand aus einer Falle befreit und gerettet wird oder einen hoffnungslos Verlorenen verwandelt und zu neuem Leben erweckt zu sehen. Aber nicht jede Geschichte erzählt von einer Person, in die wir uns verlieben und die die Macht hat, uns zu verzaubern und zu hypnotisieren.
Die meisten unserer beliebten Geschichten präsentieren uns nur eine begrenzte Auswahl von weiblichen Möglichkeiten. Sehr wenig Geschichten handeln von kreativen, draufgängerischen und intelligenten jungen Frauen. Jungen zeichnen sich häufiger durch Klugheit aus, und tatsächlich sind Namen wie der kluge Hans in unseren Märchen keine Seltenheit. Mädchen werden als schön, charmant, niedlich und passiv beschrieben. 1880 schrieb die Ärztin Sarah Stevenson: »Der gesamte Status des Mädchens basiert nicht auf dem, was sie ist oder tut, sondern auf ihrem Aussehen. Die Sorge um ihre äußere Erscheinung ist die immer währende Geschichte vom Anfang bis zum Ende des Lebens einer Frau.« [33] »Wie sehe ich aus?« ist eine Frage, die die schönen Mädchen charakterisiert, die die idealisierten Images unserer jungen Märchenheldinnen verkörpern. Im Gegensatz zu jungen Frauen, die sehr oft in Märchen vorkommen, zeichnen sich Frauen mittleren Alters durch Abwesenheit aus. Handelt es sich um gute und freundliche Frauen in der Lebensmitte, dann sind sie ausnahmslos entweder schon tot oder sterben sehr früh in der Geschichte. [34]
Die Mütter von Bambi oder Schneewittchen, bei denen es sich ganz offensichtlich um wunderbare Frauen handelt, sind schon tot, bevor die Geschichte überhaupt richtig beginnt. Die mächtigen Königinnen und Stiefmütter sind ausnahmslos schlecht und böse [35], und Kinder kommen nicht umhin zu hoffen, daß diese gebieterischen und starken Frauen vernichtet werden. Bei den älteren Frauen in den Geschichten handelt es sich gewöhnlicherweise um Hexen; manchmal sind es gute Hexen, wie die gute Fee, die Aschenputtel zu Hilfe kommt; manchmal sind es böse und gehässige Hexen, wie in Hänsel und Gretel. Es handelt sich jedoch immer um magische Wesen aus einer anderen Welt. Diese Geschichten sind populär gemacht worden, weil sie die Vorstellungskraft der Männer gefangen nehmen, die diese Geschichten verbreiten. [36] Ob der Märchenerzähler Grimm, Andersen oder Disney heißt, in jedem Fall war es ein Mann, der eine gewisse Vorstellung von der idealisierten Weiblichkeit hatte. Natürlich gibt es andere Geschichten, die uns ein völlig anderes Bild präsentieren, aber das sind Geschichten, die bisher selten veröffentlicht wurden. In der Geschichte »Östlich der Sonne und westlich des Monds« ist die Protagonistin ein Mädchen, dessen Aufgabe darin besteht fortzulaufen, um einen Prinzen zu retten. [37] Der Prinz ist im Palast der Trolle eingesperrt, und das Mädchen muß verschiedene Prüfungen bestehen, um ihn zu retten und ihn als Ehemann zu bekommen. Gewiß kommt einem diese Geschichte bekannt vor; sie enthält viele der Elemente von Rettung und Spannung, die unsere Geschichten so unwiderstehlich machen, aber dennoch unterscheidet sie sich von ihren bekannteren Gegenstücken - der Held ist ein Mädchen und kein Junge. Eine andere Geschichte, die »Nordlandjungfrau« aus dem berühmten finnischen Epos Kalevala, handelt von einem energischen und unabhängigen Mädchen, das sich einer Anzahl von Brautwerbern erwehrt. [38]
Schließlich entscheidet sie sich für den Zauberschmied und hilft ihm, die Aufgaben zu bewältigen, um sie als Ehefrau gewinnen zu können. Als sie zu Beginn der Geschichte einen besonders unsympathischen Werber abwimmelt, sagt sie etwas spöttisch: »Da begann ich so zu sagen, fing den Vogel an zu fragen: >Höre, o Wacholderdrossel, sing mir, daß mein Ohr vernehme, wer das beßre Teil erwählte, wer gewinnt das größre Ansehn: Ob im Elternhaus die Tochter, ob die Frau im Haus des Mannes?< Kunde gab der kleine Vogel, die Wacholderdrossel trillert: >Leuchtend ist der Tag im Sommer, leuchtender das Mädchenleben, kalt im Froste ist das Eisen, Schwiegertochters Schicksal kälter; in dem Vaterhaus das Mädchen gleicht der Beer auf gutem Boden, doch die Frau im Haus des Mannes gleicht dem Hund am Kettenhalsband; selten fühlt der Sklave Güte, niemals doch die Schwiegertochter<.« [39]
Die Nordlandjungfrau ist stark, tüchtig und klug. Sie ist aber auch schön, und ihre Geschichte endet damit, daß sie heiratet, das Haus ihrer Mutter verläßt und fortgeht, um im Land ihres Ehemanns ein neues Leben zu beginnen. In diesem Sinne enthält die Geschichte viele traditionelle Elemente. Sie ist abenteuerlich, geheimnisvoll und magisch; dennoch ist es eine Geschichte, die in Amerika oder anderen westlichen Kulturen kaum verbreitet ist. Man wüßte gern, ob die Nordlandjungfrau einfach zu unabhängig und zu klug ist, um mit den passiven Mädchen, die in den meisten Volksmärchen der westlichen Welt idealisiert wurden, konkurrieren zu können.