Wenn wir uns der letzten Phase im Leben einer Frau zuwenden, werden wir nur eher blasse Images von der älteren Frau vorfinden. Im Gegensatz zu den robusten und lebhaften Bildern von der jungen Frau und der Frau mittleren Alters sind die Images von älteren Frauen weniger attraktiv und weitaus obskurer. Dieser Mangel an verführerischen und reizvollen Idealvorstellungen kann ein Zufall sein. Der leere Wertesockel für ältere Frauen kann bedeuten, daß eine Frau sich nicht ändern muß, wenn sie ohne die verführerischen Bilder der Vergangenheit in das letzte Stadium ihres Lebens tritt. Es gibt wenig Images, von denen sie in Versuchung gebracht werden könnte. Vorausgesetzt, daß der Sockel für die junge Frau und die Frau in der Lebensmitte ziemlich überfüllt ist, warum besteht dann für ältere Frauen ein derartiger Mangel an Images? Weder in unseren Mythologien noch in unserer Romanliteratur werden wir mit Darstellungen von Frauen in deren letztem Lebensstadium überhäuft. In ihrem Buch Writing a Woman's Life stellt Carolyn Heilbrun fest, daß Biographen die letzten Jahre im Leben einer Frau nicht gerade zelebrieren. Darüber hinaus verfügen wir kaum über Begriffe, um Lebensaufgaben und Ereignisse der Erfahrungen von Menschen ab einem bestimmten Alter zu definieren. Unser Versäumnis, kritisch über die Geschehnisse im letzten Lebensstadium einer Frau nachzudenken, hat zu einem Mangel an Idealbildern von der älteren Frau geführt. Die Dichterin Mendel Le Seuer behauptet, daß man im Alter behandelt wird, als ob man nicht existiere. [1] Als sie älter wurde, machte sie die Erfahrung, ignoriert, von anderen einfach nicht wahrgenommen zu werden. Es ist schwer, als im Wert gesunken betrachtet und als nicht existent übergangen zu werden, sich damit nicht identifizieren zu können und sich so zu fühlen, als ob man tatsächlich leer und ausgetrocknet sei. In der Tat kommen in den Träumen mancher älterer Frauen Themen wie Trockenheit und Leere vor. [2] Hierbei mag es sich um internalisierte Repräsentationen unseres kulturellen Glaubens handeln, daß diese Frauen ausgedörrt und nutzlos sind. Es gibt eine aufschlußreiche Geschichte über einen jungen Mann, der auszieht, um die Wahrheit zu suchen, in der die herrschende Abwertung der alten Frau illustriert wird. Als er den Entschluß faßt, sich auf die Suche nach der Wahrheit zu begeben, schlägt ihm seine Frau vor, eine Reise in die hohen Berge zu unternehmen, dorthin, wo die Wahrheit zu Hause sei. Der Mann entledigt sich seiner weltlichen Habe und macht sich auf den Weg, um die Wahrheit zu finden. In einer kleinen Höhle hoch oben in den Bergen trifft er eine weise alte Frau, die sich als die Wahrheit zu erkennen gibt. Sie hat nur einen Zahn im Mund, und ihre Haut ist trocken und braun wie Pergament; ihre Hände sind knorrig, und sie ist teilweise verkrüppelt; aber sie ist eine weise Frau und bringt dem Mann alles bei, was sie weiß. Er bleibt ein Jahr und einen Tag bei ihr, bevor er sich wieder zurück in die Welt wagt. Zum Abschied dankt er der Frau, die ihn die Wahrheit gelehrt hat, und fragt sie, wie er sich erkenntlich zeigen könne. Die Frau erwidert: »Wenn du in die Welt zurückkehrst, und man dich fragt, wie ich aussehe, dann sag ihnen, ich sei jung und schön.« [3] Selbst die Wahrheit muß ihr Alter leugnen; selbst die Wahrheit weiß, daß nur Jugend und Schönheit geschätzt sind. Images von der Frau widerspiegeln entweder das, was die
Kultur von ihr fordert oder was sie an ihr fürchtet. Junge Frauen werden geschätzt, weil sie kindlich und nachgiebig sind; Frauen in der Lebensmitte werden aufgrund ihrer nährenden, gebenden Eigenschaften und ihrer Standfestigkeit geachtet. Im Gegensatz dazu scheinen ältere Frauen für Männer und Kinder nicht mehr von Wert zu sein. Man betrachtet sie nicht als sexuelle Wesen; man erachtet sie nicht als schön; sie können sich nicht mehr fortpflanzen; sie haben mit der Ernährung ihrer Familien nichts mehr zu tun. [4] Aus der Perspektive des Mannes oder des Kindes ist die ältere Frau unsichtbar. Demzufolge ist es kein Wunder, daß es in unserer Kultur nur wenige idealisierte Bilder von der älteren Frau gibt. Es ist ebenfalls behauptet worden, daß das Versäumnis unserer Kultur, die ältere Frau wahrzunehmen, teilweise durch die Tatsache bedingt ist, daß das hohe Alter im allgemeinen mit dem Tod assoziiert wird. [5] Der westlichen Kultur ist es nicht möglich, den Tod als einen Teil des natürlichen Rhythmus des Lebens und der Existenz wahrzunehmen. Dementsprechend wird jeder, der am Ende des biologischen Lebens steht, negativ eingestuft oder überhaupt nicht mehr wahrgenommen. Es gibt einen stark ausgeprägten Wunsch, die eigentliche Existenz älterer Menschen zu leugnen; sie erinnern uns allzu sehr an die Endlichkeit des Lebens und die vielen Möglichkeiten des unumgänglichen Todes. Vor kurzem wurde ich gebeten, an einer »Alt-Weiber-Zeremonie« einer Freundin teilzunehmen. Die Frau wurde fünfzig Jahre alt und wollte ihren Eintritt in die Lebensphase der älteren Frau mit einer symbolischen und fröhlichen Zeremonie zum Ausdruck bringen. Als ich meine Rede begann und das Wort »crone« (altes Weib, weise Alte) benutzte, um die Frau in ihren späteren Jahren zu charakterisieren, fuhren einige Leute zusammen. Dieses Wort, das sich von »crown« (Krone) ableitet, war ehemals eine Bezeichnung für Ehre und Respekt. [6] Es ist heute schwer für uns, daß Wort »crone« zu hören, ohne gleichzeitig an »old crone« (altes Weib) zu denken, ein Begriff, der eine klapprige, nutzlose und manchmal verdächtige alte Person konnotiert, eine Frau, die schon mit einem Bein im Grab steht. Obwohl es zutrifft, daß es weniger Idealvorstellungen von älteren als von jungen Frauen und Frauen mittleren Alters gibt, ist es unzutreffend, daß es überhaupt keine gebe. Die existierenden Bilder lassen sich unter zwei Kategorien subsumieren. Entweder handelt es sich um gealterte Versionen jüngerer Images, oder sie sind von der älteren Frau abgeleitet, die sich im Status der Verbannung befindet. Die Nette Alte Dame und die Großmutter sind nichts anderes als das Ewige Mädchen und die Selbstlose Mutter mit grauem Haar und Falten. Die Hexe, die Alte Jungfer und die Weise Frau sind einige Versionen der älteren Frau als Ausgestoßene, als eine Frau, die außerhalb der normalen Gesellschaft lebt. Jedes dieser Bilder porträtiert die ältere Frau als den Inbegriff des anderen Teils einer Person, der von jungen Männern und Frauen verleugnet wird. [7] Ob als Hexe oder als Weise Frau, die ältere Frau lebt in Volkserzählungen als Verbannte außerhalb der menschlichen Gemeinschaft. [8] Man findet sie entweder im Wald, im Wasser oder auf weit entfernten Bergen. Sie nimmt keinen Anteil mehr an der Gemeinschaft anderer Menschen; irgend etwas macht sie unannehmbar. Sollte man dennoch mit ihr Bekanntschaft machen, so befindet sie sich meist an Orten der Verwüstung. Die Vegetation im Umkreis ihres Hauses ist verbrannt und zerstört, ihr Garten ist übersät mit Totenköpfen und Knochen. Wir machen aus älteren Frauen eine Unperson, wenn wir sie vom Rest der Gemeinschaft ausschließen. Indem wir sie in unseren Mythen auf einem Berg oder in einem Altenheim leben lassen, haben wir beschlossen, daß sie nicht länger Mitglied der menschlichen Gemeinschaft sind. Viele der Frauen, die bei den Salemer Hexenprozessen hingerichtet wurden, waren alleinstehende Frauen, Frauen, die allein lebten, ohne die Unterstützung einer Familie oder einer Gemeinschaft. [9] Vielleicht war es einfacher, diese Frauen als Dämonen anzuprangern, weil sie schon sozial Verbannte, schon vom wesentlichen Teil der Gesellschaft ausgeschlossen waren. Die abgewertete ältere Frau mag das Exil oder die Verbannte in uns allen darstellen. Wenn wir uns mit der Seite in uns, die isoliert, einsam und nicht akzeptiert ist, unbehaglich fühlen, projizieren wir diese nach außen und machen aus ihr eine gesonderte Domäne für die ältere Frau, die nun ihrerseits isoliert und nicht akzeptiert wird und einsam ist. Wenn wir sie weiter von uns stoßen, brauchen wir uns nicht mit unserer eigenen wesentlichen Einsamkeit und unserer eigenen Erfahrung, Verbannte zu sein, auseinanderzusetzen. Solch eine Strategie hilft jedoch nicht, unsere eigene innere Einsamkeit zu hellen; sie läßt uns nur vorübergehend diese Gefühle vergessen. Mit dieser Strategie erweisen wir den älteren Frauen, die von dieser unannehmbaren Projektion betroffen sind, keinen Dienst. Aber wir tun uns selbst damit auch keinen Gefallen, weil grundlegend und menschlich betrachtet, diese alte Frau ebenso gut in uns ist.
Die Nette Alte Dame
Die Nette Alte Dame ist das gealterte, unbedeutend gewordene Ewige Mädchen. Ohne den Charme eines Mädchens, durch den ihre Hilflosigkeit einen gewissen Reiz erhält, wird die Nette Alte Dame nur noch als nutzlos abgestempelt. In den Medien wird sie im allgemeinen als etwas dumm und lächerlich dargestellt, oft ist sie es nicht einmal wert, von ihr Notiz zu nehmen. Vor kurzem traten in einer Werbekampagne eines Schnellimbiß-Restaurants zwei ältere Schwestern auf, die ihr Geburtstagsessen planten. Eine war etwas schwerhörig, die andere ein wenig schrullig. Das Restaurant bot ihnen eine Gratismahlzeit an, und wie zwei kleine Mädchen freuten sich die beiden Schwestern auf ihren Festschmaus. Manchmal ist die Nette Alte Dame, wie Agatha Christies Miss Marple, in Wirklichkeit eine verkleidete Weise Frau. Aufgrund ihrer tolpatschigen Art nimmt man sie nicht für voll, weshalb sie, von allen unbemerkt, die Wahrheit ergründen kann. Manchmal ist sie in der Tat etwas geistesabwesend und tappt unbekümmert in die Lösung des Falls. Ihr Erfolg basiert auf ihrer Naivität. Wie beim Ewigen Mädchen ist ihr Erfolg auf Schwäche, nicht aber auf Klugheit und Stärke zurückzuführen. Die Nette Alte Dame wird vornehmlich deshalb als nett bezeichnet, weil sie gütig und harmlos ist. Sie tritt keinem zu nahe und kümmert sich um ihre eigenen Angelegenheiten, arbeitet in ihrem Garten und geht ansonsten ihren täglichen Geschäften nach. Ihre Weisheit basiert nicht auf der Integration und Sinngebung von Erfahrungen. Ihre Komplexität resultiert nicht aus dem Wissen über ihre verborgenen Seiten und ihren Experimenten mit den verschiedensten Möglichkeiten des Lebens. Ihre nette Art entspringt ihrem Wunsch zu gefallen und der Bereitschaft, all das zu überspielen, was entweder sie oder andere aus der Fassung bringen könnte. Es wurde behauptet, daß sich Frauen, die sich mit dem Bild der Netten Alten Dame identifizieren, insgeheim mit ihrer eigenen Abwertung abgefunden haben; sie lehnen sich nicht dagegen auf, unsichtbar gemacht worden zu sein. [10] Barbara Walker, eine feministische Mythologin, hat darauf hingewiesen, daß es für Frauen oft sicherer ist, unsichtbar, anspruchslos und zurückhaltend zu sein, insbesondere, wenn sie sich in einer gefährlichen Situation befinden. [11] Es ist weitaus sicherer für sie, ihre eigene Existenz zu leugnen, sich bescheiden zu geben und im Dickicht des Zwischenmenschlichen zu verschwinden. Obwohl Frauen anfangs diese Strategie der Unsichtbarkeit primär verfolgten, um sich vor gesetzlichen, wirtschaftlichen und religiösen Gefahren zu schützen, wurde die gesamte Existenz von dieser Einstellung durchdrungen, wodurch der älteren Frau das Gefühl ihrer realen persönlichen Wertlosigkeit vermittelt wurde. [12] Etwas Ähnliches geschieht mit allen unterdrückten Minderheiten. Man mag die völlige Zurückhaltung als eine Überlebensstrategie praktizieren, aber nach vielen Jahren wird das, was ehemals als Strategie erfolgreich angewendet wurde, zu einer Lebenseinstellung, die einem das Gefühl von Bedeutungslosigkeit und Unsichtbarkeit vermittelt. Ich erinnere mich, wie ich mich einer Gruppe älterer Frauen näherte, die sich miteinander unterhielten; als ich einen Blick in den Raum warf, in dem sie sich versammelt hatten, erwiderte eine meinen Blick mit der Bemerkung: »Außer uns Küken ist hier keiner.« Alle lachten, und ich verließ den Raum, ohne mir allzu große Gedanken über diese Bemerkung zu machen. Im nachhinein glaube ich, daß die Bemerkung dieser Frau tatsächlich zum Ausdruck brachte, wie sich viele ältere Frauen fühlen; sie sind in der Tat nicht gerade sehr wichtig, und man sollte ihnen nicht zuviel Aufmerksamkeit schenken.
Blanches Geschichte
Nachdem sie viele Jahre eine Treue Ehefrau war, hat sich eine Frau, Blanche, mit dem Image der Netten Alten Dame identifiziert. Beinahe vierzig Jahre lang war Blanche ihrem Mann eine hingebungsvolle Partnerin und Gefährtin. Aufgrund seiner Tätigkeit im diplomatischen Dienst lebten sie oft im Ausland. Als Ehefrau eines Diplomaten entwickelte sie sich zu einer reizenden Gastgeberin und arbeitete in beruflichen Angelegenheiten eng mit ihrem Mann zusammen. Obwohl sie zwei Kinder hatten, fühlte sich Blanche stärker ihrem Mann als ihrem Sohn oder ihrer Tochter verbunden. Als sich die diplomatische Karriere dem Ende näherte, wollte Blanche gemeinsam mit ihrem Ehemann in den Ruhestand treten und ihr Leben in einer hingebungsvollen Zweisamkeit fortsetzen. Kurz bevor der letzte Dienstauftrag beendet war, erfuhr Blanche von ihrem Mann, daß er nicht mit ihr heimkehren würde. Er gestand ihr, schon seit einigen Jahren ein Verhältnis mit einer Mitarbeiterin zu haben. Er wollte sich nun von Blanche scheiden lassen, um diese Frau zu heiraten. Nach dieser etwas schonungslosen Erklärung sprach Blanches Ehemann nie wieder mit ihr. Da er der Ansicht war, daß es sich bei ihrer Ehe eher um eine geschäftliche Vereinbarung als um eine Liebesbeziehung handelte, glaubte er mit gutem Recht, alle zukünftigen Angelegenheiten über seinen Anwalt laufen lassen zu können. Blanche kehrte allein und völlig schockiert nach Hause zurück. Sie hatte nicht nur ihre wichtigste Bezugsperson, sondern auch ihre Identität als Treue Ehefrau verloren. Weitaus verheerendere Auswirkungen hatten diese Ereignisse auf Blanches Realitätsempfinden. Viele Jahre hatte sie geglaubt, eine gute Ehe zu führen, eine hilfsbereite Ehefrau zu sein und voller Zuversicht auf ihren Lebensabend blicken zu können. Der Entschluß ihres Ehemanns, ihre Beziehung zu beenden, stellte Blanches Selbstverständnis und die Beurteilung ihres bisherigen Lebens in Frage. Blanche hätte um ihren Mann getrauert, wäre er vorzeitig gestorben. Sie hätte sich viel leichter mit dem Witwenstatus abgefunden als mit einer Scheidung. Als Witwe hätte sich Blanche weiterhin mit dem Bild der Treuen Ehefrau identifizieren können. Sie hätte ihre Verbundenheit mit ihrem Ehemann und sein Andenken aufrechterhalten, in den Erinnerungen an ihr Eheleben schwelgen und sich mit Mementos aus der Zeit der Gemeinsamkeit umgeben können. Als eine sechzigjährige geschiedene Frau schämte sie sich und fühlte sich abgelehnt. Durch die Scheidung entstand in Blanche das Gefühl, als Ehefrau versagt zu haben. Die Entscheidung ihres Ehemannes, nochmals zu heiraten, bedeutete für Blanche soviel wie eine öffentliche Unzulänglichkeitserklärung. Anfangs war Blanche über ihre neue Situation ziemlich verwirrt. Ohne die ihr vertraut gewordene Identität als Treue Ehefrau schien sie verloren. Sie wurde vergeßlich und war etwas verwirrt, obwohl sie als Ehefrau eine hervorragende Organisatorin und ausgezeichnete Gastgeberin war, die nicht selten Partys für über hundert Gäste vorzubereiten hatte. Anfangs führten Blanches Freunde deren Zerrüttung auf Depressionen und den Schmerz über ihre Scheidung zurück. Schließlich entwickelte sich jedoch daraus ein durchgängiges Verhaltensmuster. Gelegentlich unterbrach Blanche ein Gespräch mit einer unbedeutenden und dummen Bemerkung. Wenn ihr Gesprächspartner sie daraufhin etwas verstört ansah, errötete Blanche, legte ihren Finger auf ihre Lippen und sagte: »Hoppla, habe ich etwas Falsches gesagt?« Sie entschuldigte sich ununterbrochen für ihr Verhalten und sagte den Leuten: »Macht euch meinetwegen keine Gedanken.« Ihr ehemals scharfer und ironischer Humor bekam etwas Albernes und Mädchenhaftes. Während einige ihrer Freunde befürchteten, daß sich bei Blanche die ersten Anzeichen der Alzheimer Krankheit bemerkbar machten oder daß sie unter schweren Depressionen zu leiden habe, stellte sich bald heraus, daß sie anstelle der Treuen Ehefrau ein anderes Image gefunden hatte. Sie hatte sich in eine Nette Alte Dame verwandelt. Sie machte einen hilflosen Eindruck, war etwas verrückt und völlig harmlos. Vielleicht hatte es Blanche versäumt, eine gewisse Unabhängigkeit zu entwickeln, weil sie sich zu stark mit dem Bild der Treuen Ehefrau identifiziert hatte. Als sie der Grundlagen ihrer Identität jäh beraubt wurde, hatte Blanche nicht nur mit einer aufkommenden Panik zu kämpfen, sondern hatte darüber hinaus das Gefühl völliger Leere. Sie glaubte, ein Niemand zu sein, wenn sie keine Ehefrau mehr wäre. Auf ihrer Suche nach einem Image, mit dem sie sich von neuem identifizieren könnte, fand Blanche die Nette Alte Dame. Obwohl es sich nicht um ein Image handelte, das den gleichen Status und die öffentliche Anerkennung genoß wie das Bild der Ehefrau, hat es zumindest bei Blanche das Gefühl der inneren Leere beendet.
Die Große Mutter
Das Bild von der Großen Mutter ist eine Ableitung von der Selbstlosen Mutter, nur daß die Große Mutter faltiger, grauhaariger und in physischer und psychologischer Hinsicht etwas sanfter ist. Eine Frau, die mit dem Image der Selbstlosen Mutter identifiziert wurde, freute sich auf ihre Jahre als Großmutter: »Wenn ich sechzig bin, weiß ich genau, was ich tun werde; es wird Kinder geben, auf die man aufpassen muß, und ein Haus voller Leute.« In ihrer Rolle als Große Mutter würden sich die Aktivitäten wiederholen, denen sie so viele Jahre als Selbstlose Mutter nachgegangen ist.
Man sagt den Großmüttern nach, sie übertreffen die Bemühungen der idealen Mutter und verwöhnen ihre Enkelkinder über alles. [13] Einige Frauen berichten voller Stolz von all den Dingen, die sie ihren Enkelkindern zukommen lassen. In diesem Sinne sind Großmütter in der Tat großartig, weil sie den exotischen Eingebungen und Wünschen ihrer Enkelkinder nachkommen. Der Gedanke, daß Großmütter Große Mütter sind, ist so verbreitet, daß einige Frauen sich verletzt und betrogen fühlen, wenn ihre Mütter diesem Bild der selbstlosen und fürsorglichen alten Frau nicht entsprechen. Eine dreißigjährige Mutter mit drei Kindern konnte nicht verstehen, daß ihre eigene Mutter am Sonnabendabend nicht zu Hause bleiben wollte, um die Kinder zu hüten. Eine andere junge Mutter war bestürzt und fühlte sich verlassen, als ihre Mutter beschloß, ihren Lebensabend in Florida, weit entfernt von ihren beiden Enkelkindern, zu verbringen. Wie die Selbstlose Mutter sollte die Große Mutter keine eigenen Bedürfnisse und Wünsche haben und zufrieden sein, sich für die Bedürfnisse ihrer Kinder und Enkelkinder aufopfern zu dürfen. Eine Frau wurde z. B. von ihren Freundinnen erst anerkannt, als sie sich entschloß, ihren Beruf aufzugeben, ihr Haus zu verkaufen und in das Haus ihrer Tochter zu ziehen, um als Babysitter für die drei kleinen Kinder tätig zu sein. Wenn Frauen mit dem Bild der Großen Mutter identifiziert werden, leitet sich der größte Teil ihres Status und Selbstwertes von ihren erzieherischen und unterstützenden Funktionen ab. Einige der älteren Frauen, die ich interviewte, hatten das Bedürfnis, mindestens eine Geschichte über ein Enkelkind zu erzählen. Gewöhnlicherweise folgte die Geschichte einem festgelegten Muster: Die ältere Frau leugnete ihre eigene Macht und Autorität, verhielt sich etwas hilflos und bedürftig und gestattete ihrem Enkelkind, sie aus dieser Lage zu befreien. Dieses Szenario war bewußt konstruiert, um in dem kleinen Kind ein eigenes Machtgefühl zu produzieren. Voller Stolz erzählte mir jede Frau ihre Version dieser Geschichte - sie war stolz über den Einfallsreichtum ihres Enkelkindes und über ihre Selbstaufopferung und Bereitschaft, »sich dumm zu stellen« und dadurch ihrem Enkelkind geholfen zu haben, ein Gefühl von Kompetenz zu entwickeln. Eine Frau war mit der Prahlerei über ihre Enkelkinder so beschäftigt, daß es ihr nicht gelang, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Immer wieder stand sie auf, um mir ein Bild von einem ihrer Enkelkinder zu zeigen oder um einen Pokal zu suchen, den einer ihrer Söhne gewonnen hatte. Einmal sagte sie sogar: »Ich weiß nicht, warum sie mit mir sprechen wollen, ich bin nur eine Mutter.« Bezeichnenderweise beschränkt sich das Bild von der Großen Mutter nicht nur auf Frauen, die biologische Enkelkinder haben. Eine Frau in ihren Siebzigern, die eine renommierte Schriftsteller-Schule gegründet hatte, bezeichnet sich selbst als eine Große Mutter. Arlene ist eine national anerkannte Geisteswissenschaftlerin, die unterrichtet, Vorlesungen hält und selber schreibt. Ihre Welt ist bevölkert von symbolischen Kindern, die sich ihr gegenüber, aufgrund ihrer intellektuellen Mentorenrolle, zu Dank verpflichtet fühlen. Wenn sie von ihren Schülern erzählt, spricht sie von ihren Kindern: »Ich denke über sie, als ob es meine Kinder wären, und sie denken über mich, als ob ich ihre Mutter wäre. Im allgemeinen werde ich als mütterliche Person angesehen, und für mich ist das wie eine Fortsetzung meines Lebens. Es ist wie eine Geschichte vieler Generationen. Auf irgendeine Art und Weise werde ich die nächste Generation und die Generation danach beeinflußt haben.« Arlene genießt den täglichen Kontakt zu ihren Schülern und fühlt sich in ihrem Selbstwertgefühl bestätigt, wenn es ihr möglich ist, ihnen etwas zu vermitteln. Wenn sie daran denkt, ihre Schüler nicht mehr direkt erziehen und unterrichten zu können, fühlt sich Arlene isoliert und einsam. Arlene erzählt, daß sie sich als Leiterin einer literarischen Werkstatt wie eine Königin-Mutter behandelt fühlt: »Meine Anerkennung habe ich meiner Mutterschaft zu verdanken.« Trotz ihrer national anerkannten beruflichen Errungenschaften, bezeichnet sich Arlene vornehmlich als eine Mutter, die mit besonderen Mächten ausgestattet ist und viele Kinder hat, in der Tat, eine Große Mutter. Einige der guten Feen in den Märchen oder der guten Hexen in Volkserzählungen sind Verkörperungen der Großen Mutter. Die gute Fee kann in den Lauf der Ereignisse eingreifen, um die Geschichte für den Helden oder die Heldin günstiger zu gestalten. [14] Sie konzentriert ihre gesamte Energie auf das magische Ende und zaubert Ereignisse herbei, die im gewöhnlichen Leben nicht geschehen. Ihre magischen Aktivitäten dienen dazu, die Situation einer von ihr abhängigen Person günstig zu gestalten: Die gute Hexe wird häufig als ein Wesen dargestellt, das über ein Wissen verfügt, das anderen nicht zugänglich ist. In der Geschichte »Ästlich der Sonne und westlich des Monds« macht sich ein Mädchen auf die Suche nach einem Prinzen, der in ein Schloß eingesperrt wurde. [15] Auf ihrem Weg lernt sie drei alte Frauen kennen; jede der Hexen gibt ihr einen magischen Gegenstand, dessen Zweck geheimnisvoll und undefinierbar ist. Das junge Mädchen nimmt die Geschenke an, weiß aber in Wirklichkeit nicht, was sie mit ihnen anfangen soll. Schließlich hilft ihr die Anwendung dieser Gegenstände bei der Rettung des Prinzen und dem erfolgreichen Bestehen ihres Abenteuers. Die Großen Mütter verfügen über magische Gegenstände und über ein Wissen, das dem jungen Mädchen nicht zugänglich ist. Diese literarischen Großen Mütter sind etwas Besonderes, jedoch nicht aufgrund ihrer magischen Kräfte, sondern aufgrund ihrer Güte und ihrer Bereitschaft zu geben. Aschenputtels gute Fee ist nicht bekannt als mächtige Zauberin, vielmehr erinnert man sich ihrer als gute Mutter, die Aschenputtel behilflich ist, auf den Ball gehen zu können. Ich erinnere mich an eine Geschichte über meine Große Mutter aus meiner eigenen Familie, die ihren Ehering verkaufte, damit eine ihrer Töchter das College besuchen könne, eine Tat der Selbstaufopferung und der Liebe, aber keinesfalls der Demonstration von Macht.
Die Hexe
In ihrer diabolischen Erscheinung ist die ältere Frau die Böse Hexe. Die Hexe ist die Verkörperung allen Übels und des Bösen in der Welt; wiederholt taucht sie in Volkserzählungen, Mythologien und Kinderträumen auf. Die Vorstellungen von der Hexe sind mit einigen der übelsten Beispiele des Frauen-Hasses in unserer Geschichte verbunden. Vom frühen Mittelalter bis ins siebzehnte Jahrhundert wurden in Europa und in den Vereinigten Staaten neun Millionen Frauen als Ketzerinnen und Hexen umgebracht. [16] Weil sie als die Repräsentantinnen des Übels und des Teuflischen auf Erden betrachtet wurden, wurden diese Frauen umgebracht, um das Schlechte und das Böse ein für allemal zu beseitigen. Die Hexe wird immer als eine häßliche Frau dargestellt; sie ist das Gegenteil dessen, was als schön und rein geschätzt wird. [17] Meist ist sie unförmig und verkrüppelt, ihr Haar ist strähnig und unattraktiv, ihre Hände sind klauenartig, und sie verbreitet einen üblen, unmenschlichen Geruch. Beschreibungen von der bösen Hexe erinnern an die Bilder und Darstellungen von obdachlosen Frauen, die ebenfalls oft als häßlich, schmutzig und übelriechend beschrieben werden. Das Bild von der Hexe ist von archetypischer Macht. Es ist immer in unserem Bewußtsein gegenwärtig, und wir projizieren es auf die entsprechenden Menschen, denen wir begegnen. Bedauerlicherweise müssen sich viele obdachlose Frauen mit dem Image der Hexe identifizieren. Eine Frau berichtet darüber, daß sie gegenwärtig absichtlich nicht badet oder ihre Kleidung wechselt und hofft, durch einen gelegentlichen Schrei und irres Gelächter die Leute fernzuhalten. Die Frau, die sie vor ihrem Leben auf der Straße war, wurde hinter dem Bild der Hexe gut verborgen. [18] Seele und Gesinnung der Hexe sind ebenso häßlich wie ihre physische Erscheinung. Anstatt sich über Kleinigkeiten hinwegzusetzen und ihre Erfahrung in einem größeren Rahmen zu reflektieren, ist die Hexe permanent in unbedeutende Rivalitäten und Konkurrenzrangeleien verstrickt. Sie ersinnt verschlagene und grausame Methoden, um die Pläne ihrer Widersacher zu vereiteln, wobei sie nicht zu wissen scheint, worauf es letzten Endes ankommt. Historisch ist die Hexe mit satanischen Kulten und Teufeleien assoziiert worden. Zur Zeit der Salemer Hexenprozesse glaubte man im allgemeinen, daß Hexen einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hätten. [19] Weil sie über ihr Schicksal verbittert und voller Groll waren, sollen diese Frauen ihre Seelen verkauft haben, um in den Besitz weltlicher Macht zu gelangen. Übel gelaunte ältere Frauen konnten leicht ein gefundenes Fressen für den »an trockenen Orten wandelnden« Teufel werden [20] da sie nur geringen Zugang zu rechtmäßiger Macht besaßen und zur Befriedigung ihrer bösartigen Machtgelüste bereit waren, mit ihm einen Pakt zu schließen. In der griechischen Mythologie wurde Hekate, die Göttin der alten Frauen, mit dem Tod und dem Bösen assoziiert. Hekate war die Mutter der Hexen, und sie herrschte über Dämonen und Geister. [21] Spät in der Nacht wandelte sie in Begleitung bellender Höllenhunde über die Erde. Da es ihre Aufgabe war, die Menschen zu lehren, daß es ohne Tod kein Leben gebe, beschwor allein ihre Anwesenheit Vorstellungen von Tod und Sterblichkeit herauf, als notwendige und integrale Bestandteile des Lebenszyklus. Ebenso wie Integration und Ganzheitlichkeit die zentralen Themen der gesunden älteren Frau sind, so gehören Zerstückelung und Chaos zum Wesenskern ihrer diabolischen Schwester. Sie kehrt die Dinge von unten nach oben und zersetzt die natürliche Ordnung, anstatt die Dinge zu vereinigen und zusammenzubringen. In den Salemer Hexenprozessen wurden die Frauen, denen satanische Praktiken vorgeworfen wurden, insbesondere wegen ihrer Böswilligkeit verurteilt, weil sie durch Einsatz übernatürlicher Mächte anderen durch Krankheit, Verletzungen und Tod Leid zugefügt hatten. [22] Angeblich konnten Hexen nicht nur ihre Erscheinungsform ändern, sondern auch in natürliche Prozesse und Rhythmen eingreifen. Wenn Tiere oder Menschen nicht gebären konnten, wenn Kinder deformiert zur Welt kamen oder auch bei Fehlgeburten, wurde die Hexe verantwortlich dafür gemacht, den natürlichen Rhythmus unterbrochen zu haben. Drei der berühmtesten literarischen Hexen sind uns aus Shakespeares Macbeth bekannt. Diese Hexen machen Macbeth glauben, in den Besitz einer Macht zu gelangen, die seine normalen Fähigkeiten überschreitet; dadurch verkehren sie die Ordnung der Dinge. Sie stürzen nicht nur Macbeth in Verwirrung, sondern zerrütten auch die Ordnung im Königreich, indem sie singen: »Schön ist häßlich, häßlich schön.« Die Dinge kehren sich in ihr Gegenteil; sie sind nicht das, als was sie erscheinen; aus Gutem wird Böses; aus Bösem wird Gutes. Die Hexe wird gewöhnlicherweise als eine vom Wahn besessene Frau dargestellt. Oft gackert sie wie ein Huhn; ihr Verstand ist fragwürdig; und ihr Verhalten ist einfach verrückt. [23] Sie ist nicht weise, sondern dämonisch. Sie spricht in chaotischen und verwirrenden Rätseln. Anstatt sich des Ursprünglichen und Realen in einer bestimmten Situation zu vergewissern, handelt es sich bei ihr um eine Frau, die den Bezug zur Realität verloren hat. Diese wahnsinnigen Hexen können uns nichts beibringen, und wir sollten diesen Frauen ausweichen; ihre Botschaften sind wahnwitzig und sie erzählen von Dingen, die wir meiden sollten. In ihrer einmaligen Studie Frauen, das verrückte Geschlecht berichtet Phyllis Chesler über die unverhältnismäßig hohe Anzahl von älteren Frauen, die vor der Bewegung für eine offene Psychiatrie gegen Ende der sechziger Jahre in den psychiatrischen Anstalten untergebracht waren. Es war bei uns nicht unüblich, die ältere Frau als verrückt zu stigmatisieren, sie einzuschließen und sie in einiger Entfernung von uns unterzubringen. Es ist für diese Diskussion jedoch weitaus bedeutender, daß es für geistig kranke Frauen in der Psychiatrie nicht ungewöhnlich ist, sich mit dem Image der Hexe zu identifizieren und zu glauben, daß sie selbst diabolische, böse Kreatureii wären. Vor einigen Jahren versuchte ich, eine Gruppe von psychiatrisierten Frauen verschiedenen Alters in einem freiwilligen Projekt zusammenzufassen. Statt Nutznießerinnen einer Dienstleistung zu sein, sollten die Frauen selbst wohltätige Aufgaben übernehmen. Als wir darüber sprachen, eine Privatklinik oder ein Waisenhaus zu besuchen, wurden einige der potentiell Freiwilligen sichtlich nervös. Da sie sich mit Hexen verglichen, hatten einige der Frauen Bedenken, ob und welchen Einfluß sie auf anfällige Kinder oder Patienten in der Geriatrie hätten. Diese Befürchtungen dauerten an, obwohl in Wirklichkeit niemals irgendwelche Gewalttätigkeiten stattgefunden hatten. Sie glaubten, daß sich ihre grundsätzliche Bosheit manifestieren könnte. Wenn Frauen mit dem Image der Hexe identifiziert werden, glauben sie von sich selbst, dämonisch zu sein, unabhängig davon, daß es nicht die geringste Bestätigung dafür gibt.
Heathers Geschichte
Die zwischenmenschliche und innerpsychische Welt einer Frau namens Heather wurde vom Image der Hexe heimgesucht. Heather wuchs mit einer Mutter auf, die ihr wie die lebende Verkörperung einer Hexe erschien; und bezeichnenderweise befürchtete Heather, daß sich die Hexe in ihrer eigenen Persönlichkeit zu einem mächtigen und dominierenden Element entwickeln würde. Heather kann sich nicht daran erinnern, daß sie und ihre vier Geschwister jemals nicht von ihren betrunkenen Eltern mißhandelt worden sind. Sie erinnert sich, von ihrem Vater geschlagen worden zu sein, bis ihr Rücken blutete und zerschunden war. Die Familie lebte in Maine, und es war ihren Eltern ein Vergnügen, die Kinder zu quälen, indem sie diese mitten im Winter vor die Tür setzten und ausschlossen. Die Kinder standen draußen, weinten und zitterten vor Kälte und versuchten, zurück ins Haus zu kommen. Die Eltern ignorierten deren Rufen oder lachten verächtlich. Heather erinnert sich daran, daß sie einmal ihrer Mutter nicht gehorchte und deshalb zur Strafe viel zu große Kleider zur Schule tragen mußte. Sie schleppte sich in einem Kleid durch die Straßen, in das sie zweimal hinein gepaßt hätte, und wurde von den anderen Kindern ausgelacht. Ihre Mutter ersann diese Erniedrigung als Strafe für eine der vielen Unzulänglichkeiten ihrer Tochter. Äußerlich war Heathers Mutter eine religiöse Frau, die von ihren Kindern oft verlangte, niederzuknien und für irgendein Vergehen um Vergebung zu bitten. Weil ihre Mutter eine seelisch labile Frau war und sich, den Worten Heathers zufolge, benahm »wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde«, wußten die Kinder niemals so recht, welches Verhalten als Sünde galt. Demzufolge befürchteten sie permanent, für ein Vergehen beschuldigt zu werden, das am Tag zuvor nicht einmal beachtet worden war. Wenn sie bei einer Sache erwischt wurden, die von Heathers Mutter als eine Sünde erachtet wurde, wurden sie in den dunklen Keller gesperrt und mußten auf harten ungekochten Erbsen knien, wobei sie den Rosenkranz beten und ihre Mutter um Vergebung bitten mußten. Heathers Mutter baute sich im Keller einen Schrein für ihre private Gottheit und forderte von ihren Kindern, an dem Altar ihre Gebete zu verrichten, wobei sie sich wie die Priesterin eines privaten sadistischen Kults verhielt. Heather spielte mit dem Gedanken, ihren Lehrern und Nachbarn über diese bizarren und furchterregenden Angelegenheiten zu berichten, aber sie tat es nicht, weil sie fürchtete, daß ihr keiner glauben und daß ihre Eltern die Mißhandlungen nur noch verstärken würden, wenn sie über ihren Verrat etwas erfahren hätten. Als Heather aufwuchs, hatte sie oft Depressionen und dachte an Selbstmord. Häufig ging sie zum Fluß neben ihrem Haus und wollte von der Brücke springen, denn sie glaubte, ihren Schmerz nur dadurch beenden zu können, daß sie ihrem Leben ein Ende setzte. Manchmal malte sie sich in ihren Phantasien aus, ihre Eltern zu ermorden. Sie konstruierte die kompliziertesten Geschichten bis ins kleinste Detail, wie sie ihre Peiniger aus dem Weg schaffen könne. Sie glaubte fest daran, für den Mord an ihren Eltern nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden, weil man nach der Tat über deren Grausamkeit erfahren hätte, so daß sie keiner bestrafen würde. Sie könnte dann, wie Dorothee in der Geschichte Der Zauberer von Oz, voller Freude singen: »Die Hexe ist tot.« Heather war in vieler Hinsicht dazu gezwungen, sich mit den harten und grausamen Realitäten der Erwachsenenwelt auseinanderzusetzen, als sie noch ein schwaches, leicht zu beeinflussendes Kind war. Anstatt sorgenfrei spielen zu können, plante sie, ihre Eltern zu ermorden, und dachte an ihren eigenen Tod. Wie Gretel im Märchen war auch Heathers einziges Interesse, die Foltern der Hexe zu überleben. Sie fürchtete nicht nur die täglichen Schläge und Erniedrigungen, sondern glaubte auch, daß ihre Mutter die Macht besäße, sie mit einem sadistischen Fluch zu verdammen, der für alle Ewigkeit auf ihr lasten würde. Kaum jemand von uns kann sich das Grauen, mit dem Heather täglich konfrontiert war, vorstellen. Derartige Gedanken kommen einem nur in Zeiten des Krieges in den Sinn oder in den schlimmsten Alpträumen, wenn alle sozialen Normen vorübergehend aufgehoben sind. Dennoch hört man immer häufiger Berichte über den rituellen Mißbrauch von Kindern in Familien, die satanischen Sekten angehören. Diese Geschichten enthüllen eine Ebene des Terrors, der Selbstvorwürfe und verzerrter Wirklichkeitsprüfungen, von denen Heathers Kindheitserfahrung im wesentlichen geprägt war. [24] Wenn Heather auf ihre Kindheit zurückblickt, ist sie erstaunt, daß sie und ihre Geschwister dieses Ausmaß von Mißhandlungen überlebt haben. Im nachhinein glaubte sie, nur Trost bei ihrem Hund gefunden zu haben, gegen den ihre Eltern nichts einzuwenden hatten, und indem sie ganz allein für sich tanzte und malte. Durch diese künstlerischen Aktivitäten war es ihr möglich, ein Gleichgewicht herzustellen, einen Ort der Ruhe zu finden, wo sie, weit ab von den anderen, für sich eine eigene Welt schaffen konnte.
Aufgrund des starken Traumas, das sie erlitt, geriet Heathers gesamte Entwicklung aus den Fugen. Sie übersprang die sichere, sorgenfreie Kindheit und rutschte verfrüht in eine verzerrte Lebensphase der jungen Frau. Bei extremem Trauma und extremer Mißhandlung mag es naiv erscheinen, über etwas zu sprechen, das einer normalen Entwicklung gleichkäme. Der expansive und freie Forschungsdrang der Lebensphase der jungen Frau war für Heather stark verkürzt. Sie hatte keine Unterstützung, deren junge Frauen bedürfen, um ihre Möglichkeiten zu erproben. Da sie als Kind keine elterliche Zuwendung und Fürsorge erfahren hatte, konnte sich Heather nur dadurch der Liebe versichern, daß sie sehr schnell zu einer jungen Frau wurde. Wie viele Kinder, die Opfer sexuellen Mißbrauchs waren, hat auch Heather ihre Adoleszenz übersprungen und wurde schon im Alter von dreizehn Jahren mit der Sexualität konfrontiert. [25] Indem sie sich wie eine Frau verhielt und sich auf sexuelle Erfahrungen einließ, war es ihr möglich, die einzige Liebe und Zuwendung zu erhalten, die sie jemals erfahren hatte. Sie war so glücklich, von ihrem Freund geliebt zu werden, daß sie alles getan hätte, worum er sie bat. Wie die Handlungen so vieler Frauen, die gezwungen sind, jenseits einer normalen Entwicklung zu überleben, ist auch Heathers Verhalten eine kindliche Interpretation dessen, was es bedeutet, eine Frau zu sein. Da sie keine richtige Kindheit durchlebt hatte und sich nicht an einem lebensfähigen Modell gesunden, erwachsenen Verhaltens orientieren konnte, basierten Heathers Vorstellungen von der Rolle einer Frau darauf, was sie über die Medien vermittelt bekam und was den unzüchtigen Phantasien ihres älteren Bruders entsprang - sie wurde ein Sexualobjekt. Alles war gut, solang man nur keine Hexe wie ihre Mutter wurde. Heather war kaum fünfzehn Jahre alt, als sie schwanger wurde. Sie war völlig außer sich, denn sie wußte, daß sie von ihren Eltern geschlagen würde, sobald sie davon erfuhren. Heathers Mutter lebte jedoch nicht mehr lange genug, um von der Schwangerschaft ihrer Tochter zu erfahren. Ein paar Wochen nachdem Heather schwanger wurde, starb ihre Mutter an den Folgen ihres Alkoholmißbrauchs. Heather war dadurch noch verängstigter, weil sie nun allein ihrem tyrannischen Vater ausgeliefert war. Obwohl sie sich den Tod ihrer hexenartigen Mutter herbeigesehnt hatte, fühlte sich Heather, wie viele der Opfer sadistischer Peiniger, verängstigt, als ihre Mutter tatsächlich starb. [26] Heather wollte entweder Selbstmord begehen oder das Kind abtreiben lassen. Sie war bestürzt, als ob die Lösung ihres Problems jenseits ihres Vorstellungsvermögens lag. Schließlich erzählte sie jemandem vom schulischen Beratungsdienst von ihrem Dilemma und erhielt ein wenig Unterstützung; der Berater war jedoch verpflichtet, ihren Vater zu informieren. Heathers Vater wurde gebeten, zur Schule zu kommen, um ihn über die Neuigkeiten zu unterrichten. Obwohl sich der Vater in der Schule vernünftig verhielt, schrie er nach dem Gespräch beim Berater Heather an und sagte ihr, daß er sie enteigne und sich wünsche, daß sie und das Kind während der Geburt sterben. Zu dieser Zeit kam Heather in ein Pflegeheim, und sie lebte während ihrer Schwangerschaft getrennt von ihrer Familie, weshalb sie vor weiteren Mißhandlungen sicher war. Heather besaß kein Geld für eine angemessene medizinische Versorgung. Voller Verzweiflung raubten sie und ihr Freund einen Laden aus, damit sie genug Geld für einen Arzt hätte. Heather glaubte, daß nicht allein ihr Leben, sondern die ganze Welt völlig absurd und außer Kontrolle wäre. Nachdem sie das Kind zur Welt gebracht hatte, beschloß Heather, das Baby zu behalten, weil sie glaubte, in der Beziehung zu ihrem Kind die Liebe zu erhalten, nach der sie sich sehnte. Weil sie jedoch minderjährig war, brauchte sie die Genehmigung ihres Vaters, um das Kind zu behalten. Ihr Vater schwor, daß er ihr unter keinen Umständen erlauben würde, das Kind zu behalten. Als man ihr das Kind wegnahm, um es zur Adoption freizugeben, fühlte Heather »den größten Schmerz«, der ihr je widerfahren sei. Sie war selbst noch ein Kind. Sie hatte niemals Liebe und Unterstützung von ihren Eltern erfahren, und sie verlor die einzig lebende Person, der sie sich verbunden und verpflichtet fühlte. Später im Leben tröstete sich Heather über den Verlust ihres Kindes, indem sie sich sagte, daß das Kind wenigstens nicht die gleiche Hoffnungslosigkeit und Lieblosigkeit erfahren mußte wie sie. Nach der Geburt verließ Heather das Elternhaus, um bei Verwandten in einem anderen Staat zu leben. Ihr Vater sagte ihr, daß jedermann wisse, daß sie keine makellose Frau sei. Die Jungen und Männer würden das ausnutzen und sie als Freiwild betrachten. Heather war kaum sechzehn Jahre alt, und sie fühlte sich wie eine gestrauchelte Frau, wie jemand, der nutzlos, wertlos und nicht der Liebe wert sei. Es überrascht nicht, daß sie ein wildes und rücksichtsloses Verhalten an den Tag legte, Drogen konsumierte, viel Sex hatte und es zuließ, mißhandelt und mißbraucht zu werden. Für eine bestimmte Zeit hatte sie einen Mann nach dem anderen. Als sie neunzehn Jahre alt war, kam Heather wegen schwerer Depressionen und Suizidverdacht für drei Wochen ins Krankenhaus. Dieser Krankenhausaufenthalt und die anschließende Psychotherapie kennzeichnen den Beginn ihres Versuchs, das »innere Kind«, das sie aufgrund elterlichen Mißbrauchs und elterlicher Vernachlässigung verloren hatte, wiederherzustellen und wiederzufinden. Heather sagt: »Es dauerte sehr lange, bis ich zu wachsen begann. Ich bin nun an einem Punkt angelangt, wo mein Leben beginnt, etwas einfacher zu werden, und ich versuche zu den Dingen zurückzufinden, die mich glücklich machten, als ich ein Kind war - mein Hund, meine künstlerischen Tätigkeiten und das Tanzen.« Das Selbst braucht zwischenmenschliche Nahrung, um wachsen und gedeihen zu können. Den größten Teil der Kindheit ernährte sich Heathers Psyche mit Hungerrationen. Indem sie momentan bemüht ist, selbständig zu leben und die von der Therapie geleistete Unterstützung in Anspruch zu nehmen, ist Heather nun zu den Aktivitäten zurückgekehrt, aus denen sie in ihrer Jugend Kraft schöpfen konnte. Heute lebt Heather ein unabhängiges Leben und bestreitet ihren Unterhalt als Künstlerin. Sie hat sich ihrer Malerei verschrieben, und mit jedem neuen Kunstwerk arbeitet sie bewußt an der Gestaltung ihres Selbst. Obwohl ihre Arbeiten abstrakt sind, hat man den Eindruck, daß es sich bei ihren Gemälden um Selbstporträts handelt; die rauhe Oberfläche spiegelt die Narben und ihre Mißhandlung wider. Mit zunehmendem Alter glaubt Heather immer stärker an das Recht auf ihr eigenes Leben. Sie sagt: »In den letzten paar Jahren ist mir bewußt geworden, daß ich nun schon länger ohne als mit einer Mutter lebe, und es gibt mir das Gefühl von Freiheit, als ob ich entkommen wäre.«
Manchmal hat Heather noch Alpträume, in denen ihre Mutter erscheint, herumgackert und Heather verspottet, weil sie glaubt, ein selbständiges Leben führen zu können. Obwohl sie die Mißhandlungen überlebt und begonnen hat, sich zu erziehen und zu wachsen, sind Heathers Narben aus der Kindheit noch nicht vollständig verheilt. Es ist ihr nicht möglich gewesen, eine gesunde Beziehung mit einem Mann oder mit einer Frau einzugehen. Obwohl sie Freunde hat, um die sie sich kümmert und die sich um sie kümmern, hat sie Schwierigkeiten, eine wahre intime Beziehung aufzubauen. Sie hat kontinuierlich das Gefühl, von einer anderen Person nur als Sexualobjekt anerkannt zu werden, und geht Beziehungen ein, die vornehmlich sexueller und oft sadistischer Natur sind. Während sie in die mittlere Phase ihres Lebens eintritt, ist Heather verstärkt in kreativen Bereichen tätig. Sie engagiert sich nicht nur in ihrer Malerei, sondern auch in der aktiven Wiederherstellung ihrer Persönlichkeit, indem sie aus sich die Frau macht, die sie gern wäre. In den letzten zwanzig Jahren bewältigte sie die Aufgabe, sich von einem verletzten, verkrüppelten Kind in eine Frau zu verwandeln, der es möglich ist, in dieser Welt zu überleben. Heather war insbesondere darauf bedacht, sich schützen zu können, das in ihr eingeschlossene Kind zu beschützen. Sie ist eine Expertin der Selbstverteidigung und ist stolz darauf zu wissen, daß sie nun die Fähigkeiten besitzt, sich selbst zu verteidigen, sobald sie angegriffen werden sollte. Dies sind Techniken, die sie als Kind gebraucht hätte, um die Mißhandlungen ihrer Eltern abwehren zu können. Heather gibt zu, über kein Verhaltensmodell zu verfügen, an dem sie sich orientieren könnte, wie eine erwachsene Frau zu leben habe; die mittlere Lebensphase ist für sie verwirrend. Die einzige Frau, die sie als Frau mittleren Alters kannte, war ihre Mutter; aber ihre Mutter verzerrte und pervertierte die Möglichkeiten der mittleren Lebensphase. Sie wurde die Böse Hexe, die ihre eigenen Kinder verschlingt und im Laufe der Zeit sich selbst zerstört. Heather befürchtet, daß diese destruktive Veranlagung auch in ihrem eigenen Leben auftreten wird, und sie ist bemüht, sich unter Kontrolle zu haben. Indem sie ihr Leben vereinfacht, gelingt es Heather, ihre inneren Impulse zu zügeln. Durch Mäßigung und Kontrolle versucht sie, die Tätigkeiten und Aktivitäten einer Frau mittleren Alters in den Griff zu bekommen. Dennoch befürchtet sie weiterhin, daß die Hexe in ihr eines Tages in Erscheinung tritt und sie ebenso diabolisch wird wie ihre Mutter. Deshalb achtet Heather darauf, daß sie niemals auf jemanden Macht ausübt, der so verwundbar wäre, um von ihr verletzt werden zu können. Das Erzählen ihrer Geschichte war für Heather Teil des Heilungsprozesses. Sie hatte nicht nur das Gefühl, diese Geschichte denen mitteilen zu wollen, die die gleichen Erfahrungen wie sie gemacht haben, sondern auch, daß sie die Erfahrungen, die sie hatte, versprachlichen müsse. Schließlich wollte sie die Stimme erheben für das Kind, das sie gewesen ist, damit ihr inneres Kind das Trauma der Mißhandlung überwinden könne und damit der Fluch der Hexe gebrochen wäre.
Die Alte Jungfer
Wenn die vom Prinzen erwählte junge Frau die große Gewinnerin des romantischen Dramas ist, dann ist die Alte Jungfer die große Verliererin. Sie ist wie »alte Dinge, die keiner haben will«. [27] Wenn eine Frau von einem Mann auserwählt wird, findet ihr passives Warten ein Ende. Als Ehefrau irgendeines Mannes kann sie nun ihren Platz in der Gemeinschaft anderer Frauen behaupten. Nicht erwählt worden zu sein, ist für einige sehr schmerzhaft und beschämend. Eine Frau begründete ihre Unlust, allein ins Ballett oder essen zu gehen, nicht nur damit, daß sie lieber in Gesellschaft wäre, sondern auch Angst hätte, von Bekannten gesehen zu werden, die sie als Alte Jungfer identifizieren würden. Eine andere Frau erzählte von der Erleichterung ihrer gesamten Familie, als sie schließlich mit neunundzwanzig Jahren heiratete. Jahrelang wurde sie ermahnt, geselliger zu werden, weil ihr ansonsten das Schicksal einer unverheirateten Tante bevorstehe, deren Leben als eine tragische Geschichte weiblichen Versagens mythologisiert wurde. Ebenso wie die Köpfe von Verrätern auf eine Lanze gesteckt und außerhalb der Stadt aufgestellt wurden, um als abschreckendes Beispiel für die Bevölkerung zu dienen, diente auch diese unverheiratete Tante als negatives Beispiel, das einer Frau widerfahren könne. Das Kartenspiel für Kinder, Old Maid, illustriert den Schrecken und die Reaktion, die in unserer Kultur der Alten Jungfer entgegengebracht wird. Bei diesem Spiel müssen die Kinder die Karte meiden, auf der die alte Frau abgebildet ist, weil derjenige verliert, der sich am Ende des Spiels im Besitz dieser Karte befindet. Weil sie keinen Mann abbekommen hat, ist die Alte Jungfer voller »Ressentiments«, voll schrecklicher Gehässigkeit und Negativität, die der Impotenz entspringt. [28] Ihr Status als Unverheiratete basiert nicht auf der freien Entscheidung, als Alleinstehende leben zu wollen, sondern auf einem Mangel: Keiner will sie haben. Darüber hinaus fehlen ihr die wesentlichen weiblichen Attribute, wie z. B. Schönheit; sie ist häßlich, und häßlich sein ist das gleiche, als wenn eine Frau den Wettlauf des Lebens mit gefesselten Beinen antreten würde. All die Auserwählten sind schön, oder so etwas Ähnliches; das erzählen zumindest die Geschichten. [29] Deshalb ist die Alte Jungfer nicht aus eigenem Entschluß allein. Sie wurde schon unglücklich und häßlich geboren. Ihre Opferrolle ist die Quelle ihres Neids und ihrer Rachsucht. [30] Da ihr keine Liebe und Partnerschaft zuteil wird, ist die Alte Jungfer kritisch und prüde. Sie ist eine der Frauen, die ihre Nachbarn bittet, die Musik leiser zu stellen, oder die eine andere Frau verurteilt, weil sie ein uneheliches Kind hat. Wenn sie nicht glücklich sein darf, soll es auch kein anderer sein. Abschätzige, kritische Bemerkungen und Verleumdungen sind vorzugsweise ihre Beiträge im Umgang mit anderen; sie ist die Meisterin abfälliger Anspielungen und die Initiatorin gefährlichen Klatsches. In den Märchen ist die Alte Jungfer oft dazu verdammt, die Rolle der häßlichen Schwester der Heldin zu spielen. Aschenputtels Schwestern sind klassische Alte Jungfern. Sie klatschen und tratschen, beneiden Aschenputtels Schönheit und Charme und ergehen sich in abfälligen Bemerkungen. [31] Weil sie den Prinzen niemals für sich gewinnen können, möchten sie Aschenputtels Chancen ebenso vereiteln. Schon zu Beginn der Geschichte machen sie sich über Aschenputtel lustig und ziehen über sie her. Man verspottet sie, weil sie auf den Ball gehen möchte. Den altjüngferlichen Schwestern bleibt keine andere Wahl, als Aschenputtel zu erniedrigen; sie beneiden sie zu sehr, um auch nur ein gutes Wort über sie zu verlieren. Sie versuchen, daß der Prinz Aschenputtel erst gar nicht zu Gesicht bekommt; als der Bote mit dem Glasschuh eintrifft, verstecken sie Aschenputtel in der Küche. Gehässigkeit und Rachsucht sind die einzige Genugtuung für die Alte Jungfer, der es nicht möglich ist, sich auf positive Art und Weise Befriedigung zu verschaffen. Diese zutiefst negative Einschätzung der Alten Jungfer als empfindlich, launisch und bösartig, läßt sich teilweise aus ihrer Position als Außenseiterin erklären. Sie lebt am Rande der traditionell heterosexuellen Gesellschaft, und deshalb scheint sie fremd und gefährlich zu sein. Im Laufe der Geschichte wurde sie nicht nur gemieden, sondern auch wegen ihrer Abgeschiedenheit bestraft. Frauen, die allein lebten, ohne den Schutz und die Rechtmäßigkeit der Ehe mit einem Mann, waren bei denjenigen, die in den neu-englischen Kolonien wegen Hexerei beschuldigt, verurteilt und hingerichtet wurden, überrepräsentiert. [32] Man beschuldigte sie der Boshaftigkeit, Streitsucht und Gehässigkeit und hielt sie ebenfalls für »schuldig«, außerhalb der Normen der Kolonialgesellschaft zu leben. [33] Das offensichtliche Versagen, sich den Images der Treuen Ehefrau und der Selbstlosen Mutter unterzuordnen, war wahrscheinlich das wirkliche Verbrechen, das von diesen unverheirateten Frauen begangen wurde.
Unabhängig davon, wie unsere Abneigung gegen die unverheiratete Frau entstand, nimmt die Alte Jungfer weiterhin einen Platz auf dem Sockel weiblicher Möglichkeiten ein. Sie wird meistens von Männern verspottet und gemieden, weil sie wenig zu bieten hat; Frauen fürchten wahrhaftig deren Image. Ob es sich um die ausgedorrte und verbitterte Miss Havisham aus Dickens' Große Erwartungen oder die mordsüchtige Lizzy Borden handelt, die Alte Jungfer ist ein Image, das die Frau stigmatisiert, die von keinem gewollt wurde.
Valeries Geschichte
Obwohl sie erst Mitte Dreißig ist, hatte Valerie schon seit ihrer frühesten Kindheit mit dem Bild der Alten Jungfer zu kämpfen. Valerie ist bei ihrer Großmutter väterlicherseits aufgewachsen, eine Frau, die Valerie als boshaft und chronisch unglücklich beschreibt. Obwohl sie verheiratet war und ein Kind gehabt hatte, war Valeries Großmutter von dem Gefühl durchdrungen, um die Freuden betrogen worden zu sein, die anderen Frauen in den Schoß fallen. Sie glaubte, daß alle ihre Nachbarn ein sorgloses Leben führten und daß das Schicksal sie mit einem harten Leben bestraft hätte. Valeries Großmutter unternahm nichts, um ihre Lebensqualität zu verbessern, sie verbrachte ihre Zeit nur damit, sich zu beschweren. Sie saß jeden Abend auf ihrer Veranda und tauschte mit ihrer Enkeltochter kritische Bemerkungen über jeden aus, der vorbeiging. Valerie war das älteste von vier Kindern, aber ihre beiden Brüder und ihre jüngste Schwester lebten mit ihren Eltern in einer Nachbarstadt. Nur Valerie lebte bei ihrer Großmutter, bei der sie auch aufgewachsen ist. Wenn sie diese fragte, warum ihr diese fragwürdige Ehre zuteil geworden ist, antwortete ihre Großmutter, daß dies so sei, weil »du ebenso wie ich bist; wir sind zwei Erbsen in einer Hülse«. Valerie hatte das Gefühl, daß das, was ihre Großmutter sagte, wohl stimmen mußte und daß sie keine andere Möglichkeit hätte, als eine unglückliche, einsame »altjungfernhafte Maus« zu werden. In der Grundschule schrieb Valerie einen Aufsatz, der eine Vorwegnahme ihres Erwachsenenlebens werden sollte. In dieser Geschichte wuchs in einer Ecke eines großen Hofes völlig unbemerkt eine kleine Blume. Außer dieser einen Pflanze, die ganz für sich allein wuchs, behandelte man die anderen Blumen mit aller Aufmerksamkeit und pflegte sie. Es kam ein großer Sturm, und nur die einsame Blume, die als einzige stark und kräftig geworden war, überlebte. Einige weitere Jahre wuchs sie in völliger Abgeschiedenheit und beobachtete, wie andere Blumen ausgewählt wurden, um Häuser zu schmücken oder zu Sträußen zu werden. Eines Tages wurde die einsame Blume von Kindern entdeckt, die ihre Schönheit und Anmut zu würdigen wußten, sie pflückten sie, um mit ihr den Altar in der Kirche zu schmücken. Schon als junges Mädchen fühlte sich Valerie vom Bild der Alten Jungfer gefangen. In ihrer Jugend vermittelte ihr die Großmutter nur Bitterkeit und Kritik. Bei Annäherungsversuchen von Klassenkameradinnen mäkelten sie und ihre Großmutter an diesen möglichen Freundinnen herum, bis sie bald in dem Ruf stand, »sauertöpfisch« zu sein. Nach einer gewissen Zeit rief keiner mehr an, und Valerie sah sich immer stärker in der Überzeugung bestätigt, daß sie vom Schicksal bestimmt war, allein zu sein. In der Überzeugung, niemals zu heiraten, bereitete sich Valerie auf eine erfolgreiche Karriere vor. Sie wurde Architektin, und obwohl man sie wegen ihrer guten Arbeit bewunderte, genoß sie bald den Ruf, übertrieben kritisch gegenüber ihren Kollegen zu sein, weil sie öffentlich deren Ideen und Pläne bemängelte. Wiederum sah sich Valerie isoliert und allein. Jedesmal, wenn sie von ihren Kollegen oder Freundinnen gemieden oder übergangen wurde, war Valerie verbittert und aufgebracht; jeder dieser Vorfälle bestätigte jedoch ihre Ansicht, daß sie im tiefsten Herzen eine Alte Jungfer war. Als Valerie achtundzwanzig Jahre alt war, starb ihre Großmutter. Valerie erinnert sich, in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, um an der Beerdigung teilzunehmen, und über die geringe Anzahl der Trauergäste überrascht gewesen zu sein. Sogar der Pfarrer wußte kaum etwas Persönliches oder Liebenswürdiges über ihre Großmutter zu sagen. Als sie nach der Beerdigung wieder zu sich nach Hause zurückkehrte, wurde Valerie wiederholt von Alpträumen heimgesucht, in denen ihr eine alte, ausgedörrte Frau mit leerem Blick zuwinkte. Valerie wurde bewußt, daß ihr wahres Selbst mit dem Bild der Alten Jungfer zu ringen hatte. Wenn es ihr nicht gelänge, sich von der Umklammerung dieses Bildes zu befreien, würde aus ihr nichts anderes werden als die Karikatur ihrer Großmutter. In den letzten Jahren war Valerie ganz bewußt bemüht, sich von dem Verhalten, das sie von ihrer Großmutter gelernt hatte, zu distanzieren. Wenn sie bemerkt, auf eine Situation ganz automatisch kritisch zu reagieren, versucht sie, sich zu bremsen. Sie ist bemüht, sich auf positive Dinge einzulassen, ihre Wut auf ihre Großmutter unter Kontrolle zu bringen, die sie dazu verführt hat, sich von einem derartig unerwünschten Bild von der Frau gefangen nehmen zu lassen. Valerie hat sich gleichfalls den Gedanken untersagt, ein Leben als einsame Frau führen zu müssen. Sie ist aktives Mitglied in einem Radrennfahr-Club und nimmt an Überraschungsessen und anderen sozialen Aktivitäten teil. Trotz allen Fortschritts, den sie beim Abstieg vom Sockel der Alten Jungfer verzeichnen kann, bleibt Valerie vorsichtig. Manchmal lehnt sie es sogar ab, berechtigte Kritik zu äußern, weil sie befürchtet, daß sie mit jeder negativen Bemerkung der Alten Jungfer die Tür öffnen könnte und diese wiederum die Kontrolle übernimmt.
Die Weise Frau
Das Bild von der Weisen Frau hat vor nicht allzu langer Zeit die Aufmerksamkeit der Frauenbewegung auf sich gezogen. Es ist ein ehrwürdiges Bild, dessen potenteste Verkörperungen in gewissen antiken oder nicht-westlichen Kulturen anzutreffen sind. Bei den Sibyllen im alten Griechenland handelte es sich um ältere Frauen, die die Mysterien des Universums hüteten und deren Aufgabe darin bestand, den göttlichen Willen auf Erden auszulegen. [34] Diese Frauen besaßen orakelhafte Kräfte und wußten um die Rhythmen des Universums; sie konnten Dinge sehen, die anderen nicht zugänglich waren. Außerdem glaubte man, daß alle Frauen die Weisheit des Menstruationsbluts in sich bargen. [35] Eine Frau hatte magisches Blut, das jeden Monat aus ihr hervorquoll nur dann, wenn sie an der mysteriösen Transformation des Lebens partizipiert oder wenn sie ein bestimmtes, privilegiertes Alter erreicht hatte. Das weise Blut verlieh ihr, so glaubte man, ein besonderes Verständnis und Wissen. Tod, Wiederauferstehung und Heilung sind zentrale Themen des Images von der Weisen Frau. Die Göttin Medea besaß z. B. den Segen der Unsterblichkeit, sie hatte die Macht, in ihrem Kessel Tote zum Leben zu erwecken. [36] In einigen nicht-westlichen Kulturen existieren Vorstellungen über idealisierte ältere Frauen, die in ihren Eigenschaften den Mythen der Antike gleichkommen. Bei den nordamerikanischen Eingeborenenstämmen respektieren die Oglala das Wissen und die Weisheit älterer Frauen. Die weiße Büffelfrau, Schutzgöttin des Stammes, überträgt den alten Frauen die Aufgabe, sich der grundlegendsten Dinge zu erinnern. [37] Sie helfen dem Stamm abzuwägen, was wichtig und was unbedeutend ist, um allen eine gewisse Perspektive zu vermitteln. Die ältere Frau ist die Ahnin des Stammes, weil sie die eigentliche Stammmutter wird, d. h., sie ist die nächste, die sterben wird. [38] Statt Angst und Unsicherheit garantiert ihr das hohe Alter eine ehrenhafte und respektvolle Position. Sie steht in heiliger Verbindung zu ihren Vorfahren, und auch sie ist Eingeweihte eines Wissens, das anderen verborgen bleibt. In einigen südamerikanischen Ländern, wie z. B. in Chile, wird die ältere Frau ebenfalls von ihrer Familie verehrt. Wenn eine Frau ein bestimmtes Alter erreicht hat und verwitwet ist, kehrt sie zu ihrer Familie zurück, um eine reale Verbindung zwischen den Generationen herzustellen. [39] Dies ist für sie die Zeit der Ruhe, des Reflektierens und des Nachdenkens über ihr Leben. Es ist für sie aber auch eine Möglichkeit, sich in der Liebe und Wärme einer großen Familie geborgen zu fühlen. Sie ist auf vitale Art und Weise mit anderen Generationen verbunden und bekleidet innerhalb der Familie die Position einer lebenden Vorfahrin. Auch in der afroamerikanischen Literatur begegnen wir dem idealisierten Bild von der weisen und lehrreichen älteren Frau. Es ist ihre Aufgabe, die Familie zu beschützen und mit ihr die Weisheit zu teilen, die sich durch die Erfahrungen eines Menschenlebens angesammelt haben. [40] Die Alte Spinnenfrau, eine Gottheit der amerikanischen Eingeborenen, besitzt viele Eigenschaften der Weisen Frau. Es ist die Großmutter Spinne, die die Mitglieder des Stammes darauf vorbereitet, in die höhere Welt einzutreten. Sie lehrt sie, was sie an praktischem Wissen benötigen, erteilt aber auch geistige Unterweisungen, indem sie ihnen sagt: »Nur diejenigen, die vergessen, warum sie auf diese Welt kamen, werden ihren Weg verlieren.« [41] Ihr weiser Rat lehrt Männer und Frauen, sich zu konzentrieren und zu sammeln und sich daran zu erinnern, wer sie sind und was von Bedeutung ist. Es ist ihre Aufgabe, Reisenden den Weg zu weisen und mit Rat zur Seite zu stehen, unabhängig davon, ob es sich um eine reale oder geistige Reise handelt. Ihre Weisheit schöpft sie aus ihren Lebensjahren, und sie steht jederzeit denjenigen zur Verfügung, die ihres Rats bedürfen. Obwohl das Bild von der Weisen Frau ehrfurchteinflößend und magisch ist, dürfen wir nicht vergessen, daß es sich, wie bei den anderen Verkörperungen älterer Weiblichkeit, ausschließlich um ein Image handelt. Wenn Frauen von der Vorstellung befangen sind, sich als übermenschliche Göttinnen zu verstehen, können sie sich vieler Freuden berauben.
Ginas Geschichte
Schon als junges Mädchen wußte Gina, daß sie eines Tages ihren Platz in der Schwesternschaft spiritueller Frauen innerhalb ihrer Familie einnehmen würde. In der Familie ihrer Mutter gab es eine langjährige Tradition, die Töchter in weibliche Mysterien einzuführen, die den Verwandlungsmysterien der Priesterinnen des Altertums ähnelten. Als junges Mädchen hörte Gina die Geschichte ihrer Mutter über die Macht und Erhabenheit der Natur. Beide standen auf dem Bauernhof im Mittleren Westen der USA und beobachteten, wie sich ein Gewitter näherte. Ginas Mutter drückte das junge Mädchen an sich, und beide erlebten die Macht und das Wunder des Sturms. Weil sie auf einer Farm aufgewachsen ist, war Gina schon sehr früh mit den Kreisläufen des Lebens vertraut. Als kleines Kind lernte sie, daß der Tod ein natürlicher Teil des Lebens ist, da sie den Tod der Tiere auf der Farm jährlich beobachten konnte. Sie nahm ebenfalls an den Ritualen teil, die jedesmal zelebriert wurden, wenn ein Verwandter starb. Ihre stark religiöse, ländliche Familie kümmerte sich immer selbst um die Pflege und das Begräbnis der Toten. Die Leiche wurde im Haus der Familie aufgebahrt und von den Mitgliedern der spirituellen Schwesternschaft bewacht. Gina beobachtete mit allem Eifer das Ritual und fühlte sich in der Anwesenheit der Körper ihrer toten Verwandten ganz wohl. Sie glaubte, daß dieses letzte Stadium des Lebens, ebenso wie die Geburt, ein Teil der menschlichen Erfahrung ist. Als sie ein junges Mädchen war, wußte Gina, daß sie eines Tages ihren Platz in dieser Schwesternschaft einnehmen würde. Sie glaubte jedoch, daß ihre Zeit erst gekommen sei, wenn sie als Frau ein bestimmtes Alter erreicht hätte. Sie hatte andere Frauen erlebt, die in ihren Fünfzigern oder Sechzigern in diese Gesellschaft aufgenommen wurden. Gina nahm an, daß sich ihr Leben in den gleichen Bahnen bewegen würde wie bei den meisten Frauen in ihrer Familie: Sie würde schließlich heiraten, Kinder kriegen und ihrem Mann eine Unterstützung und Hilfe sein, um später eine spirituelle Ahnfrau zu werden. Obwohl sie ein robustes, eigensinniges junges Mädchen war, fügte sich Gina den Ansichten der Gleichaltrigen und der Familie, als es darum ging, einen Ehemann zu finden. Sie entschied sich für einen jungen Mann, der, den anderen zufolge, zu ihr paßte, zu dem sie selbst aber keine besondere Beziehung oder Verbindung hatte. Sie heiratete sofort nach ihrem College-Abschluß, und als sie einundzwanzig Jahre alt war, unternahm sie mit ihrem Ehemann eine Reise nach Europa. Kurz nach dem Antritt ihrer Reise machte Gina eine Erfahrung, die ihr Leben ändern sollte und die dazu führte, daß sie lange vor ihrer Zeit die Rolle einer Weisen Frau übernahm. Auf ihrer Reise waren Gina und ihr Ehemann in einen schweren Zugunfall verwickelt. Der Zug fuhr zu schnell und entgleiste in einer Kurve an einem Berghang. Alle Passagiere, die auf der rechten Seite der Waggons saßen, kamen zu Tode; diejenigen, die auf der linken Seite, weitab vom Fenster saßen, fielen auf die Körper der Toten und wurden durch diese Abfederung gerettet. Gina erinnert sich an ihr Entsetzen, als ihr bewußt wurde, daß ihr Fall durch die zerschmetterten Körper der anderen gedämpft wurde. Nach dem Zugunglück litt Gina ein Jahr lang an Zuständen, die sich am ehesten als posttraumatische Störungen beschreiben lassen. Sie hatte wiederholte Rückblenden dieses Ereignisses, schreckliche Alpträume und ertappte sich häufig dabei, völlig grundlos zu weinen. Bei einer Gelegenheit, als sie das Bett in ihrer Wohnung bezog und das Bettuch ihr Gesicht streifte, wurde sie besonders stark überwältigt von der Erinnerung an das Hemd eines Mannes, dessen Körper ihren Fall abgefedert hatte, und sie brach in Tränen aus. Gina versuchte, diesem Unglück eine Bedeutung abzugewinnen. Ihre Mutter war bemüht, sie in dem Glauben zu bestärken, daß der Unfall einen Zweck in ihrem Leben habe; Gott habe sie gerettet und auserwählt, damit sie eine bestimmte Aufgabe übernehme. Die religiöse Tradition, in der Gina aufgewachsen war, trug dazu bei, daß sie die Auslegung ihrer Mutter akzeptierte, und von diesem Zeitpunkt an definierte sie ihr Leben als eine besondere Mission. Sie mußte sich auf eine besondere Tätigkeit vorbereiten, die einzig ihr vorherbestimmt war, eine Aktivität, die im Namen Gottes auf dieser Welt durchgeführt werden mußte. Während sie sich von ihrem traumatischen Erlebnis erholte, erinnerte sie sich an ihre Erfahrungen, die sie mit dem Tod gemacht hatte, und an die Ruhe, die über sie kam, als sie bei den sterbenden Tieren auf der Farm ihrer Eltern wachte. Sie glaubte, vielleicht besonders dazu berufen zu sein, Menschen in den letzten Stunden ihres Lebens hilfreich zur Seite zu stehen, d. h. Sterbehilfe zu leisten: eine klassische Aufgabe einer Weisen Frau. Gina bezeichnet sich selbst als die letzte Kartenabreißerin, als die Person, die am Eingang zur nächsten Welt steht, um Leuten bei der Reise von einem Stadium des Seins in das nächste behilflich zu sein. Gina sagt über sich selbst: »Ich fühlte mich absolut zu den Übergangsphasen im Leben hingezogen, aber ich weiß herzlich wenig über Geburt. Darüber weiß ich wirklich nichts. Was aber die Übergangsphase des Todes anbetrifft, bin ich gut informiert. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß es sich dabei um eine absolut grundsätzliche Angelegenheit handelt. Es ist ein außergewöhnliches Privileg, Zeuge dieser Ereignisse zu sein und daran teilnehmen zu dürfen. Und wenn man sogar nur im entferntesten eine Unterstützung leisten kann, so ist das etwas, was das Leben ändern mag.« Als Gina und ihr Ehemann von ihrer Europareise zurückkehrten, begann sie, sich auf das, was sie als ihre Lebensaufgabe betrachtete, vorzubereiten. Wenn sie sich auf ihre Arbeit bezieht, so spricht sie von der Arbeit schlechthin, von ihrer besonderen Berufung, Sterbehilfe zu leisten. Gina hat eine medizinische Ausbildung absolviert und arbeitete mit Leuten, die ernsthaft krank waren und sich in der letzten Phase ihres Lebens befanden. Zeitweise arbeitete Gina in einem Organspender-Programm, und es war ihre Aufgabe, sich der Familien der Organempfänger anzunehmen, indem sie diese über die Operation und deren Folgen informierte. Bald stellte Gina jedoch fest, daß sie ein besseres Verhältnis zu den Familien der Organspender hatte. Sie hatte in der Tat den Eindruck, daß sie durch den Umgang mit dem gespendeten Organ der Person beistand, die letztendlich zu Tode gekommen war. Es wurde für Gina äußerst wichtig, daß der Akt des Organspendens im Hinblick auf die gesamte Lebenserfahrung dieser Person einen Sinn ergab. Obwohl die Organspende nach dem Tode des Spenders erfolgt, glaubte Gina, daß dieser letzte Akt in das Leben des Spenders integriert werden sollte; im Kontext dieses Lebens sollte diese Tatsache eine Bedeutung erhalten. Deshalb nahm sich Gina die Zeit herauszufinden, wer der Spender war und wie er oder sie gestorben war. Gina engagierte sich stark in ihrem Beruf und betrachtete ihre Tätigkeit als eine spirituelle Berufung. Zu dieser Zeit beschloß Gina, keine Kinder zu bekommen und ihre Ehe zu beenden. In beiden Fällen glaubte Gina, daß diese etwas traditionelleren weiblichen Rollen sich nicht mit ihrer Berufung vereinbaren ließen; sie konnte sich nicht vollständig ihrer Aufgabe zuwenden, Menschen von einem Leben in das nächste zu begleiten, wenn sie eine ernsthafte Beziehung unterhielt oder wenn sie Kinder zu bemuttern hätte. Der Entschluß, keine Kinder haben zu wollen, war für Gina besonders wichtig, da sie eine sehr enge Beziehung zu ihrer Mutter und der Schwesternschaft von den Frauen der Großfamilie hatte. Sie glaubte jedoch, das Stadium biologischer Mutterschaft auslassen zu müssen, wenn sie sich ihrer Gabe und der Entwicklung ihrer Kräfte als Weise Frau wirklich ernsthaft zuwenden wollte. Interessanterweise hat Gina in den letzten Jahren eine Nichte gefunden, der sie einen Teil ihrer Weisheit als spirituelle Frau weiter gibt. Wie bei den alten Priesterinnen ist es wichtig, daß die Eingeweihte ein Mitglied der Familie ist, wobei es sich bei den neuen Anhängern nicht um eine biologische Tochter handeln muß. Durch die Vermittlung spiritueller Weisheit ist es möglich, eine Beziehung herzustellen und aus der neuen Schülerin eine spirituelle Tochter zu machen. Als sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit verstärkt der Aids-Epidemie zuwandte, war sich Gina bewußt, daß ihre Zeit gekommen war, in ihrer Rolle als Weise Frau völlig aufzugehen. Aids, eine Krankheit, die die Gesellschaft nicht nur mit einer medizinischen Krise, sondern ebenso mit einem spirituellen Dilemma konfrontiert, war der Bereich, in dem Gina ihre Talente zur vollen Entfaltung bringen sollte. Anfangs war sie damit beschäftigt, in einem großen städtischen Krankenhaus eine Aids-Abteilung aufzubauen, in der die kranken Männer und Frauen versorgt wurden. Ihren Kollegen fiel sehr schnell auf, daß Gina eine besondere Gabe besaß, anderen Menschen in den letzten Augenblicken ihres Lebens Beistand zu leisten und ihnen den Übergang zu erleichtern. Es wurde in der Abteilung fast schon zur stehenden Redewendung, daß die Patienten auf Gina zu warten schienen, um zu sterben. Sie würden den Wandel überstehen, weil sie wußten, daß sie sich bei Gina in den Händen einer erfahrenen Praktikerin befanden, die sie bei ihrer letzten Verabschiedung von dieser Welt in die nächste begleiten würde. Gina berichtet, daß einige ihrer Kolleginnen anfangs irritiert waren, als sie weiterhin mit einem ihrer Patienten sprach, obwohl der Monitor eindeutig den Tod des Patienten anzeigte. Gina hatte das Gefühl, immer noch mit dem Geist der anderen Person zu kommunizieren, obwohl diese schon gestorben war. Während ihrer Arbeit mit Aids-Patienten machte Gina eine persönliche Erfahrung, die sie wiederum in ihrer Rolle als Weise Frau bestärkte. Bei ihrer Schwägerin wurde eine tödliche Krankheit diagnostiziert, und Ginas Bruder bat sie, sich in den letzten Monaten des Lebens seiner Frau um diese zu kümmern. Gina begleitete ihre Schwägerin, als diese sich langsam von den wichtigen Menschen und Orten ihres Lebens verabschiedete und auf den Tod vorbereitete. Gina hielt am Abend des Todes ihrer Schwägerin Totenwache, »als die Seele der Frau deren Körper verließ«. Obwohl sich die Belegschaft der Intensivstation beim Eintritt eines Todes gerne rar macht, standen diesmal die Ärzte und Schwestern in einer Dreierreihe am Sterbebett, um Gina bei der Ausübung ihrer Begabung zu beobachten. Gina begleitete die Seele der Schwägerin aus deren Körper und zitterte, als die junge Frau starb.
Gina fühlte sich viele Wochen nach diesem Ereignis aufgezehrt und erschöpft; sie fragte sich, ob sie tatsächlich bereit wäre, die Berufung einer Frau der Mysterien annehmen zu können. Damals suchte Gina eine Spiritistin auf, die viele Jahre älter war und große Erfahrung in der Kunst der Sterbehilfe besaß. Als sie Gina sah, sagte sie zu ihr: »Mein Mädchen, du hast diese Frau bis an die Grenzen deiner physischen Kräfte begleitet. Wärst du einen Schritt weiter gegangen, wäre das dein eigener Tod gewesen.« Durch dieses Ereignis hat Gina gelernt, in der Verrichtung der Arbeit einer Weisen Frau die eigenen Grenzen zu respektieren; obwohl man eine Person bis zum letzten Stadium des sterblichen Lebens begleiten kann, ist es nicht möglich, mit dieser Person den letzten Schritt zu vollziehen; man braucht andererseits einen spirituellen Partner, um die eigene Kraft und das eigene Leben zu erhalten. In den letzten Jahren wurde Gina von dieser Spiritistin ausgebildet. Ihre Initiation erfolgte auf eine formale und erfahrene Art und Weise, nachdem Gina diese Frau um Rat aufgesucht hatte. Die Frau nahm sie als Lehrling auf, weil sie bemerkte, daß Gina das Talent und die Fertigkeiten besaß, eine Weise Frau zu werden. Gina wurde bewußt, daß ihre Lebenserfahrung bis zu diesem Zeitpunkt aus einer Aneinanderreihung von Vorbereitungen und Initiationen für die Arbeit bestand, die nun ihr Leben bestimmt. Manchmal bedauert sie, die üblichen Aufgaben der Lebensmitte übersprungen zu haben. Wie sie selbst meinte, waren Geburt und der Schöpfungsakt Dinge, über die sie nur wenig weiß. Dennoch hat Gina das Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, indem sie eine Weise Frau wurde. Zu Beginn ihrer fünfziger Jahre glaubt sie, die Frau zu werden, die sie schon immer sein wollte. Gina erzählt, über viele Jahre in ihrem Leben das Gefühl der Leere und Sehnsucht verspürt zu haben, eine Sehnsucht, die sie nicht artikulieren oder genau identifizieren konnte. Über viele Jahre war sie bemüht, diese Leere mit Aktivitäten oder Beziehungen auszufüllen; ihre erste Ehe ging in eine zweite erfolglose Ehe über. Schließlich kam sie zu der Einsicht, daß sie diese innere Sehnsucht durch Aktivitäten der Lebensmitte ausfüllen könne. Seit ihrer Erfahrung, die sie vor vielen Jahren mit dem Tod gemacht hatte, hat sie mehr oder weniger darauf gewartet, in dem Leben einer Weisen Frau völlig aufzugehen. Nun, da sie altersmäßig und geistig gesehen eine Weise Frau ist, fühlt sich Gina zufrieden; sie fühlt sich erfüllt und beschreibt ihren Zustand als »völlig zu sich selbst gefunden zu haben«. All die Bilder von älteren Frauen tragen dazu bei, uns von den realen Erfahrungen der Frauen im letzten Stadium ihres Lebens zu distanzieren. Die Nette Alte Dame und die Große Mutter sind weiter nichts als gealterte Versionen der Bilder von jungen Frauen und Frauen mittleren Alters. Diese übertragenen Vorstellungen leugnen, daß sich das hohe Alter von den früheren Lebensstadien unterscheidet. Frauen mögen älter werden, aber in Wirklichkeit bleiben sie die gleichen. Mit den Bildern von der Hexe, der Alten Jungfer und der Weisen Frau offenbart sich der reale Wunsch unserer Kultur, eine Distanz zu der älteren Frau herzustellen. Ob sie als dämonisch, verbittert oder magisch betrachtet wurden, die Images von älteren Frauen entsprechen Personen, die außerhalb der menschlichen Gemeinschaft leben. Sie sind nicht wie wir, und wir werden nur dann mit ihnen konfrontiert, wenn wir uns außerhalb der traditionellen Rollen bewegen. Es verwundert nicht, daß diese Außenseiter-Images eine besondere Macht auf Frauen ausüben, die das Gefühl haben, am Rande der Gesellschaft zu stehen.