Lesbisch sein: Ein Land ohne Sprache

Die folgende Szene stammt aus Radclyffe Halls klassischem Roman Quell der Einsamkeit. Sie spielt zwischen der Heldin Stephen und ihrer Mutter, unmittelbar nachdem die Mutter herausgefunden hat, daß Stephen einer anderen Frau leidenschaftliche Liebesbriefe geschickt hat.


Die Mutter:
... dich möchte ich lieber tot zu meinen Füßen sehen als wie jetzt vor mir, behaftet mit diesem Makel, tief in Schimpf und Schande, schmutzig von diesem Exzeß, den du Liebe nennst indem Brief hier, den du ja nicht leugnest. Du sagst in dem Brief Dinge, die nur zwischen Mann und Frau gesagt werden dürfen und die in deinem Munde schmutzig und verderbt sind gegen die Natur, gegen Gott, der die Natur erschuf. (...) Ich frage mich, was ich verbrochen habe, daß ich von meiner Tochter so tief in den Schmutz gezogen werde. (...) Ich habe geliebt, hörst du? Ich habe deinen Vater geliebt, und dein Vater hat mich geliebt. Das war Liebe.


Darauf antwortet die Tochter:

Ich liebte, wie mein Vater dich liebte. Wie ein Mann eine Frau liebt, so habe ich geliebt beschützend und schirmend wie mein Vater. Alles, was ich geben kann, wollte ich geben. (...) Nie in meinem Leben habe ich mich als Frau empfunden, und das weißt du auch; sagst du doch, du hättest mich nie gemocht, du hättest stets eine körperliche Abneigung gefühlt. (...) Aber was ich dir nie verzeihe, ist dein Versuch, mich soweit zu bringen, daß ich mich meiner Liebe schäme. Ich schäme mich ihrer nicht im geringsten...[1]

Heutzutage würde eine junge Lesbe, die sich mit ihrer Mutter auseinandersetzt, wohl kaum sagen, daß sie »nie wie eine Frau empfunden« hat, da unsere Vorstellungen von Frausein nicht mehr so rigide sind wie in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts. Eine junge Lesbe würde auch nicht annehmen, wenn sie eine Frau »beschützend« liebte, müsse sie automatisch die männliche Rolle übernehmen. Doch nach wie vor hat dieses Gespräch auch für uns heute noch eine besondere Bedeutung. Viele Mütter und Väter reagieren abwertend auf die Liebe ihrer lesbischen Töchter. Vielleicht bringen sie die Sprache nicht mehr auf Gott und die natürliche Bestimmung (doch auch das geschieht noch häufig, selbst wenn sie weder an das eine noch an das andere besonders stark glauben), doch sie denken im allgemeinen, lesbische Liebe sei eine tragische und niedere Form von Leidenschaft im Vergleich zu den emotionalen und moralischen Höhen der Heterosexualität in der Ehe.
Viele, die behaupten, tolerant zu sein und die stolz auf sich sind, wenn sie höflich mit einem homosexuellen Menschen umgehen - etwa im Beruf - reagieren entsetzt, wenn sie feststellen, daß ein Mitglied ihrer Familie schwul oder lesbisch ist. »Ich habe nichts gegen Lesbierinnen, aber ich möchte nicht unbedingt, daß meine Tochter so eine heiratet«, ist ein beliebter Spruch und eine verbreitete Grundüberzeugung liberaler Heterosexueller in den achtziger Jahren.
Gewöhnlich werden zwei mögliche Erklärungen für die Existenz der lesbischen Liebe herangezogen. Die eine lautet, daß mit den Genen dieser Frauen etwas nicht in Ordnung ist, mit anderen Worten, daß Lesben »schon so auf die Welt kommen«. Die andere Erklärung lautet, irgendein frühes Trauma, beispielsweise Inzest, führe dazu, daß sich ein Mädchen vor Männern fürchtet und Liebe bei anderen Frauen sucht. Und die Allgemeinheit weiß auch, daß viele Frauen, die sich selbst als Lesben bezeichnen, es in Wirklichkeit gar nicht sind. Sie durchleben nämlich lediglich »so eine Phase«, weil sie von irgendeinem Mann schlecht behandelt wurden oder - die unschuldigen Süßen! - von einer älteren Lesbe verführt worden sind. Wer so argumentiert, wird sicher auch eine Frau nicht für lesbisch halten, die erst befriedigende heterosexuelle Beziehungen hatte und sich dann Frauen zuwandte - denn schließlich kann sie keine richtige Lesbe sein, wenn sie Männer mag oder zumindest mochte. Hatte die Frau jedoch nie heterosexuelle Beziehungen, dann ja, dann kann sie doch gar nicht wissen, ob sie ihr nicht vielleicht doch Spaß und Befriedigung bringen könnten, also ist auch sie keine richtige Lesbe. Es sieht ganz so aus, als gebe sich unsere Gesellschaft unendlich viel Mühe, die Existenz lesbischer Liebe als positive sexuelle Entscheidungsmöglichkeit zu leugnen.
Die Gen-Theorie wird von den meisten Wissenschaftlern inzwischen abgelehnt. Außerdem war mit dieser Theorie nie die große Anzahl von Lesben zu »erklären«, die erst einige Jahre lang ein heterosexuelles Leben führen und sich dann in eine Frau verlieben oder, umgekehrt, die Tatsache, daß es Lesben gibt, die jahrelang Frauenbeziehungen hatten und dann heterosexuell werden. Den ersten Fall könnten die Vertreter der Gen-Theorie noch damit »erklären«, daß die Frau erst ein heterosexuelles Leben führte, bis sie ihre »wahren« Bedürfnisse entdeckte; für den zweiten jedoch hätten sie überhaupt keine Erklärung.
Auch die Trauma-Theorie wurde inzwischen fallengelassen. Kanadische Statistiken weisen darauf hin, daß jede vierte Frau in ihrer Kindheit oder Jugend von einem Mann auf die eine oder andere Weise sexuell mißbraucht worden ist. Doch die meisten dieser Mädchen werden heterosexuell, und viele lesbische Frauen haben keine sexuelle Gewalt in ihrer Kindheit erlebt.
Der Punkt ist jedoch, daß schon die Frage »Wie wird eine Frau lesbisch?« falsch gestellt ist. Sie geht nämlich davon aus, daß lesbisch werden mit der Wahl einer falschen Abfahrt auf der Autobahn vergleichbar ist. Und wenn die betreffende Frau nur feststellen könnte, wo sie falsch abgebogen ist, könnte sie umkehren und ihren Kurs korrigieren. Diese Auffassung beinhaltet die Annahme, es gebe nur einen richtigen Weg auf der Landkarte der sexuellen Entwicklung. Ohne eine allgemeine Theorie der sexuellen Entwicklung können wir nicht über die sexuelle Anziehungskraft zwischen Frauen und die Ursache dafür reden. Ein Modell, das davon ausgeht, daß Mädchen später so selbstverständlich heterosexuell werden wie sich eine Eichel zu einer Eiche entwickelt, etikettiert Lesbischsein als pathologisch. Es basiert auf negativen Vorurteilen gegen Homosexualität und enthält ein positives Vorurteil gegenüber Heterosexualität.
Lesbischsein ist keine Krankheit. Es ist nicht einmal ein natürlicher physiologischer oder psychologischer Zustand, sondern es ist eine komplexe soziale Tatsache. Sex zwischen Frauen mag es seit Tausenden von Jahren geben, doch die Bildung einer eigenen lesbischen Identität die von der betreffenden Frau als ihr zugehörig wahrgenommen wird, unabhängig davon, ob sie ihre Sexualität mit Frauen lebt oder nicht - ist ein historisch relativ junges Ereignis. Wir können die Position von Lesben in der heutigen Gesellschaft nicht verstehen, wenn wir nicht etwas mehr über die Geschichte wissen und davon, wann und wie diese eigene sexuelle Identität entstand.


Ein wenig Geschichte

Die Historikerin Lillian Faderman hat in ihrem grundlegenden Werk Surpassing the Love of Men: Romantic Friendships and Love Between Women [2] darauf hingewiesen, daß Sex und Liebe zwischen Frauen vom sechzehnten bis neunzehnten Jahrhundert Bestandteil der europäischen und amerikanischen Kultur waren, während es jedoch bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts keine Lesben im eigentlichen Sinne des Wortes gab.
Sexuelle Handlungen zwischen Frauen waren Objekt der voyeuristischen Faszination dekadenter französischer Dichter, die über verworfene Anhängerinnen »sapphischer Liebe« phantasierten. Es mag damals zwar Prostituierte oder andere Frauen gegeben haben, die ihre Sexualität mit Frauen lebten, doch diese Art von Sex wurde nicht als wirkliche Alternative zu einem heterosexuellen Leben angesehen. Sie war eine exotische Variante, um die sexuell gelangweilten Kurtisanen oder die Männer zu beleben, die solche proto-pornografischen Begegnungen inszenierten. Es scheint, als sei diese Form sexueller Aktivität selten und auf soziale Randgruppen beschränkt gewesen.
Auf der anderen Seite war Liebe zwischen Frauen weit verbreitet und galt als durchaus ehrbar. Die »romantische Freundschaft« des späten achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts war ein akzeptierter Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens, und den beteiligten Frauen wurde weder »abweichendes Verhalten« noch eine anti-heterosexuelle Haltung unterstellt. Die Historikerin Carroll Smith-Rosenberg war die erste, die eine ganze Tradition solcher langdauernden Liebesverbindungen zwischen amerikanischen Frauen des neunzehnten Jahrhunderts aufzeigte. Bei ihren Recherchen stieß sie auf zahlreiche Frauen, die sogar den Ehemann aus dem Schlafzimmer verbannten, wenn die Freundin zu Besuch kam.[3] Manche Frauen heirateten auch gar nicht und lebten mit einer Freundin zusammen, eine Verbindung, die als »Bostoner Ehe« bekannt war. Diese war im späten neunzehnten Jahrhundert besonders verbreitet und zwar ausschließlich in Städten, da die Pionierfrauen damals zu heiraten pflegten.

Faderman ist der Auffassung, diese leidenschaftlichen und sinnlichen Beziehungen, die alle Anzeichen einer leidenschaftlichen Liebe zeigten - jedenfalls ist das aus den überlieferten Briefen und Dokumenten ersichtlich -, seien nur in Ausnahmefällen auch mit genitaler Sexualität verbunden gewesen. Die Frauen schliefen vielleicht im selben Bett, umarmten und küßten sich und erlebten alle Anzeichen des Verliebtseins, doch sie hielten ihr Herzklopfen und ihre Küsse nicht für Anzeichen genitaler Lust. Schließlich nahm man in jenen Jahren ohnehin an, Frauen hätten nur emotionale Bedürfnisse, und es gibt Hinweise darauf, daß die meisten Frauen diese Vorstellung auch verinnerlicht hatten. Für die meisten bedeutete »Sex« wahrscheinlich nichts weiter als der alles andere als befriedigende Körperkontakt mit ihrem autoritären Ehemann - oder sie setzten Sex mit dem Zeugungsvorgang gleich. Wenn sie eine Frau »liebten«, dann assoziierten sie diese Gefühle auf jeden Fall nicht mit der Fortpflanzung oder mit »niederen Instinkten«.
Faderman erzählt einen interessanten Fall, der die Trennung verdeutlicht, die Frauen damals zwischen Sex und Liebe vornahmen. Die Geschichte handelt von zwei schottischen Lehrerinnen im frühen neunzehnten Jahrhundert, die von der Familie einer ihrer Schülerinnen vor Gericht gezerrt wurden, mit der Begründung, gemeinsam »unnatürliche« Handlungen zu begehen. Die Schülerin war halb Engländerin, halb Surinamesin und behauptete, sie habe gehört, wie die beiden Lehrerinnen merkwürdige Geräusche machten, wenn sie nachts zusammen im Bett lägen. Das Interessante daran ist, daß die leidenschaftlichen Briefe, die die beiden Frauen einander geschrieben hatten, als Beweismittel von den Verteidigern vorgelegt wurden, nicht von der Staatsanwaltschaft. Die Rechtsanwälte argumentierten, daß zwei Frauen, die zu solch hehren Gefühlen füreinander, solch christlicher Hingabe fähig wären, sich unmöglich zu jenen schmutzigen Handlungen herablassen könnten, von denen englische Gentlemen annahmen, daß sie nur in französischen Bordellen vorkämen. Außerdem wurde argumentiert, die Schülerin verfüge aufgrund ihrer ostindischen Vorfahren über eine allzu rege sexuelle Phantasie.

Die Argumentation der Verteidiger ähnelt der Queen Victorias, die sich 1885 weigerte, ein Gesetz zu unterzeichnen, das lesbische Liebe zum Verbrechen erklärt hätte, und zwar mit der Begründung: Keine britische Frau könnte sich auch nur in Gedanken so etwas vorstellen. Möglicherweise befürchtete die Königin, falls es ein Gesetz gegen weibliche Homosexualität gäbe, würden die christlich erzogenen britischen Frauen womöglich auf dumme Gedanken kommen.
Damals konnten Frauen also einander lieben - und taten es auch -, ohne als Mitglieder einer abnormen und perversen Außenseitergruppe gebrandmarkt zu werden. Romantische Freundschaften bestätigten die allgemeine Überzeugung, daß Frauen von Natur aus das emotionale Geschlecht seien, also empfand man sie kaum als Bedrohung - weder für die männliche Autorität, noch für die Institution der Heterosexualität.
Erst nach 1880 begann man die Liebe zwischen Frauen mißtrauisch zu betrachten und nach Anzeichen für Perversion zu untersuchen. Havelock Ellis in Großbritannien, Richard von Krafft-Ebing in Deutschland und andere Ärzte und Wissenschaftler begannen, menschliches Sexualverhalten nach »Typen« zu klassifizieren. Sie stellten Kriterien zur Unterscheidung der verschiedenen Typen auf, besonders zur Unterscheidung des Normalen vom Abnormen. Da gab es dann beispielsweise den Typus des Fetischisten, des Sadomasochisten oder des Nekrophilen. Doch der am häufigsten beschriebene unter den sexuell abnormen Typen war der »Invertierte« oder der Homosexuelle.
Die Sexualwissenschaftler betrachteten homosexuelle Handlungen nicht als moralischen Lapsus, der jedem Menschen unterlaufen könne. Sondern sie betrachteten sie als die sichtbare Manifestation eines angeborenen Triebes, der bei ganz bestimmten Individuen vorhanden sei. Manche Sexologen versuchten, zwischen Homosexualität bzw. »Inversion« als Ergebnis angeborener krankhafter Sexualtriebe und Aktivitäten, die einfach nur pervers waren, zu unterscheiden. Sie versuchten daher, den »echten Invertierten« von jenen zu trennen, die sich möglicherweise abnormen Sexualpraktiken hingäben, ohne unbedingt selbst abnorm zu sein. Häufig wurde argumentiert, die »echten Invertierten« könnten nichts dafür, daß sie so seien und sollten daher mit Verständnis und Toleranz behandelt werden, solange sie sich nicht an »normalen« Jungen oder Mädchen vergriffen.
Für Frauen waren die Auswirkungen der neuen Sexualwissenschaft gemischter Natur. Auf der einen Seite konnten Frauen, die ein sexuelles Verlangen nach anderen Frauen verspürten, diesem jetzt einen Namen geben und - so wie Radclyffe Halls Heldin - argumentieren, sie könnten nichts dafür, so zu sein, wie sie nun einmal wären, und bräuchten sich deshalb auch nicht dafür zu schämen. Doch auf der anderen Seite war die neue homosexuelle Identität nicht gleichwertig mit der Heterosexualität. Eine Lesbierin zu sein, galt als abnorm, und wie die Heldin in Quell der Einsamkeit deutlich zu erkennen gab, bedeutete es, etwas anderes zu sein als eine richtige Frau. Wer sich die Kategorien der Sexologen zu eigen machte, konnte inneren Frieden finden, da sie wußte, daß ihre Gefühle und Erfahrungen einen Namen hatten und es andere Frauen gab, die ebenso empfanden. Doch die Betreffende konnte niemals Frieden mit der äußeren Welt schließen, da Lesbischsein so stigmatisiert war, daß nicht einmal darüber geredet werden durfte.
Die neue lesbische Identität war keineswegs nur ein Segen. Lesbische Frauen konnten sich jetzt einen Namen geben und einander erkennen, doch diesen Vorteil mußten sie teuer bezahlen: Sie galten ab sofort als abnorme Persönlichkeiten, als »maskuline« Frauen. Frauen, die sich »männlich fühlten« und die herkömmlichen Vorstellungen von Weiblichkeit für sich ablehnten, fragten sich, ob sie damit Anzeichen für lesbische Neigungen zeigten; und Frauen, die sich als lesbisch empfanden, gruben in ihrem Gedächtnis nach Kindheitserlebnissen, die darauf hinwiesen, daß sie gegen ihre Weiblichkeit rebelliert hatten. Radclyffe Halls Heldin wuchs mit dem Gedanken auf, ein verkappter Junge zu sein (ihr Vater half ihr kräftig dabei, indem er sie Stephen nannte), und die Leserin stellte damals automatisch eine Verbindung her zwischen Stephens Freude am Reiten und an anderen »männlichen« Sportarten und ihrer sexuellen Perversion. So war die lesbische Frau also nicht nur ein sexueller Typus, sondern ein sozialer Typus, dessen Identität weit über den Bereich des Sex hinausreichte.
Das Entstehen einer lesbischen Identität wurde nicht nur durch die neue Sexualwissenschaft, sondern auch durch soziale Veränderungen gefördert, von denen die städtischen Frauen der Mittelschicht betroffen waren. Frauen gingen auf die Universität und drangen in den Bereich der akademischen Berufe vor; Frauen aus der Mittelschicht hatten die Möglichkeit, ihren eigenen Lebensunterhalt zu verdienen und sogar beruflich Karriere zu machen. Ohne diese materiellen Voraussetzungen wäre es den Frauen ob lesbisch oder heterosexuell - unmöglich gewesen, sich ein Leben relativ unabhängig von einem Ehemann und vom Eingebundensein in eine Familie aufzubauen. Die »neuen Frauen« der Jahrhundertwende neigten dazu, sich zusammenzuschließen und sich in männlich dominierten Berufen und Universitäten als Außenseiterinnen zu empfinden, was wiederum die Möglichkeit für lesbische Beziehungen verstärkte. [4]
Die Entstehung dieser Außenseitergruppe von lesbischen Frauen und die Verknüpfung verschiedener bis dahin relativ isoliert nebeneinander stehender Elemente (romantische Freundschaft, sexuelle Anziehung zwischen Frauen, feministische Unabhängigkeitsbestrebungen) betraf nicht nur Frauen, die das Etikett »lesbisch« für sich beanspruchten. Die homosexuelle Identität bildete sich zur gleichen Zeit heraus wie die neue Identität der Heterosexualität und stand im Gegensatz zu ihr. Während Weiblichkeit im neunzehnten Jahrhundert vor allem durch Mutterschaft definiert war und nicht durch sexuelle Triebe oder Bedürfnisse, fand im frühen zwanzigsten Jahrhundert eine zunehmende Heterosexualisierung der Weiblichkeitsvorstellungen statt. Die neuen britischen und amerikanischen Feministinnen der zwanziger und dreißiger Jahre, der Zeit nach den Suffragetten, wiesen die Asexualität der früheren Feministinnen zurück und verteidigten die weibliche (Hetero-)Sexualität als einen bedeutsamen Aspekt der Frauenbefreiung.[5] Sie waren stark von der Sexualwissenschaft und den Theorien Freuds und anderer psychologischer Experten beeinflußt, welche die Bedeutung sexueller Erfüllung im Leben der Frauen betonten. Auch engagierten sich diese Feministinnen in Kampagnen zur Geburtenregelung, um die Trennung von Sex und Fortpflanzung Wirklichkeit werden zu lassen. Frauen wie Margaret Sanger in den Vereinigten Staaten und Rebecca West und Dora Russell in Großbritannien propagierten ein neues Konzept von Weiblichkeit, das zum ersten Mal in der Geschichte des Feminismus das Recht der Frauen auf sexuelle Erfüllung einschloß.
Als Heterosexualität und Homosexualität sich stärker voneinander unterschieden und eine immer wesentlichere Rolle als soziale und sexuelle Unterscheidungsmerkmale spielten, begannen viele Journalisten und Populärwissenschaftler einen Feldzug gegen die Gefahren von Teenager-Schwärmereien und gleichgeschlechtlicher Zuneigung jeder Art. Während Koedukation vorher als unmoralisch abgelehnt worden war, geriet in den zwanziger Jahren in Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Kanada die moralische Integrität reiner Jungen- bzw. Mädchen-Institutionen zunehmend in Verruf. Die plötzliche Popularität der neuen Ideen über die Gefahren der Homosexualität war sehr eng verbunden mit einer antifeministischen Reaktion, einer »Zurück zur Familie«-Propaganda, die in vielen Ländern nach dem Ersten Weltkrieg vorherrschte. In den Vereinigten Staaten wurde von den Frauen, die in der Rüstungsindustrie gearbeitet und gerade das Wahlrecht erkämpft hatten, erwartet, daß sie sich als Hausfrauen und Mütter in das neue Amerika der Vorstädte zurückzögen und den Männern die Rolle des Ernährers überließen. Die lebendige sozialistische Bewegung, die in der Zeit zwischen 1910 und 1918 zahlreiche Anhängerinnen gewonnen hatte, wurde nach der russischen Revolution durch die »Angst vor der Roten Gefahr« unterdrückt. Radikale ImmigrantInnen wie die in Rußland geborene anarchistische Feministin Emma Goldman wurden in ihr Heimatland deportiert, und männliche Arbeiter erhielten Darlehen, um sich Häuser kaufen und so am amerikanischen Traum teilnehmen zu können.
Wie die Historikerin Dolores Hayden in The Grand Domestic Revolution ausgeführt hat, gingen Antikommunismus, Antifeminismus und die Glorifizierung der Kernfamilie Hand in Hand mit den Strategien der amerikanischen Wirtschafts- und Regierungsführer. [6] Die zufriedene Arbeiterfamilie der zwanziger Jahre, der jeder Gedanke an Revolution fern lag, sollte nicht nur durch das neuerworbene Eigenheim, sondern auch durch das Vergnügen am Sex zusammengehalten werden. Die Sozialhistorikerin Linda Gordon hat das folgendermaßen beschrieben: »Die Massenkultur der zwanziger Jahre riet den Frauen, die Interessen ihrer Männer herauszufinden und sie mit Hilfe ihrer körperlichen Attraktivität zu manipulieren. In Kleinstädten sahen die Leute Filme und lasen Artikel mit Titeln wie: >Flirten nach der Hochzeit< oder >Wie man dafür sorgt, daß die Ehe aufregend bleibt.< [7]
Die intensive Propagierung der Heterosexualität führte dazu, daß diejenigen Frauen besonders ins Blickfeld gerieten, die dieses Spiel nicht mitspielten. Als die Sexualität der Frauen ignoriert oder als nicht existent betrachtet worden war, hatten Frauen wenig Gelegenheit, sich selbst als lesbisch oder heterosexuell zu definieren und sich als voneinander verschieden wahrzunehmen. Doch als man dann dazu überging, die Ehe vor allem als eine Institution für sexuelle Befriedigung und erst in zweiter Linie als eine Fortpflanzungseinrichtung zu betrachten, sah die »wahre Liebe« zwischen Mann und Frau, wie es die Mutter in Quell der Einsamkeit formulierte, ganz anders aus als die pervertierte Liebe zwischen zwei Frauen. Romantische Freundschaften verschwanden oder kamen in den Ruch des Anstößigen. Weiblichkeit, vorher mit Mutterschaft und Fürsorge identifiziert, wurde jetzt durch Heterosexualität definiert.

Wie Heterosexualität zum Zwang wird

Als Frauen immer stärker nach ihrem heterosexuellen Marktwert beurteilt und bewertet wurden und die Ehe nicht mehr als ökonomische Partnerschaft oder als Eltern-Projekt betrachtet wurde, sondern als eine einzige traumhafte Romanze, war der Boden bereitet für eine soziale Institution, die unter dem Begriff »Zwangsheterosexualität« bekannt wurde.[8] Diese Institution residiert nicht in einem Hochhaus in der City oder in einem Ministerium, sondern sie ist in der heutigen Gesellschaft so allgegenwärtig, daß sie uns so wenig auffällt wie die Luft, die wir zum Atmen brauchen.

Der Sexismus hat die »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« geschaffen, die wir heute kennen; denn unsere Geschlechtsidentität entsteht durch psychosoziale Konditionierung. Zwangsheterosexualität bezieht sich auf die Ideologie und die soziale Praxis, welche die entsprechend konditionierten Männer und Frauen zu Paaren zusammenführt und sie glauben macht, dies sei ihre freie Entscheidung. Es muß betont werden, daß Zwangsheterosexualität nicht unbedingt mit einer extrem bigotten Haltung gegen Homosexualität verbunden sein muß, um ihr Ziel zu erreichen: die Institutionalisierung des heterosexuellen Paares als unabänderliche Vorbedingung für persönlichen Erfolg und soziale Stabilität.
Heterosexismus ist nicht nur dann am Werk, wenn jemand eine homosexuelle Person aktiv diskriminiert oder belästigt. Er ist auch an vielen Orten gegenwärtig, wo homosexuelle Menschen gar nicht vorkommen, beispielsweise in Anzeigen für Brautausstattungen, die Diamanten und weiße Hochzeitskleider und damit indirekt die traditionelle Ehe als einzig erstrebenswertes Lebensziel für Frauen abbilden. In diesem Sinne unterdrückt der Heterosexismus nicht nur die Homosexuellen, sondern auch alle Menschen, die entweder keine oder unverbindliche sexuelle Beziehungen eingehen. Ja, er unterdrückt selbst die in Paaren lebenden Heterosexuellen, die seine Privilegien genießen können, da das gesamte Gewicht einer sozialen Institution auf ihren individuellen Schultern ruht. Die Anzeigen der Brautkleiderindustrie sind eine Beleidigung für verheiratete Frauen, die in ihrer Ehe glücklich sind, aber nicht ihre Identität aus ihr beziehen. Auch Frauen, die beispielsweise einen Job in einer anderen Stadt annehmen möchten und sich schuldig fühlen, weil sie zwischen ihrer Ehe und ihrem Beruf abwägen müssen, werden durch den Heterosexismus unterdrückt. Die Beziehung soll ihnen wichtiger sein als ihrem Mann, dem man eine solche Wahl nicht zumutet.
Zwar unterdrückt der Heterosexismus auch Schwule und alle Männer, die nicht »der Norm« entsprechen, aber er wirkt sich besonders nachteilig auf Frauen aus. Frauen leiden mehr unter dem Druck, »einen Mann finden« zu müssen, als Männer darunter, eine Frau finden zu müssen. Frauen sind diejenigen, denen die Werbeindustrie, Filme und Romane, Familienangehörige und Freundinnen dauernd erzählen, sie hätten daran zu arbeiten, ihre äußere Erscheinung und ihre Kochkunst zu verbessern, um einen Mann zu bekommen und ihn zu halten. Das soziale Ansehen von Männern steigt, wenn sie eine Frau haben, die sie herumkommandieren können, und sie werden oftmals als »Sonderlinge« stigmatisiert, wenn es ihnen nicht gelingt, bei einem gesellschaftlichen Ereignis eine Frau vorzuweisen. Doch Männer brauchen nicht die Bestätigung einer Frau für ihre Identität. Sie geben bei der Eheschließung in der Regel weder ihren Namen noch ihre soziale Schichtzugehörigkeit auf. Ein Müllmann, der mit einer Lehrerin verheiratet ist, bleibt ein Müllmann; eine Akademikerin, die einen Bauern heiratet, wird aber zur »Bauersfrau«. Daran läßt sich erkennen, daß Frauen eine autonome Identität versagt wird, und daher hat es für sie schwerwiegende Konsequenzen, ob sie innerhalb oder außerhalb einer heterosexuellen Partnerschaft leben. Der Erfolg einer alleinstehenden berufstätigen Frau wird von anderen, und oft genug auch von ihr selbst, relativiert oder ihr gar abgesprochen, weil sie nicht in einer Partnerschaft/Ehe lebt. Die Managerin, die keinen Ehemann vorweisen kann, steht im Verdacht, ihre Weiblichkeit der Karriere geopfert zu haben, und dieses Opfer wird gewöhnlich als die falsche Entscheidung angesehen.
Heterosexismus ist auch am Werk, wenn es um die Einschätzung der weiblichen Armut geht. Mittellose Frauen, die alleinstehend oder verwitwet sind, werden als eine besondere Klasse von Menschen behandelt, deren Armut auf den nicht vorhandenen männlichen Ernährer zurückgeführt wird. In Wirklichkeit wird ihre Armut nicht durch die Abwesenheit des immer mystischer wirkenden männlichen Ernährers verursacht, sondern durch solche Faktoren wie die zwischen Frauen und Männern klaffende Lohnschere, die Verantwortlichkeit der Frauen für die Kinder nach einer Scheidung und die Weigerung der Regierung, eine Hausfrauenrente zu zahlen. Diese sexistischen und heterosexistischen sozialen und ökonomischen Strategien werden selten als die Ursache für die Armut von Frauen wahrgenommenen.
Die Zwangsheterosexualität zementiert die Lohnungleichheit und die Gettoisierung von Frauen in bestimmten Berufen, indem sie ihnen weismacht, sie würden irgendwann in ihrem Leben vom »Märchenprinzen« erlöst. Darüber hinaus verstärkt sie die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit, indem sie das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen erotisiert. Die Soziologin Margaret Ann Jensen hat in Love's Sweet Return: The Harlequin Story, einer Arbeit, die sich mit Groschenromanen beschäftigt, die speziell für Frauen geschrieben werden, dargestellt, wie eine Handlung, die man normalerweise als »sexuelle Belästigung« bezeichnen müßte, in diesen Liebesromanzen zu einer erotischen Handlung umdefiniert wird:


Wenn Heldinnen für Helden arbeiten, wie es so häufig der Fall ist, sind sie zunehmend sexueller Belästigung ausgesetzt. Natürlich wird das in den Geschichten niemals so interpretiert, denn die Heldin liebt den Helden und heiratet ihn am Ende, aber es ist eine Form von sexueller Belästigung ... Das Element der Ablehnung oder des Zwanges macht die Romanze noch aufregender und spannender. [9]

Da bei der Leserin von Liebesgeschichten angenommen werden kann, daß sie sich dem Diktat der Zwangsheterosexualität fügt, wird von ihr erwartet, daß sie sexuelle Gewalt, wenn sie von einem Mann in einer übergeordneten Position verübt wird, als erlaubt durchgehen läßt. Schließlich führen Verkäuferinnen und Sekretärinnen ein langweiliges Leben und träumen, so die Ideologie, immerzu von einem starken Mann, der sie von der Kasse/Schreibmaschine weg in seine starken Arme reißt. Die Leserin weiß schließlich auch aus anderen Liebesgeschichten, daß der Held am Ende seine ihm untergebene Heldin heiraten wird, also ist er vom Vorwurf der Ausbeutung entlastet. Die Ehe, die permanente Heterosexualität, rechtfertigt alle Mittel. Denn wenn die Heldinnen alle Annäherungsversuche von Männern in übergeordneten Positionen zurückwiesen, würden sie niemals heiraten, nicht wahr? Zumindest würden sie niemals durch die Ehe eine neue soziale Identität erhalten.
Frauen wissen, daß die heterosexuelle Wirklichkeit weder wie ein Märchen noch wie ein Groschenroman aussieht. Doch die meisten Frauen haben das erst nach einigen Jahren bitterer Erfahrung gelernt. Denn weil wir von der heterosexistischen Ideologie umgeben sind, gehen wir heterosexuelle Beziehungen mit einer ganzen Reihe von Erwartungen und Idealen ein, wie »es« wohl sein wird. Ob unsere Phantasien dahin gehen, einen hinreißenden, großen Millionär zu finden, oder ob wir uns eher nach einem nicht-sexistischen Mann im Knitterhemd sehnen - wir haben alle unsere Hoffnungen und Erwartungen, und wir sind alle mehr oder weniger von den Geschichten über die »große Liebe« beeinflußt, die wir gelesen oder im Kino gesehen haben. Von Romeo und Julia bis zur Fernsehserie treffen wir unablässig auf ideologische Vor-Bilder, die uns vermitteln, wie Heterosexualität ist oder wie sie sein sollte.
Im Gegensatz dazu existieren Bilder von lesbischen Frauen in unserer Gesellschaft so gut wie gar nicht, und das bedeutet: Wenn eine Frau sich zu einer anderen Frau hingezogen fühlt, hat sie keinerlei Vorbilder, keine Vorstellung davon, wie die Liebe zwischen Frauen ist oder sein sollte. In den wenigen lesbischen Enklaven in den Großstädten haben sich zwar einige Idealvorstellungen lesbischer Beziehungen entwickelt, doch diese Ideale sind nicht Teil der allgemeinen Kultur, und um sie zu entdecken, muß eine Frau in feministische Buchläden gehen, schwer zugängliche Platten von Lesben hören oder die wenigen und kaum öffentlich angekündigten Treffen besuchen, die von und für Lesben organisiert werden. Selbst Lesben, die in Großstädten wohnen, in denen es so etwas wie ein soziales Netz für Lesben gibt, müssen sich schon sehr viel Mühe geben, die gleichgesinnten Frauen und ihre Kultur zu finden. Die Kultur des Heterosexismus ist dagegen allgegenwärtig.
Als ich mich in eine Frau verliebte, hatte ich überhaupt keine Vorstellung davon, was »Lesbischsein« bedeutet. Die Beschreibungen und Ideale des lesbischen Feminismus waren meiner Aufmerksamkeit bis dahin völlig entgangen, und ich nahm sie erst wahr, als ich schon mitten in der intensivsten Liebesbeziehung meines Lebens steckte. Ich erwartete oder erhoffte oder phantasierte daher gar nichts; ich erlebte einfach mit großem Staunen all das, was in den ersten Monaten unserer Liebe geschah, all die Gefühle und Gedanken, die ich anscheinend urplötzlich in meinem bis dahin »normalen« Herzen spürte.
In den Jahren vor meinem heterosexuellen Erwachen hatte ich lange Zeit von der Erfüllung durch die Beziehung mit einem Mann geträumt. Ich kann gar nicht genug betonen, welch einen Unterschied es für die eigenen Sexualerfahrungen macht, wenn man einfach die Gegenwart akzeptieren und die Zukunft erfinden muß. Alles mußte neu erfunden werden - angefangen damit, wie es ist, mit einer Frau körperlich zusammenzusein, bis dahin, wie ich meinen Eltern meine neue Beziehung erklären sollte. Eine lesbische Beziehung muß kreativ sein, ob die beteiligten Frauen nun von sich aus eher zu den schöpferischen Menschen gehören oder nicht. Die lesbische Feministin und Schriftstellerin Adrienne Rich hat das sehr gut ausgedrückt:

Die Regeln zerbrechen wie ein Thermometer,

Quecksilber zerläuft über die systematischen Tabellen.

Wir sind da draußen in einem Land ohne Sprache,

ohne Gesetze, wir jagen den Raben und den Zaunkönig

durch Schluchten, die seit der Dämmerung nicht erkundet wurden.

Was immer wir zusammen tun, ist pure Erfindung.

Die Landkarten, die sie uns gaben, waren veraltet

Seit Jahren...

(Gedicht XIII, aus: Twenty-One Love Poems) [10]



Solch unerforschtes, unkartiertes Gelände erfordert eine Kreativität, die charakteristisch ist für lesbische Beziehungen. Wir werden nicht einmal durch so viele Stereotypen verunglimpft, denen wir etwas entgegensetzen müßten, wie die schwulen Männer, deren Jugend und Coming-out-Prozeß durch das Bild der Tunte geprägt ist: bestimmte Manierismen, unmännliche Berufe, das Näseln, das Interesse für Kleidung. Alles, was wir an negativen Stereotypen vorfinden, sind ein paar Gedanken- oder Bilderfetzen: ein nur halb erinnerter Artikel über Gertrude Stein, die Vision einer zigarrenrauchenden vierschrötigen Frau mit den Händen in den Hosentaschen. Das sind keine mächtigen Mythen, eher Fragmente sozialer Landkarten, von denen wir sofort wissen, daß sie »seit Jahren veraltet« sind. Die lesbische Frau mag gelegentlich als verrücktes Sexungeheuer oder als lastwagenfahrender »Kerl« durch die Medien geistern, doch seltsamerweise bleibt sie in 99 Prozent der Fälle einfach unsichtbar.

Die Unsichtbarkeit lesbisch-erotischer Macht

Als ich etwa sieben oder acht Jahre alt war, kam mir etwas Seltsames in meiner weiteren Verwandtschaft zu Ohren. Es gab da zwei ältere Frauen, die alle Mitglieder und Freunde der Familie als »die Tanten« bezeichneten. Sie waren irgendwie mit meinen Cousinen verwandt, bei denen wir viel Zeit verbrachten, besonders in den Sommerferien. Eines Tages fragte ich meine Mutter, wie denn nun eigentlich ihre Beziehung zueinander wäre, denn es war mir klargeworden, daß sie nicht wirklich die Tanten meiner Cousinen waren. Meine Mutter sagte, eine von ihnen sei mit der Großmutter meiner Cousinen verwandt, und sie beschrieb die von ihr unzertrennliche Begleiterin so, daß mir klar wurde, sie war mehr als nur ihre Freundin. Ich erinnere mich nicht mehr an die genauen Worte meiner Mutter, aber jedenfalls gewann ich den Eindruck, daß die beiden »Tanten« schon seit ihrer Jugend zusammenlebten und einander wie Schwestern liebten, oder sogar mehr. Ich war mit dieser Antwort zufrieden; doch irgend etwas in mir verlangte nach einer näheren Erklärung. Daher schlich ich mich eines Tages, als wir im Haus meiner Cousinen Versteck spielten, in das Schlafzimmer der »Tanten« und sah, daß sie ihre beiden Betten zusammengeschoben hatten, so daß sie aussahen wie das Ehebett meiner Eltern. Die Familie meiner Cousinen war reich; jedes Familienmitglied hatte ein eigenes Zimmer, sogar jedes Dienstmädchen schlief in einem eigenen Raum; also war es merkwürdig, daß die beiden Tanten enger zusammenlebten als meine Schwester und ich in unserer kleinen Wohnung. Doch ich konnte die Sache noch nicht beim Namen nennen. Das Interessante ist übrigens, daß diese beiden Tanten von der gesamten Familie akzeptiert wurden, obwohl die eine von ihnen Zigarren rauchte, fluchte wie ein Müllkutscher und die kürzesten Haare hatte, die ich je bei einer Frau mittleren Alters gesehen habe, während die andere silberne Locken trug und sich wie eine richtig vornehme Dame benahm. Die damenhafte »Tante« sprach die andere immer an, wie es sonst nur eine Ehefrau tun würde: »Um Himmels willen, fahr nicht wieder so schnell!« und so weiter, während ihre »männliche« Partnerin mit lauter Baßstimme weiterhin auf die dämlichen Autofahrer schimpfte, mit denen sie um die Vorfahrt stritt. Ihr Verhalten als Paar war Gegenstand zahlreicher Spötteleien, aber unsere Cousinen liebten die beiden. Eines Tages durfte ich zu meinem großen Vergnügen mit meinen Cousinen eine Woche in der Madrider Wohnung der beiden Tanten verbringen. In dem riesigen Appartement hingen überall schwere rotsamtene Vorhänge und große Ölbilder. Ihr bescheidener Wohlstand stammte aus einer kleinen Fabrik, die den beiden gemeinsam gehörte und die wir Kinder mit großer Neugier besuchten.
Die beiden Tanten waren so offensichtlich ein lesbisches Paar, wie es nur je eines in den Heiligen Hallen der spanischen Bourgeoisie gegeben hat. Und doch wurden sie weder geschnitten, noch machte man sich lustig über sie, im Gegenteil: ihnen wurden die Kinder mit einer Selbstverständlichkeit anvertraut, wie es sonst nur bei »mütterlichen« Verwandten üblich ist. Doch die beiden wahrten ihre Respektabilität um den Preis, daß sie ihre Liebe und ihr Lesbischsein verschwiegen. Da sie nicht isoliert leben wollten, mußten sie sich mit ihren Verwandten wortlos darauf einigen, daß sie nichts weiter waren als »die Tanten«, ältliche Jungfern am Rande der »wirklichen« Familie.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß zwei schwule Männer in der Lage wären, solche Familienbande aufrechtzuerhalten wie meine »Tanten«. Hätte es in unserer Familie einen offensichtlich schwulen Mann gegeben, wäre sein Liebhaber sicherlich nicht mit dem Onkel-Status versehen worden, und keinem der Männer hätte man Kinder anvertraut oder ihn wie selbstverständlich zu Familienfeiern eingeladen. Der Grund liegt zweifellos darin, daß schon ein Kind eine »Tunte« als solche erkannt hätte, während die lesbischen Tanten nicht als Bedrohung für die Bildung der »richtigen« Geschlechtsidentität der jüngeren Generation betrachtet wurden. Sie waren nur ein harmloses, pittoreskes Paar alter Tanten in einer großen, bunten Familie mit einer Vielzahl an skurrilen Frauengestalten. Sie wurden nicht sonderlich ernst genommen.
Die Unsichtbarkeit hat manche Vorteile. Viele Lesben können heute als heterosexuelle Frauen »durchgehen«, selbst wenn sie unter den Augen ihrer Verwandten und KollegInnen eine Beziehung zu einer Frau leben. Zwei Frauen können sich in aller Öffentlichkeit in den Arm nehmen, und solange sie darauf achten, sich nicht allzu innig zu küssen und einander nicht zu tief in die Augen zu sehen, läßt man sie wahrscheinlich in Ruhe. Dies verändert sich jedoch, besonders in Städten wie Toronto. Zwei händchenhaltende Frauen werden jetzt durchaus schon mit homophobem Mißtrauen betrachtet, während vor zehn Jahren überwiegend eher unschuldige Vermutungen angestellt worden wären. Dennoch wird trotz der größeren Sichtbarkeit lesbischer Liebe bei zwei Frauen, die eine Wohnung teilen, nach wie vor nicht automatisch angenommen, es handele sich um ein Paar. Und da die strikte Rollenverteilung in »kesser Vater« und »Weibchen« so gut wie verschwunden ist, werden Menschen, die diesen Stereotypen nach wie vor anhängen, in zwei durchschnittlich aussehenden Frauen, die offensichtlich glücklich miteinander durch die Straßen gehen, keine »Lesbierinnen« vermuten.
Doch die Unsichtbarkeit ist nicht wirklich ein Segen. Sie bedeutet, daß die Gesellschaft sich weigert einzugestehen, daß es Liebe zwischen Frauen überhaupt gibt. Oder wenn sie es eingesteht, dann wird diese Liebe nicht als wirkliche Liebe oder wirklicher Sex betrachtet; ganz zu schweigen davon, daß ein solches Verhalten nicht wirklich »weiblich« ist. Die meisten Menschen können sich Sex zwischen zwei Frauen gar nicht vorstellen. Sie fragen: »Aber was können Lesben im Bett denn schon miteinander anfangen?«, als ob die Dienerinnen in Abwesenheit des phallischen Königs nichts tun könnten, das den Namen Sex verdient.
Untersuchen wir einmal einige der vorherrschenden Mythen und Phantasien über lesbische Sexualität. Ein weit verbreiteter Mythos betrachtet Lesbischsein als unreif, aber im Grunde harmlos. Man stellt sich zwei Frauen vor, die Amors heterosexuellen Pfeilen und Fallstricken entfliehen, sich aneinander kuscheln und leicht auf die Wange küssen, bevor sie wie die Kinder einschlafen. Die Grundannahme hinter diesem Mythos (dem unglücklicherweise auch viele heterosexuelle Feministinnen anhängen) ist, daß »richtige Frauen« Sex mit Männern haben. Die Phantasie, die vermutlich in Männerköpfen vorherrscht, ist die Lesbe als Super-Hure, als Sexmonster, das ein willenloses Sexualobjekt, nämlich eine andere Frau, beleidigen, erniedrigen oder sogar quälen muß. Das Sexualobjekt selbst gilt dann natürlich nicht als »wirklich lesbisch«. Diese Phantasie ist charakteristisch für die »lesbischen Pornos« wie sie in Penthouse und anderswo zu finden sind. Eine subtilere Version findet man in solch seriösen Werken wie den Biografien berühmter literarischer Lesben. Quentin Bells bekannte Biografie über Virginia Woolf porträtiert Woolf als eine im wesentlichen asexuelle Frau, die das Objekt der Leidenschaft verschiedener mächtiger Lesbierinnen gewesen sei (darunter Vita Sackville-West). Victoria Glendinnings Biografie über Vita Sackville-West enthält sich zwar jeder Verurteilung, doch zitiert sie aus dem Briefwechsel zwischen Vita und ihren Geliebten und legt dabei nahe, Vitas Lesbischsein habe etwas mit körperlicher Grausamkeit zu tun gehabt. Der »Beweis« dafür ist eine unbedeutende Anspielung einer Geliebten auf eine kleine Schramme, die sie sich während des Liebesspiels zugezogen hatte. [11] Glendinnings Biografie stellt Vitas Tendenz nicht in Frage, aus schwierigen lesbischen Liebesbeziehungen zu fliehen, indem sie auf die Bedeutung ihrer Ehe mit Harold Nicolson (der ebenso wie Vita vor allem homosexuell war) verwies. Es kommt Glendinning niemals in den Sinn, daß es vielleicht für Harold und Vita sozial wichtig gewesen sein könnte, der Welt und auch sich gegenseitig vorzumachen, ihre homosexuellen Beziehungen seien Auswüchse ihrer niederen Instinkte, während ihre Ehe das Werk wahrhaft intellektueller Geister sei.
Lesbische Sexualbeziehungen folgen keinem Modell. Wie heterosexuelle Beziehungen können sie sich ausschließlich auf Sexualität gründen oder vor allem emotionaler und/oder intellektueller Natur sein. Manchmal möchten lesbische Frauen nur miteinander schmusen und sich küssen, doch das ist noch lange kein Beweis für sexuelle Unreife. Zu anderen Zeiten können sich dieselben Frauen ausgesprochen geil fühlen und einander stundenlang leidenschaftlich lieben. Manchmal wollen wir getröstet und gehalten werden, während wir zu anderen Zeiten unsere ganze körperliche Kraft einsetzen und die Leidenschaft unserer Geliebten fühlen wollen.
Das soll nicht heißen, daß Lesben niemals in einen immer gleichen Trott verfallen oder daß es nicht auch Lesben gibt, die in ihrem sexuellen Geschmack so eingeschränkt sind wie manche Teenager, die außer Hamburgern von McDonalds nichts mögen. Langeweile im Bett ist kein Monopol verheirateter Paare. Doch lesbischer Sex hat von Anfang an einen Vorteil: Es gibt keine konventionellen Rollen, in die Frauen zurückfallen könnten. Es gibt keine Missionarsstellung.
Abgesehen davon, daß lesbische Sexualität potentiell vielseitig ist, kann sie auch ungeheuer machtvoll sein. Natürlich stimmt es, daß jede starke Liebe oder jedes starke sexuelle Verlangen ungeheure Kräfte in Menschen freisetzen kann. Doch ohne in den Wettbewerb um die olympische Sexmedaille eintreten zu wollen, läßt sich behaupten, daß die einzigartige Energie lesbischer Erotik einen der stärksten Antriebe der menschlichen Existenz darstellt. Das hat nichts mit angeborenen Geschlechtsunterschieden zu tun; denn wir werden ja sozial darauf konditioniert, von einer anderen Frau zu erwarten, daß sie sich uns gegenüber fürsorglich verhält. Allgemein gesagt sind Frauen tatsächlich »emotionaler« als Männer oder zumindest dazu erzogen, ihre Gefühle mehr zum Ausdruck zu bringen, als es Männern zugestanden wird. Das bedeutet, daß in heterosexuellen Beziehungen die emotionale Tiefe häufig von der Tendenz der Männer begrenzt wird, sich »zu starke« Gefühle vom Leib zu halten; außerdem wissen Frauen, daß Männer nur selten in der Lage sind, mit einer emotional verletzlichen Partnerin angemessen umzugehen. Mit einer anderen Frau hingegen ist es leichter, loszulassen, sich verletzlich zu zeigen, die Grenzen zu überschreiten, die verschiedene Egos als separat und unterschiedlich markieren.
Leider ist die Fähigkeit, eine enge Bindung mit einer anderen Frau einzugehen, kein ungetrübter Segen. Viele Lesben öffnen sich ihrer Geliebten gegenüber vorschnell, zeigen sich verletzlich und erwarten dann von der anderen, genauso zu reagieren. Sie verlieben sich zu schnell »unsterblich« und sorgen so selbst für tragische Enttäuschungen. Aufgrund der Frauen anerzogenen Emotionalität und der unvermeidlichen Assoziation des Körpers der Geliebten mit dem nährenden, allmächtigen Körper der Mutter kann die Liebe zwischen Frauen eine der stärksten Bindungen schaffen, die menschenmöglich sind. Doch es ist gleichermaßen wahr, daß der Bruch dieser Bindung oder schon die entfernte Drohung eines solchen Bruchs sich verheerend auf die Psyche einer Frau auswirken und eine Fülle von Trennungsängsten mobilisieren kann.
Die Liebe einer Frau für eine andere kann beschützend und großzügig sein; sie kann aber auch gewalttätig, selbstsüchtig und eifersüchtig sein. Häufig finden sich diese widersprüchlichen Eigenschaften in ein und derselben Person, die zwischen einer tiefen Liebe und einer rasenden, an Haß grenzenden Eifersucht hin- und herschwankt. Dies mag ein Grund dafür sein, warum intensive und emotional verheerende Dreiecksbeziehungen zwar nicht generell verbreitet, aber doch ein häufiges Kennzeichen lesbischen Lebens sind. Das emotionale Thermometer schwankt dann stark auf und ab, doch das Dreieck bleibt bestehen, zum Teil aufgrund des merkwürdigen Bandes zwischen den »Rivalinnen«, die das Potential haben, sowohl einander zu lieben und zu wärmen, als auch die schlimmsten Ängste vor der Trennung von der mütterlichen Gestalt zu mobilisieren. [12]
Die erotische Kraft der lesbischen Liebe ist also, da sie auf bestimmten typisch weiblichen Merkmalen basiert, ein ebenso zweifelhafter Segen wie die weibliche Emotionalität selbst. Von gefühlsüberfrachteten Beziehungen erschöpft, hat sich schon so manche Lesbe nach den eher flüchtigen Sexualbeziehungen gesehnt, die für das Leben schwuler Männer charakteristisch sind. Und doch ist die Intensität lesbisch-erotischer Bindungen auch eine Stärke und ein Quell besonderer Glücksgefühle.
Der extreme égoisme à deux einer lesbischen »Verschmelzung« kann recht quälend sein, besonders wenn eine der beiden Partnerinnen plötzlich ihre Autonomie schwinden fühlt und beschließt, ihre Unabhängigkeit wiederherzustellen. Und es ist besonders schlimm, wenn beide Partnerinnen so verschmelzen, daß jede nur eine Hälfte des Paares darstellt, statt eine ganze Persönlichkeit. Doch es ist ja möglich, aus der Erfahrung zu lernen und einiges von der Großzügigkeit, der Leidenschaft und der gegenseitigen Verletzlichkeit einer Frau-zu-Frau-Verbindung zu bewahren, die Verschmelzung aber zu vermeiden bzw. zu mildern durch dauerhafte Bindungen an FreundInnen, die Arbeit, das Gemeinschaftsleben und Kinder.

Lesben der Staat und die Gesellschaft

Die meisten Menschen glauben, wir lebten heute in aufgeklärten Zeiten, in denen eine direkte Verfolgung von Lesben und anderen unpopulären Minderheiten auf wenige Auswüchse von Bigotterie beschränkt bleibt. So ist den meisten gar nicht bewußt, daß geschiedenen Frauen in der Regel das Sorgerecht für ihre Kinder aberkannt wird, wenn ihr Ex-Mann dem Gericht Beweise für ihr Lesbischsein vorlegt. Die wenigsten wissen, daß noch in den siebziger Jahren in Kanada Frauen in die Psychiatrie eingewiesen und mit schweren Medikamenten und Elektroschock traktiert wurden, weil ihre Eltern oder Ehemänner die Ärzte davon überzeugten, daß Lesbischsein ein Zeichen für Verrücktheit wäre. Und auch heute noch wird so manche junge Lesbe von ihrem Vater in rasendem Zorn aus dem Haus gewiesen.
Es ist wichtig zu begreifen, daß Lesben nicht nur gelegentlich Verfolgungen ausgesetzt sind, sondern daß die gesellschaftliche Unterdrückung ein alltägliches Phänomen ist. Jeden Tag müssen wir aufs neue die Entscheidung treffen, wie wir uns der Welt präsentieren wollen. Spannung und Streß sind ständig gegenwärtig, selbst bei solchen Lesben, die relativ privilegiert leben. Darf ich es wagen, in einem Gespräch in der Mittagspause meiner Kollegin von meiner Geliebten zu erzählen, so wie andere von ihren männlichen Freunden und Ehemännern berichten? Soll ich all die Lesben-Bücher und -Poster verstecken, weil Verwandtschaft zu Besuch kommt? Kann ich einen LeserInnenbrief an eine Tageszeitung schreiben, in der ein Artikel erschien, der Lesben als »kesse Väter mit Damenbart« bezeichnete - auf die Gefahr hin, daß mein Name voll abgedruckt wird und ich zumindest als »Sympathisantin« gelte? Oder andersherum: Kann ich diese Demütigung schweigend hinnehmen? Schon die belanglosesten Alltagsereignisse stellen Lesben permanent vor die Entscheidung zwischen dem Herunterschlucken von Ärger und der öffentlichen Konfrontation, der Selbstverleugnung und dem Eingehen persönlicher Risiken.
Doch Lesben reagieren in der Regel situationsspezifisch - und es gibt keine lesbische Frau auf der Welt, die sich immer und überall als solche zu erkennen gibt. Dennoch kann keine von ihnen frei und ungezwungen ihr Leben leben, ohne ihr Lesbischsein zu thematisieren. Wenn sie die öffentliche Auseinandersetzung scheut, macht sie sich selbst unglücklich, indem sie sich pausenlos selbst zensiert - die Voraussetzung für die Unsichtbarkeit. Wenn sie aber ihrer Familie und ihren Freundlnnen offen von ihrer sexuellen Präferenz erzählt, heißt das noch lange nicht, daß damit ein für allemal die Akzeptanz oder gar Zustimmung der Umwelt gewonnen wäre. Viele Lesben fechten einen jahrelangen inneren Kampf aus, bis sie es endlich schaffen, ihren Eltern reinen Wein einzuschenken - und stellen dann fest, daß auf die »große Aussprache« wiederum ein großes Schweigen folgt. Typisch ist etwa folgender Ablauf:

1. Eine lesbische Frau überwindet sich und hat ihr »Coming-Out« gegenüber einer Freundin oder einem/r Verwandten.
2. Es kommt zur »großen Aussprache«, in der Freundin bzw. Verwandte/r entweder vollkommen entsetzt reagiert oder so tut, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt.
3. Freundin/Verwandte/r denkt über das Gehörte nach, während die lesbische Frau sich fragt, was die- bzw. derjenige wohl von ihr denkt.
4. Freundin bzw. Verwandte/r tut so, als sei die Sache erledigt, und man solle nie wieder darüber sprechen. Wenn die lesbische Frau nicht so mutig ist, einfäch ihre Partnerin mitzubringen oder eine Unterhaltung rüde durch »lesbische Kommentare« zu unterbrechen, wird sie feststellen, daß es äußerst schwierig ist, ihr lesbisches Leben in ihre Freundschaften, ihren Beruf, ihre Familie einzubringen.
Das ist der Hauptgrund dafür, daß Lesben dazu neigen, sich mit anderen Lesben anzufreunden, und nur wenige heterosexuelle Freundschaften aufrechterhalten, die sie wiederum vom Rest ihres sozialen Lebens sorgfältig getrennt halten.
Gesellschaftliche Vorurteile und heterosexistische Einstellungen sind sicherlich ein wichtiges Hindernis dafür, daß Loshen ein ungezwungenes Leben führen können. Doch auch die Staatsapparate (Gesetze, Gerichte, Polizei, Schulsystem) sind keineswegs neutral gegenüber lesbischen Frauen. In Kanada sind zum Beispiel gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen unter einundzwanzig Jahren illegal, während sich Heterosexuelle ab vierzehn oder sechzehn Jahren je nach Provinz) frei entscheiden können. Selbstverständlich ist es unwahrscheinlich, daß zwei zwanzigjährige Universitätsstudentinnen, die zusammen schlafen, vom Arm des Gesetzes verfolgt würden. Doch wenn eine Achtzehnjährige mit ihrer dreißigjährigen Lehrerin schläft, kann die ältere Frau gerichtlich belangt werden (besonders, wenn die Eltern der jüngeren Frau es herausfinden).


Ein Fallbeispiel soll diesen Punkt verdeutlichen.
Im Jahre 1981 gab es einen Vorfall direkt vor einer Lesbenbar in Toronto, bei dem zwei Polizeibeamte in Zivil einige junge Frauen zusammenschlugen. Bei der Pressekonferenz, in der es um die Polizeibrutalität ging, wollten die Reporter nichts vom Fehlverhalten der Polizisten hören. Das einzige, was sie interessierte, waren die Opfer; und sie stellten Fragen wie z. B. ob die Frauen denn als Frauen oder als Männer gekleidet gewesen wären. Falls sie als Männer gekleidet gewesen wären, so scheint die dahintersteckende Überzeugung zu lauten, hätten sie es nicht besser verdient. Das erinnert an die Fragen an Vergewaltigungsopfer, ob sie denn »aufreizende« Kleidung getragen hätten.
Ein weiterer Fall.
Es gehört zu den Gepflogenheiten der US-Einwanderungsbehörde, »notorische« Homosexuelle nicht ins Land zu lassen. Deshalb werden kanadische Lesben, die zum jährlichen FrauenmusikFestival nach Michigan reisen wollen, routinemäßig an der Grenze demütigenden Befragungen ausgesetzt. Eine Bekannte von mir wurde von einem Beamten der Einwanderungsbehörde mehrmals gefragt, wann sie denn das letzte Mal von einem Mann gefickt worden sei.
Polizei und Bürokratie sind nicht die einzigen staatlichen Instanzen, die ihre Macht dazu nutzen, die Unterdrückung der Lesben fortzusetzen. Häufig wird lesbischen Frauen gerichtlich das Sorgerecht entzogen. Außerdem ist es lesbischen Paaren nicht möglich, ein Kind zu adoptieren, und eine Lesbe, die auf dem Weg der künstlichen Befruchtung ein Kind bekommen möchte, findet so gut wie keinen Arzt, der bereit ist, ihr zu helfen. Glücklicherweise haben sich kleine Organisationen gebildet, die lesbischen Frauen, die ein Kind bekommen möchten, den Kontakt zu schwulen Männern vermitteln; doch diese Organisationen arbeiten quasi im Untergrund.
Aufgrund all dieser Probleme besteht eine der Hauptforderungen der Schwulen- und Lesbenbewegung darin, eine Änderung der bestehenden, Homosexuelle benachteiligenden Gesetze zu erwirken. Würde zum Beispiel das Recht auf freie Wahl des Sexualpartners ins Grundgesetz und in die Menschenrechtskonvention aufgenommen, hätten Homosexuelle eine rechtliche Grundlage, ihre Diskriminierung anzufechten, etwa bei der Beschäftigung im Staatsdienst. Solche Gesetzesänderungen würden an sich noch nicht viel bewirken - in der Provinz Quebec steht die »sexuelle Orientierung<, in der Menschenrechtskonvention, aber dennoch werden schwule Männer in Bars und Saunen verhaftet - aber sie könnten eine gewisse Grundlage dafür bieten, den Heterosexismus zu bekämpfen.
Doch rechtliche Veränderungen müssen Hand in Hand gehen mit Veränderungen in der öffentlichen Wahrnehmung von Homosexuellen. So wie eine der vorrangigen Aufgaben der Frauenbewegung darin bestand, die stereotype Darstellung von Frauen in den Medien zu bekämpfen und neue Frauenbilder zu propagieren, in denen Frauen als eigenständige menschliche Wesen dargestellt werden, so besteht eine der Schlüsselaufgaben lesbischer Organisationen darin, alternative Bilder von lesbischen Frauen zu vermitteln.
Zeitungen, Rundfunksender und Fernsehstationen haben nur selten überhaupt etwas über Lesben zu sagen, egal ob Gutes oder Schlechtes. Wir können daraus schließen, daß ihre Hauptfunktion in dieser Hinsicht darin besteht, Lesbischsein unsichtbar zu machen und weiterhin so zu tun, als sei jede Frau an einen Mann gebunden - oder halte zumindest Ausschau nach einem. Der einzige Medienzweig, der sich mit Lesben beschäftigt, ist die Pornoindustrie. Da deren Produkte sich an Männer richten, sind sich nur wenige heterosexuelle Frauen und noch weniger Lesben darüber im klaren, welche Bilder von Lesben in diesen millionenfach verkauften Zeitschriften und Filmen zu finden sind. Von Penthouse zum Beispiel werden jeden Monat fünf Millionen Exemplare verkauft, ein Zehntel davon in Kanada. In sechs Monaten des Jahres 1980 beliefen sich die Einnahmen des Penthouse allein in Kanada auf acht Millionen Dollar, die des Playboy auf fast vier Millionen Dollar.
Die Pornografie präsentiert kein einheitliches Bild von Lesben oder von Sex zwischen Frauen. So werden Lesben des öfteren als sexbesessene, aggressive und sadistische Frauen dargestellt, die laszive Jagd auf süßes weibliches Fleisch machen. Nach ihrem verdienten Ende - entweder wird sie getötet, wie beispielsweise in der Filmversion von D. H. Lawrences »The Fox« durch einen umstürzenden Baum, oder sie begeht Selbstmord - bleibt das Publikum erleichtert zurück: Nun kann die süße junge Frau (die Verführte) endlich Eigentum eines Mannes werden. Aber Lesben werden auch als Pseudomänner dargestellt, die mit Krawatte und Melone, die Zigarre im Mundwinkel, in Bars herumlungern. Dieses Stereotyp des »kessen Vaters« kann sich mit dem der »bösen Hexe« vermischen, bleibt jedoch ein eigenständiges Bild, mit dem eher männliches Verhalten als Sex assoziiert wird.
Dann gibt es noch ein weiteres Stereotyp, das zwar in der männlichen Literatur und Pornografie schon seit Hunderten von Jahren existiert, aber in den letzten Jahren deutlich populärer geworden ist. Dieses Stereotyp stellt Sex zwischen Frauen als relativ harmlos dar abgetrennt von einer sozialen lesbischen Identität und von feministischer Politik. Es präsentiert lesbischen Sex als besonderen Kick, als den letzten Schrei sozusagen. Die so dargestellten Frauen sind weder männlich noch böse und werden vielleicht aus diesem Grund nicht in Konkurrenz zu Männern um das süße junge Frauenfleisch gezeigt. Ich möchte mich auf dieses Stereotyp konzentrieren, da es im Softporno weit häufiger vertreten ist als die inzwischen veralteten Stereotypen vom kessen Vater und der bösen Hexe. Letztere werden von Frauen heutzutage kaum noch ernstgenommen, jedenfalls nicht von Frauen, die bereits mit der Frauenbewegung in Berührung gekommen sind, und wirken sich mit Sicherheit nicht auf das Selbstbild von Lesben aus. Doch die neue trivialisierte Darstellung von Lesbischsein als relativ harmlose erotische Exotik findet auch bei Leuten Anklang, die auf offensichtlich frauenfeindliche Stereotypen nicht hereinfallen. Und auf subtile Weise kann diese Darstellung sogar auf die heutigen Lesben einen gewissen Einfluß ausüben. Penthouse rühmt sich einer sexuell freizügigen Einstellung und einer offenen Opposition gegen die amerikanische Moral Majority. Die Zeitschrift hat als erste das neue Bild propagiert, daß lesbischer Sex keine Bedrohung für männlichen Lustgewinn und männliche Autorität ist. Dies trifft insbesondere auf die Rubriken zu, in denen Briefe bzw. Fragen von Lesern veröffentlicht werden, sowie für das Penthouse-»Forum« und Xaviera Hollanders regelmäßige Kolumne. Ob diese Briefe nun tatsächlich von Lesern geschrieben oder von der Redaktion erfunden wurden, ob sie tatsächlich Erlebtes widerspiegeln oder Phantasieprodukte sind, spielt an dieser Stelle keine Rolle. Es geht mir hier ausschließlich darum, daß diese Texte gelesen werden, als ob sie von realistischen, spontanen sexuellen Erlebnissen berichteten und daher als Modelle zur Interpretation des Sexuallebens der LeserInnen dienen.
In einer zufällig herausgegriffenen Ausgabe des Penthouse (August 1982) enthalten die Briefe an das »Forum« das gesamte Spektrum der PenthouseDarstellungen von Lesben. Die erste Geschichte, in der Lesben vorkommen, wird aus der Sicht eines jungen Mannes erzählt, der sich selbst als »Ihr durchschnittlicher amerikanischer Teenager« bezeichnet. Er schreibt, er und sein Freund Sam hätten »vier hübsche Mädels« in einer Bar getroffen, die sich offensichtlich gegenseitig anmachten. Das turnte die Jungen an: »Wir waren so geil auf sie, daß wir an ihren Tisch rübergingen und sie fragten, ob wir ihnen einen Drink ausgeben könnten.« Die Frauen sagten ja. Die gegenseitige Anmache steigert sich, bis die »Anführerin« des Frauengrüppchens (die kurze, grün gefärbte Haare trägt!) die beiden Männer einlädt, »mit zu uns« zu kommen. Zu Hause geht die Party weiter, und zwei Frauen beginnen, sich zu lieben, während die anderen beiden sich an den Jungen zu schaffen machen, ohne sie allerdings zum Orgasmus zu bringen. Nachdem die Frauen die Männer derart angemacht haben, enthühen sie ihnen die Existenz eines ganzen Arsenals von S/M-Utensilien: »Leder, Ketten, Peitschen, Dildos, Vibratoren - alles, was ein Mädchen so brauchen könnte.« Die Frauen, so erfahren wir, »verwandelten sich in Tiere«, bedrohen die Männer und zwingen sie zu verschiedenen sexuellen Handlungen. Interessanterweise schlagen sie allerdings nicht vor, die Männer sollten sich gegenseitig befriedigen. Die Männer beginnen jedenfalls, ihre Angst zu verlieren und den Sex zu genießen; ihre Panik angesichts der sadistischen Lesben verwandelt sich in Lust, und der Abend endet in einer Orgie.
Zwar gibt es hier einige Hinweise auf das Stereotyp »die Lesbe als Hexe«, doch der Gesamteindruck, der hier von Lesben erweckt wird, ist nicht der von schrecklichen und dämonischen, sondern lediglich von bizarren Frauen. Ihre »Herrschsucht« Männern gegenüber ist genauso ein Zeichen harmloser Spinnerei wie die Verwendung sexueller Utensilien oder grüner Haarfarbe. Doch während dies die offizielle Botschaft des Textes ist, so unterliegt ihm noch eine andere, die ihr zuwiderläuft und die uralte »Angst des Mannes vor der Frau« anspricht. Die Frauen weisen die Männer zurück, sind aber gleichzeitig scharf auf sie. Es sind sexuell frustrierte Weiber, die ihre Sehnsucht nach dem Phallus nicht zugeben wollen. In den lustvollen Punkerinnen lassen sich unschwer entfernte Verwandte der mittelalterlichen Hexen erkennen.
Die zweite Geschichte enthält keine sado-masochistischen Bilder und ist eher zwiespältig in ihrer Darstellung lesbischer Haltungen gegenüber Männern. Sie trägt den Titel: »Das Tauschgeschäft« und wird aus der Sicht von zwei College-Studenten erzählt, die beschlossen haben, Eintrittskarten für ein Konzert der Rolling Stones auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Zwei College-»Mädchen«, über die das Gerücht umgeht, sie seien lesbisch, gehen auf die beiden zu und wollen Karten kaufen. (Die jungen Frauen werden als »recht hübsch« beschrieben; offensichtlich ist Männern nicht entgangen, daß viele Lesben wie ganz gewöhnliche junge Frauen aussehen.) Die beiden »Mädchen« erzählen, daß sie lesbisch sind, und die jungen Männer tun überrascht. Richtig überrascht sind sie allerdings, als die Frauen ihnen einen Tauschhandel vorschlagen: Wenn die Jungen ihnen die (zu weit überhöhten Preisen angebotenen) Karten ein paar Dollar billiger gäben, würden sie »es« vor den beiden machen. Die jungen Männer gehen mit dem Preis von fünfzig auf dreißig Dollar herunter und schauen zu, wie die beiden Frauen sich lieben. Wie vorauszusehen, beteiligen sie sich bald an dem Vergnügen. Ja, sie haben so viel Spaß daran, daß sie großzügig den Preis ihrer Karten auf zwanzig Dollar verringern. Alle sind zufrieden mit dem Tauschgeschäft, und die jungen Männer stellen am Ende ihres Berichtes fest: »Kaum zu glauben, daß die beiden lesbisch sind, schließlich hatten wir ein paar heiße Stunden mit ihnen.«
Die Moral von der Geschicht': Glaubt nicht an das Stereotyp, daß alle Lesben häßlich sind und Männer hassen. Und selbst wenn das Gerücht umgeht, daß gewisse hübsche Mädchen lesbisch sind, so sind sie doch immer noch legitime Objekte männlicher Begierde. Jede Lesbe hat ihren Preis, erfahren wir. Auf diese Weise wird der »Spaß mit Lesben« zum neuen Zeitvertreib phantasievoller Männer stilisiert, eine exotische Variante im Repertoire ihrer sexuellen Möglichkeiten, und zugleich wird ihnen bestätigt, daß es keinen Aspekt weiblicher Sexualität gibt, der sich dem männlichen Blick und Zugriff entzieht.
Die hier geschilderte, angeblich liberale Einstellung gegenüber Lesben ist in Wirklichkeit kein Anzeichen für die Akzeptanz sexuell abweichenden Verhaltens, denn diese vorgebliche Aufgeschlossenheit wird nicht auf Männer ausgedehnt, die der Heterosexualität den Rücken kehren. Penthouse gibt vor, Lesben zu mögen, ist aber voll von homophoben Kommentaren über schwule Männer. Und wenn Tunten, die sich weigern, mit Frauen zu schlafen, unwillkommen sind, weil die männlichen Leser nicht in die Gefahr geraten wollen, von einer Homosexuellen-Geschichte sexuell erregt zu werden, so sind andererseits Lesben, die sich standhaft weigern, mit Männern zu schlafen und bei dem »Tauschgeschäft« mitzumachen, genauso wenig willkommen.
Es gibt jedoch einige im »Forum« abgedruckte Briefe, die die männliche Präsenz in ihrer Schilderung lesbischer Liebe scheinbar ganz ausschließen. Es sind nur wenige, doch es ist wichtig, sie sich genau anzusehen, denn jedes Beispiel für lesbische Autonomie, die in positivem Licht dargestellt wird, ist ein Anzeichen dafür, daß die Pornografen mehr Pfeile im Köcher haben, als sich Feministinnen träumen lassen. Wenden wir uns also dem Brief zu, der mich als Lesbe am meisten angesprochen hat. Geschrieben hat ihn, so erfahren wir, eine fünfunddreißigjährige geschiedene Frau, die eines Abends heimkommt und ihre Tochter dabei erwischt, wie sie ihre beiden Freundinnen küßt und mit ihnen schmust. Uberrascht stellt die Frau fest, daß dieser Anblick sie erregt. Sie ist Zeugin der Szene, ohne selbst gesehen zu werden - ein Privileg, das sonst nur Männern zugestanden wird. Nach einigen Entwicklungen in der Geschichte kommt es dazu, daß die Frau mit einer Freundin ihrer Tochter schläft, die obwohl sie vorher als relativ unerfahren dargestellt wurde - plötzlich einen doppelköpfigen Dildo hervorholt. Nun sind Dildos unter Lesben so gut wie unbekannt, wenn auch Vibratoren sich einer steigenden Beliebtheit erfreuen. Doch der Stil des Penthouse erfordert es offenbar, daß Lesben zumindest mit einem Penis-Ersatz dargestellt werden wahrscheinlich damit sich der Leser vorstellen kann, daß er selbst den Dildo durch den »echten« Penis ersetzt. So gibt es also selbst in der anscheinend rein weiblichen Welt des lesbischen Sex einen Platz für den männlichen Phallus - wenn schon nicht aus Fleisch und Blut, dann wenigstens aus Plastik. Und um das auch wirklich klarzumachen, versichert die geschiedene Frau dem Leser, daß sie zwar die Freuden lesbischer Liebe für sich entdeckt habe, jedoch gesteht sie: »Ich liebe Männer immer noch.«
Wir sehen also, daß selbst solche Beschreibungen lesbischer Liebe, die nicht ausdrücklich zeigen, daß Männer die vorgeblichen Lesben auch vögeln, genügend Raum für den symbolischen Phallus lassen und die Selbstverständlichkeit, mit der Männer Zugang zu allen Frauen zu haben glauben, nicht in Frage stellen. Wenn eine lesbische Leserin, von einigen der weniger sexistischen Phantasien aus Penthouse angeregt, sich dazu entschließen würde, ihre eigene Geschichte an die Redaktion zu senden, würde sie feststellen, daß ihre Erlebnisse zensiert werden. Wenn sie ihren Brief mit den Worten beendete: »... und nach dem wundervollen Erlebnis mit Susie wollte ich nie mehr einen Mann ansehen und lebe seither glücklich in einer lesbischen Beziehung«, würde ihr Brief nie erscheinen.
Das Lesbischsein wird auf diese Weise seines radikalen Potentials beraubt, denn es wird als mit Heterosexualität vereinbar, ja sogar als integraler Bestandteil der Heterosexualität dargestellt. Die Widersprüche, die unsere Gesellschaft zwischen Hetero- und Homosexualität schafft, werden verdrängt, und die gesellschaftliche Unterdrückung wird ignoriert. Da Lesben in den letzten Jahren gesellschaftlich sichtbarer geworden sind, hat Penthouse es übernommen, Männern zu versichern, daß diese Lesben keine wirkliche Bedrohung für sie darstellen. Denn auch Lesben brauchen letztlich den Phallus, selbst wenn sie dieses Bedürfnis unterdrücken oder nicht zugeben wollen. Die Vorstellung einer nichttrivialen lesbischen Liebe, die alle erotischen und politischen Kräfte entfaltet, wie sie in Beziehungen zwischen Frauen existieren, ist eine Vorstellung, für die in der Pornografie kein Platz ist. Daher muß die Pornografie den »Gerüchten« entgegentreten, manche »recht hübsche« College-Studentinnen seien womöglich nicht mehr an Männern interessiert.
Sex zwischen Frauen ist also nicht unbedingt eine Bedrohung; er kann vom phallischpornografischen Universum vereinnahmt werden. Was tatsächlich bedrohlich ist, und was sich die meisten Männer gar nicht vorstellen können, ist ein erfülltes Frauenleben unabhängig von Männern.

Ein solches Leben ohne Männer ist genau das, was wir uns vorstellen müssen, wenn Lesbischsein eine gültige, gesellschaftlich akzeptierte Entscheidungsmöglichkeit darstellen soll; eine Lebensweise, die jeder Frau offensteht und nicht nur ein paar Heldenmütigen, die es wagen, sich von Familie, Freundlnnen und gesellschaftlicher Anerkennung loszusagen. Es sind Autonomie und Selbstbestimmung, nicht irgendeine bizarre sexuelle Variante, die unsere wachsende lesbische Kultur kennzeichnen. Und diese Kultur wird Bilder hervorbringen, die wir den falschen Abbildungen der Pornografie entgegensetzen können. [13]

Lesbische Kultur

Wenn wir mit lesbischer Kultur nicht nur die erotischen Darstellungen von Sex zwischen Frauen meinen, sondern die vielen Aspekte lesbischen Lebens, einschließlich der Erotik, feiern, dann ist es klar, daß die lesbische Kultur in feministischen Traditionen wurzelt, die positive Bilder von weiblicher Stärke und Autonomie entwickelt und verbreitet haben. Heterosexuelle Feministinnen haben seit Mary Wollstonecraft versucht zu zeigen, wie die traditionelle Abhängigkeit der Frauen von Männern ihre persönliche Entfaltung behindert. Es gibt ein Kontinuum feministischer Gedanken, das die frühen Autonomiebestrebungen mit den heutigen kulturellen Produktionen von Lesben wie Adrienne Rich, Holly Near, Jane Rule, Marie-Claire Blais, Jovette Marchessault und anderen weniger bekannten Frauen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, Klasse und Nationalität verbindet.
Das soll nicht heißen, es gebe keinen Bruch zwischen der heterosexuellfeministischen und der lesbischen Kultur. So sprechen viele Songs von Holly Near alle Frauen an und beschreiben Liebesbeziehungen, ohne daß wir erfahren, ob es sich um einen »Er« oder eine »Sie« handelt. Manche ihrer Songs haben für Lesben allerdings eine besondere Bedeutung, wie etwa »Imagine My Surprise«, das ihr eigenes Coming-Out als Lesbe beschreibt.
Es gibt eine ganze Reihe von Themen, die sich in der lesbischen Kultur in den letzten zehn, fünfzehn Jahren entwickelt haben. Ich werde vor allem auf Lesbenliteratur und auf Musik eingehen, da wir noch nicht in der Lage waren, im Bereich der visuellen Kunst große Fortschritte zu machen. Das liegt zum Teil an firanziellen Bedingungen und an Verkaufs- und Vertriebsproblemen. Es hängt jedoch auch damit zusammen, daß es schwierig ist, den Körper von Frauen erotisch darzustellen, ohne solche Abbildungen pornografisch interpretiert zu sehen. Doch in Frauenbuchläden, in linken und in Männer-Buchläden finden sich eine ganze Reihe von literarischen Arbeiten, aus denen sich einige Trends und immer wieder aufkommende Idealvorstellungen ableiten lassen.
Das erste, was der Leserin lesbischer Romane auffällt, ist die Tatsache, daß die meisten von ihnen hoffnungslos romantisch sind. In einer Zeit, in der heterosexuelle Frauen vor allem die tragische Seite ihrer Beziehungen herausarbeiten, schreiben Lesben häufig mit dem Ziel, eine vollkommene, ewig dauernde Liebe zu beschreiben. Viele der Taschenbücher, die man als »lesbische Trivialliteratur« bezeichnen könnte, folgen der traditionellen SchnulzenFormel, indem eine einsame Lesbe dargestellt wird, die schließlich sich selbst und die Liebe entdeckt. Und Biografien berühmter Lesben leiden oft an der gleichen Schwäche, auch sie romantisieren die Liebe zwischen Frauen häufig. In jüngster Zeit scheint es etwas aus der Mode gekommen zu sein, das isolierte lesbische Paar zu beschreiben. The Ladies of Langollen und Patience und Sarah waren vor zehn Jahren populär; heute nicht mehr. Ein häufiges Thema vieler heutiger Lesbenbücher ist die Romantisierung nicht des Paares, sondern der lesbischen Gemeinschaft. Ein gutes Beispiel dafür ist Marie-Claire Blais' sehr schön geschriebener Roman Les Nuits de l'Underground (Nights in the Underground). In diesem Roman, der im heutigen Montreal spielt, werden Lesben, ob allein oder als Paar, mit allen Fehlern und Schwächen beschrieben. Doch die lesbische Gemeinschaft erscheint als eine Art kollektive Heldin, die den langen Montréaler Winter übersteht, aus den dunklen Bars hervorkommt und im neuen Licht des Frühlings ein gemeinschaftliches Projekt beginnt.
Der relative Mangel an wirklich hervorragender lesbischer Literatur ist kein historischer Zufall. Die Schriftstellerinnen aus der Frühzeit der Lesbenliteratur (das heißt all diejenigen, die vor mehr als zehn Jahren ihre Werke veröffentlichten) haben keine Tabula rasa vorgefunden. Sie mußten sich in ihren Arbeiten mit den verschiedensten Stereotypen und Vorurteilen auseinandersetzen und fielen in das andere Extrem, indem sie Heldinnen schufen, die gegen jede moralische Anfechtung gefeit waren. Diese Autorinnen hätten nicht über eine lesbische Kleptomanin schreiben können, weil sonst die Rezensierenden zu der Schlußfolgerung gelangt wären, alle Lesben lebten vom Ladendiebstahl.


Aufgrund der Notwendigkeit, lesbische Liebe vom moralischen Stigma der Gesellschaft zu befreien, war es recht schwierig, Lust und Sex zwischen Frauen realistisch darzustellen. Abgesehen von den Schwierigkeiten, die alle Schriftstellerinnen davon abhalten, sich mit sexuellen Freuden offen auseinanderzusetzen, mußten sich lesbische Autorinnen mit zusätzlichen Hemmungen und Problemen herumplagen: Was wäre, wenn sie eine erotische Bettszene beschrieben und Männer das Buch als eine Art Wichsvorlage kauften? Was wäre, wenn das Buch für nicht veröffentlichbar gehalten würde, weil es sich mit Lesbischsein befaßt? Was, wenn andere Lesben die Autorin dafür angriffen, sich auf die Erotik zu konzentrieren und so dem Mythos Vorschub zu leisten, Lesben ließen sich in erster Linie über ihre Sexualität definieren?
Erst in jüngster Zeit hat sich ein allgemeiner Trend unter Frauen durchgesetzt, nicht pornografisch, aber explizit über Erotik zu schreiben; damit wurde es überhaupt erst möglich, Sex zwischen Frauen aus lesbischer Perspektive darzustellen. Doch selbst jetzt noch ist die ganze Frage erotischer Frauenliteratur äußerst umstritten, und nur den besten Schriftstellerinnen gelingt es, die gesamten Hindernisse zu umgehen, die dieser bedeutenden Aufgabe im Wege stehen.
Es wird Lesben erst dann möglich sein, »große Werke« über Lesben zu schreiben, wenn das Lesbischsein nicht mehr solch ein Reizthema, solch einen »Ausnahmefall« darstellt. Noch heute riskiertjede Beschreibung lesbischer Liebe für eine Darstellung des Lesbischseins an sich mißverstanden zu werden. Nach dem Film Personal Best (Regie: Robert Towne), der 1982 herauskam, hielten viele Leute alle weiblichen Athleten für Lesben und umgekehrt, alle Lesben für Muskelprotze. Lesbische Autorinnen haben auch mit den hohen, lange unterdrückten Erwartungen lesbischer Gemeinschaften an positive (Vor-)Bilder zu kämpfen. Es ist einfach schwierig, eine Lesbe als ganz gewöhnliches menschliches Wesen darzustellen, wenn wir uns bewußtmachen, daß jeder ihrer Fehler und Widersprüche auf ihr Lesbischsein zurückgeführt werden wird.
Der Film Desert Hearts von Doris Deitch (1986) zeigt eine ganz andere, positive lesbische Lebensmöglichkeit. Der Film beruht auf Jane Rules bahnbrechender lesbischer Romanze aus den frühen sechziger Jahren, Desert of the Heart. Die Hauptfigur des Films ist eine Universitätsdozentin, die nach Reno im US-Bundesstaat Nevada fliegt, um sich dort scheiden zu lassen. In den sechs Wochen, die sie auf ihre Papiere warten muß, erhält sie eine gründlichere Ausbildung in Lust und Liebe, als es ihr in den ganzen Jahren als Literaturdozentin an der Columbia-Universität möglich war. Ihre »Lehrerin« ist eine gutaussehende junge Spielkasino-Angestellte - die notorische, aber nicht ungeliebte Lesbe der Stadt. Der Film grenzt hart an Kitsch, doch ohnehin wird niemand ins Kino gehen, um sich rein intellektuell unterhalten zu lassen. Wir gehen hinein um des Vergnügens willen, die beiden großartigen Frauen ausführlich miteinander flirten, sich verlieben und einander leidenschaftlich lieben zu sehen, mit anderen Worten, aus voyeuristischen Gründen.
Ich habe mit einer lesbisch-feministischen Künstlerin über den Film diskutiert, und uns kam dabei in den Sinn, daß wir Desert Hearts wahrscheinlich mit dem gleichen unkomplizierten Vergnügen gesehen haben, wie Männer irgendeinen gewöhnlichen Kinofilm. Der Film ist von und für Frauen geschaffen, die sich an Körpern von Frauen erfreuen. Wir sind in der Lage, sexuelles Vergnügen in einem Kontext zu sehen, denn wir wissen von vorneherein (die meisten kanadischen Lesben haben das Buch gelesen), daß die beiden Frauen sich tatsächlich ineinander verlieben und zusammen schlafen werden. Wir brauchen uns keine Sorgen über männliche Gewalt oder die Möglichkeit eines tragischen Ausgang zu machen. Darüber hinaus tragen die Berglandschaft, die zugegebenermaßen durchschnittliche Schönheit der Frauen, die angenehme Beleuchtung, die Musik, die Kostüme und der Film insgesamt dazu bei, daß wir die Charaktere in angenehmer Umgebung und ausschließlich zu unserem sinnlichen Vergnügen beobachten können. Da weibliches Begehren, einschließlich des lesbischen, so selten in einem normalen, männerorientierten Kinofilm erfüllt wird, ist Desert Hearts ein rares Vergnügen. Das Auge der Kamera muß also nicht der männliche Blick in technischer Verkleidung sein.

Die Frauenbewegung
Lesbischsein geht alle Feministinnen an

Wenn wir Lesbischsein als soziale Kategorie betrachten, mit der wir Frauen identifizieren, die langfristig unabhängig sind von Männern und sich untereinander Liebe, Sex und alltägliche Unterstützung geben, dann liegt es eindeutig im Interesse aller Feministinnen, Lesbischsein als positive Wahlmöglichkeit zu verteidigen. Und umgekehrt: Wenn Lesben verhöhnt werden, sie seien »zu häßlich, um einen Mann abzukriegen«, oder sie imitierten die Männer ja nur, sind damit auch heterosexuelle Feministinnen angegriffen. Alle Frauen werden niedergehalten und daran gehindert, sich frei zu entscheiden, ob und wie sie sich auf Männer beziehen oder männlichen Weiblichkeitsstandards entsprechen wollen. So sollten heterosexuelle Feministinnen die Verteidigung der Rechte der Lesben und die Unterstützung lesbischer Kultur nicht als einen Akt der Nächstenliebe betrachten, sondern als integralen Bestandteil des Kampfes um die Autonomie von Frauen, die aus der traditionellen Rolle fallen. Wenn heterosexuelle Feministinnen den gesellschaftlichen Raum für Frauen vergrößern wollen, müssen sie das Recht aller Frauen verteidigen, sich für das Lesbischsein zu entscheiden, wenn sie es möchten. Leider sehen das nicht alle Feministinnen so, denn nicht allen ist es gelungen, die Homophobie und den Heterosexismus zu überwinden. Vielen heterosexuellen Feministinnen ist es gar nicht so recht, wenn Lesben öffentlich im Namen der Frauenbewegung sprechen, weil sie befürchten, das Publikum bekäme so »den falschen Eindruck« von der Frauenbewegung und würde am Ende gar alle Feministinnen als männerhassende Lesben ablehnen. Statt dieses Vorurteil in Frage zu stellen, laufen viele Feministinnen vor einer solchen Auseinandersetzung davon.
Anfang der siebziger Jahre führte die amerikanische National Organization for Women (NOW) eine Hexenjagd gegen Lesben durch, und zwar genau aus diesem Grund: Sie wollten »nicht den falschen Eindruck erwecken« und ihr öffentliches Ansehen ruinieren. Die Ironie dieser Säuberungsaktion lag darin, daß die Spaltungen und die bösen Gefühle, die sie verursachte, wahrscheinlich weit schlimmer waren für die Moral und den Zusammenhalt der Frauen in dieser Organisation als jede männliche Attacke gegen den lesbischen Feminismus. Heute würden Frauenorganisationen wahrscheinlich nicht noch einmal eine solche spalterische Marginalisierung von Lesben versuchen. Dennoch werden die Lesben innerhalb dieser Organisationen nach wie vor als »sexuell unbequem« betrachtet, wie Lorna Weir es ausgedrückt hat.[14]
Heterosexuelle Feministinnen neigen dazu, ihr Leben aufzuspalten in ihr erotisches Leben mit Männern und ihre politischen Aktivitäten mit Frauen. Doch für lesbische Feministinnen ist »das Persönliche politisch«, und zwar viel unmittelbarer. Nicht selten ist die Frau, mit der eine Frau politisch zusammenarbeitet, auch ihre Geliebte (oder Ex-Geliebte oder die ehemalige Geliebte ihrer jetzigen Geliebten!). Eine unmißverständlich erotische Atmosphäre herrscht nicht nur bei informellen Treffen, sondern häufig auch bei größeren, offiziellen Veranstaltungen. Der Alternativbewegung zugehörende feministische Gruppierungen akzeptieren das gewöhnlich, doch in Organisationen, die mehr auf ihren offiziellen »Ruf« bedacht sind, reagieren Frauen häufig mit Stirnrunzeln auf jede Äußerung lesbischer Energie oder sogar schon auf Frauen, die über lesbische Sexualität sprechen. Auf den jährlichen Treffen der nationalen feministischen Koalition Kanadas (NAC) wird nur selten das Schweigen über Lesben gebrochen, obwohl es ermutigend ist, daß bei der Generalversaninilung 1985 eine lesbische Veranstaltung stattfand und eine stark prolesbische Resolution verabschiedet wurde.
Lesben werden heute innerhalb feministischer Organisationen nur selten verfolgt. Doch in der Regel wird von ihnen erwartet, daß sie über ihre spezifischen Themen schweigen und in der Öffentlichkeit immer vom Standpunkt einer ideellen »Durchschnittsfrau« aus sprechen, von der angenommen wird, sie sei weiß und heterosexuell. Lesben, die sich nicht an diese Regel halten, werden als partikularistisch, spalterisch, wenn nicht gar als frivol angesehen. Und sie selbst verinnerlichen diese Sichtweise und unterdrücken ihre spezifischen Interessen. Auf einem öffentlichen Forum, das aus Anlaß des Internationalen Frauentages 1984 in Toronto zum Thema Pornografie abgehalten wurde, hatte ich die unangenehme Aufgabe, die »lesbische Perspektive« zu vertreten, nachdem eine bekannte MainstreamFeministin (verheiratet, zwei Kinder) die Ansicht der »Durchschnittsfrau« dargestellt hatte. Als ich mich dahingehend äußerte, den Interessen von Lesben in bezug auf erotische Darstellungen bzw. Obszönität sei durch Zensurmaßnahmen wohl nicht gedient, da die Wahrscheinlichkeit bestehe, daß unsere eigene Kultur vom Staat zensiert werde, schaute mich diese Feministin an, als hätte ich gerade ein heiliges Gesetz des Feminismus gebrochen und trüge Hörner und einen Schwanz. Und ich selbst fühlte mich unbehaglich, so als sei ich diejenige, die sich »spalterisch« äußere. In Wirklichkeit jedoch hatte diese Frau die spezifischen Interessen von Lesben in ihre Argumentation nicht einbezogen. Die Politik der Frauenbewegung wird häufig von weißen, gebildeten und zumindest in der Öffentlichkeit heterosexuellen Frauen der Mittelschicht artikuliert. Ihre Ansicht wird als repräsentativ dargestellt. Im Gegensatz dazu werden Lesben, farbige Frauen und Angehörige anderer »Minderheiten« lediglich als Repräsentantinnen ganz spezifischer und nicht allgemein frauenspezifischer Interessen betrachtet. Lesbische Themen werden als »gesonderte, spezielle« Themen abgehandelt. Frauen, von denen bekannt ist, daß sie lesbisch sind, werden häufig so behandelt, als seien sie nicht in der Lage, über etwas anderes als lesbische Themen zu sprechen - so als ob Lesben kein Interesse an gleichem Lohn für gleiche Arbeit und einer angemessenen Rente hätten. Hier ist Heterosexismus am Werk. Heterosexuell zu sein, wird als durchschnittlich, normal und unproblematisch empfunden. Etwas anderes zu sein, ist sofort problematisch und identifiziert eine Frau als Angehörige einer »Minderheit«. Und wenn keine Mitglieder der betreffenden Gruppe auf der jeweiligen Veranstaltung ihre Belange zum Ausdruck bringen, fallen ihre Interessen gewöhnlich einfach unter den Tisch. Eine Frauenbewegung, die behauptet, im Namen aller Frauen zu sprechen, muß sicherstellen, daß sie auch tatsächlich die Belange und Ansichten aller Beteiligten einschließt und nicht in den Fehler verfällt, Frauen in »normale und durchschnittliche« einerseits und »Randgruppen« andererseits aufzuspalten.
Aus dieser Perspektive wird deutlich, daß Lesbischsein ein Thema für alle Feministinnen ist, genauso wie Kindererziehung ein Thema für alle Feministinnen ist, gleichgültig, ob sie Mütter sind oder nicht. So haben zum Beispiel fast alle feministischen Organisationen eine klare Position zum Recht der Frauen auf Abtreibung, und viele Lesben haben lange und hart daran mitgearbeitet, dieses Recht zu verteidigen, auch wenn sie selbst nie in die Situation geraten würden, eine Abtreibung zu brauchen. Sie haben sich so verhalten, weil es klar war, daß es nicht nur um Abtreibung ging, sondern um das Recht aller Frauen, unabhängig vom Zwang des Staates und der Kirche ihre Sexualität frei zu leben und selbst entscheiden zu können, ob sie Kinder haben wollen oder nicht. Wenn Lesben um Zugang zu den Medien oder anderen öffentlichen Bereichen kämpfen, müßte eigentlich ebenso klar sein, daß es um das Recht aller Frauen geht, ihre sexuelle Identität frei zu wählen und Zugang zu kulturellen Einrichtungen zu haben, um ein positives Bild ihrer Erotik und ihres Lebensstils entwerfen und verbreiten zu können. Alle Frauen, die sich nach einer frauenzentrierten Sexualität sehnen, werden feststellen, daß es in ihrem eigenen Interesse liegt, sich aktiv an der Entwicklung einer lesbischen Kultur zu beteiligen. Für die Rechte der Lesben und gegen Heterosexismus zu kämpfen, bedeutet, gegen männlich definierte Frauenrollen und für weibliche Autonomie zu kämpfen. Eine aktive Unterstützung lesbischer kultureller und politischer Initiativen ist daher ein integraler Bestandteil des Feminismus und müßte für jede Frau, die sich als Feministin bezeichnet, selbstverständlich sein.
Wenn es heterosexuellen Feministinnen nicht gelingt, lesbische Initiativen zu unterstützen, dann nicht nur aufgrund falscher politischer Ideen, sondern auch deswegen, weil bestimmte emotionale Reaktionen und undeutliche Empfindungen sie daran hindern, klar zu denken. Lesben verursachen bei heterosexuellen Frauen oft schon allein durch ihre physische Anwesenheit ein Gefühl des Unbehagens und der Angst. Diese Ängste müssen nacheinander untersucht werden, und wir müssen gelassen mit ihnen umgehen, wobei wir uns immer daran erinnern sollten, daß es hier nicht um individuelles Unvermögen geht, sondern um die Folgen der Homophobie, die die gesamte Gesellschaft beherrscht und immer wieder zur Diskriminierung der Frauenbewegung führt. Manchmal gelingt es Lesben nicht, dem Rechnung zu tragen, und dann greifen sie eine heterosexuelle Feministin persönlich an und werfen ihr beispielsweise vor: »Du solltest nicht mit Männern schlafen. Männer sind unsere Feinde.« Dies produziert nur Schulclgefühle und Spaltungen und kompensiert die Unsichtbarkeit der Lesben mit einer Anklage gegen heterosexuelle Frauen, sie seien keine wirklichen Feministinnen. Diese unzulässigen Vereinfachungen sind nichts weiter als Wutausbrüche, und dafür sollte in politischen Diskussionen eigentlich kein Platz sein. Der Feminismus sichert die Rechte aller Frauen, ihre erotische Wahl zu treffen, und das schließt ein, daß eine Frau sich ausschließlich für Männer entscheidet. Der Feminismus weist auch jede Hierarchisierung sexueller Praktiken zurück und versucht nicht, dem Heterosexismus eine Überlegenheit des Lesbischseins entgegenzusetzen. Das Ziel des Feminismus besteht auf dem Gebiet der Sexualität darin, wahren sexuellen Pluralismus herzustellen, bei dem keine der Wahlmöglichkeiten als die »Norm« propagiert wird.
Doch manche heterosexuellen Feministinnen, die ein- oder zweimal mit dogmatischem lesbischem Chauvinismus konfrontiert wurden, ziehen sich zurück und lehnen es ab, sich überhaupt noch kritischen Fragen über ihre eigenen Ansichten und Praktiken zu stellen. Sich zu Männern hingezogen zu fühlen, ist weder unfeministisch noch unterdrückt es die Lesben, aber da es in die Institution der Heterosexualität paßt, können manche Fragen ganz hilfreich sein. Hier sind Beispiele für meiner Ansicht nach mögliche kritische Fragen an heterosexuelle Feministinnen:


  • Habe ich, auch wenn ich heterosexuell bin, eine »lesbische Seite« in mir?
  • Wenn es so ist, macht mir der Gedanke, diese Energien freizulassen, Angst, und wäre es mir am liebsten, die Lesben würden mir aus den Augen gehen, damit ich mich nicht mit meinen Ängsten auseinandersetzen muß?
  • Oder fühle ich mich absolut nicht zu anderen Frauen hingezogen und denke, jede Frau, die so empfindet, muß pervers sein?
  • Habe ich Angst davor, eine Lesbe könnte mich verführen?
  • Hoffe ich insgeheim, eine Lesbe möge mich verführen?
  • Habe ich stereotype Ansichten über die Rollen von Lesben in ihren Beziehungen? Und wenn es so ist, woher stammen diese Ansichten? Aus meinen tatsächlichen Erfahrungen, aus den Medien, aus Romanen oder Filmen?
  • Gehe ich davon aus, daß alle Frauen, denen ich begegne, heterosexuell sind? Glaube ich, keine Lesben zu kennen, weil keine meiner Freundinnen mir bislang erzählt hat, sie sei lesbisch?
  • Wenn meine Tochter, Schwester oder Mutter mir erzählte, sie sei lesbisch, wäre mir das dann unangenehm? Und wenn es so wäre (was zu erwarten ist), habe ich irgendwelche Möglichkeiten, eine positivere Einstellung dazu zu gewinnen und meine anfänglichen Ängste zu überwinden?
  • Ist es mir peinlich, wenn Lesben öffentlich die Frauenbewegung vertreten? Wenn es so ist (und es ist zu erwarten), habe ich und haben meine heterosexuellen Freundinnen Möglichkeiten, damit umzugehen? Haben wir Schuldgefühle den Lesben gegenüber?
  • Kann ich mit einer lesbischen Frau über meine Befürchtungen und Ansichten sprechen? Kann ich überhaupt mit jemandem über all diese Fragen sprechen?

Alle diese Fragen sind legitim. Jede Feministin hat damit an irgendeinem Punkt ihres Lebens zu kämpfen, und das dauert seine Zeit. Der Heterosexismus ist so tief in uns verwurzelt, daß es einer gemeinsamen Anstrengung bedarf, ihn zu überwinden. Lesben positiv gegenüberzustehen, ist nicht einfach und ergibt sich nicht automatisch, wenn eine Frau sich einer Frauengruppe anschließt - nicht einmal, wenn sie selbst lesbisch wird.

Das bedeutet, es kommt auf den Dialog an, nicht nur zwischen Lesben und heterosexuellen Frauen, sondern auch von heterosexuellen Frauen untereinander. In diesem Dialog werden Frauen wahrscheinlich mit nie zuvor gestellten Fragen konfrontiert wie:
»Warum bin ich überhaupt heterosexuell?«
Oder für Lesben:
»Glaube ich insgeheim, daß Feministinnen, die nicht lesbisch leben, nur Feministinnen zweiter Klasse sind?«
Die erste Voraussetzung für einen Dialog ist gegenseitiger Respekt. Die zweite Bedingung ist jedoch ein Bewußtsein dafür, daß nicht alle sexuellen Wahlmöglichkeiten als gleichwertig gelten. Lesben werden unterdrückt aufgrund ihrer sexuellen Präferenz, während heterosexuelle Frauen aufgrund ihrer sexuellen Präferenz bestimmte gesellschaftliche Privilegien genießen. Selbst wenn wir also unter uns zahlreiche Gemeinsamkeiten feststellen und entdecken, daß es in sexuellen Beziehungen oft ähnliche Probleme gibt, sollten wir unsere Untersuchung nicht mit der Feststellung abschließen: »Es ist ohnehin alles dasselbe.« Die Unterdrückung von Lesben wird von heterosexuellen Frauen in der Form nicht erlebt, und sie müssen sich informieren, indem sie mit Lesben darüber sprechen, darüber lesen und alle anderen Möglichkeiten ausschöpfen, Genaueres darüber zu erfahren.
Erst wenn wir uns gegenseitig wirklich respektieren und ein Bewußtsein für die Unterdrückung der Lesben und die Privilegien der Heterosexuellen haben, können wir damit beginnen, über unsere persönlichen Belange und unsere Ansichten darüber zu sprechen, wie die Frauenbewegung am besten gegen den Heterosexismus kämpfen kann, der alle von Männern unabhängige Frauen unterdrückt, und was wir gegen die spezifische Unterdrückung der Lesben unternehmen können. Diese Diskussion findet bereits in kleinen Gruppen statt, doch sie muß öffentlich und auf breiter Basis geführt werden.
Letztlich streben wir eine starke Frauenbewegung an, die die Interessen von Frauen aller sexuellen Orientierungen vertritt und die Rechte der Lesben verteidigt, nicht nur ihre persönlichen Beziehungen zu leben, sondern auch eine sichtbare und öffentliche lesbische Kultur aufzubauen. Diese Kultur wird natürlich den Lesben am unmittelbarsten nützen. Doch alle Frauen können Anregungen daraus gewinnen, können die unendlichen Möglichkeiten kennenlernen, die freigesetzt werden, wenn wir über frauenzentrierte Erotik, frauenorientierte Kultur und eine Politik im Interesse von Frauen nachdenken.