Ruth ist sechsundzwanzig, lebt allein und ist eine überzeugte Feministin. Als sie ihr Studium an einer großen Universität an der Westküste aufnahm, entdeckte sie den Feminismus und schloß sich fast gleichzeitig einer feministischen Studentinnengruppe an, die, wie sich herausstellte, zu 100 Prozent aus Lesben bestand. Zunächst schockierte sie das ein wenig. Doch bald begann sie, die Welt mit den Augen einer lesbischen Frau zu betrachten, und kurze Zeit später flirtete sie recht offen mit Kate, einer Lesbe, von der sie annahm, sie könnte vielleicht Lust haben, sie in die lesbische Sexualität »einzuführen«. Zunächst ging Kate nicht darauf ein, weil sie mit einer solchen Anfängerin nichts zu tun haben wollte, doch Ruths Hartnäckigkeit zahlte sich aus. Die beiden Frauen begannen eine leidenschaftliche Affäre, die acht Monate dauerte - dann kehrte Kates Ex-Geliebte von einem einjährigen Studienaufenthalt in Montreal zurück und umwarb Kate so lange, bis sie zu ihr zurückkehrte. Ruth war sehr verletzt, versuchte jedoch, gelassen zu erscheinen. Ein Jahr und zwei bedeutungslose Flirts später kehrte sie in ihre Heimat zurück. Dort, in einer Kleinstadt in Ontario, vergaß sie mehr oder weniger ihre lesbischen Erfahrungen, und wenige Monate nach ihrer Rückkehr verliebte sie sich in einen Musiker. Sie erzählte ihm ein wenig von ihrer Beziehung zu Kate; er jedoch nahm das Ganze nicht weiter ernst und meinte nur: »Ach laß mal, das macht mir nichts aus.« Also brachte sie das Thema nie wieder zur Sprache. Sie erhielt weiterhin eine Reihe von lesbischen Zeitungen und Zeitschriften im Abonnement, und wenn eine davon in der Post war, sorgte sie dafür, daß ihr Freund sie nicht zu Gesicht bekam, ohne daß sie hätte sagen können, warum.
Lynn ist lesbisch, und ihre Freundin Laurie, ein Mitglied derselben Frauengruppe, ist bisexuell. Als sie herausfanden, daß ihre Freundschaft eine erotische Komponente erhielt, erschraken sie beide ein wenig; und ohne miteinander zu reden, stellte sich jede von ihnen eine Reihe von Fragen: Welche Auswirkungen könnte eine solche Liebesaffäre auf ihre Arbeit in der Gruppe haben? Was war mit Lynns Ex-Geliebter, die in derselben Gruppe arbeitete? Was war mit Lauries Geliebtem? Würde es Laurie gelingen, zwei völlig verschiedene Beziehungen in zwei verschiedenen Welten zu leben? Und würde es Lynn nicht zuviel ausmachen? Laurie redete darüber nur mit ihrem Freund, bevor sie sich auf die Beziehung zu Lynn einließ. Er akzeptierte diese Beziehung als Teil seines Lebens mit einer Feministin. Lynn sprach mit einigen ihrer Freundinnen darüber, und sie rieten ihr alle das gleiche: »Eine kleine Affare ist sicher nicht schlimm, aber wenn du dich zu sehr auf sie einläßt, könnte es fürchterlich für dich werden; sie wird dich beim ersten größeren Streit wegen eines Mannes fallenlassen.« Doch Lynn glaubte nicht, Laurie könnte »so eine« sein. Und sie war zu sehr in sie verliebt, um sich noch gegen diese Beziehung entscheiden zu können.
Allen Unkenrufen zum Trotz nahm die Beziehung nicht nur ihren Anfang, sondern verlief auch vielversprechend. Gab es freitags abends ein Frauenfest, gingen Lynn und Laurie gemeinsam dorthin, und Laurie verbrachte dann den Samstagabend mit ihrem Freund, während Lynn mit anderen Freundinnen ausging. Lynn mußte erleben, daß alle ihre lesbischen Freundinnen ihr kritische Fragen stellten - sie dachten, es sei doch zu schön, um wahr zu sein.
Doch es war wirklich schön. Es dauerte an ... bis Lynn, deren Ansichten über Männer sich drastisch zum Besseren gewandelt hatten, seit sie (indirekt) Lauries Freund kennengelernt hatte, sich selbst in einen heterosexuellen Freund verliebte. Sie kämpfte mehrere Monate dagegen an, weil sie dachte, es sei nur eine vorübergehende Phase; schließlich war sie in ihrer Beziehung zu Laurie doch glücklich. Doch das Verliebtsein legte sich nicht. Sie äußerte sich weiterhin als lesbische Frau, trug lesbische Buttons, traf sich in ihrer Freizeit mit ihren lesbischen Freundinnen - doch heimlich war sie in einen Mann verliebt. Schließlich beschloß sie, mit Laurie darüber zu sprechen.
Laurie reagierte mit bitterer Ironie: »Nun ja, ich werde die letzte sein, die dich davon abhalten kann, andere Beziehungen einzugehen, besonders mit einem Mann. Doch es ist schon komisch, daß ausgerechnet du dich jetzt in einen Mann verliebst; ich habe mich schon damit auseinandergesetzt, daß ich wahrscheinlich in Wirklichkeit ausschließlich lesbisch bin, oder doch zumindest größtenteils...«
Ana stammt aus einer italienischen Arbeiterfamilie. Sie ist einunddreißig, geschieden und hat einen sechsjährigen Sohn. Sie möchte sich nicht ernstlich auf jemanden einlassen, zum Teil deswegen, weil ihr Sohn unter der Scheidung sehr gelitten hat und sie es nicht für gut hält, wenn er sich mit jemand neuem anfreundet, nur um einige Zeit später wieder mit einer Trennung konfrontiert zu werden. Sie hatte zwei Affären mit Frauen in den letzten Jahren, eine im Urlaub, als sie ihren Sohn beim Vater gelassen hatte, und die andere mehr oder weniger heimlich zu Hause. Sie wollte einfach nicht, daß ihr Sohn es herausfand und seinem Vater von der seltsamen Frau in Mamis Schlafzimmer erzählte. Gegenwärtig fühlt sich Ana sowohl zu Männern wie zu Frauen hingezogen und weiß, sie könnte jederzeit mit beiden eine Beziehung eingehen. Doch die Lesben, die sie kennt, begegnen bisexuellen Frauen mit Mißtrauen, und die Männer, die sie kennt, würden wahrscheinlich schon beim Gedanken an ihre lesbischen Neigungen ausflippen, auch wenn sie wahrscheinlich Lässigkeit vortäuschen würden. Sie fühlt sich in einer Zwickmühle. Sie haßt es, jemanden täuschen zu müssen und verabscheut Heimlichkeiten; aber mehr noch haßt sie es, sich als abweichend und betrügerisch zu empfinden, nur weil sie bisexuell ist.
Die oben beschriebenen Frauen sind alle in gewisser Hinsicht bisexuell, doch nur Ana und Laurie empfinden sich auch so. Ruth mag von manchen Lesben als Verräterin betrachtet werden, eine »wahre« Lesbe, die hetero wurde, nur weil es bequemer ist. Andere mögen sie als bisexuell oder als »in Wirklichkeit hetero« beschreiben. Und was Lynn und Laurie angeht - wer weiß, was aus ihnen wird.
Diesen Ansichten und Urteilen liegt der Mythos zugrunde, jeder Mensch sei »in Wirklichkeit«, »tief im Innern« entweder homosexuell oder heterosexuell - mit Ausnahme einiger weniger, die man mit Recht als »wirklich« bisexuell bezeichnen mag. Dieser Mythos besagt, daß jedem Menschen eine essentielle sexuelle Identität eigen ist, die unverändert bestehen bleibt, auch wenn sich die sexuellen Verhaltensmuster verändern. Manche Menschen glauben, dieser innere Kern werde biologisch durch Hormone und Gene bestimmt; andere meinen, er sei durch frühe Erlebnisse psychologisch geprägt. Wer sich als eher heterosexuell empfindet, neigt zu der Überzeugung, eine bestimmte Person sei »in Wirklichkeit« heterosexuell, jedenfalls so lange, bis diese Person energisch dagegen protestiert; während Menschen, die sich eher als homosexuell betrachten, dazu neigen, alle, die sich in der Grauzone befinden, für »eigentlich« schwul bzw. lesbisch zu halten. Die Debatte darüber, ob Person X »eigentlich« homo- oder heterosexuell ist, stellt die zugrundeliegende Annahme über einen inneren Kern der sexuellen Identität niemals in Frage.
In der praktischen Anwendung funktioniert der Mythos folgendermaßen: Wenn ein Mann, der seit seinem dreizehnten Lebensjahr ausschließlich mit Männern Sex hatte, sich im Alter von zweiunddreißig in eine Frau verliebt, würde man das damit »erklären«, daß der Mann die ganze Zeit schon heterosexuell war, sich aber vor Frauen gefürchtet hat. Und um zu unseren fiktiven Frauengestalten zurückzukehren: Auch Ruths Erfahrungen ließen sich fein säuberlich kategorisieren. Es würde heißen, sie machte unter dem Einfluß des Feminismus eine »lesbische Phase« durch und realisierte erst später ihr »wahres« heterosexuelles Potential. Eine alternative, aber gleichermaßen mystische Erklärung würde lauten, daß sie im Lesbischsein ihre wahre Natur entdeckte, sich aber dann eine Zeitlang in ein »falsches Bewußtsein« flüchtete, da ihre Beziehung zu Kate unglücklich endete. Solcherlei Erklärungen ließen sich beliebig fortsetzen.
Warum sind wir eigentlich so versessen darauf, eine essentielle sexuelle Identität zu entdecken? Warum müssen wir unsere Lebensgeschichte umschreiben, uns von Erfahrungen distanzieren, die zu einer bestimmten Zeit extrem wichtig für uns waren, und sie als eine bloße »Phase« abwerten? Wäre es nicht besser, von der Hypothese auszugehen, daß sexuelle Orientierung uns nicht angeboren ist wie die Farbe der Augen oder die Neigung zum Dickwerden, sondern daß sie sich grundlegend verändern kann - und tatsächlich dauernd neu erschaffen wird -, entsprechend unseren jeweiligen sexuellen und sozialen Erfahrungen? Niemand weiß, wie sich sexuelle Orientierung in Wirklichkeit entwickelt. Ein Grund dafür, daß wir das nicht wissen, liegt darin, daß sich fast die gesamte Forschung bislang darauf konzentriert hat, die »Ursachen« für Homosexualität herauszufinden - als ob Heterosexualität keine Ursachen hätte. Es wäre sicherlich besser, von einer Hypothese auszugehen, die sowohl Veränderungen wie eindeutige Entscheidungen einbezieht, statt anzunehmen, die Menschen würden sich automatisch entsprechend einem festgelegten unveränderbaren Kern sexueller Identität entwickeln und verhalten. Natürlich gibt es bestimmte Menschen, die sich ausschließlich von dem einen oder dem anderen Geschlecht angezogen fühlen und die sich von relativ jungen Jahren an von einem exklusiven Begehren »getrieben« fühlen. Doch viele andere Menschen, insbesondere Frauen, erleben ihre sexuelle Orientierung eher als fließend. Dies muß jede Theorie sexueller Orientierung berücksichtigen, und die Kategorie der Bisexualität ist in diesem Zusammenhang ganz eindeutig ein wichtiges Analysewerkzeug.
Dennoch bedeutet die Zurückweisung von Hetero- und Homosexualität als zwei sich gegenseitig ausschließende Kategorien mit festgelegten Grenzen noch lange nicht, daß wir ins andere Extrem verfallen und alle Unterschiede in der sexuellen Orientierung nivellieren sollten, indem wir einfach sagen: »Es ist doch ohnehin jeder Mensch bisexuell«. Diese Äußerung wird oft mit dem Verweis auf das Freudsche Modell der sexuellen Entwicklung begründet, das davon ausgeht, daß alle Menschen in ihrer frühen Kindheit eine Phase des Vergnügens am und mit dem eigenen Körper erleben. Nach Freud entwickelt sich die Heterosexualität erst, wenn der Ödipus-Komplex erfolgreich gelöst ist. Vor der ödipalen Phase spaltet das Kind sein Verlangen nicht nach dem Geschlecht des Liebesobjekts auf und konzentriert sich entweder auf autoerotische Beschäftigungen oder auf die Mutter (als Hauptbezugsperson - nicht unbedingt, weil sie eine Frau ist).
Diese Theorie kann dazu benutzt werden, den Bisexuellen zu bescheinigen, sie befänden sich noch näher an der Unschuld der präödipalen Phase als diejenigen, die sich einem Geschlecht als ausschließlichem Objekt ihres sexuellen Begehrens zuwenden. Manchmal wird auch das Argument vorgebracht, Bisexualität sei der Konformität von exklusiver Heterosexualität und der Enge von exklusiver Homosexualität überlegen. Mit anderen Worten, dieser Ansatz legitimiert Bisexualität auf dieselbe Weise wie konservatives Gedankengut die ausschließliche Heterosexualität legitimiert, nämlich durch den Verweis auf einen Mythos dessen, was als »natürlich« gilt. Der einzige Unterschied besteht darin, daß der bisexuelle Mythos die Unschuld der frühen Kindheit bemüht, während der heterosexuelle Mythos solche Begriffe wie »Reife« verwendet.
Der Mythos von der »unschuldigen Bisexualität« basiert jedoch auf einer falschen Interpretation der Freudschen Theorie. Nur weil Babies und Kleinkinder das Geschlecht ihres Gegenübers kaum als Unterscheidungskriterium benutzen - die bedeutenden Unterscheidungsmerkmale sind vielmehr Lust bzw. Unlust, Mutter bzw. Abwesenheit der Mutter -, können wir nicht davon ausgehen, auch Erwachsene seien im wesentlichen bisexuell. Der generalisierte erotische Trieb des Babies oder, wie Freud es nannte, seine »polymorphe Perversität«, ist nicht dasselbe wie die Bisexualität der/des Erwachsenen oder gar die Grundlage für bisexuelles Verhalten bei Erwachsenen. Die erotischen Triebe des Babies sind nicht auf »Männer« und »Frauen« als unterschiedliche Geschlechter gerichtet, sondern eher auf autoerotische Lustgefühle - wie am Daumen zu nuckeln oder die eigenen Genitalien zu berühren - oder auf die Mutter als Objekt des Begehrens und Quelle von Fürsorge und Nahrung. Die Sexualität des Kleinkinds ist sowohl vor-genital wie vorgeschlechtlich. Das bisexuelle Verhalten Erwachsener, die sich sowohl von Männern wie von Frauen erotisch angezogen fühlen, hat mit dieser frühkindlichen Unschuld nicht das geringste zu tun. Die Bisexualität von Erwachsenen konzentriert sich auf genitalen Sex (anders als die orale, anale und phallische Erotik des Kleinkinds) und ist sich des Geschlechts des Gegenübers bewußt. Es handelt sich nicht wie beim Kleinkind um eine unschuldige, prägenitale Erotisierung jeder körperlichen Erfahrung, sondern beinhaltet die Auswahl geschlechtlich entsprechend sozialisierter Männer und Frauen als Objekte des Begehrens im Kontext recht rigider Vorstellungen darüber, was »wirklichen Sex« eigentlich ausmacht. Mit der falschen Analogie zwischen der polymorphen Erotik des Babies und der Bisexualität von Erwachsenen wurde versucht, die Bisexuellen zu rehabilitieren: Jetzt waren sie nicht mehr die unentschlossenen oder wechselhaften sexuellen Wesen (als die sie im allgemeinen angesehen werden), sondern standen im Vergleich zu den Heterosexuellen »der Natur näher« oder waren ihnen sogar aufgrund ihrer nicht-exklusiven Lebensweise überlegen.
Wenn der Mythos einer sexuellen Natur (in dem den Bisexuellen die Rolle der »edlen Wilden« zugewiesen wird) vielleicht auch im Sinne der psychologischen Selbstrechtfertigung der Bisexuellen legitim sein mag, so hat er doch auch ganz bestimmte politische Konsequenzen. Wenn die angeblich »in unserem Wesen verankerte« Bisexualität aller Menschen hervorgehoben wird, dann werden Heterosexualität und Homosexualität nicht zu alternativen Möglichkeiten, den ursprünglichen Sexualtrieb zu begrenzen. Heterosexualität und Homosexualität werden dann als gleichwertige Wahlmöglichkeiten, als »sexuelle Präferenzen« hingestellt. Das Modell der »sexuellen Präferenz« ist, wie Adrienne Rieh in ihrem bahnbrechenden Aufsatz »Zwangsheterosexualität und lesbische Existenz«[1] nachgewiesen hat, hauptsächlich deshalb so problematisch, weil es auf dem liberalen Mythos beruht, Menschen träfen ihre sexuelle Wahl aufgrund individueller Präferenzen. Rieh weist darauf hin, daß es bei dem enormen Gewicht, das unsere Gesellschaft auf eine heterosexistische Lebensweise legt, nicht richtig ist, Heterosexualität nur als eine sexuelle »Präferenz« zu bezeichnen - gerade so, als ob es die zahllosen Versuche, einen Menschen in Richtung Heterosexualität zu drängen, gar nicht gebe. Menschen wählen die Heterosexualität im allgemeinen nicht aus einer Anzahl gleichwertiger und gleichermaßen angesehener Lebensstile aus, sondern sie wenden sich ihr »natürlicherweise« mit dem Heranwachsen zu. Wer von Homosexualität und Heterosexualität (und entsprechend auch von Bisexualität) als »Präferenzen« spricht, verschleiert und mystifiziert damit die Institution der »Zwangsheterosexualität«, wie Rieh sie bezeichnet. Solange bestimmte Wahlmöglichkeiten sanktioniert und andere als natürlich, als die Norm dargestellt werden, ist es naiv, den komplizierten Prozeß der Herstellung von Konformität oder Devianz als eine beliebige persönliche Präferenz hinzustellen. Wie schon gesagt, entkommt man mit dem Schritt aus dem Bereich des gesellschaftlich Anerkannten heraus keineswegs dem Zugriff sexueller Experten; man gelangt nicht aus dem Reich des Zwanges in ein Reich der Freiheit. Viele Menschen, die sich vom »falschen« Geschlecht angezogen fühlen, haben den Eindruck, von ihrem Begehren geradezu getrieben zu werden; sie sehen sich gezwungen, homosexuelle Partnerinnen zu suchen und erleben ihre Homosexualität keineswegs als freie Entscheidung. Doch selbst diejenigen, die ihr homosexuelles Verlangen als dunkle Macht empfinden, von der sie beherrscht und regiert werden, statt den Weg zur sexuellen Erfüllung aus freiem Willen zu beschreiten, müssen sich an irgendeinem Punkt ihres Lebens selbst definieren und sich fragen, wie und warum sie dazu gekommen sind, ein solches Verlangen in sich zu spüren. Manche entscheiden sich dann für die Erklärung: »Ich bin schon schwul/lesbisch auf die Welt gekommen«, andere beginnen umständlicher: »Ich bin bisexuell, weil...«; doch gleichgültig, wie die Antwort jeweils ausfallen mag - wir alle sind gezwungen, über die Gründe nachzudenken, warum wir diesen Pfad eingeschlagen haben und welche sozialen Konsequenzen sich daraus ergeben. Heterosexuelle durchleben keine vergleichbare Zeit. Da wir alle »natürlicherweise« als Heterosexuelle aufwachsen, scheinen nur die Abweichungen nach einer Erklärung zu verlangen. Die Norm erscheint als selbstverständlich, und wenige Heterosexuelle stellen sich jemals die Frage, warum sie eigentlich heterosexuell geworden sind.
Wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt wurde, unternimmt unsere Gesellschaft alles in ihrer Macht Stehende, um ein bestimmtes Muster heterosexuellen Verhaltens aus den autoerotischen und pansexuellen Trieben jedes Kindes herauszufiltern. Manchmal funktionieren die entsprechenden gesellschaftlichen Mechanismen aus dem einen oder anderen Grund nicht, und die/der Heranwachsende oder Erwachsene »entdeckt« bestimmte abweichende Begierden in sich. Die Gesellschaft tut dann, was sie kann, um das abweichende Verlangen wenigstens in eines der von den Experten vorgegebenen Raster zu pressen. Wenn sie uns schon keine heterosexuelle Identität vermitteln kann, weist sie uns wenigstens eine Identität als Deviante/r, als Homosexuelle/r zu. Es ist interessant, daß die Bisexualität, wie die Homosexualität, zwar als eine weitere deviante Identität betrachtet wird, gleichzeitig aber auch als Zurückweisung des Norm/Devianz-Modells funktioniert. Wer bisexuell »ist« und sich nicht nur in einem Übergangsstadium zwischen Heterosexualität und Homosexualität befindet, hat sowohl der ersten Attacke der Gesellschaft wie ihrer zweiten Offensive widerstanden, das heißt, sich sowohl geweigert, der Institution Heterosexualität beizutreten wie der Institution Homosexualität. Und das bedeutet, daß diejenigen jeden Tag aufs neue die Entscheidung treffen müssen, wie sie erscheinen wollen, mit wem sie flirten wollen, welchen Stil sie in Kleidung und Verhalten zum Ausdruck bringen wollen.
Die Flexibilität und Mehrdeutigkeit der Bisexualität genügt jedoch nicht, um Bisexualität gleich irgendwo »über« die Alternativen hetero- bzw. homosexuell zu stellen. Niemand kann den gesellschaftlichen Strukturen und Ideologien entkommen, die sowohl die geschlechtliche Identität als auch die Herausbildung einer sexuellen Orientierung in einer institutionalisierten Form etabliert haben. Was Bisexuellen gelingt, ist also weniger, der Aufspaltung in Hetero- und Homosexualität zu entkommen, als vielmehr, damit umzugehen. Sie schweben also nicht über den Wolken, sondern nehmen an der Aufspaltung teil, indem sie sich selbst je nach den Umständen mal der einen, mal der anderen Seite zuordnen. Bisexualität sollte nicht als vollkommen andere »dritte Wahl« betrachtet werden, die sich allen Problemen sowohl der Heterosexualität wie der Homosexualität entzieht, sondern vielmehr als Entscheidung, die beiden Lebensstile, die beiden erotischen Präferenzen, auf die eine oder andere Weise miteinander zu kombinieren.
Diese Betrachtungsweise der Bisexualität als eine Kombination der beiden wichtigsten sexuellen Identitäten statt einer separaten Identität erklärt, wie es zu den riesigen Unterschieden zwischen Bisexuellen kommen kann. Homosexuelle mögen auch sehr verschieden voneinander sein - der Politiker mit seiner heimlichen »Schwäche« für kleine Jungen hat nicht viel mit der lesbischen Feministin gemein -, doch zumindest müssen sie sich alle mit einer ihnen gemeinsamen gesellschaftlichen Unterdrückung und Marginalisierung in homosexuellen Gettos auseinandersetzen. Bisexuelle dagegen verfügen kaum über gemeinsame soziale Erfahrungen, auf die sie eine spezifische gesellschaftliche Identität gründen könnten, obwohl sie alle mit dem Problem konfrontiert sind, wie sie mit der Aufspaltung in hetero- und homosexuell fertigwerden können, ohne sich dabei schizophren vorzukommen.
Bisexuelle, die sich der Auswirkungen des Heterosexismus nicht bewußt sind und ihre Situation als rein individuelle Entscheidung ohne weiterreichende gesellschaftliche Auswirkungen betrachten, verstärken unbewußt oft heterosexistische Praktiken oder stellen sie zumindest nicht in Frage. Wenn ich zwei Geliebte habe, einer männlich und eine weiblich, wird es für mich nicht einfach sein, im Kopf zu behalten, daß die soziale Anerkennung, die meine »Hetero-Beziehung« erfährt, mit Vorsicht zu genießen ist. »Natürlich« werde ich dazu neigen, meine lesbische Beziehung eher geheimzuhalten, sie meiner Familie und meinen Kolleginnen gegenüber zum Beispiel nicht zu erwähnen. Vielleicht ist es auch leichter, Fehler und selbstsüchtiges Verhalten bei einem Mann zu tolerieren, denn schließlich »wissen wir ja alle, wie Männer sind«. Meiner Behauptung, das Geschlecht spiele keine Rolle, zum Trotz werde ich an Männer andere Erwartungen haben als an Frauen, und die Gesellschaft wird die beiden Beziehungen sehr unterschiedlich behandeln. Ich neige dann vielleicht dazu, mich von meiner lesbischen Geliebten innerlich abzugrenzen und davon auszugehen, daß sie diejenige sein wird, die für die Rechte der Lesben kämpft, während ich zuschaue und ihr beifällig zunicke. Wird meiner lesbischen Beziehung in meinem Bekanntenkreis eine gewisse Toleranz entgegengebracht, dann werde ich mir zu diesen toleranten Freundinnen gratulieren, ohne mir den historischen Kampf der Lesben und Schwulen bewußt zu machen, der dazu geführt hat, eine solche Toleranz überhaupt erst herzustellen.
Andererseits befinden sich Bisexuelle, die sich darüber im klaren sind, wie die Unterdrückung der Homosexuellen und der Heterosexismus die Konturen ihres eigenen Lebens bestimmen, in einer guten Position, diese unterdrückerischen gesellschaftlichen Kräfte in Frage zu stellen, selbst wenn sie deutlich machen, daß sie den Kampf als Bisexuelle aufnehmen, nicht als Pseudo-Schwule bzw. -Lesben. Jene Bisexuellen, die sich kritisch damit auseinandersetzen, daß sie von den Privilegien der Heterosexuellen profitieren und zu anderen Zeiten die Unterdrückung der Homosexuellen spüren, können die unterschiedlichen Konsequenzen beider Situationen erkennen und sind am ehesten in der Lage, die Rechte der Homosexuellen zu verteidigen, da sie diesen Kampf als ihre persönliche Angelegenheit betrachten. Sie sind auch diejenigen, die es nicht nötig haben, heftig zu protestieren, wenn jemand zu ihnen sagt: »Stell dir vor, ich habe neulich gesehen, wie du in eine Schwulen-/Lesbenbar gegangen bist.«
Doch bis heute sind die Homosexuellen- und Lesben-Gruppen alles andere als positiv, nicht einmal tolerant gegenüber jenen Bisexuellen eingestellt, die gegen den Heterosexismus und die Unterdrückung der Homosexuellen angehen. Gewöhnlich werden Bisexuelle als falsch, unzuverlässig und feige betrachtet. Diese negative Sicht wurde leider dadurch immer wieder bestätigt, daß sich viele Bisexuelle öffentlich ein heterosexuelles Image zugelegt haben und sich ihren schwulen bzw. lesbischen Beziehungen nur heimlich widmen - und sich damit der Unterdrückung der Homosexuellen auf eine Weise entziehen, wie Homosexuelle selbst es nie könnten. Schwule und Lesben haben ein Recht zu verlangen, daß Bisexuelle nicht in den Fehler verfallen, öffentlich heterosexuell und privat homosexuell zu sein. Doch es gibt inzwischen Bisexuelle, insbesondere feministische Frauen, denen diese traditionelle, bequeme Lebensweise widerstrebt und die bereit sind, öffentlich zu ihrer homosexuellen Neigung zu stehen. Sie sollten willkommen geheißen und für ihre sexuelle Entscheidung mit Respekt behandelt werden. Homosexuelle sollten aufhören anzunehmen, daß alle Bisexuellen entweder Angst haben, sich zu ihrem Schwul- bzw. Lesbischsein zu bekennen oder sich in einer Übergangsphase zur Homosexualität befinden. Die Übergangstheorie geht davon aus, daß diejenigen, die sich bisexuell nennen, »eigentlich« homosexuell sind, und das ist genauso ein Irrtum wie die Überzeugung, jeder Mensch sei »eigentlich« bisexuell. Beide Annahmen beruhen auf der Vermutung, die sexuelle Orientierung sei in einem inneren Kern verankert, eine Annahme die als »Essentialismus« bekannt ist.
Da unsere Gesellschaft fest an den Essentialismus glaubt, wird uns normalerweise unbehaglich, wenn wir einer Person begegnen, die sich sexuell ambivalent gibt. Wir bestehen dann darauf, daß jeder Mensch eine feste Geschlechtsidentität und daher auch eine festgelegte sexuelle Orientierung hat. Wenn wir auf der Straße jemanden sehen, bei dem wir nicht sagen können, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, werden wir unruhig und versuchen, die betreffende Person genauer anzuschauen, um uns entscheiden zu können. Wir ruhen nicht, bis wir dieser Person (die uns im übrigen gar nicht interessiert) das richtige Geschlecht zuordnen können. Nun ist die sexuelle Orientierung eines Menschen nicht so äußerlich sichtbar wie das Geschlecht, dennoch beziehen wir eine gewisse innere Befriedigung daraus, die sexuelle Identität der betreffenden Person herauszufinden und sie dann als X oder Y zu bezeichnen. Bisexualität stellt eine Bedrohung dar, weil sie unser Klassifikationssystem herausfordert und unsere fundamentalen Vorstellungen über den Zusammenhang zwischen Geschlecht und Sexualität in Frage stellt. Selbst wenn einige traditionelle bisexuelle Verhaltensmuster fragwürdig sind und es so etwas wie eine Institution der Bisexualität, die denen der Hetero- und Homosexualität vergleichbar wäre, gar nicht gibt, denke ich, daß es wichtig ist, der Mehrdeutigkeit im radikalen Denken über Sexualität einen gebührenden Platz einzuräumen. Mit anderen Worten: Selbst wenn ich die Skepsis vieler Homosexueller hinsichtlich der Bisexuellen zum Teil nachvollziehen kann und es gerne sähe, wenn Bisexuelle eine aktivere Rolle dabei übernehmen würden, den Heterosexismus herauszufordern, kritisiere ich auch die dogmatische Ansicht - die sowohl unter Homosexuellen wie unter Heterosexuellen grassiert -, daß Bisexuelle an sich unentschlossen und unreif sind. Wenn eines der Ziele des Feminismus und der Schwulen- und Lesbenbewegungen darin besteht, die Spaltung zwischen Homo- und Heterosexualität aufzuheben und sie durch ein soziales System zu ersetzen, das Menschen nicht danach beurteilt und etikettiert, zu welchem Menschen sie sich erotisch hingezogen fühlen - dann stellt Bisexualität einen wichtigen Bestandteil der Herausforderung des Status quo dar. Die Rolle der Bisexuellen könnte darin bestehen, die Vielfalt sexueller Möglichkeiten zu betonen und zu bestätigen, und das in einer Welt, die jeder Mehrdeutigkeit ablehnend gegenübersteht. Bisexualität entzieht sich den Versuchen der Experten, alles als entweder männlich oder weiblich, normal oder abweichend, gut oder schlecht zu klassifizieren.
Eines Tages beklagte sich eine bisexuelle Freundin bei mir darüber, daß sie dauernd mit moralischen und politischen Problemen konfrontiert sei, und sie grübelte über die gesellschaftliche Bürde nach, die Bisexuellen auferlegt wird, da sie dauernd beurteilt und in Frage gestellt werden. Ich nickte zustimmend und versuchte ihr zu sagen, sie solle sich nicht darum kümmern, wie sie sich in der Frauenbewegung darstellen könne oder ob Lesben entrüstet wären, wenn sie sich selbst als Lesbe bezeichnet, sondern sie solle an dem Kampf gegen die Unterdrückung der Lesben teilnehmen und dafür auch die Verantwortung übernehmen. Sie war in meinen Augen eine nachdenkliche und ehrliche Person, also sagte ich zu ihr: »Traue deiner politischen Intuition und zweifle nicht immer an dir, es gibt schließlich immer jemanden, die oder der dich kritisieren wird, egal was du tust.«
Am nächsten Tag saß ich beim Abendessen mit einer lesbischen Freundin zusammen, der zweimal von bisexuellen Frauen übel mitgespielt worden war. Beide bisexuelle Frauen waren selbstbewußt, attraktiv, ja charismatisch. Beide schienen zunächst an einer ernsthaften Beziehung interessiert, ließen meine Freundin jedoch schließlich fallen, oder besser: sie behandelten sie wie eine Geliebte zweiter Klasse. Als sie mir ihre Erlebnisse schilderte, dachte ich: »Vielleicht hätte ich gestern nicht so verständnisvoll sein sollen - man weiß nie, was geschieht, wenn man einer bisexuellen Frau sagt, sie solle nur ihrer politischen und moralischen Intuition folgen.«
Später erkannte ich, daß die beiden Erlebnisse - das mit meiner bisexuellen Freundin, die die Absicht hatte, sich verantwortlich zu verhalten, und das mit meiner lesbischen Freundin, die mit bisexuellen Frauen schlechte Erfahrungen gemacht hatte - qualitativ verschieden waren und es keinen Sinn hatte, sie beide unter »die Bisexuellen sind...« zusammenzufassen. Was bei den unglücklichen Erlebnissen meiner lesbischen Freundin geschehen war, hatte nicht in erster Linie damit zu tun, daß die bisexuellen Frauen sich sowohl von Männern wie von Frauen angezogen fühlten, sondern damit, daß und wie sie ihr Verhältnis zu Männern (und daher ihren Status) gegen sie und gegen die Beziehung zu ihr eingesetzt hatten. Ihre Herzlosigkeit rührte also nicht aus ihrer Bisexualität, sondern ihre Bisexualität bot ihnen die Möglichkeit, ihre Selbstsucht auszuleben.
Im Gegensatz dazu war meiner Freundin das mögliche Machtgefälle zwischen einer Bisexuellen und einer Lesbe bewußt, und sie suchte nach Wegen, diesem Ungleichgewicht etwas Konstruktives entgegenzusetzen. Mit anderen Worten, sie wollte die Privilegien aufgeben, die sie in ihrem heterosexuellen Leben erworben hatte. Deshalb wollte sie sich öffentlich mit Lesben identifizieren, obwohl sie verständlicherweise von den lesbisch-feministischen Hardlinern eingeschüchtert war, die sie als »keine richtige Lesbe« denunziert hatten. Ich konnte sehen, warum manche Lesben sich mit Frauen unwohl fühlen, die sich als Lesben bezeichnen, ohne wirklich in das lesbische Leben integriert zu sein; doch meiner Meinung nach sind solche Lesben dogmatisch und ziehen die Grenzen des Lesbischseins zu eng. Sie sind Opfer der allgemeinen Tendenz der Gesellschaft, mit mehrdeutigen Menschen und Situationen nicht zurechtkommen zu können.
Bisexualität existiert weder als soziale Institution noch als psychologische »Wahrheit«. Sie existiert nur als Schlagwort für verschiedene erotische und soziale Muster, deren gemeinsame Grundlage der Versuch darstellt, Homo- und Heterosexualität auf verschiedene Weise zu kombinieren. Der Begriff »Bisexualität« sagt uns also lediglich, daß die betreffende Person sich erotisch sowohl zu Männern wie zu Frauen hingezogen fühlt. Er sagt uns nichts über die Moral oder die politischen Ansichten dieser Person. Die unumgänglichen Entscheidungen jedoch, wie man das eigene Sexualleben und das eigene soziale Image gestalten will, basieren auf anderen Faktoren (wie zum Beispiel der Einstellung zum Feminismus).
Bisexualität kann eine wichtige Rolle im Kampf um eine Gesellschaft spielen, die frei ist von scharfen Grenzen zwischen Geschlechtsrollen und sexuellen Orientierungen: Die Auffassung, es handle sich um statische, essentielle Identitäten, wird damit herausgefordert. Selbst solche Menschen, die sich als »definitiv heterosexuell« oder »definitiv homosexuell« bezeichnen, geraten nicht selten in eine Situation, in der sie Bedürfnisse zugeben müssen, die nicht mit ihrer gegenwärtigen sozialen Identität übereinstimmen - die autobiografischen Anekdoten, die ich im Kapitel über Heterosexualität geschildert habe, sind nur ein Beispiel dafür. Und in diesem Sinne hätten wir alle etwas davon, wenn es mehr sozialen Raum für Menschen gäbe, die sich selbst als bisexuell bezeichnen. Dies würde bedeuten, daß wir alle ein wenig freier von exklusiven und essentialistischen Zuordnungen würden. Natürlich wäre es utopisch sich vorzustellen, daß die Bisexualität in einem Niemandsland zwischen den Geschlechtern und jenseits der Unterdrückung der Homosexuellen existieren könnte. Doch selbst eine Bisexualität mit all den Widersprüchen, die ihr von unserer Gesellschaft auferlegt werden, kann uns helfen, den sexuellen Status quo in Frage zu stellen. Schließlich sind Widersprüche die treibenden Kräfte der Geschichte.