Die französische Historikerin Elisabeth Badinter stellte in ihrer Untersuchung über die »Mutterliebe - Die Geschichte eines Gefühls« einen tiefgreifenden Wandel in der Mutter-Kind-Beziehung im Frankreich des ausgehenden 18. Jahrhunderts fest: War das Kind bis dahin Last allein, so wurde es nun zum kostbarsten aller Güter. Vom 16. bis ins 18. Jahrhundert hinein zählte das Kind in der französischen Familie sehr wenig. Die Eltern sahen im Kind nur das Objekt von Pflege, Aufmerksamkeit und Beanspruchung. Im schlimmsten Fall wurden die Kinder getötet oder ausgesetzt. Bürgerliche und adlige Kinder gab man zumeist aufs Land in Pflegefamilien, in denen sie die ersten Lebensjahre verbrachten. Gleichgültigkeit, ja Desinteresse kennzeichneten somit die Mutter-Kind-Beziehungen in dieser Zeit.
Um 1760 zeichnete sich eine einschneidende Veränderung dieser Beziehungen ab. Jean-Jacques Rousseau war Exponent einer Bewegung, die die »neue Mutterliebe« propagierte. Der Säugling und das Kind sollten zu den bevorzugten Objekten der mütterlichen Zuwendung werden. Ende des 18. Jahrhunderts sah sich zunächst die Frau aus bürgerlichen Kreisen vor neuen mütterlichen Aufgaben der emotionalen und materiellen Fürsorge für das Kind. Die Schriftstellerinnen trugen ihren Teil dazu bei, diese Bewegung hin zur Mütterlichkeit in Deutschland zu verbreiten.
1. Das Stillen als erster Liebesbeweis
Elisabeth Badinter hält das Stillen des Kindes durch die Mutter für einen Ausdruck der »neuen Mutterliebe« (Badinter, 160). Die Frage der Ernährung des Säuglings wurde auch in der deutschen medizinischen Literatur diskutiert. In Frankreich wie in Deutschland stritten sich die Gelehrten, ob die Mutter das Kind stillen, einer Amme übergeben oder mit anderen Mitteln ernähren sollte. Der Arzt Froriep riet den Müttern, ihre Kinder selbst zu stillen (Froriep, 330). Der Arzt Osiander war gegen eine übermäßige Anwendung dieser >Mode< wie er sich ausdrückte. Seit Rousseau den Müttern das Stillen geraten habe, so Osiander, wollten alle Mütter stillen. Das ginge jedoch
nicht:
»Johann Jacob Rousseau aber meinte, die cultivirte, menschliche Natur will nicht stillen; würde sie jedoch zu dem Zustand der uncultivirten Menschen zurückkehren, so würde Alles in der Welt besser. Er liese es sich daher besonders angelegen seyn, den Müttern die Pflicht des Selbststillens ans Herz zu legen. (Anmerkung des Autors: Er selbst aber Hess nicht einmal seine unehelichen Kinder an ihrer Mutter Brust stillen, sondern schickte sie ins Findelhaus. Der menschenfreundliche Rousseau!) Und da Rousseau eine Zeitlang das Muster aller sentimentalen Erzieher, Erzieherinnen und ihrer erzogenen, jungen Frauenzimmer war, so nehmen sich Frauen aus allen Ständen vor, künftig ihre Kinder selbst zu stillen, und Kaiserinnen, Königinnen und Fürstinnen beeiferten sich, den niederen Ständen mit gutem Beispiel voranzugehen. Das war fein und löblich. Das Selbststillen wurde dadurch eine Zeitlang zur Mode; aber sie dauerte, wie alle Moden, nur kurze Zeit. Was die guten Mütter nicht bedachten und Rousseau nicht wusste, erfuhren sie nur zu bald, nämlich, dass der gute Willen der Einzelnen die Verhältnisse ihres Lebens, welche dem Stillen im Wege stehen, nicht zu ändern vermöge, und dass zu dem Willen die Kraft und das Vermögen
des Vollbringens hinzukommen müsse. Nicht eine vollkommene Brust und reichliche, gute Milch, nicht guter Vorsatz und fester Wille macht eine Fürstin fähig zu stillen. [. . .] Das Kind aber kann nicht nach dem Hofceremoniell auf die mütterliche Brust warten, auch sie nicht annehmen und aussaugen, wenn die Oberhofmeisterin es haben will. [...] Ebendasselbe ist bei so vielen andern Ständen der Fall. Die Mutter will stillen, damit sie zu der Classe der guten Mütter gezählt werde, aber sie will nicht von Visiten, Assembleen und Schauspielen wegbleiben« (Osiander II, 179).
Osiander kritisierte die Praxis vieler Mütter, ihr Kind nach der Geburt in eine Pflegefamilie zu geben:
»Manche Eltern finden es gar bequem, wenn sie ihr Kind nur der Amme hingeben können, ohne sich selbst um dasselbe viel bekümmern zu dürfen; so wie Pariser Frauen es für das Beste halten, ihre Kinder gleich aufs Land in Kost zu geben, um mit der Kindererziehung sich nicht weiter befassen zu dürfen. Kommt das Kind nach Jahren aus der fremden Fütterung, so wird es in eine fremde Pension versetzt, und von dem Augenblick der Geburt bis zur Zeit, wo der Mensch in einen selbstgewählten Stand übergeht, ist z. B. der Sohn des Hauses diesem so fremd, dass er so gut als gar kein elterliches Haus hat. Welche kindliche und elterliche Liebe kann da statt finden?« (Osiander II, 188).
Die Kindersterblichkeit war, auch bedingt durch die nachlässige Sorgfalt der Pflegefamilien, entsprechend hoch. Um diese herabzusetzen, wurde eine besondere Beziehung der Eltern, vor allem der Mutter, zum Säugling propagiert (Badinter, 91). Diese Propagandabewegung hin zur »neuen Mütterlichkeit« steckte in Deutschland Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts noch in den Anfängen. Froriep empfahl bereits das Selbststillen, während Osiander für eine Zwischenlösung war, nämlich für die Anstellung einer Amme im Haus. Diese mußte allerdings hohen Anforderungen genügen: Sie mußte gesund sein, dazu schön und sauber. War dies nicht der Fall, so sollten die Säuglinge mit Milch von Kühen oder Ziegen ernährt werden. In diesem Fall wurde das Kind entweder mit einem Löffel oder mit einer Saugflasche gefüttert:
»Diese verdünnte Milch kann dem Kinde in den ersten Tagen nach der Geburt mit einem kleinen knöchernen oder hörnernen Löffel gereicht werden, bald aber aus einer Saugkanne, Saugflasche, die am reinlichsten von Glas bereitet (Anmerkung: Ganz silberne, zinnerne, thönerne oder hölzerne Saugfläschchen taugen nichts, weil man nicht, wie in gläsernen, sehen kann, ob sie vollkommen rein sind, worauf es doch sehr ankommt, wenn die Milch darinn nicht gleich gerinnen soll.), mit schmalem Halse, und einem Schraubendeckel von Elfenbein versehen ist, der oben eine warzenähnliche durchlöcherte Saugröhre hat« (Osiander II, 193).
Osiander war dafür, das Kind regelmäßig und zu bestimmten Zeiten zu füttern, nicht etwa immer nur dann, wenn es schrie. Das Kind brauche sechsmal am Tag Nahrung, alle vier Stunden.
Enge Bindung
Caroline von Humboldt stillte die meisten ihrer Kinder selbst. Obwohl sie das Verlangen des Kindes nach Nahrung oft als Störung empfand, nahm sie sich Zeit und ließ alles andere dafür liegen. Durch das Stillen entwickelte sich eine enge Bindung zwischen Mutter und Kind. Caroline merkte, daß der Säugling von ihr allein abhängig war, und genoß diese neue, gewichtige Rolle. Sie fühlte sich dadurch aufgewertet und war stolz darauf, einen anderen Menschen durch eigene Kraft am Leben erhalten zu können. Das Ende der Stillzeit war für sie entsprechend schmerzlich:
»Ich bin leidlich wohl, aber traurig, da mir die schöne Zeit so mächtig zu Ende geht, und Brüderchen so ganz der Mutterbrust entwächst. Ach, so tief hat mich kaum je etwas geschmerzt, wenn er schon nun für einen großen Jungen und für keinen Säugling mehr gelten wird. Der große Junge wird nicht mehr so mein sein, wie es der kleine war. Ich werde nichts, nimmer, nimmer nichts mehr haben, was in diesem Sinne mir mehr so gehören wird wie dieser Junge« (an Wilhelm von Humboldt, Jena, 1795; Sydow II, 23).
Obwohl auch die Kinder Caroline, Wilhelm und Theodor von der Mutter gestillt wurden, äußerte sie sich nur bei Wilhelm begeistert darüber. Bei den anderen Kindern, vor allem bei den Mädchen, war das Stillen eher eine Selbstverständlichkeit. Die Entwöhnung empfand sie dagegen nicht nur bei Wilhelm, sondern auch bei Theodor als hart:
»Mir geht es nicht besser, die Schmerzen im rechten Fuß und Arm dauern fort, und besonders leide ich an den Augen. Vielleicht wird es besser mit dem Entwöhnen, vielleicht auch nicht, denn ich kenne mich zu gut, um nicht zu wissen, daß alles, was mich in der Seele schmerzt und stört, einen unmittelbaren Einfluß auf meine Gesundheit hat, und das so frühe Entwöhnen meines Theodor schmerzt mich unendlich, obgleich ich, wie die Dinge nun einmal stehen, es für sein Wohl am zuträglichsten halte« (an Wilhelm von Humboldt, Jena, 1. 5. 1797; Sydow II, 46).
Außer der Tochter Adelheid wurde auch Gabrielle, wegen der Reise nach Rom allerdings nur vier Monate lang, von der Mutter gestillt. Anschließend ernährte sie eine Amme. Die ältere Schwester Caroline erinnerte sich:
»Du, theure Gabriele, wärest zur Zeit der Abreise noch nicht ganz vier Monate. Die geliebte Mutter stillte Dich noch, aber ihr Arzt wollte auf der langen Reise das Selbstnähren nicht zugeben, weil er besorgte, daß sie sich zu sehr angreifen werde. So mußte denn die liebe Mutter sich zu einer Amme entschließen, was sie höchst ungern that, und diese war denn auch sehr schlecht und unsorgsam« (Bülow, 28).
Das Wunschkind Hermann schließlich wurde so lange gestillt, bis es wirklich nicht mehr anders ging:
»Mein geliebtes Herz, gib mir nicht schuld, listig wegen des Entwöhnens gewesen zu sein. Es war wirklich meine Absicht, und ohne die vorhandene Reise, wo es doch ein schrekliches Embarras ist, was man einem Kinde geben will, wäre es geschehen. Hermann ist stark im Zahnen begriffen und hat daher einige Tage weniger blühend ausgesehen« (Caroline von Humboldt an Wilhelm von Humboldt, Rom, 26. 5. 1810; Sydow III, 401).
2. Die Abschaffung des Wickelkissens
Für einen weiteren Liebesbeweis der „neuen Mutter" hält Elisabeth Badinter die Abschaffung des traditionellen Wickelkissens (Badinter, 162). Der Säugling wurde bisher in eine lange, handbreite Binde fest eingewickelt, so daß er sich nicht mehr rühren konnte. Vor allem für arbeitende Mütter war das Wickelkissen eine bequeme Lösung, denn sie konnten ihr derart stillgelegtes Kind überall hin mitnehmen, ohne ständig darauf achtgeben zu müssen. Der Arzt Osiander kritisierte diese Bequemlichkeiten der Mütter und riet:
»Weit besser ist es daher, das Kind, vorne mit einem Hemdchen und Kleidchen bedeckt, zwischen den Beinen aber mit einer Windel, welche die Unreinigkeiten aufnimmt und fleissig gewechselt wird, versehen, in einer abgenähten Matratze zu tragen. Die von baumwollenem Zeuge verfertigte und mit Baumwolle gefütterte Matratze muss so lang seyn, dass das ganze Kind vom Kopfe bis zu den gestreckten Füssen darauf liegen, das untere Ende aber noch bis an die Brust herausgeschlagen und mit Bändern da geknüpft, und der ganz untere Theil locker umwickelt werden kann. Die Hände und bekleideten Arme sind ausser der Matratze, das Kind kann sie frei bewegen und instinctmässig auf seine Augen legen. Die Füsse kann es an den Leib anziehen und strecken, und sich die vom Wachsthum und Gebrauch seiner Füsse nöthige Bewegung machen. Der Kopf des Kindes wird am besten mit einer gestrickten, lockeren Baumwollenmütze bedeckt, welche, ohne zu drücken, den Kopf warmhält, und ihn ungehindert ausdünsten lässt. Alle Mützen, die viele harte Nähte haben, und mit gesteiften Bändern geknüpft werden, thun dem Kinde weh, und verursachen, selbst zuweilen durch eine scharfe Farbe, dass das Kind am Halse wund wird« (Osiander II, 176).
Auch in der damals einsetzenden Abkehr vom Wickelkissen zeigte sich der Wandel in der Einstellung zum Kind: Die Mutter opferte ihren eigenen Bewegungsspielraum für den des Kindes. Dadurch, daß das Kind nicht mehr eingeschnürt war und sich frei bewegen konnte, ergaben sich, fast nebenbei, ganz andere Beziehungsmöglichkeiten der Mutter zum Säugling als bisher.
3. Die zärtliche Liebe zum Kind
Die »neue Mutter« bewunderte ihr Kind über alles. Im Vergleich mit anderen Kindern war das eigene immer das beste, schönste und gescheiteste. Lotte Schiller etwa berichtete ganz entzückt über den erst vier Wochen alten Sohn Karl:
»Mein kleiner Carl wird Sie recht freuen, er ist schon recht wohlgezogen und macht so ernsthafte Gesichter, als wenn er Pläne zu Trauerspielen in seinem Köpfchen herumtrüge. Er sieht Schillern und auch mir ähnlich, wahrscheinlich wird er blondes Haar bekommen, und hat blaue Augen. Ich bin nicht partheiisch, denke ich, aber ich habe noch nicht viele kleine Kinder gesehen, die so gefällig anzusehen sind, wie der kleine« (an Fritz von Stein, Ludwigsburg, 8. 10 '793; Ebers, 129).
Caroline von Humboldt schrieb über ihr drittes Kind, den zwei Monate alten Theodor:
»Ich habe ein schönes und sehr starkes Kind, meine Liebe, das Knäbchen wird Ihnen gewiß gefallen. Er hat die dunkelblauesten Augen die ich in meinem Leben sah, eine schöne Form von Kopf, einen schönen Körper, sehr geschikte Finger um den Mund und Kinn herum findet man sähe er dem Bruder ähnlich. Der Bruder ist noch viel schöner geworden, Sie werden sich ganz ernstlich in ihn verlieben« (an Rahel Levin, Jena, 6. 3. 1797; Leitzmann, 15).
Die Begeisterung für das eigene Kind war allerdings rein mütterlich-subjektiv. So gingen die Meinungen gerade über dieses »Knäbchen« Theodor weit auseinander. Caroline Böhmer teilte ihre Ansicht über Theodor einer Freundin mit, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen:
»Die Humboldten hat ein drittes Kind seit drei Wochen, so hässlich wie die beiden ersten« (an Luise Gotter, Jena, 13. 2. 1797; Schmidt I, 416).
Hinter den zärtlichsten Beschreibungen der Kinder stand die Liebe und Zärtlichkeit, die die Mutter für sie empfand. Das Kind wurde zum bevorzugten Objekt der mütterlichen Zuwendung, wie für Johanna der kleine Sohn Arthur. Sie betrachtete ihn gewissermaßen als Spielzeug, das, scheinbar ohne Eigenleben, Gegenstand mütterlicher Freude und Aufmerksamkeit war:
»Wie alle jungen Mütter spielte auch ich mit meiner neuen Puppe, war fest überzeugt, daß kein schöneres, frömmeres und für sein Alter klügeres Kind auf Gottes Erdboden lebe als das meinige, und hatte am Tage wie bei der Nacht kaum einen anderen Gedanken als meinen Sohn Arthur«
(Jugenderinnerungen, 252).
Die neue Liebe zum Kleinkind eignete sich hervorragend zur eigenen Bedürfnisbefriedigung der Mütter. Das Kind wurde so zum Ersatz für anderweitig unbefriedigte Bedürfnisse nach Zärtlichkeit und Körperlichkeit. Caroline von Humboldt schrieb während ihrer achten Schwangerschaft ihrem Mann:
»Laß es Dir ja nicht leid sein, daß ich guter Hoffnung bin, ach nein, ich bitte Dich, glaube nur, seit Gustavs Tod war es mein einziger Wunsch, meine liebste Hoffnung. Ich hatte eine solche Sehnsucht nach seinen holden Augen, nach dem Lallen seiner lieben Kinderstimme, nach dem Liebkosen seiner Händchen behalten, daß ich oft, oft geglaubt habe, mein Herz müsse brechen« (Rom, 31. 12. 1808; Sydow III, 57).
Eine Stelle aus Lotte Schillers Tagebuch macht ein weiteres Element der »neuen Mutterliebe«, das Schützen- und Behüten-Wollen der Kinder, deutlich:
»Wie wir die Kinder lieben in unserm Schooß als uns noch unbekannte Wesen, deren Werden und Sein wir ahnen und nicht mit dem Ruf der Liebe sie ins Dasein bringen können, wenn wir es möchten; - sie sollen da sein, leben, von uns das Leben empfangen aus der Hand Gottes; wir können ihre menschlichen Anlagen leiten, aber nicht dem Geist die Richtung geben, wie wir möchten; wir sehen ihr Schicksal und können nicht mit der Hand der Liebe in das Rad greifen und sein Herabrollen verhüten« (Urlichs I, 67).
Obwohl sie stets die mütterlich-schützende Hand über ihren Kindern halten wollte, mußte sie dennoch die Erfahrung machen, daß mit zunehmendem Alter der Kinder auch der Abstand zu ihnen größer wurde. Johanna Schopenhauer hegte ganz ähnliche Gefühle ihrem Sohn Arthur gegenüber, trotz der vielen Streitigkeiten mit ihm, als er heranwuchs. Sie unterstützte ihn in allen Angelegenheiten und baute ihm so manches Mal bei Schwierigkeiten goldene Brücken.
Kindersprache
Körperkontakt und Zärtlichkeiten zwischen Mutter und Kind waren unerläßlicher Bestandteil der »neuen Mutterliebe« (Badinter, 163). Da der Säugling nicht mehr in die Binden eingewickelt war, wurde er mehr liebkost als bisher.
Diese Zärtlichkeiten zwischen Mutter und Kind schlugen sich in Kosenamen für die Kinder nieder. In den Briefen tauchten auf:,,Wickelnarr«, »der kleine Adelnarr«, »der kleine liebe Sohn«, »der Herr K«, »das Ernstli«, »die Kleine«, »das kleine Schätzgen«, »das Liebchen«, »mein Pipi«.
Lotte Schiller entwickelte im Umgang mit ihren Kindern eine Kindersprache, die sie auch in Briefen an Friedrich Schiller benutzte. Dabei verniedlichte sie Gegenstände und veränderte den Satzbau. Auch wählte sie kindersprachliche Ausdrücke, etwa »Hottos« für Pferde. Man berichtete sich gegenseitig viel über kleine Begebenheiten im Leben der Kinder; dabei wurden vor allem lustige Einzelheiten aus dem Kinderalltag erwähnt. Wenn Verhaltensweisen der Kinder humorvoll nacherzählt wurden, geschah dies oft in der Sprache der Kleinkinder oder in dem, was die Mütter dafür hielten. Diese Geschichtchen, von der Mutter berichtet, mußten außer zur Erheiterung der Leserin oder des Lesers dafür herhalten, darzustellen, wie klug und erwachsen ihre Kleinen schon waren.
Doch auch Negatives wurde in den Berichten nicht verschwiegen. So mußte der Vater Friedrich Schiller erfahren, wie schlecht sich der Sohn Ernst der Herzogin gegenüber benommen hatte:
»Uebrigens schlägt er auch oft, und hat letzt die Herzogin geschlagen, und macht mit niemand Complimente« (Ezelbach, 10. 9. 1794; Fielitz III, 87).
Humboldts Tochter Caroline wollte sich nicht waschen lassen, wenn der Vater nicht da war. Sofort wurde diesem berichtet:
»Die Li ist überartig gewesen, ein kleine Szene am Vormittag abgerechnet, wo sie sich nicht wollte waschen lassen und immer nachher rief, als ich sie ein unartiges Kind nannte: >Bill wieder kommen, Kind wieder gut<« (Caroline von Humboldt an Wilhelm von Humboldt, Jena, 21. 11. 1794; Sydow II, 18).
Die mütterliche Wertskala
Die Liebe zu den eigenen Kindern war nicht grundsätzlich auf alle gleich verteilt: Söhne standen in der mütterlichen Wertskala höher als Töchter. Zwar wurde auch die Tochter akzeptiert und geliebt, doch auf eine andere Art als der Sohn.
Während gegenüber Söhnen ein gewisser Stolz der Mutter mitschwang, wenn vor allem der Verstand geliebt wurde, war es gegenüber den Töchtern eine Art zärtlicher Zuneigung für deren sanfte Art und hübsches Aussehen, wie es etwa Caroline Böhmer an ihrer ersten Tochter Auguste liebte. Agnes von Stolberg-Stolberg charakterisierte ihre Kinder so:
»Sie machen uns alle jedes in seiner Art unendlich] viel Freude, Ernst mit seinem Ernst, ist so vernünftig und interessiert und der Erguß seines liebenden kleinen frommen Herzens rührt mich oft zu süßen Thränen. Maria ist ein kleiner Schmetterling, so froh, so mild, so sanft, so schmeichelnd, ein süßes kleines Mädel!« (an Ernestine Voß, Neuenburg, 18. 12. 1787; H).
Lotte Schiller war sich sicher, daß sie Söhne mehr liebte als Töchter, bevor sie überhaupt Töchter hatte. Bei diesem Vor-Urteil blieb sie auch, als sie schließlich deren zwei hatte. Die hohe Wertschätzung für Söhne war auch bei Dorothea Veit-Schlegel festzustellen. Sie übertrieb theatralisch ins Aktuell-Politische:
»Können Sie sich wohl ein herrlicheres Loos denken als Buonapartes Mutter zu sein?« (an Zelter, Jena, 11.4. 1800; Kömer, 28).
Unterschiedliches Verhalten von Söhnen und Töchtern wurde bewußt gefördert. Bei Töchtern fand Empfindsamkeit und Anpassung, bei Söhnen Aggressivität den mütterlichen Zuspruch.
4. Die Sorge um das Kind
Durch das Fehlen der bisher üblichen Distanz war auch neu, daß die »neue Mutter« die körperliche und geistige Entwicklung der Kinder genau beobachtete. In den Briefen wurden die verschiedenen Entwicklungsstufen beschrieben, so das Sprechen der ersten Worte: »Heut hat er Papa gesagt« (Lotte Schiller an Friedrich Schiller, Ezelbach, 10. 9. 1794; Fielitz III, 87).
Genauso wie vom Sprechen einfacher Sätze, ebenfalls ein Erfolgserlebnis, das die Mutter für sich buchte, wurde begeistert von den Erfolgen im Sitzen des Jüngsten erzählt:
»Der kleine Bruder ist wohl und munter und hat heute ganz allein und ohne Rückhalt wohl eine Viertel Stunde auf Schillers Teppich gesessen« (Caroline von Humboldt an Wilhelm von Humboldt, Jena, 24. 11. 1794; Sydow II, 19).
Einen Bericht wert war auch das Laufen am Laufband und ohne fremde Hilfe:
»Die Kinder sind wohl, und das kleine Liebgen benutzt deinen Sopha an dem es heute und gestern recht herum spaziert ist, und bald Muth hat allein zu gehen. Es ist heute vom Sopha zu einen Stuhl ohne wiederspruch gewandelt, und hält sich sehr leicht nur an« (Lotte Schiller an Friedrich Schiller, 7.3. 1801; Fielitz III, 154).
Andere besondere Fertigkeiten wurden herausgestellt, vor allem die Tatsache, daß das eigene Kind wegen eben dieser Fertigkeiten auch von anderen geliebt wurde. Entsprechend dem Stolz über Fortschritte war die Sorge um die Gesundheit und körperliche Entwicklung der Kinder. Ihr Gesundheitszustand war häufig Gegenstand von Gesprächen und Berichten. Auch diese Sorge kann als ein Element der »neuen Mutterliebe« gelten. Mangels anderer Informationsquellen informierten sich die Mütter gegenseitig über die Krankheiten der Kinder. Entstehung, Verlauf und Behandlungsmethoden wurden ausführlich erörtert.
Als besondere Gefahren wurden das Zahnen und die Pocken betrachtet. Zum Schutz gegen die ansteckenden Pocken wurden die Kinder schon vom Arzt geimpft. Während der anschließenden Immunisierungsphase erhielten sie eine aufopfernde Pflege.
Die Sorge um die Gesundheit der Kinder hörte jedoch nicht mit steigendem Alter des Kindes auf. Schwierigkeiten der Töchter mit der Menstruation während der Pubertät wurden in den Briefen ebenso abgehandelt wie ihre späteren psychischen Probleme in der Ehe.
Der grausame Tod
Trotz dieser Sorgen und Mühen starben viele Kinder im frühen Alter. Der Tod eines Kindes wurde als eine Katastrophe empfunden, die die Mutter nur schwer verkraften konnte. Der Mutter war das Kind emotional so nahe, daß es zum beinahe unersetzlichen Wesen wurde. Dies gilt als weiteres Merkmal der »neuen Mutterliebe« ( Badinter, 165). Dorothea Veit verglich ihre Empfindungen beim Tod ihres Vaters mit denen beim Tod ihres erstgeborenen Sohnes:
»Seitdem ich Mutter bin, kann ich nicht mit Ruhe am Tode denken - Rousseau hat das mütterliche Herz nicht gekannt! mit Aufopferung seines Lebens, dem Kinde das Leben retten, ist natürlich, welche Mutter kann in einen solchen Augenblick überlegen? aber mit Ruhe aus ihrer Mitte scheiden? die unmündigen Lieben auf ewig, mit Ruhe verlassen? das glaube ich nicht, daß kann nie sein. Auch Sie bedaure ich lieber Freund! Sie müssen sehr beim Tode Ihrer Mutter gelitten haben; aber kindliche Liebe ist nur Schatten gegen die Liebe der Mutter zu ihren Kindern. Ich war eine kurze Zeit betäubt, u[nd], Sinnlos, da mein großer, mein geliebter Vater starb! doch stiller, Gesundheit nagender, drückender Gram verließ mich nicht, da mir mein Erstgebohrener starb; ein Säugling, dessen existenz mit der meines Vaters in gar keinen Vergleich zu bringen war, u[nd] doch!« (an Carl von Brinkmann, Berlin, 25. 12. 1791; Wieneke, 274).
Nachdem Dorothea zwei von vier Kindern verloren hatte, brach sie bei den geringfügigsten Zeichen des Unwohlseins ihrer beiden verbliebenen Söhne in Panik aus. So auch, als Sohn Philipp seine ersten Zähne bekam:
»Etwas wird meine Fröhlichkeit doch niedergeschlagen dadurch, daß mein Kleiner jetzt sehr am Zahnmachen leidet - Gott erhalte ihn mir, ich wüßte nicht wie ich seinen Tod (den ich doch alle Augenblik sehr nahe sehe) wie ich den ertragen sollte!« (an Rahel Levin, Schönhausen, 4. 8. 1793; Wieneke, 284).
Von Charlotte von Kalbs vier Kindern starben ebenfalls zwei im Säuglingsalter. Charlotte empfand den Tod dieser Kinder als einen kleinen eigenen Tod. Oft verstärkte sich ihr Schmerz durch die Illusion, die Kinder wären noch am Leben. Einem Freund gestand sie:
»Zwei Kinder habe ich schon beweint. O wie eisern sind deine Gesetze, Natur, dem Mutterherzen! Durch ihre Seele drang ein Schwert die Mutter wird mit dem Kinde begraben, und wie belebt durchdringt gleichsam die Seele wieder die nachwandelnde Gestalt, wie sie vormals that, als der Liebling noch in ihren Armen ruhte. Meine Phantasie hat noch erbleichte Bilder, die ihr der Schmerz gezeichnet hat« (an Jean Paul, Weimar, 26. 3. 1796; Nerrlich, 4).
Caroline Böhmers vier Kinder starben alle vorzeitig. Als sogar die schon 15jährige Auguste starb, löste dies bei Caroline eine tiefe Lebenskrise aus. Monatelang quälte sie sich mit Selbstzweifeln und wünschte sich, lieber selbst gestorben zu sein.
Von Caroline von Humboldts acht Kindern starben drei sehr jung. Vor allem der Tod von Wilhelm im Alter von neun Jahren bedeutete einen tiefen Einschnitt in ihr Leben. Ihre Trauer um ihn war so groß, daß sie von ihrem Leben als einem »Gewebe voller Leiden« sprach (an Carl Friedrich von Dacheröden, Rom, 2. 9. 1803; Sydow II, 115). Ihrer Freundin Lotte Schiller schrieb sie:
»Ach ich bin auf das ganze Leben hinaus sehr unglücklich geworden, ich kann den Schmerz tragen, aber er geht wachsend mit mir in die dunkle Zukunft, und ich blicke in den Abgrund meines eigenen Herzens, wie in den der Zeit, die dunkel vor mir ausgebreitet liegt. Weh! möget ihr nie erfahren, was das ist, wenn das Geliebteste starr und kalt vor einem liegt; wenn das, was euch das Nächste war, euch fremd erscheint« (Rom, 17.9. 1803; Urlichs II, 191).
Louise, ihr sechstes Kind, starb nach nur vier Monaten. Dieser Tod brachte Caroline an den Rand des Wahnsinns. Als dann auch noch das siebte Kind starb, wurde sie von schweren Depressionen ergriffen. Doch auch sie, wie die anderen vom Tod ihrer Kinder tief betroffenen Frauen, fand, trotz des Gefühls der Auswegslosigkeit, aus diesen Lebenskrisen wieder heraus. Nach deren Überwindung versuchte sie, den Tod zu rationalisieren. Sie betrachtete nun den Tod eines Erwachsenen als etwas Natürliches, den Tod kleiner Kinder dagegen als etwas Tragisches, da mit ihnen die Zukunft sterbe. Auch hätten sie noch nicht am planenden, bewußten Leben teilgenommen, während ältere Menschen das Leben gelebt und hinter sich hatten. Ihrem Mann schrieb Caroline:
»Ich bin aufs tiefste, aufs allertiefste gerührt worden durch das, was Du in einem Deiner letzten Briefe über den Tod sagtest - ja, wohl ist er eigentlich ein Vermittler zwischen Tod und Leben und stellt das Schöne und Geliebte vollendet und abgeschlossen zur Bewunderung der Welt hin. Nur, wenn er in so blühendem Alter das Geliebte trifft, so hat er für den Moment des Scheidens auch noch das besonders Schmerzliche, daß er die Hoffnungen und Träume und Ahndungen der Seele zerstört und gewaltsam abschneidet. Bei einem Erwachsenen sind sie zum Teil erfüllt, man weiß, er selbst hat empfunden, wohin sich alles im Gemüt neigt, aber bei einem vielversprechenden Kinde liegt das Leben verschlossen wie die duftende Blume in der vollstrotzenden Knospe. Der Tod gesunder, wohlorganisierter Kinder ist daher von allen Toden der schrecklichste, der unnatürlichste eigentlich« (Albano, 5. 8. 1809; Sydow III, 210).
Von Sophie Mereau-Brentanos sechs Kindern überlebte nur die Tochter Hulda (aus ihrer ersten Ehe mit Mereau). Sohn Gustav, ebenfalls aus erster Ehe, starb im Alter von fünf Jahren. Vier Kinder Sophies mit Clemens Brentano starben in den ersten Lebenswochen. Tochter Joachime beispielsweise starb an Scharlach. Nach dem Tod des ersten Kindes aus zweiter Ehe, Ariel, plagten Sophie Gewissensbisse, da sie ihn in Pflege gab. Als sie wieder schwanger war, schrieb sie an ihren Mann:
»Wegen Jette [ihrer Schwester] folgendes: Es ist jetzt mein wichtigstes Geschäft auf der Welt, für das neue, zarte Leben in mir, die größte Sorge zu tragen. Ich bin fest entschlossen es, die ganze erste Zeit über, in keine fremde Hände zu geben - denn ich weiß, was mich noch jetzt für Vermutungen wegen des armen Ariels, an den ich jetzt oft denke, quälen und wie schlecht ich jede erkaufte Pflege, auch die bezahlteste, gefunden habe. Ich selbst möchte von keinem Mietling Dienste empfangen, und Jette ist die einzige treue Seele für mich auf der Welt, die mir das alles gern leistet, von der ich es gern annehme« (Heidelberg, 17. 11. 1804; Gersdorff, 324).
Nach dem Tod eines oder mehrerer Kinder wuchs die mütterliche Sorge um die Gesundheit der Kinder. Auch der Tod des Ehemannes war den Frauen Anlaß, stärker auf das Wohlbefinden der Kinder zu achten.
5. Die Kindheit der Schriftstellerinnen
Kindererziehung war bis Ende des 18. Jahrhunderts keine Angelegenheit der Eltern (Badinter, 91). Der Säugling kam erst in eine Pflegefamilie; das vierjährige Kind kehrte dann ins Elternhaus zurück und wurde dort von Hauslehrer/inne/n erzogen. Im Alter von 8 bis 10 Jahren wurden die Kinder ins Pensionat oder ins Kloster geschickt. Erst mit 14 oder 15 Jahren kehrten sie ins Elternhaus zurück - bis sie heirateten. Dieses französische Erziehungsschema galt nur noch zum Teil für die Erziehung der Schriftstellerinnen selbst. Die ersten Jahre verbrachten sie im Elternhaus, nicht in einer Pflegefamilie. Sie wurden jedoch nicht von ihren Müttern, sondern von Ammen und Kinderfrauen betreut. Die Ausbildung übernahmen Gouvernanten oder Hauslehrer. Die Töchter von Lengefeld wuchsen auf dem Land auf. Ihre Mutter stand der Hauswirtschaft vor und brachte sehr wenig Zeit für ihre Kinder auf. Erzogen wurden sie von einer Verwandten. Eine kurze Zeit übernahm dann eine französische Gouvernante die Erziehung. Den Unterricht übernahmen Lehrer, die ins Haus kamen. Lotte dachte daran mit Unbehagen zurück:
»Ich hatte Unterricht in den Morgenstunden; ich lernte nicht gern, und es war mir peinlich, wenn ich die Stunde schlagen hörte, und mein Lehrer begann eine neue Materie des Unterrichts. Französisch lernte ich auch nicht gern; Zeichnen und Schreiben wurden mir auch schwer. Aber am allerunangenehmsten war mir die Tanzstunde. [. . .] Nach dem Essen kam der Lehrer, und wir hatten Unterricht in der Geographie, lasen Zeitungen oder schrieben Briefe. Alsdann kam noch der französische Sprachmeister, und unsere Stunden hatten ein Ende« (Erinnerungen; Urlichs I, 31).
Verantwortlich für diese schulische Ausbildung der Töchter zeichnete der Vater. Ihm lag nicht nur ihr Wissen am Herzen, sondern auch die Körperertüchtigung. Caroline erinnerte sich:
»Er bemühte sich sorgsam um die Ausbildung unsres Körpers; ihm machte es große Freude, wenn wir nach den Lehrstunden in muntern Spielen in freier Luft unsre physischen Kräfte übten. Unser Haus lag frei an einem Berge, und wir genossen alles Erfreuliche und Unbeschränkte des Landlebens. Dann sorgte er für die Entwicklung unsers Verstandes. Seiner klaren und weiten Weltansicht, die sich meist bei Tisch, wo er gerne lange saß, aussprach und die gar nicht im Lehrton, sondern im heitern Gespräch in uns überging, verdankten wir eine frühe Anregung desselben« (Schillers Leben, 98).
Neben der Schulung des Verstandes und des Körpers lernten die Töchter, was Caroline nicht erwähnte, die Mithilfe in der Haus- bzw. Landwirtschaft. Lotte dagegen berichtete über ihre Erfahrungen als Kind in der ländlichen Hauswirtschaft der Mutter:
»Es war uns eine eigene Freude, die Ernte einfahren zu sehen, und an diese wiederkehrende Freude knüpften wir unsere Erinnerungen. Bald halfen wir die Gemüse aufzubewahren, bald das Obst für den Winter zu legen, bald halfen wir einmachen, Obst trocknen. Alles wurde uns wichtig, und es wurde mit einer Art Wichtigkeit behandelt, wovon man nur in einer einfachen Lebensweise einen Begriff hat. Das ganze Haus hatte nur einen Gesichtspunkt bei einem ökonomischen Fest; Alles war beschäftigt. Ich zog indeß freilich lieber auf dem Berg herum, den sich meine kindische Phantasie vergrößerte, suchte Blumen und Zweige und kam oft recht von Dornen zerrissen zurück und ganz athemlos. Bald wollte ich eine Blume pflücken, die unzugänglich war, bald fiel ich aus Unvorsichtigkeit den Berg hinunter, ohne Wunden ging keine meiner Streitereien ab« (Erinnerungen; Urlichs I, 31).
Die Erziehung der anderen Frauen vollzog sich etwa nach demselben Schema. Caroline von Dacheröden wurde von einer Gouvernante erzogen, mit der sie sich schlecht verstand. Die Gouvernante schränkte ihren Bewegungsspielraum beim Aufenthalt in der Stadt stark ein. Auf dem Land, in Burgörner, konnte sich Caroline freier bewegen.
Früher Unterricht
Moses Mendelssohn unterrichtete seine Tochter Brendel gemeinsam mit ihren Brüdern in Philosophie und Religion selbst. Zusätzlich erhielten die Kinder Unterricht in Literatur und Mathematik durch Mendelssohns Schüler.
Johanna Trosiener ging schon im Alter von drei Jahren täglich zweimal in eine öffentliche Schule. Dort lernte sie als erstes Stillsitzen. Ihr Interesse für die Zeichenkunst entwickelte sich rasch, brachten doch die Lehrerinnen dieser Schule als Schwestern des Zeichners Chodowiecki genug an Kenntnissen und Fähigkeiten mit. Bald lernte Johanna auch Lesen und Schreiben. Mit sechs Jahren verließ sie die Schule. Dann erhielt sie Unterricht durch einen Hauslehrer in Französisch. Nach dessen mäßigem Erfolg wurde ein Theologie-Referendar angestellt, der jeden Vormittag eine Stunde Unterricht mit wechselnden Themen abhielt. Ein Nachbar lehrte Johanna die englische Sprache. Nach wenig erfolgreichen Tanzstunden wurde sie jeden Nachmittag von zwei bis sieben Uhr zu Mamsell Ackermann gebracht, um dort Französisch zu lernen. Ihr Tagesablauf sah so aus:
»Jameson [der englische Nachbar], Kuschel [der Theologie-Referendar], der Tanzmeister und eine gute alte Frau, die in feinen Wäschenähen und Stopfen mich zu unterrichten kam, nahmen bis Mittag meine Morgenstunden in Anspruch, um zwei Uhr nachmittags wurde ich zur Mamsell Ackermann gebracht, bei der wir bis sieben Uhr verweilten, und bei meiner Nachhausekunft fand ich oft noch meinen freundlichen Jameson auf mich wartend, bei dem ich denn noch das letzte Abendstündchen vor dem Nachtessen recht vergnügt zubrachte« (Jugenderinnerungen, 111).
Bei Mamsell Ackermann lernten die Mädchen außer der Sprache gutes Benehmen:
»Ungeschicktes Auftreten, ein schwerfälliger Gang, Türenwerfen, überhaupt unnötiges Geräusch zogen lange Strafpredigten nach sich, die eine sehr harte Strafe uns dünkten, weil sie die gräßlichste Langeweile uns erregten« (Jugenderinnerungen, 112).
Ebenso wie Johanna war Charlotte Marschalk von Ostheim schon als Kind zeitlich stark eingebunden. Sie und ihre Geschwister wurden von morgens bis abends beschäftigt; zum kindgemäßen Spielen, wie Charlotte in ihren Memoiren bedauernd feststellt, blieb keine Zeit. Die Beschäftigungen erstreckten sich vorn Kräutersammeln für Kranke bis zu Gesellschaften und Ausflügen.
Nach dem Tod beider Eltern wurden die Geschwister bei Verwandten untergebracht. Dort lernten die Schwestern hauswirtschaftliche Fertigkeiten. Charlotte schilderte in ihren Memoiren, welchen Tätigkeiten die Kinder damals nachgingen:
»Die eine Schwester fesselte nur das Spinnrad, die jüngere war lieblich, zur Schlauheit geneigt, ich aber war zu beiden nicht geschickt. Für ein Wesen, welches schon so manchen Eindruck erhalten, in manchen Umgebungen gelebt, war diese Lage zu unthätig. Einigermaßen wurde dieser Mißstand durch meine Nachbarin gehoben, die auf selber Gallerie wohnte. Diese hatte mehr aus Neigung und zur Uebung die Führung der Wirthschaft übernommen, und die häufigen Gastbesuche erhielten die Thätige in steter Uebung. Da wurde ich denn auch zu diesem Zweck beschäftiget, mit Maaß und Gewicht, denn man erlaubte keine Willkür. Häusliche Sorgfalt ist die sinnigste Wohlthat, sie sei aber stets so fern von Aengstlichkeit wie von Vergeudung« (Gedenkblätter, 25).
Ein Mädchenpensionat, wie es das traditionelle französische Erziehungsschema vorsah, besuchten nur zwei Schriftstellerinnen: Therese Heyne und Caroline Michaelis, die Göttinger Professorentöchter.
6. Erziehung als mütterliche Aufgabe
Im Gegensatz zu allen anderen schriftstellernden »neuen Müttern« erzog Caroline von Beulwitz-Wolzogen ihr Kind in den ersten Jahren nicht selbst. Sohn Adolph wuchs in einer Pflegefamilie auf, in der er bis zum Alter von etwa fünf Jahren blieb. Nach seiner Rückkehr ins Elternhaus kam Caroline mit seiner Erziehung nicht zurecht. Ihre Mutter mußte eigens anreisen, um ihn zu pflegen und zu erziehen. Adolph galt in der Verwandtschaft als ein schwieriges, sensibles und ernstes Kind. Alle übrigen Frauen übernahmen selbst die Erziehung der Kinder. Diese wesentliche Neuerung im privaten Erziehungswesen bedeutete eine Erweiterung der Kompetenzen der Frau und Mutter. Die Mütter nahmen diese neue, selbstgesetzte Aufgabe sehr ernst: Dorothea Veit wurde von ihren Kindern derart beansprucht, daß sie für gesellschaftliche Verpflichtungen keine Zeit und Energie mehr hatte. Auch Caroline von Humboldt verbrachte viel Zeit mit der Erziehung ihres ersten Kindes Wilhelm. Sie wurde allerdings von Dienstboten zum Teil entlastet, ebenso wie Lotte Schiller.
Die Arbeit mit den Kindern wurde als sehr zeitraubend empfunden, denn die Mutter war ständig gefordert, sich mit den Kindern zu beschäftigen. Zusätzlich zu den allgemeinen erzieherischen Aufgaben fiel nun auch der Unterricht der Kinder in das Aufgabengebiet der Mutter. Diese neue Art der umfassenden Kindererziehung durch die Mütter wurde von ihnen selbst als wichtige Aufgabe und als wertvolle Arbeit betrachtet.
Das Ideal: dem Kind die Freiheit
Die Vorstellungen der Mütter über die Erziehung der Kinder schwankten zwischen zwei Prinzipien: größtmögliche Freiheit für das Kind oder Anpassung des Kindes an gesellschaftliche Normen. Schon vor ihrer Heirat mit Friedrich Schiller entwickelte Lotte Vorstellungen, wie sie die gemeinsamen Kinder erziehen wollte. Die Kinder sollten nicht mit Ängsten und Drohungen geplagt werden, sondern frei und aufgeklärt aufwachsen. Sie sah in der Kindheit die Wurzeln für spätere psychische Schäden, die nicht wieder gut zu machen waren. Dies wollte sie durch Aufklärung und Liebe vermeiden:
»Wie gut ists doch, wenn wir die Verhältnisse der Dinge einsehen lernen in der physischen Welt. Wie viele Menschen zittern bei dem fürchterlichen Getöse des Donners, glauben den rächenden Gott zu hören. Man sollte nur stets den Kindern die reinsten einfachsten Begriffe einbringen von den Auftritten der Natur. Sie würden das Leben leichter und froher genießen; haben sie auch nicht die sonderbarsten Ideen und abgeschmacktesten Begriffe von den Dingen, so thut doch die Dunkelheit und Verworrenheit eben so viel Schaden. Die Kinder nehmen die schwächsten Eindrücke begierig auf, und es bleiben alsdann tausend Sachen in der Seele eingewurzelt, die sie unmöglich so leicht wieder austilgen können, und die alsdann Hindernisse zur Fortschreitung des Eingangs der wahren und reinen Begriffe in die Seele legen, die die Zeit und Vernunft nicht so leicht daraus vertilgen können« (Tagebuch, 18. 6. 1788; Urlichs I, 52).
Ein wichtiges Erziehungsideal von Lotte war, den Kindern Aufrichtigkeit gegenüber Gefühlen, Freude und Schmerz, beizubringen. Die Kinder sollten sich körperlich und geistig wohlfühlen. Sie verglich ihre Erziehungsprinzipien mit denen von Verwandten, an denen sie herbe Kritik übte. Über ihren Vetter Friedrich von Wurmb äußerte sie:
»Friz ist ein recht guter Mensch, und erweckt einem das Gefühl des «Wohlwollens, aber er ist noch verschloßner wie die Schwester. Und sieht so gedrückt und abgelebt aus, daß er einem betrübt. - Ich habe bey diesen beyden Geschwistern rechte Beobachtungen über die Erziehungsweise gemacht, und mich über dem Onkel recht geärgert von neuen; denn er ist allein Schuld daran, daß sie so sind, weil er sie so viel geprügelt hat. Sie werden niemals zeigen können, daß sie froh sind, und den Menschen wohlwollen, weil sie frühe so viel Furcht hatten. Unsre Kinder die wir gottlob nicht so erzogen haben, gehen ordentlich unter denen herum als wesen anderer Art. Sie zeigen ihr Wohlbehagen, und ihren Schmerz, und haben kein physisches uebelseyn zu fürchten. Man sieht es ihnen schon an, daß sie, weil es ihnen wohlgeht, auch wohlwollende und liebende Gemüther haben« (an Friedrich Schiller, Weimar, 21. 3. 1801; Fielitz III, 171).
Dasselbe Ziel, nämlich Aufrichtigkeit gegenüber Gefühlen, hatte auch Caroline von Humboldt bei der Erziehung ihrer Kinder. Carline Böhmer ging davon aus, daß Kindern bestimmte Anlagen angeboren waren, die sie als Mutter fördern konnte. Sie möchte keine folgsamen, gedrillten Kinder - wie sie selbst wohl eines gewesen war -, sondern freie, selbständige Wesen. Sie verstand Kindererziehung nicht als Abrichtung, sondern mehr als beobachtendes Leiten, mit dem sie die Kinder vor »bösen Gewohnheiten« bewahren und ihre Eindrücke lenken wollte. Größtmögliche Freiheit für das Kind war also auch Carolines Erziehungsprinzip.
Im Verhalten der Mutter kindlichen Spielen gegenüber bewies sich die Aufrichtigkeit dieser Einstellung: Das Austoben der Kinder wurde toleriert, auch wenn damit Lärm und Unannehmlichkeiten verbunden waren.
Gegenpol dieser Erziehungsmethode war die Anpassung der Kinder an bestehende gesellschaftliche Normen unter den Begriffen Bravheit und Wohlerzogenheit. Dazu gehörte auch die Vermittlung von Geschlechtsrollen, nach denen die Kinder erzogen wurden. Lotte Schiller schrieb nach der Geburt eines Sohnes:
»Ich bin sehr froh, daß es keine Tochter ist, denn ich möchte nicht gern eine haben; ich habe so viele Gründe, die mich die Söhne mehr lieben machen, teils aus anderen, theils auch meinen Neigungen nach. Es würde mir recht viel Aufopferung kosten, eine große Tochter um mich zu sehen, weil ich zu hohe Begriffe habe von dem, wie unser Geschlecht seyn könnte und durch alles, was die Frauen umgiebt, wird ihre Bildung verhindert so zu sein wie es meine idealische Weiblichkeit seyn sollte. Und ich mag immer lieber das hohe Bild in mir herumtragen und selbst darnach streben, als ein Wese das so nah mit mir zusammen hinge, das ich wie mich selbst ansähe, den gewöhnlichen Weg ohne Rettung wandeln zu sehen. - Meine beiden Kleinen sollen keine Ideale werden, aber es ist leichter, sie zu vervollkommnen und ihrem Charakter nach sie zu bilden. Bei den Frauen ist Alles gegen sie, um sie ihrem Charakter treu bleiben zu lassen, wie die Welt und die unabänderlichen Dinge einmal sind« (an Fritz von Stein, Jena, 3.3.1798; Ebers, 135).
Lotte äußerte hier eine Angst vor einer Tochter, die für sie ein Spiegelbild ihrer selbst darstellen würde. Dieses Spiegelbild würde aller Wahrscheinlichkeit nach, den gesellschaftlichen Umständen entsprechend, nicht den Idealvorstellungen Lottes von Weiblichkeit gleichkommen. Die Erziehung von Söhnen fiel Lotte von daher leichter; das Prinzip Freiheit in der Erziehung scheint für Lotte bei Söhnen leichter realisierbar als bei Töchtern.
Erziehung der Töchter
Schon in der Auswahl des Spielzeugs fand die Geschlechtertrennung statt. Mädchen spielten mit Puppen und Hausrat. Damit sollten sie sich auf ihre zukünftigen Aufgaben als Hausmütter vorbereiten. Humboldts Tochter Caroline bekam beispielsweise ein Waschhaus, einen Korb mit Wäsche und Puppen zum Geburtstag. Die Töchter Adelheid und Gabrielle erhielten als Spielzeug Puppen, Handkörbchen, ein Bauspiel aus Häusern und Bäumen und ein Puppenhaus.
Das durch derartiges Spielzeug gestellte Lernziel für die Töchter war die Ausbildung manueller Fertigkeiten, sich alleine zu beschäftigen, sowie der Fähigkeit, Beziehungen wahrnehmen. Auf die Entwicklung von Beziehungen zu Männern und die Entfaltung »weiblicher Tugenden« wurde dabei besonderer Wert gelegt. Als Besonderheiten »weiblicher Tugend« galten Schüchternheit und Empfindsamkeit. Typisch dafür war, in welchen »Fächern« die Töchter unterrichtet wurden:
Auguste Böhmer lernte Klavierspielen und Singen, Französisch, Zeichnen, Schreiben und Literatur. Caroline Schiller lernte Lesen und Strik-ken. Beide Schiller-Töchter wurden in enger Bindung an die Mutter erzogen und erhielten eine recht spärliche Bildung. Caroline von Humboldt (jun) lernte Gitarrespielen und Französisch. Die Tochter des Sprachforschers erhielt eine außergewöhnliche Sprachausbildung: Mit 17 Jahren lernte sie Griechisch und sollte wegen ihres großen Talents noch Türkisch oder Arabisch lernen. Den Unterricht übernahmen Hauslehrer, nicht etwa der Vater.
Adelheid und Gabrielle lernten Deutsch, denn sie sprachen von Kind auf Italienisch, und Geografie. Adelheid erhielt außerdem Musikunterricht. Sie teilte alle Stunden mit ihrer Schwester Gabrielle bis zu ihrer Verlobung.
Friederike Brun ermöglichte ihren Töchtern ein geringeres Maß an Geistesbildung. Allerdings scheint der Familie in der Töchterausbildung etwas gefehlt zu haben, was Friederike »Schönheit der Tugend« nannte. Also lernten die Töchter zusätzlich Zeichnen und Musizieren. Therese Forster-Huber unterrichtete Tochter Luise und die Pflegetochter selbst. Am Nachmittag erteilte sie ihnen drei Stunden Unterricht, den Abend füllte sie mit Lesen und Konversation. Luise erhielt eine Ausbildung in hauswirtschaftlichen Fertigkeiten durch ihre praktische Mithilfe im Haushalt. Sie erlernte Sticken und das Anfertigen von künstlichen Blumen. Eher nebenbei lernte sie die französische Sprache. Therese legte in der Erziehung ihrer Tochter Luise Wert auf eine Mischung von Bildung (Lesen von antiken Dichtern), Hausarbeit, Kinderwartung, Beweglichkeit und Lustigkeit. Von einem Mehr an Bildung hielt sie nichts, obwohl sie selbst eine gute erfahren hatte. Ausgaben für Schulunterricht für Mädchen waren in ihren Augen Geldverschwendung, da die Bildung in der herrschenden Gesellschaft nicht anwendbar wäre und sich als Investition nicht rentierte. Sie selbst lehrte ihre Töchter während der Hausarbeit. Diese Belehrung beschränkte sich größtenteils aufs Geschichtenerzählen. Eine Ausbildung der Tochter in Musik, Zeichnen und Tanzen hielt sie zwar für unerläßlich, mußte aber darauf verzichten, da sie kein Geld dafür übrig hatte. Luise konnte weißnähen, schneidern, stricken und sticken, sie bügelte und wusch im Taglohn; auch las sie gerne Werke über Geschichte und Geografie und Übersetzungen antiker Dichter.
Es ist also ein großer Unterschied festzustellen zwischen der Erziehung, die die Schriftstellerinnen als Kinder erhalten hatten, und derjenigen, die sie den eigenen Töchtern zukommen ließen. Die Töchter wurden in einem ausgeprägten weiblichen Rollenschema erzogen. Allzuviel Bildung wurde ihnen nicht gestattet, sie erhielten nicht einmal den Grad an Bildung, den ihre Mütter hatten.
Ergebnis davon war, daß die Töchter auf diese Weise brave Hausfrauen wurden. Ihre Empfindsamkeit und Schwäche förderten ihre schreibenden Mütter als Merkmale der bürgerlichen Weiblichkeit. Sie wurden dazu angehalten, verständnisvolle und unterhaltsame Partnerinnen ihrer zukünftigen Ehemänner zu sein. Das Wesentliche an der Erziehung der Töchter war ihre Qualifikation als gute Ehefrau und Mutter, da das vorrangige Ziel dieser Erziehung die Verheiratung war. Obwohl auch die »neuen Mütter« versuchten, auf die Partnerwahl der Töchter Einfluß zu nehmen, zwangen sie sie doch nicht zu einer von der Tochter abgelehnten Konvenienzehe.
Erziehung der Söhne
Söhne erhielten grundsätzlich eine qualifiziertere Ausbildung. Therese Forster-Huber schickte ihren Sohn Aime auf ein kostspieliges Internat.
Seine Ausbildung erschien ihr wichtiger als die ihrer Töchter, und diese selbst verzichteten gerne zugunsten des Bruders. Obwohl von der Mutter erzogen, wurden die Söhne nur zum Teil von ihr auch unterrichtet. Charlotte von Kalb gefiel es gar nicht, daß die Familie ihren Sohn ihrer Unterrichtung entzog:
»So ward der Knabe, der schon etwas lesen konnte. Denen übergeben, die noch die Fibel mit ihm übten. Vorher war seine Zeit geordnet und erfüllt, nun aber die Stunde mit der leeren Fibel und die übrige Zeit des Tages vom Wirbel nichtiger Knabenspiele zerstreut« (Gedenkblätter, 159).
Der Hauslehrer hatte ihre Funktion übernommen. Karl Schiller dagegen ging schon früh täglich zu einem Lehrer. Mit acht Jahren lernte er dort Latein, mit elf Jahren Griechisch. Sein Bruder begann mit acht Jahren ebenfalls Latein zu lernen. Ihr täglicher Unterricht in der Schule dauerte sechs Stunden.
Philipp Veit besuchte ebenfalls eine öffentliche Schule. Zusätzlich erhielt er von Friedrich Schlegel, dem freund der Mutter, Privatstunden. Johanna Schopenhauers Sohn Arthur ging nach Abbruch einer Kaufmannsausbildung ebenfalls in eine öffentliche Schule. Die divergierende Erziehung von Töchtern und Söhnen begann schon im Kleinkindalter: Ein Sohn hatte grundsätzlich größere Freiheiten, er durfte frech und aggressiv sein. Folgerichtig, daß Humboldts Ältester eine Arche Noah, eine Wache mit Soldatenfiguren und einen Stall geschenkt bekam.
Männlich und intelligent, charakterstark und bedürfnislos, das waren die Merkmale, zu denen hin sich die Söhne entwickeln sollten. Dorothea Veit-Schlegel sparte in ihren Briefen an beide Söhne nicht mit Ermahnungen und Ratschlägen. Aus diesem Grund ist ihre Erziehungsarbeit leicht nachzuvollziehen. Vor allem Philipp war die Zielscheibe der mütterlichen Ermahnungen. Stets hielt sie ihn an, sich gut zu benehmen und vor allem seinen Lehrern zu Willen zu sein. Diese Aufforderungen zur Unterordnung zogen sich über Jahre hin. Sie betrafen auch die Streitigkeiten zwischen den Brüdern. Dorothea forderte Philipp auf, in den Auseinandersetzungen mit seinem Bruder zurückzustecken, gleichzeitig stärkte sie aber sein dadurch angeschlagenes Selbstbewußtsein, indem sie versicherte, er hätte die bessere Erziehung und wäre aus diesem Grund längerfristig im Vorteil. Diese Taktik, Philipp Recht zu geben, ihn gleichzeitig aber durch Appelle an seine Einsicht zum Nachgeben zu zwingen, bewährte sich immer wieder.
Weitere Ermahnungen betrafen den Fleiß in der Schule und Philipps Gesundheit. Dorothea versuchte zu verhindern, daß der Sohn sich körperlich zu sehr anstrengte oder sich gar erkältete. Auch Sohn Johannes bekam zu hören:
»Erinnere Dich meiner Warnung, liebster Johann, nicht nach dem Essen mit einem beliebigen Buch aufs Sopha zu liegen oder gar ein Schläfchen zu machen. Wende diese Nachessenszeit lieber zum Spazierengehen an; widrigenfalls wirst Du dickes Blut machen. [. . .] Auch wünschte ich, dass Du oft anstatt des Biers Wasser mit etwas Wein tränkest; Du musst alles vermeiden, was dickes Blut macht« (Wien, 25. 11. 1808; Raich 1, 311).
Die Briefe der folgenden Jahre waren schließlich voller religiöser Ermahnungen, die den Übertritt der Söhne zum katholischen Glauben zum Ziel hatten. Vor allem mit dem Glanz und Prunk der katholischen Kirche versuchte sie ihre Söhne zu fesseln. Als beide ihren Willen zum Übertritt bekundeten, jubelte sie. Doch als der ältere Sohn Johannes wieder zögerte, beschwor sie ihn:
»Ich hoffe doch, es wird noch Dein ernstlicher Wille sein. Dich zum Christenthum zu wenden, und wenn dem so ist, so lass uns in diesem heiligen Beginnen nicht länger zögern; hier ist alles vorbereitet und es kann in der gehörigen Stille vorgenommen werden« (Wien, 11.2. 1809; Raich I, 327).
Es kam sogar zu einer Auseinandersetzung mit dem Vater Simon Veit, dessen religiöse Toleranz seinen Kindern ihre Freiheit zur Wahl und damit zum Bruch mit der jüdischen Tradition der Familie ließ. Auch als endlich das mütterliche Ziel, Philipps Übertritt zum katholischen Glauben, erreicht war, gab es weitere Briefe der Mutter voller Ermahnungen bezüglich der religiösen Ausübung:
»Wenn es möglich ist, mein Philipp, so gehe jeden Morgen, wenn auch nur zu einem kurzen Gebet in die Kirche. Es ist nicht zu beschreiben, was diese gottselige Gewohnheit für eine Wirkung für den ganzen Tag hat. Es wird Dir sicher keinen Morgen, wenn Du erwachst, an allerlei Ursachen und Ausreden mangeln, um diesesmal nicht in die Kirche zu gehen, es bis um 10 oder 11 aufzuschieben u[nd] d[er]gl[eichen]. Ich weiss das recht gut, denn es geht mir selber eben so — aber giebt man diesen Einflüsterungen unserer schlechten Natur nach, so ist es um die Zufriedenheit für diesen Tag rein geschehen (und wissen wir, ob dieser unzufriedene Tag nicht unser letzter ist?)« (Wien, 31. 10. 1810; Raich I, 440).
Sowohl auf die Wahl der Lektüre der Söhne als auch auf deren Berufswahl versuchte Dorothea massiv Einfluß zu nehmen. Dabei waren die mütterlichen Ratschläge an Johannes weniger intensiv, stand er ihr doch ferner als Philipp, da er lange bei seinem Vater in Berlin lebte. Die Söhne sollten, ganz im Gegensatz zu den Töchtern, einen ordentlichen und krisenfesten Beruf zwecks späteren Gelderwerbs erlernen. Dafür wurde ihnen eine gute Ausbildung finanziert. Nach den Wünschen des Vaters sollten Philipp und Johannes Veit den Kaufmannsberuf erlernen; bei der Mutter fanden sie dagegen Unterstützung für ihren Wunsch, Künstler zu werden.
Arthur Schopenhauer brach ebenfalls eine vom Vater gewollte Ausbildung als Kaufmann ab, denn der Beruf gefiel und lag ihm nicht. Auch er fand mit seinen Neigungen bei seiner Mutter Gehör, die ihm eine gute Schulausbildung verschaffte.
Lotte Schiller wollte ihre Söhne in den Staatsdienst bringen. Karls Studium der Forstwirtschaft sollte ihm den krisensicheren Beruf des Försters bringen. Aimé Huber wurde auf ein Internat geschickt, um dort die Landwirtschaft zu erlernen. Trotz seiner Intelligenz war er aber nur ein mittelmäßiger Schüler. Therese Forster-Huber wünschte sich für ihn, daß er kein Gelehrter, sondern Soldat, Förster oder Landwirt würde. Diese Berufe hielt sie für zukunftssicher.