Es wurde schon oft behauptet, daß alle Weiblichkeitsimages, die Frauen in Versuchung führen und letztendlich in die Falle locken, Produkte männlicher Phantasien und Wünsche sind. Obwohl zu bezweifeln ist, ob dies auch auf die Images der mittleren oder späteren Lebensphase von Frauen zutrifft, scheint dies für junge Frauen durchaus zuzutreffen. Die idealisierten Bilder von den jungen Frauen haben ihren Ursprung in der Vorstellungswelt der Männer. Diese Bilder spiegeln wider, wie Männer junge Frauen und vielleicht die Frauen insgesamt am liebsten sehen, zumal die Images aus der Lebensphase der jungen Frauen oft ein Synonym für die Images der Weiblichkeit schlechthin sind. [1] Bei diesen Images handelt es sich um Bilder von Frauen, von denen Männer bezaubert, unterhalten und gelegentlich auch verführt werden; im allgemeinen handelt es sich um Frauen, die leicht zu kontrollieren sind und denen selten etwas Einschüchterndes anhaftet, in den seltensten Fällen sind sie von einer Aura beunruhigender Macht umgeben, die aus einer Mischung von Sexualität, Begehren und Gefährlichkeit besteht. Unabhängig von ihrer besonderen Form werden uns mit den Images der Lebensphase der jungen Frauen ausschließlich Bilder von kindlichen Frauen präsentiert, Frauen, die nicht erwachsen werden können, wollen oder nicht wissen, wie das geschehen könnte. Sie mögen zwar den Körper einer Frau haben, sind aber innerlich Mädchen geblieben. In ihrer kindlichsten und hilflosesten Verkörperung ist die junge Frau das Ewige Mädchen. Auf der Beziehungsebene wird sie zur Gehorsamen Tochter und verhält sich wie Persephone, die Gehorsame Tochter aus der griechischen Mythologie, die nur in den acht Monaten eines Jahres aufblüht, die sie bei ihrer Mutter verbringt. Die Gehorsame Tochter lebt nur in und durch ihre Beziehungen mit realen oder symbolischen Eltern. Ist sie unabhängig und sorglos, dann ist die kindliche Frau ein Freigeist, der es vorzieht, Zwängen und Verantwortungen aus dem Weg zu gehen und der, wie eine Frau sagte, »seinem Glück hinterherläuft«. Jedes dieser Images, das Ewige Mädchen, die Gehorsame Tochter und der Freigeist, sind aufgrund ihres asexuellen Charakters in einem gewissen Sinne kindlich. Das Ewige Mädchen ist zu naiv, die Gehorsame Tochter zu verantwortungsvoll und der Freigeist zu stark mit sich selbst beschäftigt, um sich von Leidenschaften oder sinnlichen Freuden beeinflussen zu lassen. Zwei weitere Bilder aus der Jugendphase vermischen Sexualität mit Mädchenhaftigkeit. Die Charmeurin bietet uns das Bild einer jungen Frau, die mit ihrer Sexualität flirtet. Da sie ihrer Rolle als junge Frau verhaftet bleibt, hat ihre Sexualität eher den Charakter eines zukünftigen Versprechens, als realer Ausdruck von Leidenschaft und Begehren zu sein. Sie ist scheu, verspielt und zu jeder Neckerei aufgelegt. Nur das Bild der Lolita konfrontiert uns mit der jungen Frau, die zur sexuellen Verführerin - ob als Sklavin der Liebe oder als dämonische Mätresse - geworden ist. Obwohl diese Images auf Phantasien über junge Frauen basieren, sind sie als Ideale für Frauen mittleren und fortgeschrittenen Alters ebenso wichtig wie für junge Frauen. Unabhängig von ihrem tatsächlichen Alter haftet einigen Frauen durchs ganze Leben etwas »Mädchenhaftes« an. Als psychologische »Mädchen« sind sie für immer und ewig der verführerischen Macht der Images der jungen Weiblichkeit ausgeliefert. Liebe, Fürsorge und Anerkennung sind für sie Belohnungen, die denen zustehen, die diesen Idealen entsprechen.
Das Ewige Mädchen
Ob sie nun »Papas kleines Mädchen« oder »Gottes süßer Engel« ist, das Ewige Mädchen untersteht der Kontrolle eines anderen. Sie gehört Gott oder ihrem Vater, aber gewiß nicht sich selbst. In erster Linie ist das Ewige Mädchen kindlich. Meist wird es als dünn, zierlich und unscheinbar dargestellt. Es spricht mit leiser Stimme, hinterläßt einen prüden und naiven Eindruck, trägt langes blondes Haar und errötet, wenn es irgend etwas beängstigt oder einschüchtert. [2] Es sollte nicht überraschen, wenn eine derartig idealisierte junge Frau Probleme mit dem Altern und dem Erwachsenwerden hat. In Romanen entledigen sich die Autoren dieses Charakters, indem sie dessen vorzeitigen und tragischen Tod erfinden. [3] Natürlich haben es die wirklichen Frauen, die mit dem Image des Ewigen Mädchens identifiziert werden, nicht leicht. Es ist ihnen nicht möglich, nach ihrem ersten Auftritt den passenden Abgang zu finden, so daß sie in unserer Erinnerung ewig jung bleiben. Wenn eine Frau mit dem Ewigen Mädchen identifiziert wird, sind wir geneigt, ihre Mädchenhaftigkeit gegenüber jedem Anzeichen von Intensität und Engagement zu bevorzugen. Als Beispiel dieses Phänomens führt Adrienne Rich die Dichterin Emily Dickinson an. [4] Ihr ganzes Leben hindurch und sogar nach ihrem Tod im Alter von fünfundfünfzig Jahren fiel sie unter die Kategorie Mädchen. Ihre sanfte, liebenswürdige Poesie und die Tatsache, daß sie ihren Freunden oft Sträuße weißer Blumen schickte, machten sie allgemein bekannt und trugen zu ihrer Unsterblichkeit bei. Rich sagt, daß ihr Ruf als mädchenhafte und hinreißende Schriftstellerin darüber hinwegtäuscht, daß sie gleichwohl eine leidenschaftliche, exaltierte, zornige und sexuelle Frau war. Als junge Frau war Dickinson selbstbeherrscht und fest entschlossen, nach ihren eigenen Maximen zu leben; dieser Aspekt ihrer frühen Entwicklung wird in Biographien dieser Dichterin zugunsten einer Betonung ihrer kindlichen Eigenschaften häufig vernachlässigt. Die Mädchenhaftigkeit des Ewigen Mädchens impliziert einen starken Hang zur Passivität. Viele Schriftsteller haben die Darstellungen junger Frauen in Volkserzählungen und Märchen hervorgehoben, in denen sie als Frauen beschrieben werden, die passiv auf einen Helden oder Prinzen warten, der sie entweder rettet oder ihr Leben mit Sinn und Engagement erfüllt. [5] Dornröschen, Aschenputtel, Schneewittchen und Rapunzel, alles Ewige Mädchen, warten über die Hälfte ihres Lebens darauf, daß etwas geschieht. Diese jungen Frauen schlafen während des größten Teils des Handlungsablaufs der Geschichten. Neben dieser Eigenschaft passiven Wartens wissen die Märchen oft über ernsthafte Probleme zu berichten, in die die Ewigen Mädchen geraten, sobald sie ihre Passivität aufgeben. In der Geschichte von Dornröschen stürzt sich unsere Heldin ins Unglück, indem sie den verschlossenen Raum im Turm erkundet. Als sie ihrer Neugier nachgibt, trifft sie auf die böse Schwiegermutter, die als garnspinnende alte Frau verkleidet ist. Sowie Dornröschen aktiv wird, wird sie bestraft, indem sie in einen langen, passiven Schlaf versetzt wird. Die Botschaft dieser Geschichte ist eindeutig: Passivität ist das angemessene Verhalten eines Ewigen Mädchens, und wenn sie es wagt, dieses Verhalten zu durchbrechen, wird sie sich selbst ins Unglück stürzen. Es wurde darauf hingewiesen, daß die Märchen nicht nur vom Warten der jungen Frauen handeln, sondern uns vom Warten auf ein besonderes Ereignis berichten.
Die Frau wartet, um Objekt des Begehrens und die Braut irgendeines schönen, treuen Prinzen zu werden. [6] Wenn ihr Warten beendet ist, hat sie ihre ehemalige Unabhängigkeit verloren. Sie wird nun zu einem Objekt, zu einer Belohnung in einem Drama, in dem der Prinz die Hauptrolle spielt. Jung bezeichnete dieses idealisierte Ewige Mädchen als femme homme, eine Frau, die passiv darauf wartet, Projektionsfläche der Vorstellungen, des Begehrens und der Wünsche einiger Männer zu werden. [7] Diese blauäugige Empfänglichkeit des Ewigen Mädchens ist im wesentlichen passiv. Im Gegensatz zu jungen Frauen, die im allgemeinen keinen Images unterworfen sind und sich aktiv im Leben behaupten, wartet das Ewige Mädchen wie ein leeres Gefäß, das von allem und von jedem, der dazu bereit ist, ausgefüllt werden kann. Da sie kindlich und passiv ist, überrascht es nicht, daß das idealisierte Ewige Mädchen darüber hinaus auch hilflos ist. Geschichten wissen darüber zu berichten, daß sie häufig von menschlichen, tierischen oder übernatürlichen Ungeheuern gequält wird. [8] Im täglichen Leben glaubt sie, selbst bei den banalsten Angelegenheiten ohne die Hilfe anderer nicht auskommen zu können. Eine Frau, die Anfang Vierzig war, hatte das Gefühl, völlig überfordert zu sein, und brach in Panik aus, sowie irgendein mechanisches Gerät nicht mehr funktionierte. Ihre einzige Lösung bestand darin, ihren Vater anzurufen, der ihr zu Hilfe eilte. Das Klischee von einer Frau, die angesichts eines überzogenen Kontos oder eines platten Reifens völlig hilflos und kindlich reagiert, ist schon Thema zahlreicher Witze gewesen. Obwohl sie wegen ihrer Hilflosigkeit verspottet wird, scheint das Ewige Mädchen paradoxerweise gerade deswegen geschätzt zu werden. Vielleicht gab es die eklatanteste und destruktivste Idealisierung des hilflosen Mädchens in China, wo mehr als einer Million Frauen im frühen Mädchenalter wegen des vorherrschenden Weiblichkeitsideals die Füße abgebunden und verkrüppelt wurden. [9] Beim Fußbinden wurden die Zehen der Mädchen unter die Fußsohle gedrückt und fest abgebunden, damit der Fuß die Form einer kleinen Schachtel bekam und somit das sichere Auftreten und Laufen unmöglich wurde. Eine Frau ging wie ein kleines Kind, das mit jedem Schritt Gefahr lief, nach vorne zu fallen. Anstatt sich wie eine lebensfähige Erwachsene zu fühlen, mußte eine Frau glauben, kontinuierlich Laufen zu lernen, wie ein kleines Kind, dessen Schritte noch sehr unsicher sind und das auf die Unterstützung anderer angewiesen ist. Diese zerbrechliche, verkrüppelte und kindliche Haltung galt bei chinesischen Frauen als ein Zeichen von Schönheit, und in der Tat waren Frauen das Objekt erotischen und sexuellen Begehrens, weil sie sehr kleine, verkrüppelte Füße hatten. Eine Frau, die, aus welchen Gründen auch immer, keine abgebundenen Füße hatte, wurde als häßlich und abstoßend angesehen und verstoßen. In diesem Fall wurde eine ganze Kultur von dem Bild des Ewigen Mädchens beherrscht. Es ist eine befremdliche Pervertierung der Natur, wenn Hilflosigkeit und Verkrüppelung zum begehrenswerten Schönheitsideal. stilisiert, Stärke und sicheres Auftreten dagegen als häßlich verunglimpft werden; dies ist jedoch ein Indiz für die Macht von Schönheitsidealen. Hilflosigkeit macht eine Frau nicht nur verwundbar und abhängig, sondern entbindet sie auch jeder Verantwortung, für sich selbst zu sorgen.
Eine Frau, die z. B. kaum laufen kann, kann sich bestimmt nicht um ihren eigenen Haushalt kümmern oder sich außerhalb ihrer vier Wände durchs Leben schlagen. Auf keinen Fall kann ihr eine Verantwortung übertragen werden, und man kann sie von jeder aktiven Tätigkeit im Hinblick auf die Ereignisse in ihrem Leben entbinden. Demzufolge ist das Ewige Mädchen auch die verantwortungslose Frau. Frauen, die sich bewußt oder unbewußt mit dem Image des Ewigen Mädchens arrangieren, sichern sich, zumindest für eine gewisse Zeit, eine Position, in der sie geliebt und begehrt werden. Sie stellen sicher, und zwar ebenfalls für einen gewissen Zeitraum, daß sie geschätzt, umsorgt und beschützt werden. Wie die junge Ehefrau Nora, in lbsens gleichnamigem Drama, opfert die Frau ihre Autonomie und ihre eigene Entwicklung, um Liebe und Sicherheit zu erhalten. [10] Sie wird entmenschlicht, indem sie in einer künstlichen Welt, in einem Puppenhaus, lebt und ein Objekt des Begehrens bleibt, jedoch keine aktiv handelnde Person mit eigenen Rechten ist. Wenn sich Frauen zu stark mit diesem Image vom idealen Mädchen, dem Ewigen Mädchen, identifizieren, kann das für sie verheerende psychische Folgen haben. Erst einmal muß man sich verängstigt und schüchtern fühlen, wenn man tatsächlich von seiner Kindlichkeit, Hilflosigkeit und Passivität überzeugt ist. Die Welt erscheint mächtig und bedrohlich, und die junge Frau glaubt nicht, die Macht oder Kraft zu besitzen, sich schützen und verteidigen zu können. Weil sie so verletzbar ist, lebt sie in ständiger Angst, ihre zwingend notwendigen Beschützer zu verlieren. Paradoxerweise dient diese Angst dazu, ihre pathologische Identifizierung mit dem idealisierten hilflosen Mädchen zu verewigen. Ihr unbewußter Gedankengang verläuft folgendermaßen: »Ich bin schwach und hilflos. Er liebt mich, weil ich schwach und hilflos bin. Ich brauche ihn, damit er mich beschützt. Ich muß schwach und hilflos bleiben, damit er mich weiterhin liebt und beschützt.« Eine Frau, die mit der Hilflosigkeit verheiratet ist, muß zwangsweise ihre eigene Kraft fürchten, da diese Kraft das Netzwerk ihrer männlichen Beschützer gefährdet. Deshalb verurteilt sie sich dazu, schwach zu bleiben, um ihre Sicherheit zu garantieren. Falls sie nicht gerade furchtbar verängstigt ist, ist die kindliche Frau oft von Gefühlen allgemeinen Unbehagens und allgemeiner Verwirrung geplagt. Da sie sich selbst nicht als eine aktiv handelnde Person reflektiert, sondern als ein passives Gefäß, kennt sie häufig nicht einmal ihre eigenen Wünsche. Sie ist von ihrem wahren Selbst abgeschnitten, so gering es auch entwickelt gewesen sein mag, und sie muß auf andere warten, die ihr sagen, was sie tun soll, was sie tun möchte und was sie tun kann. Demzufolge fühlt sie sich, angesichts einer zu fällenden unabhängigen Entscheidung, panisch, unentschlossen und unfähig, den Lauf der Dinge zu bestimmen. In einer etwas extremeren Version wurde darauf hingewiesen, daß es sich bei einigen agoraphobischen Frauen um Frauen handelt, die sich so stark mit dem hilflosen und verwundbaren Mädchen identifiziert haben, daß sie ohne die Unterstützung einer anderen Person wahrhaftig Angst haben, das Haus zu verlassen ohne Hilfe [11]. Das Selbstbewußtsein dieser Frauen wird vom Ewigen Mädchen so stark dominiert, daß es ihnen nicht möglich ist, sich ein anderes Leben vorzustellen. Die Entwicklung gewisser pathologischer Störungen der Eßgewohnheiten mag eine sogar noch lebensbedrohlichere Folge der Identifizierung mit dem idealisierten Mädchen sein. [12] Der idealisierte Körper eines Mädchens ist der einer Zwölfjährigen; er ist noch schlank, in seiner Erscheinung etwas knabenhaft und hat noch nicht die Fülle und die Rundungen einer reifen Frau. Jemand, der mit dem Bild des idealisierten Mädchens konform geht, darf nicht dulden, den Körper einer reifen Frau zu bekommen. In einigen extremen Fällen werden Frauen lieber hungern, als dieses idealisierte Körper-Image aufzugeben. Frauen, die mit dem Image des idealen, hilflosen Mädchens identifiziert werden, sind einer doppelten Gefahr ausgesetzt. Sie fühlen sich nicht nur persönlich schwach, sondern sind auch abhängig von der Großzügigkeit und dem Wohlwollen der Männer, die als ihre Retter auftreten. Viele Frauen haben passiv auf den Schönen Prinzen gewartet, der sich als ein Wolf im Schafspelz entpuppt. Wenn man die eigene Sicherheit und die eigene Identität einem anderen überlassen hat, ist man den guten Absichten dieser anderen Person ausgeliefert. Obwohl es sich bei dem Retter um einen sanften und freundlichen Mann handeln mag, hat man sein Selbst eingebüßt; handelt es sich dabei um einen dämonischen und grausamen Mann, so steht nicht nur der Verlust des psychologischen Selbstbewußtseins auf dem Spiel, sondern man bringt sich sogar physisch in Gefahr. Die Verknüpfung einer Frau mit dem Bild des Ewigen Mädchens kann von ihren wichtigen Bezugspersonen so stark und so systematisch untermauert werden, daß sie, unabhängig von ihren wirklichen Lebensumständen, diese Verknüpfung aufrecht erhält. Frauen aller Lebensalter - verheiratete Frauen, Frauen mit Kindern ebenso wie junge, alleinstehende Frauen sind den Verlockungen des Ewigen Mädchens ausgesetzt.
Lizas Geschichte
Trotz der Tatsache, daß sie Mutter zweier Kinder ist, hat Liza immer noch mit dem Image, ein Mädchen zu sein, zu kämpfen. Bis jetzt ist sie sich nicht im klaren darüber, ob sie es zulassen soll, eine erwachsene und reife Frau zu werden. Liza ist die Jüngste von vier Kindern, und für ihre Eltern wird sie immer ein Kind bleiben. Am Tag ihrer Hochzeit sagte ihr Vater zu ihr: »Was immer du machst, du wirst für mich sechzehn Jahre alt bleiben.« Der Druck, der auf Liza lastete, nicht erwachsen zu werden, war sehr stark. Wann immer sie den Versuch unternahm, irgendwelchen neuen oder unabhängigen Aktivitäten nachzugehen, wurde sie von ihren Eltern bedauert: »Arme Liza, alles ist so schwer.« Anstatt sie zu ermutigen oder ihre Unabhängigkeit zu unterstützen, vermittelten sie den Eindruck, als ob Erwachsenwerden das Schwierigste dieser Welt sei. Ununterbrochen wurde sie von ihnen ermutigt, an den Schönen Prinzen zu glauben, einen mächtigen Mann, der sie von den Verantwortungen des Erwachsenendaseins befreien und ihr ermöglichen würde, auf ewig ein Kind zu bleiben. Es überrascht nicht, daß Liza als Teenager gestörte Eßgewohnheiten entwickelte. Heute glaubt sie, daß ihre Anorexie in einem direkten Zusammenhang mit ihrer Furcht steht, den Körper einer erwachsenen Frau zu bekommen. Sie war sich sicher, daß sie ein Mädchen bleiben mußte, um sich weiterhin der Liebe und Zuneigung ihrer Eltern versichern zu können. Folglich wurde sie unruhig und verängstigt, als sich ihr Körper zu entwickeln begann. Sie hungerte im wahrsten Sinne des Wortes, um ein Image von sich zu erhalten, das ihren Eltern gefiel. Als Liza das Elternhaus verließ, um das College zu besuchen, faßte sie bewußt den Entschluß, sich von ihrer Familie und den Erwartungen ihrer Eltern zu trennen. Das College machte ihr Spaß, insbesondere die sozialen Aktivitäten, und im nachhinein glaubt sie, einen Teil ihrer Freiheiten dazu benutzt zu haben, ihre destruktiven Seiten auszuleben, indem sie z. B. trank und Drogen über jedes gesunde Maß hinaus konsumierte. Gegen Ende des ersten Studienjahres bestanden ihre Eltern auf ihrer Rückkehr. Sie hielten sie für eine verantwortungslose junge Frau, die ohne sie kein unabhängiges Leben führen könne. Als Liza den Wunsch äußerte, in den Sommerferien zu arbeiten und weiterhin getrennt von ihrer Familie zu leben, drohten ihr die Eltern mit der Einstellung ihrer finanziellen Unterstützung; wenn sie unabhängig sein wolle, dann sollte dies auch ganz konsequent geschehen. Für eine gewisse Zeit nahm Liza die Herausforderung an und ging ihren eigenen Aktivitäten jenseits des kontrollierenden Blicks ihrer Eltern nach. Der Druck des Isoliertseins und Abgeschnittenseins war für sie jedoch zu stark, und innerhalb von ein paar Monaten stellte sie an sich Symptome von Unruhe und Depression fest. Das, was sie als ihren »Nervenzusammenbruch« bezeichnet, trieb sie zurück in die Arme ihrer Eltern und eines Psychiaters. Liza fühlte sich durch diese Erfahrung total vernichtet. Ihr Versuch, nicht nur aus der Familie, sondern auch aus dem Bannkreis des Images eines Ewigen Mädchens auszubrechen, war fehlgeschlagen. Sie war gedemütigt und niedergeschlagen nach Hause zurückgekehrt, in dem Glauben, daß sie das Bild, das ihre Eltern von ihr hatten, akzeptieren müsse - eine Frau, deren Schicksal es war, für immer ein Mädchen zu bleiben. Nachdem sie sich von ihrem psychischen Erschöpfungszustand erholt hatte, kehrte sie zurück ins College. Nun fühlte sie sich jedoch besiegt und zeigte weitaus weniger Engagement als vor dem Streit mit ihren Eltern. Nach dem College nahm sie verschiedene Zeitarbeiten an und war sehr erfolgreich, bis sie von ihrem Arbeitgeber eine Dauerstellung angeboten bekam.
Sowie die Zeitarbeiten zu einer Dauerstellung wurden, brach Liza in Panik aus, war nicht mehr arbeitsfähig und wurde schließlich gekündigt. Wenn die Arbeit symbolisierte, ein selbständiger Erwachsener zu sein, dann war es Liza nur möglich, ihre Tätigkeit erfolgreich auszuführen, wenn es sich um eine Zeitarbeit handelte. »Zeitweise« konnte sie eine erwachsene Frau sein. Sowie ihr Durchhaltevermögen gefordert war, war sie beunruhigt und der Situation nicht mehr gewachsen. Mit Mitte Zwanzig lernte Liza ihren zukünftigen Ehemann kennen. Er war ein ausgeglichener, fürsorglicher Mann, der interessanterweise in einem Krisenzentrum arbeitete, als ihn Liza kennen lernte. Heute ist sie der Meinung, daß sie sich teilweise durch seine Tätigkeit angezogen fühlte. Als Mann, der die Krisen anderer Leute lösen konnte, war er ein potentieller Retter, und Liza sah in ihm jemanden, der ihrem Leben einen Halt gab. Ihre Eltern waren mit ihrem Entschluß zu heiraten nicht einverstanden, weil sie, Lizas Ansicht nach, jede Entwicklungsmöglichkeit unterbanden, durch die ihre Tochter zu einer erwachsenen Frau geworden wäre. Insbesondere mißbilligten sie jedoch den Mann ihrer Wahl, da er in ihren Augen als Nicht-Akademiker nicht zu ihrer Tochter paßte. Wiederum ließen ihre Eltern Liza wissen, daß sie nicht fähig war, erwachsen zu werden, Verantwortung zu übernehmen und ihre eigenen Entscheidungen zu fällen. Vielleicht spitzte sich für Liza der Konflikt, entweder ein Mädchen oder eine erwachsene Frau zu sein, in keinem anderen Bereich so zu, wie in ihrer Einstellung zur Geburt ihrer zwei Kinder. Als ihr erstes Kind zur Welt kam, fühlte sich Liza »völlig außer Kontrolle«. Sie erinnert sich, daß es ihr bei der Geburt unmöglich war, das Baby herauszupressen und daß sie von der Geburtshelferin angeschrien wurde: »Was ist mit Ihnen los? Pressen Sie!« Es ist bezeichnend, daß sich Liza während der Entbindung völlig außer Kontrolle fühlte, d. h. bei einem Ereignis, das für viele Frauen den √úbergang vom Mädchen zur reifen Frau symbolisiert. Als Liza mit ihrem Baby nach Hause kam, fühlte sie sich unfähig, eine Mutter zu sein. Das Kind weinte ununterbrochen, und Liza hatte Probleme mit dein Stillen. Nachdem sie eine Hebamme um Rat gefragt hatte und ihr gesagt wurde, daß sie es »falsch mache«, hatte Liza wiederum das Gefühl, in ihren Aufgaben als Mutter und als Erwachsene versagt zu haben. Als ihr Baby zu Hause war, versteifte sie sich darauf, daß sie einen Wickeltisch brauche. Sie wollte insbesondere den Tisch, den eine ihrer Freundinnen besaß, die sie als eine erfolgreiche und kompetente Mutter betrachtete. Sie glaubte, daß sie ihre Aufgaben nur dann erfolgreich bewältigen könne, wenn sie den Wickeltisch ihrer Freundin bekäme. Der Tisch wurde zum Symbol des Wandels, dem sich Liza unterziehen mußte. In mancher Hinsicht war es ihr eigenes jugendliches Ich, das sie auf den Tisch legen mußte, um eine an Wunder grenzende Transformation einzuleiten, indem sie sich von einem Ewigen Mädchen zu einer kreativen, fürsorglichen Mutter entwickeln würde. Zwischen den Geburten ihrer beiden Kinder hatte Liza eine Fehlgeburt. Wiederum geriet sie in Panik und außer Kontrolle. Als die Blutungen einsetzten, wurde sie insbesondere von dem spezifisch weiblichen Aspekt dieser Erfahrung verängstigt.
Sie sagte: »Ich mußte eine Erwachsene sein und wollte gerade aus diesem Grund sterben.« Die Vorstellung vom Tod ist eine nicht unbedeutende Erfahrung, zumal viele Frauen den √úbergang vom Mädchen zur Frau als eine Art Tod erfahren. Liza erlebte den Tod ihres jugendlichen Selbst, das einzige, was jemals von ihren Eltern geschätzt und bestätigt wurde, als ein Trauma; sie hat darum gerungen, ob sie ihre Jugendlichkeit abstreifen und die Rolle einer Frau mittleren Alters übernehmen sollte. Obwohl Liza berichtet, seit der Geburt ihres zweiten Kindes mit ihrer Rolle als Mutter besser zurechtzukommen, hat sie immer noch Probleme mit der Anorexie und ihrem Körperimage. Es ist für sie äußerst schwierig, die Vorstellung von einer körperlich voll entwickelten Frau zu akzeptieren. Trotz der Tatsache, daß sie ihre Kinder großziehen und pflegen möchte, hat sie ein ambivalentes Verhältnis zu der Tatsache, eine Frau mit entwickelten Brüsten und breiten Hüften zu sein. Sich der Welt physisch so zu präsentieren, käme einem Eingeständnis gleich, nicht länger ein Mädchen zu sein.
Für eine Frau, deren einzig positive Verbindung zu ihren Eltern durch die Tochter/Mädchenrolle bestand, ist ein derartiges Bekenntnis beängstigend, weil sie damit das Ende aller Beziehungen zu ihnen riskiert.
Aufgrund ihrer gestörten Eßgewohnheiten befand sich Liza in den letzten Jahren häufig in therapeutischer Behandlung. Vor kurzem hat sie sich entschlossen, die Einzeltherapie zugunsten der Partnerschaftstherapie aufzugeben. Ihr Entschluß ist teilweise darauf zurückzuführen, daß sie die typische Tochter-Vater-Beziehung, die mit einem männlichen Therapeuten entstehen kann, vermeiden wollte. In der Partnerschaftstherapie muß sie sich dazu bekennen, eine erwachsene Frau zu sein; nur Frauen, nicht Mädchen, sind Teil eines Ehepaares. Obwohl sie sich ihres Problems bewußt ist, ist Liza im √úbergangsstadium von der jungen Frau zur Frau mittleren Alters stecken geblieben. Es ist ihr immer noch nicht möglich, ihre Bindung zu dem Ewigen Mädchen aufzugeben, ein Ideal, über das sie sich viele Jahre selbst definierte und auf das sie von ihrer Familie festgelegt wurde.
Die Gehorsame Tochter
Ein dem Ewigen Mädchen verwandtes Image ist die Gehorsame Tochter, eine Idealvorstellung von einer Frau, die sich für immer durch die Beziehung zu ihren Eltern definiert. Die Gehorsame Tochter opfert ihren Erfolg als Erwachsene und ihre späteren Beziehungen, um das von ihren Eltern erwünschte gute Mädchen zu bleiben. Sie bricht das Studium ab, um der Mutter zu Hause bei der Erziehung der jüngeren Geschwister zu helfen; sie gibt ihre Verlobung auf, um ihren verwitweten Vater zu unterstützen; sie vernachlässigt ihre eigenen Kinder, um den Anforderungen ihrer herrschsüchtigen Mutter zu entsprechen. In ihrem Umgang mit Menschen ist sie oft hilflos und verwundbar, aber für ihre Eltern ist sie die verantwortungsbewußte kleine Soldatin, die, unabhängig von all ihren persönlichen Bedürfnissen, immer im Dienst ist. In der Geschichte »Die Schöne und das Biest« begegnen wir dem Prototyp einer Gehorsamen Tochter. Die Geschichte beginnt damit, daß der Vater der Schönen, ein Kaufmann, in Schwierigkeiten gerät, als er seine Handelsschiffe in einem Sturm verliert. Der Kaufmann muß seinen drei Söhnen und drei Töchtern eingestehen, daß sie das Glück verlassen habe und nun alle arbeiten müssen, um die Familie zu ernähren. Die drei Söhne verdingen sich bereitwillig als Arbeiter, nicht etwa, weil es »gute Söhne« sind, sondern weil es Männer sind, deren adäquate Reaktion auf eine Krise die Tat ist. Von den Töchtern erklärt sich nur die Schöne bereit, gemeinsam mit ihren Brüdern zu arbeiten. Ihre Motivation unterscheidet sich aber von der der anderen. Als Gehorsame Tochter tut die Schöne, was getan werden muß, um die Sorgen ihres Vaters und seinen Schmerz über die Lage der Familie zu lindern. Für die Schöne »war der Stolz in den Augen ihres Vaters Belohnung genug«. [13] Im Laufe der Geschichte unternimmt der Vater eine Reise, um seine verloren gegangene Schiffsladung wiederzufinden. Er fragt seine Töchter, ob sie irgendeinen Wunsch hätten, falls sein Unternehmen erfolgreich wäre. Die Schwestern der Schönen möchten gern schöne Kleider und Schuhe, die Schöne wünscht sich nur eine rote Rose und die sichere Rückkehr des Vaters. Auf seiner Reise lernt der Kaufmann das Schloß des Biestes kennen. Nachdem er sich eine Nacht ausgeruht hatte, bereitete er sich auf seine Rückkehr vor und erinnerte sich daran, daß sich die Schöne eine einzige Rose gewünscht hatte. Als er die Rose aus dem Garten des Biestes stahl, zog der Kaufmann den Zorn des Ungeheuers auf sich, das ihm mit dem Tod drohte, wenn nicht die Schöne aus Liebe zu ihrem Vater dessen Stelle im Palast einnehmen würde.
Als der Kaufmann nach Hause zurückkehrt und seinen Kindern von seiner Begegnung mit dem Biest erzählt, geraten seine Söhne in Wut. Sie wollen zum Schloß gehen und das Biest töten. Die Schöne weiß jedoch, was sie zu tun hat; bereitwillig nimmt sie das Opfer auf sich, durch ihre Rückkehr zum Schloß ihren Vater zu retten. Sie ist das makellose Image einer Gehorsamen Tochter. Für viele Frauen ist die Macht der Gehorsamen Tochter so stark, daß sie bis in ihre Lebensmitte und darüber hinaus diesem Bild verhaftet bleiben. Eine Frau namens Esther befand sich bis in ihre fünfziger Jahre in der Falle des Ideals der Gehorsamen Tochter. Esther erschien es ganz natürlich, ihr Studium abzubrechen, um in der Nähe ihrer verwitweten Mutter zu sein; es war selbstverständlich, daß sie weiterhin ihre Mutter jede Nacht vor dem Zubettgehen anrief, und zwar lange, nachdem sie schon verheiratet war und eigene Kinder hatte. Als Esther älter wurde, erkannte sie jedoch, daß ihre Mutter eine fordernde und taktierende Frau war. Als Esther in den mittleren Jahren war, hatte ihre Mutter verschiedene Krankheiten. Obwohl es sich durchaus um wirkliche Krankheiten handelte, nutzte sie diese Situation aus, um ihre einzige Tochter unter ihre Kontrolle zu bekommen und Pflege und Aufmerksamkeit zu fordern. Esther hatte das Gefühl, daß sie für die Pflege ihrer Mutter verantwortlich war, zumal diese eine alleinstehende Frau war. Um den körperlichen und seelischen Bedürfnissen ihrer Mutter gerecht zu werden, vernachlässigte sie oft ihre Arbeiten zu Hause und ihre eigenen Belange. Trotz ihres physischen und seelischen Stresses beschwerte sich Esther niemals bei ihrer Mutter und machte ihrem Gefühl nur ganz selten bei ihrem Ehemann Luft. Schließlich tat sie nur das, was man von ihr als Gehorsamer Tochter erwartete. In ihren Vierzigern hatte sie zwei streßbedingte Krankenhausaufenthalte, und ihr Arzt riet ihr, ihre zwischenmenschlichen Beziehungen ins Gleichgewicht zu bringen, um nicht ihre eigene Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Diese Warnung reichte aber nicht aus, sich den unerhörten Forderungen ihrer Mutter zu entziehen. Erst als ihr Mann einen Herzanfall erlitt, wurde Esther bewußt, daß sie neue Prioritäten zu setzen habe und sich stärker auf ihre Ehe und auf sich selbst konzentrieren müsse.
Eine derartige Verschiebung war notwendig, wenn sie die letzte Phase ihres Lebens in Frieden und Glück verbringen wollte. Esther dachte lange darüber nach, wie sie die Probleme mit ihrer Mutter lösen könnte, und beschloß, psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ihr war klar, daß sie das Verhalten ihrer Mutter nicht ändern konnte und riskieren müsse, ihre eigenen Beziehungen zu ändern, indem sie aufgab, die Gehorsame Tochter zu sein, und vielleicht dadurch die Gunst ihrer Mutter verlieren würde. Zu einer besonderen Gelegenheit beschloß Esther, an einem verlängerten Wochenende Ferien mit ihrem Mann außerhalb der Stadt zu machen. Dieser Entschluß folgte der Einsicht, ihrer Ehe und sich selbst mehr Zeit zu gönnen. Als sie ihrer Mutter sagte, daß sie über das verlängerte Wochenende nicht abkömmlich sei und für diese Zeit eine Krankenschwester bestellt habe, war jene außer sich und beschuldigte Esther, eine egoistische und undankbare Tochter zu sein. Dieser Vorwurf war nicht nur grausam und unzutreffend, er zerstörte auch Esthers Selbstverständnis. √úber Jahre hinweg hatte sie es zugelassen, über das Ideal der Gehorsamen Tochter definiert zu werden. Nichts ist für dieses Ideal zerstörerischer als der Vorwurf des Egoismus. Das wahre Wesen der guten Tochter besteht darin, selbstlos ihre Mutter und ihren Vater zu ehren. Esther erinnert sich, beim Vorwurf der Mutter innerlich gezittert, aber trotzdem an ihrem Entschluß festgehalten zu haben und auf deren Einfältigkeiten nicht mehr eingehen zu wollen. Als sie ihrer Mutter sagte, daß sie trotz aller Aufregung und Mißbilligung ihre Pläne nicht aufgeben würde, beruhigte sich diese schließlich und fügte sich den neuen Prioritäten ihrer Tochter. Nach dieser anfänglichen Auseinandersetzung wurde es für Esther immer leichter, für sich, ihre Kinder und ihre Ehe Entscheidungen zu treffen, die nun vor ihren Verpflichtungen gegenüber ihrer Mutter rangierten. Wenn sie auf ihr Leben zurückblickt, ist Esther höchst erstaunt, daß sie erst aus dem Image der Gehorsamen Tochter ausgebrochen ist, als sie beinahe schon selbst eine Großmutter war. Für eine andere Frau, Lana, war die Erfahrung, als Tochter versagt zu haben, eine Quelle von Schmerz und Selbstzweifel, die bis in ihre achtziger Jahre fortbestanden.
Lana war das älteste von vier Kindern einer hypochondrischen und intriganten Mutter. Soweit ihre Erinnerung zurückreicht, hat Lana für ihre Mutter gesorgt, sich um den Haushalt gekümmert und geholfen, ihre drei jüngeren Geschwister zu erziehen, wobei sie sich der Welt als die Verkörperung der Gehorsamen Tochter präsentierte. Ihre Mutter erfand ständig eine Krankheit, wodurch sie sich den Pflichten entzog, sich um ihre Familie zu kümmern. Lana erinnert sich daran, oft von der Schule nach Hause gekommen zu sein in der Angst, daß ein Krankenwagen vor dem Haus stehe, der ihre Mutter zu noch einem anderen Krankenhaus bringt, um noch eine Reihe von Untersuchungen durchzuführen, wegen noch einer anderen eingebildeten Krankheit. Lana sagte: »Ich hatte immer diesen Schmerz. Als ich von der Schule nach Hause ging, dachte ich darüber nach, was denn heute auf mich zukommen würde. Ich war zu jung, um mich die ganze Zeit damit herumzuschlagen.« Ihr ganzes Leben hindurch war Lana eine verantwortungsvolle Tochter, und sie erfüllte die Wünsche ihrer Mutter, obwohl diese sie manipulierte und kontrollierte. Lanas Gefühl, daß sie als Tochter versagt habe, ist nicht dadurch bedingt, daß sie sich ihrer Verantwortung entzogen hätte oder ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen wäre, sondern eher durch ihren latenten Zorn und Unmut. Die Gehorsame Tochter spielt nicht nur ihre Rolle, sie muß sich auch entsprechend fühlen. Lana wünschte sich jedoch oft, der Umklammerung ihrer Mutter zu entkommen, und kurz nach ihrem Universitätsabschluß wäre sie beinahe nach Oregon gezogen, weit weg von ihrer Mutter und ihren Verantwortungen. Lana mochte ihre Mutter nicht, und als diese schließlich im Alter von neunzig Jahren starb, war sie in einem gewissen Sinne erleichtert.
Das Gefühl, keine Verbindung zu ihrer Mutter zu haben und ihr keine Liebe entgegenbringen zu können, verursachten bei Lana ein Schuldgefühl, als ob sie in ihrer Aufgabe, eine wahrhaft gute Tochter zu sein, versagt hätte. Wenn andere gleichaltrige Frauen von ihren Müttern in einem Gefühl von Wärme und Liebe erzählen, ist sie verärgert und fühlt sich ausgeschlossen. Sie schämt sich, von ihrer eigenen Beziehung zu ihrer Mutter zu sprechen und anderen Leuten zu gestehen, wie sehr sie diese gehaßt hat und daß sie versagt habe, eine Gehorsame Tochter zu sein. Die wohl tragischsten Beispiele über die Verbundenheit der Frauen mit dem Image der Gehorsamen Tochter sind den Geschichten von Inzestopfern zu entnehmen. In dem Wunsch, ihre Väter zu schützen und ihre Familien zu erhalten, verleugnen manche Frauen die Realität ihrer eigenen Erfahrungen, selbst wenn sie sich dabei ständigen Gefahren aussetzen. Eine Frau wartete bis zu ihrem fünfzigsten Lebensjahr, um eine Therapie aufzunehmen und die Narben, die durch Jahre der Mißhandlung entstanden waren, zu hellen. Sie versagte sich jede Erinnerung an ihre eigene Geschichte, bis ihre Mutter und ihr Vater gestorben waren. Als Gute Tochter behielt sie dieses Geheimnis für sich, bis ihre Eltern für ihre Handlungen nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden konnten. Eine andere Frau verbrachte vierzig Jahre in einer psychiatrischen Anstalt und sprach erst dann über ihren Mißbrauch, nachdem sie sich als verrückte Person stigmatisiert hatte. Erst nachdem sie sich vergewissert hatte, daß man ihr nicht glaubte und daß ihren Eltern nichts geschehen würde, konnte sie die Wahrheit sagen. Bei vielen Frauen hat der Glaube, daß sich gute Töchter um ihre Eltern sorgen müssen, bevor sie an sich selbst denken, dazu geführt, daß nicht offenbarte Grausamkeiten und Mißhandlungen ungehindert fortbestehen, während die Gehorsame Tochter auf ihrem Sockel der Tugend verharrt.
Der Freigeist
Während es sich bei dem Freigeist, wie beim Ewigen Mädchen und der Gehorsamen Tochter, um eine kindliche Frau handelt, erscheint sie auf den ersten Blick weitaus unabhängiger als die beiden anderen. Frei von Verantwortungen und Verpflichtungen macht der Freigeist, was er will. In ihrem Wunsch, frei zu sein, mag eine Frau, die sich in der Falle des Freigeist-Images befindet, tatsächlich einen Teil ihrer Entscheidungsfreiheiten einschränken, da bestimmte Möglichkeiten nur denen offen stehen, die bereit sind, eine Verpflichtung einzugehen. Belinda, die sich mit Diana, der Göttin der Jagd und Freigeist schlechthin, identifiziert, wollte ein Jahr in Europa studieren.
Sie hatte es jedoch vorgezogen, nicht die Instanzen ihrer Universität zu durchlaufen, sie wollte nicht Teil eines institutionalisierten Programms werden. Statt dessen möchte sie sich in ein Flugzeug setzen, in einer größeren Universitätsstadt ankommen und »mal sehen, was so passiert«. Sie hat nur das Flugticket in ihren Händen. Sie hat weder eine Wohnung, noch detaillierte Pläne, noch wird ihr Vorhaben von ihrer Universität genehmigt oder verwaltet. Belinda befürchtet, daß ihr wichtige Möglichkeiten im Hinblick auf ihre Entwicklung und ihre Forschungen vorenthalten bleiben, wenn sie sich auf die üblichen Prozeduren für das Studium in Europa einlassen würde. Sie weiß, daß ihre Planlosigkeit dazu führen mag, sich bestimmten Erfahrungen zu verschließen und sich vielleicht sogar ihre Studienmöglichkeiten zu verbauen. Aber sie macht sich deshalb keine besonderen Gedanken, da sie immer noch in Europa umherziehen und somit andere Erfahrungen machen kann. Anschließend würde sie wieder nach Hause fahren, um im sicheren Gefüge ihrer Universität ihr Studium wieder aufzunehmen. Für Belinda ist das Bekenntnis zu ihrem Selbstbild als freie und unkomplizierte Person wichtiger als irgendeine andere besondere Erfahrung. Als Belinda ihr Studium begann, erlaubte sie ihren Zimmerkameradinnen, ihr einen neuen Namen zu geben. Sie war von der Idee gefesselt, daß all die Menschen nur den Namen von ihr kannten, den sie erfunden hatten. Keiner würde wissen, wer oder was sie vorher war, und demzufolge war sie ein unbeschriebenes Blatt.
Es würde ihr völlig frei stehen, sie selbst zu sein, und man würde ihr ohne Vorurteile und Voreingenommenheiten begegnen können. Belinda glaubte, daß die Offenheit der anderen, sie auf eine neue Art und Weise zu sehen, einher ginge mit ihrer Existenz als Freigeist. Ihre Freunde würden sie nicht einengen. Man würde sie nicht zwingen, sich einem vorgefertigten Bild zu unterwerfen, und in diesem Sinne wäre es ihr möglich, sich selbst zu erfahren und sich ihrer Umwelt zu öffnen. Während die scheinbare Freiheit und Offenheit des Freigeistes für junge Frauen oft spannend sein kann - und in der Tat wurde mit einigen Versionen dieses Images als Archetyp der Frauenbewegung geworben - haben Frauen im mittleren Alter, die sich in der Falle des Freigeist-Images gefangen glaubten, oft das Gefühl, an vielen wichtigen Erfahrungen vorbeigegangen zu sein. Ihre Sorge um ihr uneingeschränktes Leben und ihr Wunsch, permanent neue Erfahrungen machen zu müssen, mögen ein Indiz dafür sein, daß diese Frau nicht fähig ist, Verpflichtungen und Verantwortungen zu übernehmen. Sie mag an der Oberfläche der Erfahrungen dahingleiten, indem sie nur flüchtig an den Ereignissen teilnimmt und sich niemals auf verbindliche Beziehungen oder Berufsentscheidungen einläßt.
Lillys Geschichte
Lilly beschreibt sich selbst als einen Spätzünder, als eine Person, die sich in ihrem Leben meist treiben ließ, ohne ein Ziel oder einen Plan zu haben. Obwohl sie sich nicht unglücklich fühlte, hatte sie den Eindruck, nie eine selbständige Entscheidung getroffen zu haben. In ihrem Wunsch, frei zu sein, konnte sie oft feststellen, daß sie in das von ihren Eltern und später von ihrem Ehemann gebotene Leben einfach einwilligte. Als junges Mädchen kam Lilly mit Gleichaltrigen nicht zurecht. Sie betrachtete sich als eine Außenseiterin und bezeichnete sich als eine Person, die gegen herrschende Moden und Trends rebelliert. Sie wurde in den sechziger Jahren volljährig und identifizierte sich sehr stark mit den gegen das Establishment gerichteten Werten ihrer Generation. Lilly meint, daß dies die einzige Zeit in ihrem Leben war, in der sie das Gefühl hatte, am rechten Ort zur rechten Zeit gewesen zu sein. Ihre eigene Phase ungezügelten Forschungsdrangs und ihre Verbundenheit mit dem Image eines Blumenkindes, ein Freigeist der sechziger Jahre, korrespondierten sehr gut mit dem kulturellen Anspruch von Offenheit und vermittelten Lilly das Gefühl, dazuzugehören. Während der Studienzeit beteiligte sich Lilly aktiv an der Bewegung gegen den Vietnam-Krieg, und sie hatte das Gefühl, Mitglied einer engagierten Gruppe zu sein. Sie wurde »ein großer Fisch in einem kleinen Teich«, und es bereitete ihr Vergnügen, die unterschiedlichsten Möglichkeiten zu erproben.
Sie ging diverse Beziehungen ein und betrachtete sich als eine Frau, der viele Wege offen standen. Als ihr Studium beendet war, kehrte Lilly zurück nach Hause, nahm einen mittelmäßigen Job an und wartete darauf, daß die nächste Phase in ihrem Leben »auf sie zukam«. Sie glaubte, daß sie jemanden kennenlernen, heiraten, Kinder bekommen und ein Haus in der Vorstadt haben würde. Obwohl sie den Werten ihrer Generation stark verbunden war, kehrte Lilly schnell zur traditionellen Rolle einer Frau zurück, nachdem sie den Entschluß gefaßt hatte, im Haus ihrer Eltern zu leben. Sie fühlte sich wie ein Korken, der auf dem Wasser schwimmt und auf die nächste Welle wartet, um weiterzutreiben. Während sie bei ihren Eltern wohnte, lernte sie ihren Ehemann kennen. Soweit sie sich erinnert, war er darüber erstaunt, daß sie immer noch im Elternhaus lebte. Als er feststellte, daß sie nicht Auto fahren konnte, bestand er darauf, daß sie ihren Führerschein noch vor der Hochzeit mache. Während sie dieser symbolischen Geste der Unabhängigkeit nachkam, war ihr wohl bewußt, vom Haus des Vaters ins Haus des Ehemanns überzusiedeln, ohne jemals selbständig für ihr eigenes Leben aufgekommen zu sein oder eine gewisse Eigenverantwortlichkeit übernommen zu haben.
Kurz nachdem sie geheiratet hatte, übernahm Lilly eine Zeitarbeit als Empfangsdame in einem Anwaltsbüro. Lilly sagt, daß sie wahrscheinlich »die gebildetste und kultivierteste Empfangsdame aller Zeiten« gewesen ist. Sie behielt diese Stelle, bis ihr Mann etwa fünfzehn Jahre später starb. Ihr Ehemann war ein sehr dynamischer und charismatischer Mann, der es Lilly leicht machte, in seinem Schatten zu leben. Ihre Karriere war offensichtlich nicht so wichtig wie seine, und während sie die Fähigkeiten besaß, Ideen zu produzieren, hatte er die Energie und das Durchsetzungsvermögen, diese in die Realität umzusetzen. Ihr Ehemann war derjenige, der in der Ehe »Dinge in Bewegung brachte«, und Lilly gab sich damit zufrieden, einfach mitzumachen. Sie und ihr Ehemann blieben oft ihrer Arbeit fern, um ihr
Haus zu reparieren und zu renovieren. Wie zwei Vögel bauten sie an ihrem Nest, um es für den eventuell zu erwartenden Nachwuchs fertig zu haben. Sie bekamen jedoch niemals Kinder; Lilly glaubte, noch nicht für den nächsten Schritt in der Entwicklung zur Lebensmitte bereit zu sein. Man hat den Eindruck, daß sie sich in einer verlängerten Vorbereitungsphase ganz wohl fühlte. Der wesentliche Teil ihres Lebenswerks hatte noch nicht begonnen, und sie setzte das Studium einer jungen Frau fort bis in ihr mittleres Alter, wobei der Ehemann ihr ermöglichte, sich in aller Ruhe in die mittleren Jahre einer Frau treiben zu lassen.
Wahrscheinlich wäre Lilly dem Image einer freien und lebhaften Frau problemlos verbunden geblieben, wenn es nicht zu einer Tragödie gekommen wäre. Innerhalb von sechs Wochen diagnostizierte man bei ihrem Mann eine unheilbare Krankheit. Ihm wurde eine Chemotherapie verschrieben, und schließlich starb er. Sie war siebenunddreißig Jahre alt. Dieser Verlust war für Lilly ein traumatisches und schockierendes Erlebnis. Sie war nicht darauf vorbereitet, sich mit dem völlig fremden Status einer Witwe vertraut zu machen. In der einen Minute fühlte sie sich sorglos und sicher, in der nächsten war sie allein, da sie sich von ihrem Ehemann verlassen fühlte und sich von Gleichaltrigen isoliert glaubte. Sie kannte keine anderen siebenunddreißig jährigen Witwen; schließlich »sollte man seinen Ehemann nicht vor dem siebzigsten Lebensjahr verlieren«. Lilly hatte das Gefühl, daß ihr Trauma keine normale Erfahrung für eine Frau in ihrem Alter war. Es zertrümmerte ihr Selbstbild als Freigeist, wodurch sie mit Umständen konfrontiert wurde, die für sie schmerzhaft waren und völlig unerwartet kamen. Sie sagt: »Es war, als ob man den größten Teil seines Lebens verloren hätte. All das, was einem vertraut war, wie man sich selbst sah, war verschwunden, so daß man wie vor einem Neubeginn stand, als ob man wiedergeboren wurde. Die bekannten Regeln hatten ihre Gültigkeit verloren, man bewegte sich auf unbekanntem Boden.« Lilly fühlte sich gleichzeitig jung und alt.
Sie hatte das Gefühl, daß plötzlich ihr ganzes Leben noch vor ihr liege; als Frau in der Mitte ihrer Dreißiger wurde sie mit Entscheidungen konfrontiert, die schon vor vielen Jahren hätten getroffen werden sollen, als sie noch ein Teenager oder eine Frau in den Zwanzigern war. Das Ideal des Freigeistes, das für sie als junge Frau so angenehm war, war kein zureichendes Fundament, um ihr über die Tragödie ihres frühzeitigen Witwenstandes hinwegzuhelfen. Obwohl der Freigeist auf sein unabhängiges, selbständiges Leben sehr stolz ist, so thematisiert eine Nebenhandlung seiner Geschichte oft die Rettung durch einen älteren, weisen Mann. In den Possenspielen romantischer Geschichten wird z. B. ein draufgängerisches, naives Mädchen oft von einem weisen, älteren Mann gerettet und beraten. [14] In diesen Geschichten gerät die anspruchsvolle, begehrende und enthusiastische junge Frau aufgrund mangelnder Erfahrungen in Schwierigkeiten. Sie wird von einem älteren, starken, erfahrenen Mann gerettet, dem sie die Verantwortung für die Lösung ihrer Probleme im Leben überläßt. Der Freigeist wird von seinem erfahrenen und mächtigen Retter gezähmt, geführt und sogar neu aufgebaut. In Shaws Pygnialion wird z. B. ein robustes Blumenmädchen aus der Arbeiterklasse von Professor Higgins in eine Dame verwandelt; anschließend verliebt sich der Professor in seine eigene Schöpfung.
Kellys Geschichte
Kelly, die sich selbst als einen Freigeist betrachtet, befürchtet, von der Pygmalion Nebenhandlung vereinnahmt zu werden, indem sie es zuläßt, von irgendeinem mächtigen Mann ausgehalten zu werden. Kelly verließ das Elternhaus mit achtzehn Jahren, um ein renommiertes kleines College zu besuchen. Sie war aufgeregt und voller Enthusiasmus, als sie das Elternhaus verließ, und sie war gespannt, all die neuen intellektuellen Möglichkeiten, die ihr offen standen, zu erforschen. Sie hatte ein stark ausgeprägtes Konkurrenzdenken, und sie stürzte sich sehr schnell in sportliche, akademische und soziale Wettbewerbe. Wie einer ihrer Brüder wollte Kelly Schriftstellerin werden und trat deshalb der literarischen Gesellschaft des Colleges bei.
Innerhalb kürzester Zeit bekleidete sie eine verantwortungsvolle Position, und sie erinnert sich, Zukunftspläne geschmiedet und innerhalb der College-Gemeinschaft um einen Status gekämpft zu haben. Nach ihrem Hochschulabschluß zog Kelly in eine große Stadt und begann, ihre literarische Karriere in Angriff zu nehmen. Sie vermied es, ihre Familienmitglieder oder Kollegen um Hilfe zu bitten, indem sie sich sagte: »Ich möchte ausschließlich aus eigener Kraft vorankommen, ohne die Hilfe anderer in Anspruch zu nehmen.« Manchmal hatte sie derartige Bedenken, von jemandem kontrolliert zu werden, daß sie jedes berechtigte Hilfsangebot ausschlug. Aufgrund des Beispiels, das ihr ihre Mutter und ihre Schwester gaben, glaubte sie, sich nicht dem Risiko aussetzen zu dürfen, durch das Programm einer anderen Person geändert zu werden, insbesondere, wenn es sich dabei um einen starken Mann handeln würde, der ihr hilfreich und unterstützend zur Seite stände, ihr aber andererseits jegliches Selbstbewußtsein rauben würde. Schließlich gestattete sie einem ehemaligen Klassenkameraden, ihr bei der Beschaffung eines Arbeitsplatzes behilflich zu sein. Sowie sie im Betrieb integriert war, arbeitete sie sich aufgrund ihrer erfolgreichen Leistungen schnell empor, wobei sie jedoch jedesmal überlegte, wie sie die nächste Sprosse der Erfolgsleiter erklimmen könnte und welchen Erfolg sie darüber hinaus erreichen müsse.
Während sie in ihrem Berufsleben ziemlich erfolgreich war, sah Kellys Privatsphäre traumatisch und problematisch aus. Sie hatte gerade eine dreijährige Beziehung mit einem Mann beendet, der zehn Jahre älter als sie war. Dieser Mann versuchte, sie unter seine Fittiche zu nehmen, indem er bemüht war, ihr ein neues Image zu geben, das seinen Bedürfnissen entsprach. Als sie diesen Mann kennen lernte, fühlte sich Kelly anfangs zuversichtlich und unabhängig. Im Laufe ihrer Beziehung verlor sie jedoch ihre Selbstachtung. Sie sagt: »Ich hatte ein starkes Selbstwertgefühl, das ganz in ihm aufging und ihm gestattete, mich zu beurteilen.« Dieser Mann stellte fortgesetzt Kellys Werte, ihre Interessen und Aktivitäten in Frage und vermittelte ihr das Gefühl, im Hinblick auf ihr gesamtes Verhalten unreif und unverantwortlich zu sein. Heute behauptet Kelly, daß sie diesem Mann ein großes Maß an Autorität über ihr Leben eingeräumt hat. Sie ignorierte ihre Freunde und gab einen großen Teil ihres unabhängigen Urteilsvermögens auf. Aufgrund des Einflusses, den dieser Mann ausübte, änderte sie ihren Geschmack; er vermittelte ihr das Gefühl, daß ihre Erfahrung und ihre Voraussetzungen unzulänglich wären. Trotz der Probleme, die schon seit dem Beginn ihrer Beziehung bestanden, beschlossen Kelly und dieser Mann zu heiraten, obwohl sie sich erst ein paar Monate kannten. Man ließ Einladungen drucken, und ein Brautkleid wurde ausgesucht. Kelly traf alle Vorbereitungen für ihre Hochzeit, als ihr Verlobter an ihrer Beziehung zu zweifeln begann. Demzufolge wurde die Hochzeit auf unbestimmte Zeit verschoben, weshalb sich Kelly in der √ñffentlichkeit gedemütigt und beschämt fühlte. Die Beziehung endete jedoch nicht mit der Aufhebung der Verlobung; vielmehr lebten Kelly und ihr Freud weiterhin für zweieinhalb Jahre zusammen, eine Zeit, in der sie sich wie auf einem Prüfstand fühlte. Es war ihre Aufgabe, sich in eine Frau zu verwandeln, die von diesem Mann akzeptiert wurde, indem sie ihm zugestand, sie mit einem neuen Image zu versehen, das er für seine Ehefrau als angemessen erachtete. Dieser Versuch eines Neubeginns scheiterte erbärmlich, und durch Therapie und Beratungsgespräche gelang es Kelly, sich zu behaupten und die Beziehung zu beenden. Diese Erfahrung hinterließ bei Kelly das Gefühl tiefster Beunruhigung darüber, daß sie zuließ, sich von einer anderen Person in diesen Ausmaßen kontrollieren zu lassen. Oft stellte sie sich die Frage: »Warum lassen Frauen wegen eines Mannes ihre Welt so klein werden?« Sie hatte das Gefühl, daß sie sich in einer Beziehung aufgibt und einem Mann gestattet, sie nach seinen Vorstellungen umzuformen.
Gegenwärtig hat Kelly schwere Probleme mit ihrem Selbstbewußtsein. Innerhalb ihrer Familie gibt es zwei konkurrierende Modelle: Die Männer in ihrer Familie sind konkurrenzfähig, erfolgreich und aggressiv; die Frauen tendieren, trotz allen Erfolgs, dazu, ihr Selbstbewußtsein über wichtige Männer vermittelt zu bekommen.
Die Charmeurin
Ob als Flirt, Flapper, Gibson-Girl oder als Miss America, die Charmeurin ist robust und guter Dinge und beginnt, sich ihrer Sexualität und der Macht, die sie dadurch erringen könnte, bewußt zu werden. Ewige Mädchen, Gehorsame Töchter und Freigeister werden geliebt und verehrt, eben weil sie »Mädchen« sind. Sie sind naiv, etwas hilflos, neckisch und verspielt. Charmeurinnen geben andeutungsweise zu verstehen, daß sie auch über eine sinnliche und sexuelle Seite verfügen. Dennoch sind sie im wesentlichen »gute Mädchen«. Selbst die Flappers der tollen zwanziger Jahre wurden schließlich seßhaft, wurden Ehefrauen und Mütter. Sie waren fröhlich, geistreich und kokett, Eigenschaften, durch die sie sich einen Junggesellen nach dem Ersten Weltkrieg angelten. Scarlett O'Hara, die durch Vom Winde verweht unsterblich wurde, war eine klassische Charmeurin. Sie war schön, lebhaft und verwöhnt, mit einem Hauch von sexueller Gefährlichkeit. Im Hinblick auf ihren Charakter werden wir nicht nur Zeugen ihrer mädchenhaften Naivität, wenn sie sich z. B. entschließt, »morgen« ihr Leben zu ändern, sondern auch ihrer fanatischen Unabhängigkeit, wenn sie darum kämpft, die Plantage ihres Vaters zu retten. Sie ist schüchtern und kokett und benutzt ihre Sexualität, um ihren Willen durchzusetzen. Man hat nicht unbedingt den Eindruck, daß sie über ein starkes sexuelles Begehren verfügt. Vielmehr ist sie sich ihrer Sexualität bewußt und weiß, sie zu ihrem Vorteil einzusetzen. [15] Ihre Sexualität manifestiert sich tatsächlich nur innerhalb der Grenzen einer ihrer vielen Ehen. Mona wuchs mit dem Image der Charmeurin auf, das stark in der Familienmythologie verwurzelt war. Man erzählte die Geschichte, daß ihr Großvater als junger Mann mit einem Flapper durchgebrannt ist und ihre Großmutter mit den Kindern sitzen ließ. Sie bekam einen Nervenzusammenbruch und wurde fettleibig. Die Botschaft war eindeutig: Charmeurinnen sind Gewinnerinnen, Ehefrauen und Mütter sind Verliererinnen. Obwohl er ihrer Mutter treu blieb, wurde diese Botschaft von Monas Vater immer wieder hervorgehoben. Ständig schielte er nach jungen Frauen auf der Straße oder im Fernsehen und ließ seine Tochter wissen, daß sie eine »Schönheit« sein müsse, wenn sie ihren Mann behalten wolle. Obwohl sie in ihren Vierzigern ist und eine Familie mit zwei Kindern hat, befindet sich Mona weiterhin in der Falle des Images der Charmeurin. Sie gerät bei der Vorstellung, älter zu werden, in Panik und hat Befürchtungen, »eine verrückte alte Frau in einem Schaukelstuhl«, d. h. wie ihre Großmutter zu werden. Für Mona bedeutet es den Tod, wenn es ihr nicht gelingt, die Aufmerksamkeit eines Mannes auf sich zu lenken. Sie hat die Phantasie, daß sie wahrscheinlich lesbisch werden muß, wenn sie die Männer nicht mehr attraktiv genug finden. Obwohl ihre Hauptbeschäftigung darin besteht, Mutter zu sein, gestattet sie ihren Kindern nicht, sie »Mama« zu nennen. Für sie läßt sich die Rolle der Mutter nicht mit dem Image einer Charmeurin vereinbaren, und wenn sie neue Leute kennen lernt, vermeidet sie oft zu erwähnen, daß sie einen Ehemann und zwei Kinder hat. Ihr Hang zu Koketterie und Scheu hat Mona manchmal in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht. Sie wurde zweimal vergewaltigt und muß sich ständig gegen die Annäherungsversuche von Männern wehren, die glauben, daß sie »zu haben« sei. Trotz der Gefahren, in die sie als Charmeurin geraten ist, hält Mona verzweifelt an diesem Image fest, weil sie befürchtet, daß ihre einzige Alternative in einem von ihr als tödlich empfundenen Image besteht, und zwar dem der verrückten alten Hexe. In vieler Hinsicht ist das Ideal der Charmeurin eine Brücke zwischen den drei asexuellen Images des Mädchens und dem sexuellen Image der Lolita. Die Charmeurin spielt mit ihrer Sexualität wie ein Kind mit einem neuen Spielzeug, ein Kind, das sich noch nicht seiner Möglichkeiten bewußt ist.
Lolita
Das Bild von der sexualisierten jungen Frau, der Sexsklavin, Nymphomanin oder gefährlichen Verführerin ist schon seit Ewigkeiten Bestandteil der männlichen Mythologie. Vorstellungen von mächtigen, dämonischen und sexualisierten jungen Frauen sind in den Mythologien der verschiedensten Kulturen zu finden. Diese jungen Frauen sind die wahrsten Verführerinnen, die ihre Sexualität, falsche Liebenswürdigkeit und Schutzlosigkeit einsetzen, um Männer von ihrem Heim, ihren Familien und Verantwortungen fortzulocken. Es existiert das immer wiederkehrende Bild von einer schönen Sirene, einer Frau, deren Stimme so süß und verführerisch klingt, daß die Männer ihrem Charme nicht widerstehen können, wenn sie diese Stimme vernehmen. Die verführerische Stimme ist jedoch nur eine Illusion; sowie Männer dem Klang der Stimme folgen, sind sie dem Tod geweiht. Die berühmtesten dieser Sirenen kennen wir aus Homers Odyssee, und man glaubt, nur Odysseus sei stark genug, die Stimmen dieser jungen Frauen auszuhalten. [16] Die anderen Männer auf seinem Schiff müssen ihre Ohren mit Wachs verstopfen, weil sie dem verlockenden Lied sonst erlegen wären. Sogar Odysseus muß mit einem Seil festgebunden werden, damit er nicht vom Schiff springt und seinen Tod im kalten Wasser findet. Eine weniger bekannte Version dieser dämonisierten Frau ist die »Frau mit dem Netz«. [17] Sie ist eine Figur aus der aztekischen Mythologie, die mit ihrer süßen Stimme Krieger von ihrem Heimweg fort lockt. In diesem Fall imitiert sie die Stimme seiner Ehefrau oder Mutter und verführt ihn, sich mit ihr zu vereinigen. Sowie der Mann dieser bekannten Stimme nachläuft, stellt er fest, daß niemand dort ist. Tatsächlich nähert er sich aber einer Klippe und stürzt in den Tod.
Neben der Verführungskunst besteht ein wesentlicher Teil der Macht dieser sexualisierten jungen Frau in ihrer Verschlagenheit. Ihre Wünsche äußert sie nie offen und direkt, vielmehr bedient sie sich der List und Manipulation, um ihr Ziel zu erreichen. Die Reh-Frau des Oglala-Stammes ändert ihre physische Erscheinung, um ihre Opfer zu umgarnen. [18] Sie verbreitet einen giftigen und verführerischen Duft, der einen bösen Zauber verbreitet und dazu beiträgt, daß jeder Mann, der sich ihr nähert, sich in sie verliebt. Der Mann hat das Verlangen, sich mit ihr in Liebe zu vereinigen, obwohl sie sich in die Gestalt eines Rehs verwandelt hat. Hat der Mann den Höhepunkt seiner Leidenschaft erreicht, rennt sie fort, und der zurückgelassene Mann verfällt dem Wahnsinn.
Die dämonische Jungfrau mag ihr Opfer mit dem Versprechen verführen, daß sie sich mit ihm völlig vereinigt. Offenbar verleugnet sie ihren Wunsch, eine eigenständige Person zu sein, und möchte statt dessen eine symbiotische Vereinigung eingehen. In der Mythologie der Sioux lernen wir ein junges Mädchen kennen, das die Krieger auffordert, sich mit ihr in einer magischen Wolke zu vereinigen. [19] In dieser himmlischen Vereinigung macht sie ihr Opfer glauben, daß beide zu einer Einheit verschmelzen. Wenn jedoch die Wolke emporsteigt, bleibt nur das Mädchen aufrecht stehen, der Krieger hat sich dagegen in einen Haufen nutzloser Knochen verwandelt. Die Frau verspricht eine Symbiose - eine völlige Hingabe an den Mann und eine Verleugnung jeden Wunsches, eine eigenständige Frau zu sein. Sie verspricht, sich dem Mann völlig hinzugeben, der in Wirklichkeit Opfer ihres Charmes wird. Sie versäumt nicht nur, ihr verführerisches Versprechen einzulösen, sondern zerstört den Mann, der ihren Reizen erlegen ist. Der Tod ist nur eine Möglichkeit, die dem Mann widerfahren kann, der in die Falle dieser tödlichen Jungfrau gerät. Es ist auch schon vorgekommen, daß Männer ihr gesamtes Wesen oder ihren Geist durch diese dämonischen Frauen verloren haben. Die Succubi, Dämonen in Frauengestalt, suchen die Männer in der Nacht auf, zwingen sie zum Beischlaf und saugen oder ziehen ihnen die Seelen aus den Leibern. [20] Die Succubus verwendet diese Seelensubstanz, um einen neuen Geist oder ein neues Wesen zu schaffen. Somit wird der normale Prozeß biologischer Fortpflanzung pervertiert, indem der Mann seines Samens beraubt wird, den sie für ihre eigenen unabhängigen, schöpferischen Tätigkeiten verwendet. In all den Mythologien von der dämonischen jungen Frau sind ihre Keuschheit, ihre Reinheit und ihr Charme weiter nichts als Listen; sie werden eingesetzt, um einem Mann eine Falle zu stellen oder um ihn zu verführen. Dieser Mann wird als unwissendes Opfer dargestellt, das ihren Mächten nicht widerstehen kann und verdammt ist, sich dem zu unterwerfen, was sie von ihm fordert. In den Lolita-Mythologien existiert ebenfalls das Idealbild von einer sexualisierten jungen Frau, die das Opfer ihrer eigenen Leidenschaft wird. Die Prostituierte wird z. B. als eine Frau voll sexuellen Verlangens dargestellt, als eine lüsterne Nymphomanin, die von ihrem Mann nicht genug bekommen kann, oder auch als eine masochistische Sexsklavin, so willenlos und schwach, daß sie sich den Erniedrigungen, die ihr von ihrem Zuhälter oder einem Freier zugefügt werden, nicht entziehen kann. Obwohl diese Bilder nicht bewußt in der öffentlichen Kultur idealisiert und romantisiert werden, sind sie Bestandteil einer männlichen Untergrund-Mythologie. Dieses Image von einer Frau als Sexsklavin wird wahrscheinlich nirgendwo ausführlicher dargestellt als in der Geschichte der 0. In ihrem Buch Woman Hating beschreibt Andrea Dworkin den Inhalt dieses pornographischen Romans: »Die Behauptung von 0. ist einfach. Frau bedeutet Fotze, lüstern, ausschweifend. Sie muß bestraft, gezähmt und erniedrigt werden. Ihrem Geliebten schenkt sie sich selbst, ihren Körper, ihr Wohlbefinden und ihr Leben. Es endet mit ihrer Vernichtung.« [21] Wenn eine Frau mit dem Image einer Sexsklavin identifiziert wird, hat sie keine andere Existenzberechtigung als die eines Sexobjekts. Ihr Körper wird ihr wichtigstes Mittel, um anerkannt und akzeptiert zu werden. Während dieses Image in seiner pervertiertesten Form vornehmlich in der pornographischen Literatur zu finden ist, ist es auch in einer etwas gesäuberten Version in einigen modernen Werbekampagnen anzutreffen. Parfums mit Namen wie Obsession und Ewigkeit, stellen eine in der Trunkenheit von Leidenschaft verlorene Frau dar, die bereit ist, ihrem Geliebten ihre Seele zu übereignen. Das Ideal von einer Frau als Liebesgöttin wird schon in der griechischen Mythologie erwähnt. Aphrodite, Göttin der Liebe, ging freiwillig und wollüstig sexuelle Beziehungen mit Göttern und Männern ein. Interessanterweise wurde Aphrodite aus einer Mischung aus Sperma und Wellenschaum gezeugt, einem Produkt männlicher Masturbation und sexueller Phantasie.
Vickis Geschichte
Vicki ist eine große, statuenhafte junge Frau, die sich wie die physische Verkörperung männlicher Sexualphantasien darstellt. In aller Sorgfalt hat sie einen Typ kreiert, der das Bild von einer sadomasochistischen Liebessklavin verdinglicht, die sich sowohl in der sadistischen als auch der masochistischen Position wohl fühlt. Vicki ist stolz auf ihre Aufmachung, und die Aufmerksamkeit, die sie auf sich zieht, wenn sie die Straße entlangläuft, empfindet sie als angenehm. Vicki kommt aus einer erfolgreichen, intellektuellen Familie und hat an den renommiertesten Universitäten der Ostküste studiert. Sie ist das mittlere von fünf Kindern und glaubte viele Jahre, einer perfekten Familie anzugehören. Sie war der Ansicht, daß ihre Mutter und ihr Vater eine perfekte Ehe führten und daß sie, ihre Brüder und Schwestern die perfekten Kinder wären. Trotz ihrer Idealvorstellungen von einer Familie hat Vicki in Wirklichkeit gegenteilige Erfahrungen gemacht, die soweit zurückreichten, wie sie sich erinnern kann. Ihr Vater war ein brutaler Patriarch, der seine Kinder physisch mißhandelte, indem er sie z. B. die Treppe herunterwarf, wenn er in Wut geriet. Er kritisierte sie schon bei kleinsten Verstößen, Dingen, die unterhalb der Verstandesebene kleiner Kinder lagen. Insbesondere wurde am Sonnabendmorgen ein außergewöhnlich anstrengendes Ritual zelebriert. Eines der Kinder erhielt den Auftrag, den Vater bei dieser Aufgabe zu unterstützen. Er erteilte dann dem kleinen Kind Anweisungen, die diesem meistens unverständlich waren. Wenn das Kind bei der Aufgabe versagte oder eine unangebrachte Frage stellte, steigerte sich das Gebrüll sehr schnell zu Schlägen. Trotz dieser Beispiele von Brutalität überragte die Figur des Vaters das wirkliche Leben, und sie erinnerte sich, ihn seit frühester Kindheit idealisiert zu haben. In ihren früheren Ehejahren zogen Vickis Vater und Mutter einige Male um, weil dies die akademische Ausbildung und der Beruf des Vaters erforderten. Vickis Mutter erzählte ihr später, daß ihr nach jedem Umzug versprochen wurde, nun endlich ihrer eigenen Karriere nachgehen zu können. Dies wurde aber nie eingelöst, und ihr Mann pochte immer auf sein Recht, den Vorrang zu haben. Vicki erinnert sich, daß sie sich schon in einem sehr frühen Stadium überlegte, »wenn ich eine Familie hätte, möchte ich der Vater sein«, weil sich alles in ihrer Familie vornehmlich um ihren Vater zentrierte.
Eine ihrer beunruhigendsten Kindheitserinnerungen bezieht sich auf ein nicht eingehaltenes Versprechen. Man sagte Vicki, daß sie mit einem Geschenk ihrer Wahl belohnt würde, wenn sie das Alphabet auswendig gelernt hätte. Vicki entschied sich für eine rosafarbene Osterhaube mit Blumen und Bändern. Ihre Eltern willigten ein, und Vicki machte sich sofort an die Arbeit, das Alphabet zu lernen. Nach einem erfolgreichen Vortrag wurde sie von ihren Eltern mitgenommen, um eine Haube zu kaufen. Sie entschieden sich für einen praktischen, kleinen, robusten Hut, der nicht im geringsten der phantastischen, bezaubernden Haube, die sie sich vorgestellt hatte, ähnelte. Sie erinnert sich, daß ihr Vater gesagt hat: »Du bekommst diesen oder gar nichts«. Sie versuchte sich durchzusetzen, indem sie sagte: »Nein, diesen will ich nicht.« Im Beisein ihrer Mutter und machtlos, etwas dagegen zu unternehmen, wurde sie von ihrem Vater gezwungen, sich mit diesem etwas praktischeren Hut zufriedenzugeben. Vicki erinnert sich, daraus den Schluß gezogen zu haben, daß man einem Mann niemals sagen könne, was man genau möchte, weil man ansonsten gewiß enttäuscht wird.
Diese Erfahrung war Vickis erste Unterweisung in die Welt enttäuschter Wünsche, des Verrats und der Erniedrigung. Während ihrer Zeit in der Oberschule war Vicki sehr beliebt und hatte zahlreiche Freunde. Ihre akademische Laufbahn war ebenfalls erfolgreich. Ihre Oberschulzeit war jedoch von ihren Beziehungen geprägt. Sie sagt: »Ich hänge stark von Beziehungen ab. Dies habe ich oft als ein Problem betrachtet, und als einen Fehler, eine Frau zu sein.« Wenn eine ihrer Beziehungen beendet war, fühlte sich Vicki niedergeschlagen. Sie fühlte sich wertlos. »Ich hatte das Gefühl, daß mir nichts geblieben war und daß ich mich ebenso gut umbringen könnte.« Tatsächlich erinnert sich Vicki, einige Male Selbstmordgedanken gehabt zu haben, als eine Beziehung mit einem Freund aus der Oberschule zu Ende ging. Obwohl keiner dieser Brüche tatsächlich zur Verwirklichung dieser Vorstellung geführt hat, machte sie ihren ersten Selbstmordversuch in ihrem letzten Studienjahr, als ihre Eltern ihr ankündigten, sich scheiden zu lassen. Vickis Mutter vertraute ihr zur Zeit der Scheidung an, daß die Ehe eine Heuchelei gewesen ist. Sie sei niemals glücklich gewesen und hatte immer das Gefühl, sich permanent verleugnen zu müssen, um ihren tyrannischen Ehemann zufriedenzustellen. Vicki erinnert sich, daß sie sich durch dieses Bekenntnis niedergeschmettert fühlte. Nicht nur, daß sie sich kaum mit der Scheidung abfinden konnte, sondern auch das Bekenntnis ihrer Mutter, daß es sich bei dem Gedanken von einer glücklichen Familie in Wirklichkeit um eine Illusion handelte, war mehr, als Vicki ertragen konnte. Sie hatte Selbstmordgedanken, fühlte sich leer und wertlos, als ob nichts mehr von Bedeutung war. Sie identifizierte sich mit ihrer Mutter, als ob ihre eigene Ehe beendet und sie nun hilflos und allein zurückgeblieben wäre. Nach ihrem Selbstmordversuch begann sie mit einer Therapie und fing an, die wesentlichen Aspekte ihrer Beziehungen zu überdenken. Sie richtete jedoch ihre Aufmerksamkeit sogar noch stärker auf die Befriedigung der Bedürfnisse der wichtigen Männer in ihrem Leben. Vicki vergleicht ihre erste Arbeit nach dem College mit Prostitution.
Sie war Chef-Sekretärin verschiedener erfolgreicher Männer, und eine Bedingung für ihre Einstellung bestand darin, daß sie sexuell zur Verfügung stehen müsse, wann immer es ihr Chef wünschte. Der sexuelle Teil ihrer Arbeit bereitete Vicki nicht nur Vergnügen, vielmehr fühlte sie sich durch die wiederholte Erniedrigung und Verleugnung, die ihr von ihrem Arbeitgeber zugefügt wurde, erregt. Sie wußte zu dieser Zeit, daß »an der Sache etwas krank sei«, aber dennoch fand sie daran Gefallen. Zu der Zeit, als sie für ihren Chef arbeitete, hatte Vicki auch mit einigen anderen Männern sexuelle Beziehungen, und sie erinnert sich, daß sie sich fühlte, als ob ihre Sexualität außer Kontrolle geraten sei. Einmal war sie total von einem Mann besessen, der sie stark an ihren Vater erinnerte. Dieser Mann machte sie mit Drogen, insbesondere mit Kokain vertraut, und sie wurde sehr schnell abhängig. Vicki beschreibt die Zeit ihrer Kokainabhängigkeit als die schrecklichste Zeit ihres Lebens. Während sie das Gefühl hatte, daß sie ihre Abhängigkeit von den Männern und der Sexualität unter Kontrolle hatte, wuchs ihr die Abhängigkeit vom Kokain über den Kopf, und schließlich meldete sie sich hilfesuchend zu einer Drogenentzugsbehandlung an. Die Jahre nach ihrer Genesung von der Drogenabhängigkeit hören sich an wie ein Dokumentationsbericht über die Männer, die Vicki seinerzeit kannte. Es ist ihr kaum möglich, über eine Zeit oder ein Ereignis in ihrem Leben zu sprechen, ohne über den Mann dieser Stunde zu reden. Ihre Beziehungen sind meist rein sexueller Natur, wobei sie sich völlig den Bedürfnissen und Wünschen des Mannes, mit dem sie verabredet ist, unterwirft. Vicki glaubt, daß Menschen Tiere seien. Was sie mit einem Mann haben möchte, ist eine animalische Verbindung. Nach ihrer Meinung besteht die einzige Tätigkeit von Tieren darin, »zu fressen, zu ficken oder zu töten«.
Demzufolge sind ihre Beziehungen impulsiv, leidenschaftlich und sexuell. Selbst wenn sie sich mit Freundinnen trifft, führt sie am liebsten Diskussionen über Sexualität und unterhält sich stundenlang mit ihnen über ihre und deren sexuelle Beziehungen. Vicki spricht wie eine Glaubensfanatikerin, wenn sie über die Vorzüge der Selbstaufgabe in der Liebe theoretisiert: »Es ist wunderbar, wenn sich eine Frau für ihren Mann aufopfern kann und fühlt, daß die dafür erhaltene Gegenliebe alles aufwiegt.« Vicki bewundert eine Freundin, die sich für den Mann, mit dem diese zusammenlebt, selbst verleugnet und ihre Selbständigkeit opfert. Diese Freundin verbringt den größten Teil des Tages damit, auf ihren Partner zu warten. Sie läuft auf Zehenspitzen durch das Haus, um keinen Lärm zu machen, und steht jederzeit zur Verfügung, sobald er irgendeinen Wunsch äußert. Vicki meint, daß die völlige Selbstaufgabe ihrer Freundin ein fairer Preis für Liebe und Partnerschaft sei.
Seit ihrem College-Abschluß hat Vicki in vielen Jobs unter ihrem Qualifikationsniveau gearbeitet. Sie arbeitet für ihren Lebensunterhalt und hat sich bisher nicht bemüht, eine besondere Karriere anzustreben. Meist erfüllen ihre Jobs nur den Zweck, einen neuen Mann kennenzulernen, und häufig verleiht sie dem Arbeitsmilieu eine sexuelle Note, indem sie mit einem Kollegen oder einem Chef eine Affaire beginnt. In den letzten Jahren hat Vicki jedoch zahlreiche Versuche unternommen, auf dem Gebiet der Kunst tätig zu sein. In jedem Fall handelte es sich um gewalttätige oder sexuelle Vorstellungen. Sie malt Bilder von geschändeten Frauen und von Schiffen, die darauf warten, beladen zu werden. Vor kurzem hat sie ein Stück mit ausdrücklich pornographischem Inhalt geschrieben und ist zur Zeit darum bemüht, dieses in Nachtclubs und kleinen Theatern aufführen zu lassen. Vickis Drama handelt von Unterwerfung und sexueller Sklaverei, und einige Zeilen dieses Dramas hätten ebenso gut von 0. geschrieben worden sein können. Vicki fühlt sich als Person wertlos, wenn sie sich nicht in den Augen ihres Geliebten widerspiegelt. Sie liebt das Gefühl, nur für ihn allein zu existieren. Als ich Vicki zu bedenken gab, daß sie sich wahrscheinlich zu stark mit der Vorstellung von einer Frau als Sexsklavin identifizierte und daß sie die Schattenseiten weiblicher Möglichkeiten auslebe, war sie etwas verstört. Sie konnte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, daß sie das Objekt gewisser projizierter Phantasien der Frauen und der Männer sein könne, mit denen sie in Beziehung stand. Obwohl sie der Gedanke, innerhalb einer sexuellen Beziehung kontrolliert und entfremdet zu sein, beunruhigte, wußte sich Vicki wirklich keinen Rat, wie sie ihre Abhängigkeit von der Sexualität durchbrechen könne. Sie war der Ansicht, daß ihr das Gefühl zu leben nur in einer sexuellen, erniedrigenden Beziehung mit einem Mann vermittelt werden könne, da sie den Eindruck hatte, völlig mit dem Bild der jungen Frau als Lolita identifiziert zu werden. In all den verschiedenen Verkörperungen der jungen Frau unterscheidet sich die Kombination der Elemente von Macht, Sexualität und Sünde mit der Mischung derselben Eigenschaften in den männlichen Mythologien. Die junge Frau übt nur dann Macht aus, wenn sie auch sexuell und verderbt ist. Ist sie dagegen sexuell und ein guter Mensch, so besteht die Möglichkeit, sie zu kontrollieren. Ist sie asexuell, dann hat sie keine wirkliche Macht, unabhängig davon, ob sie ein guter oder schlechter Mensch ist. All diese Bilder und Idealvorstellungen von der jungen Frau besitzen die Macht, Frauen jeden Alters gefangenzunehmen. Obwohl diese Bilder von Männern produziert wurden, wurden sie von Frauen adoptiert, verehrt und gepflegt. Ob sexuell, hilflos oder naiv, die idealisierte junge Frau ist kindlich, und als solche ist sie das Objekt des Begehrens. Sie sagt: »Wenn du geliebt und bewundert werden möchtest, mußt du so sein wie ich.« Ihre Attraktivität ist teilweise auf ihre vorgetäuschte oder wirkliche Hilflosigkeit zurückzuführen. Gegenüber bestehenden Autoritäten stellt sie keine Gefahr dar, und sie ist zeitweise bereit, ihre Vitalität gegen Sicherheit und Liebe einzutauschen.