Die Lust am Text: Eine Art Einleitung

SEX MACHT LUST. Oder: SEX, MACHT UND LUST. Oder: Sex: Macht und Lust.

Andere Titelvorschläge für dieses Buch waren:

  • Die Politik der Sexualität (langweilig, verkauft sich nicht);
  • Sex steht wieder auf der feministischen Tagesordnung! (seltsam, irgendwie ungenau, und außerdem wollen wir, daß nicht nur Feministinnen dieses Buch lesen);
  • Die Freuden und Gefahren des Sex (klingt pornografisch, außerdem gab es den Titel schon);
  • Die Sexualität der Frauen (zu klinisch);
  • Macht und Begehren (ganz nett, hat aber eine zu große Ähnlichkeit mit einem anderen Buchtitel);
  • Für eine neue Sexualpolitik (hat was, klingt aber zu akademisch)...

Da dieses Buch aus all den gerade aufgeführten möglichen Büchern (und mehr) besteht, war es nicht einfach, einen Titel und eine kurze Zusammenfassung für die Presse zu formulieren. Schließlich wählten die Verlagsfrauen und ich den jetzigen griffigen Titel, um anzudeuten, daß dieses Buch sich sowohl mit den sexuellen Freuden und dem Begehren beschäftigt, als auch mit den Machtkämpfen, die um die Sexualität entbrannt sind. Als ich das Buch schrieb, nannte ich es allerdings nur knapp »das Sexbuch«. Viele waren schockiert oder zogen zumindest die Augenbrauen hoch, wenn sie mich von »dem Sexbuch« reden hörten. Ihr Schockiertsein bestärkte mich nur in der Überzeugung, daß es an der Zeit ist, nicht nur »Beziehungen« und Geschlechtsrollen unter feministischem Blickwinkel zu betrachten, sondern auch Sexualität selbst. Dennoch war ich nicht an einer physiologischen Erörterung des Geschlechtsaktes interessiert oder daran, Rezepte für ein erfreulicheres Sexualleben zusammenzustellen. Bereits zu viele Bücher auf dem Markt geben vor, genau dies zu tun, werden aber den Bedürfnissen der Menschen, von denen ich persönlich weiß, daß sie sich in sexuellen Krisen befinden, nicht gerecht. Es fehlt, so dachte ich, ein kritisches Buch, das denjenigen Frauen (und Männern) helfen kann, die keine sexuellen Rezepte suchen, sondern Analysen, die ihnen behilflich sein können, das Thema einmal anders und klarer zu durchdenken. Daher bin ich nicht daran gegangen, ein »Man-nehme«-Buch zu schreiben, sondern ein »Frau/man denke«-Buch. Mit anderen Worten, Hauptgegenstand meiner Untersuchung waren nicht die körperlichen Tatsachen des Sex, sondern unsere vielfältigen Ideen und unterschwelligen Annahmen über Sex und Sexualität. Dennoch handelt es sich um kein rein intellektuelles Unterfangen, sondern um eine Analyse, die auf der tatsächlich gelebten Sexualität beruht und sich an ihr orientiert. Die Theorie von der Praxis zu trennen, ist immer heikel; wenn es um Sexualität geht, kann sich diese Aufspaltung besonders gefährlich auswirken, unter anderem, weil uns die meiste Zeit nicht einmal bewußt ist, nach welchen Theorien wir unser Handeln aus richten. Daher habe ich mich bemüht, theoretische Probleme nicht um ihrer selbst willen abzuhandeln, sondern ihnen dann nachzugehen, wenn sie sich aus der Praxis ergeben oder unsere widersprüchlichen Empfindungen erklären helfen. Und ich lege großen Wert auf die individuelle Erfahrungsgrundlage des Bündels von Konzepten, das wir als »Sexualität« bezeichnen. In der Alltagssprache unterscheiden wir interessanterweise zwischen »Sex« und »Sexualität«. Sex ist, was wir im Bett (oder wo auch immer) miteinander tun. Sexualität dagegen scheint sich auf eine ganze Reihe von Fragen zu beziehen, darunter auch Sex. Sex ist eine Aktivität, der wir uns für relativ kurze Zeit widmen; Sexualität dagegen ist ein stets gegenwärtiges soziales Thema. Vor der Erörterung dessen, was bei einem erotischen Austausch, was beim Sex eine Rolle spielt - dies ist das Thema des ersten Kapitels - scheint es angemessen, uns anzusehen, wie und warum Sexualität ein soziales, religiöses, moralisches und politisches Thema, und warum es individuell mit so vielen Ängsten besetzt ist. Anschließend werden wir die Erkenntnisse über die soziale Bedeutung des Begriffes »Sexualität« daraufhin betrachten, warum jede/r, die oder der darüber schreiben will, sich in einem Dilemma befindet. Es wird sich dabei zeigen, daß offene Gespräche über Sex im Gegensatz zu dem, was viele annehmen, ganz und gar keine Selbstverständlichkeit sind und daß dies nicht nur mit Schüchternheit und moralischen Prinzipien zu tun hat. In einer Gesellschaft, die politische Widersprüche ebenso wie intime persönliche Angelegenheiten als individuelle »Themen« behandelt, ist Sexualität für verschiedene Gruppen aus unterschiedlichen Gründen ein »Thema«. Und zwar ein weniger klar umrissenes Thema als Abtreibung oder Kinderpflege, sondern vielmehr ein Schlagwort, das in verschiedenen gesellschaftlichen Kreisen jeweils eine Vielzahl an Themen meint, die sich nicht unbedingt unter einen Hut bringen lassen.
Für viele Menschen, besonders für Frauen, ist der Begriff »Sexualität« mit persönlichen Sorgen darüber verknüpft, wer wir sind und was wir wollen. Er bezieht sich auch auf ethische Fragen über Wertvorstellungen. Allein das Hören des Wortes kann eine Vielzahl von Empfindungen wecken, von schierem Glück über leichte Langeweile bis zu äußerstem Schmerz und dem Gefühl der Demütigung. Für die Frauenbewegung ist der Begriff »Sexualität« mit Sexualpolitik verknüpft: mit unseren Kämpfen um gleichberechtigtere Beziehungen zwischen Männern und Frauen, um sozialen Raum für Bisexualität und Lesbischsein, um die Veränderung der gesellschaftlichen Kräfte, die bisher unsere persönliche und kollektive sexuelle Entwicklung in bestimmte Bahnen gelenkt haben.
Für Konservative und im traditionellen Sinn religiöse Menschen ist »Sexualität« ein Ausdruck, den sie am liebsten gar nicht hören wollen. Und das Gerede über »die Familie« und über »Moral«, über Werte und Dekadenz dient gewöhnlich dazu, bestimmte festgefügte Ansichten zu verteidigen: Was Sexualität ist und wie sie in einem bestimmten Familienverband reguliert und kontrolliert werden sollte.

Sexualität ist auch auf kulturellem Gebiet ein kontroverses Thema. Die meisten Schriftstellerlnnen und Künstlerlnnen des zwanzigsten Jahrhunderts sind sich in der Auffassung einig, eine ungeschminkte Darstellung des menschlichen Sexuallebens gehöre zu den Aufgaben der Kunst; es ist übrigens diese Grundüberzeugung, welche die Künstlerlnnen des zwanzigsten Jahrhunderts von denen früherer Epochen unterscheidet. Allerdings kam es unter Künstlerlnnen und Schriftstellerlnnen zu lebhaften Auseinandersetzungen darüber, wie diese Darstellung zu gestalten sei. Was Männer »Offenheit« nannten, bezeichneten Frauen als Frauenfeindlichkeit und Verherrlichung des Patriarchats. Nach jahrelangen Diskussionen sind die Streitenden jedoch der Definition dessen, was erotische Kunst sein soll, kein Stück nähergekommen; sie sind sich nicht einmal darin einig, daß es einen Unterschied gibt zwischen Kunst und Pornografie. Last not least ist die Sexualität ein bedeutendes Aktionsfeld staatlicher Politik. Die Polizei kontrolliert die Prostitution und illegale sexuelle Aktivitäten Jugendlicher, Schwuler und anderer »Devianter«. Die Legislative entscheidet über die Pornografie-Gesetzgebung; die Gerichte definieren, was Vergewaltigung und was Einwilligung bedeutet; medizinische Experten und Sozialarbeiter sortieren die Menschen aus, von denen sie glauben, daß sie sich pathologischem oder asozialem Sexualverhalten hingeben, und halten sie unter Kontrolle.
Es scheint also, als ob die meisten gesellschaftlichen Institutionen und Gruppen sich in der einen oder anderen Weise an der Definition dessen beteiligten, was Sexualität ist und welche Rolle sie in der gesellschaftlichen und der individuellen Entwicklung spielen sollte. Wenn wir ins Kino gehen, werden wir dort sehr wahrscheinlich irgendeiner Darstellung sexueller Aktivitäten begegnen und verschiedene unterschwellige sexuelle Wertvorstellungen aufnehmen; wenn wir eine Werbeanzeige betrachten, empfangen wir offene oder unterschwellige Botschaften, die unsere sexuellen Versagensängste mobilisieren und uns zum Kauf bestimmter Dinge nötigen sollen; wenn wir in die Kirche gehen, bekommen wir Ermahnungen zur ehelichen Treue zu hören. Selbst am Abendbrottisch diskutieren die Leute oft darüber, wer mit wem »geht«, wer frisch verheiratet oder geschieden ist; dabei werden zahlreiche Urteile darüber gefällt, was wünschenswertes oder natürliches (Sexual-)Verhalten sei.

Und doch führt diese offensichtliche Besessenheit, mit der wir uns dem Thema Sex widmen, keineswegs dazu, daß wir uns insgesamt in unserer Gesellschaft offen und ehrlich unserer (Vor-)Urteile und praktischen Sexualprobleme bewußt würden, geschweige denn, daß wir zu einvernehrnlichen Lösungen gelangten. Wenn die Bewegung »Recht auf Leben« über Abtreibung spricht, dann auf dem Hintergrund ganz bestimmter Meinungen über Sex, die von den Mitgliedern dieser Bewegung geteilt werden; doch sie macht diesen Standpunkt selten deutlich. Wenn Feministinnen über Pornografie diskutieren, überlegen sie nur selten, welche persönlichen Wertvorstellungen und Ansichten über Sex dabei in ihre Äußerungen eingehen. Und wenn Polizisten und Richter jemanden verhaften und verurteilen, weil er oder sie »gegen die Sittlichkeit verstoßen« habe, dann verstecken sie sich meist hinter den Paragrafen des »Gesetzes« oder der allgemeinen »öffentlichen Meinung«, ohne daß sie ihre eigenen Sexualvorstellungen offenlegen oder genauer unter die Lupe nehmen müßten. Wir denken dauernd an Sex und reden permanent darüber; doch die meisten Unterhaltungen sogar viele unserer Gedanken - sind eher indirekt und handeln von anderen Themen. Ein Hauptanliegen dieses Buches ist es, das Thema Sexualität direkt zu behandeln (oder genauer, die Themen, die sich um den Begriff »Sexualität« gruppieren). Dazu ist es notwendig, einige Grundüberzeugungen, Urängste und Mythen ans Tageslicht zu fördern und genau zu betrachten, die nach wie vor in unseren Gesprächen über Sex herumspuken, selten allerdings dahingehend betrachtet werden, woher sie stammen und welchen Interessen sie dienen.
Sexualität wurde zunächst als Gegenstand soziologischer und medizinischer Untersuchung konstituiert und daher aus dem Urteil der Moralisten und Theologen herausgehalten; dies nicht durch Feministinnen, sondern von männlicher Seite. Medizinische Experten wie Havelock Ellis, Richard von Krafft-Ebing und Sigmund Freud waren fest vom Sinn ihrer Aufgabe überzeugt, wissenschaftlich Licht in das Dunkel des bis dahin tabuisierten Themas Sexualität zu bringen; was sie dabei nicht realisierten, war die Tatsache, daß sie in Wirklichkeit etwas erfanden, das dann im Laufe des Untersuchungsprozesses als menschliche Sexualität bezeichnet wurde. [1] Vor dem Auftauchen der »menschlichen Sexualität«, wie sie die medizinischen Experten verstanden, hatten im neunzehnten Jahrhundert Feministinnen begonnen, sich mit Fragen zu beschäftigen, die später unter »Sexualpolitik« kategorisiert werden sollten. Dieser Versuch, Sex und die Beziehungen der Geschlechter zu politischen Themen zu erklären, nahm eher indirekt Gestalt an: in Form von Diskussionen über Prostitution und Doppelmoral. [2] Als männliche Experten jedoch erst einmal anfingen, Arbeiten über Sexualität zu publizieren, nutzten Feministinnen die Gunst der Stunde, um ihre eigenen sexuellen Anliegen vorzubringen. Zum Beispiel verwendete die Pionierin der Geburtenkontrolle, Margaret Sanger, als enge Freundin des Sexualwissenschaftlers Havelock Ellis einige seiner Ideen und Untersuchungen zum Nachweis sexueller Lust, die nicht nur der Fortpflanzung dient, um damit ihre Forderung nach der Legalisierung von Empfängnisverhütungsmitteln zu untermauern. Und Freuds Theorien über die kindliche Sexualentwicklung und das Bedürfnis, den Schleier der Repression zu lüften, wurden und werden immer noch als Ausgangspunkt zahlreicher feministischer Diskussionen über sexuelle Identität, Entstehung der Geschlechtsrollen und die Bedeutung von Sex in unserer Gesellschaft benutzt. Heutzutage forschen und debattieren die Expertlnnen nach wie vor, sowohl auf der Ebene sozialer und psychologischer Theorien als auch in Form von empirischen Erhebungen (siehe Masters und Johnson, Kinsey). Doch die Frauenbewegung ist inzwischen stark genug, sich in ihren Diskussionen über Sexualität in kein Korsett mehr zwängen zu lassen, das medizinische und psychiatrische Experten geliefert haben. Seit Ende der sechziger Jahre gibt es den kontinuierlichen und recht erfolgreichen Versuch, unter Laien einen Diskurs über Sexualität zu führen. »Ganz gewöhnliche« Frauen sprechen über ihre sexuellen Erfahrungen und Gedanken und betrachten dies als eine Möglichkeit, sich selbst kennenzulernen und über die soziopolitischen Aspekte der Sexualität nachzudenken. Diese Politisierung der Sexualität ist eine historische Errungenschaft, gleichzusetzen mit der ursprünglichen Eröffnung der Sexualitätsdebatte als Thema von wissenschaftlicher und theoretischer Bedeutung.
Solange Sexualität nur ein wissenschaftlich interessantes Thema war, befand sich jeweils ein Experte, gewöhnlich männlichen Geschlechts, in der Position des Allwissenden. Er stand damit im Gegensatz zu den namenlosen Menschen - oft Frauen, Homosexuelle oder »Deviante« -, deren Sexualität zum Untersuchungsobjekt gemacht und von anderen als ihnen selbst beurteilt wurde. Und bei den wenigen Gelegenheiten, in denen Frauen oder »Deviante« zu ihren eigenen Experten wurden, tendierten sie dazu, sich von ihrer individuellen Sexualität zu distanzieren und sie zu objektivieren, sich aufzuspalten in ein denkendes Subjekt auf der einen Seite und ein krankhaftes Wesen auf der anderen. [3] So ist es wirklich eine Leistung, daß wir als Frauen und »Nicht-Expertinnen« es geschafft haben, eine Diskussion über Sexualität in Gang zu setzen, die selbst-reflexiv ist und keine Spaltung zwischen Theorie und Erfahrung, Subjekt und Objekt enthält. Von daher verfügen wir über einige notwendige Voraussetzungen, um eine gewisse Kontrolle über die sozialen Kräfte und Ideologien auszuüben, die unsere Sexualität bis dato bestimmt haben. Je mehr sich unser Verständnis dieser formenden Kräfte vertieft, desto besser sind wir in der Lage zu entscheiden, was wir verändern wollen und wie wir damit beginnen können. Leider war die Sexualitätsdebatte jedoch nicht gerade ein Erfolg der Frauenbewegung.

Als Befreiungsbewegung haben wir eine bemerkenswerte Übereinstimmung erreicht, wenn es um affirmative Aktion geht, um Kindererziehung und sogar um Abtreibung; doch die bloße Erwähnung des Wortes »Sex« schafft eher ein Klima der Furcht und des Mißtrauens als eines der Solidarität und der Hoffnung auf die Zukunft. Ohne uns auf eine längere Debatte darüber einzulassen, warum wir seit der Veröffentlichung von Kate Milletts Sexual Politics (Sexus und Herrschaft) im Jahre 1969 so wenig vorangekommen sind - die Erörterung dieses Scheiterns ist einer der roten Fäden, die das Buch durchziehen -, können wir hier skizzieren, wie die Dinge heute stehen und die Bilanz unserer festgefahrenen Situation ziehen. Eine Position, die in den letzten Jahren sowohl bei Feministinnen als auch bei nichtfeministischen Frauen populär geworden ist, würde ich als »sexuellen Pessimismus« bezeichnen. Aus feministischer Sicht haben vor allem die amerikanischen Anti-PornografieAutorinnen diese Position dezidiert vertreten, insbesondere Andrea Dworkin. Die Empfindungen, an die Dworkin appelliert, werden von vielen Frauen in konsumorientierten kapitalistischen Gesellschaften geteilt. Einige dieser Empfindungen sind: die Frustration über die nur langsam voranschreitenden Veränderungen der Geschlechterbeziehungen, der Abscheu vor der Kommerzialisierung des Sex und der Frauenkörper, Ängste bezüglich der eigenen Sexualität, Unsicherheiten hinsichtlich unserer Rechte und Verantwortlichkeiten in Beziehungen und Verzweiflung über die Schwierigkeiten, die Sexualität wie auch ihre kulturellen Darstellungen zu verändern.
Viele Feministinnen und Nicht-Feministinnen sind zu dem Schluß gekommen, eine sexuelle Befreiung sei nicht möglich, ja im gegenwärtigen System nicht einmal wünschenswert, und wir könnten äußerstenfalls darauf hoffen, die Beziehungen, die jede von uns in ihrem Privatleben eingeht, einigermaßen sicher zu leben. Im Gegensatz zu der Euphorie der späten sechziger und frühen siebziger Jahre sind junge Frauen heute häufig pessimistisch im Hinblick auf den Veränderungswillen der Männer und auf ihre eigenen Veränderungsmöglichkeiten. Als sich eine Studentin in meinem Frauenstudien-Kurs Sexualität in einer egalitären Gesellschaft vorstellen sollte, erwiderte sie: »Ach, man kann die jahrhundertelange Konditionierung doch nicht aufheben.« Und - ein Zeichen der Zeit: die meisten ihrer Kommilitoninnen nickten zustimmend.
Der sexuelle Pessimismus ist zur selben Zeit zu einer wichtigen Strömung innerhalb der Frauenbewegung geworden, als das Thema Gewalt gegen Frauen ins allgemeine Bewußtsein rückte. Zahlreiche Frauen, die sich politisch oder in der Sozialarbeit mit Themen wie Vergewaltigung und Mißhandlung von Frauen beschäftigen, sind ebenso sexuelle Pessimistinnen geworden wie viele, die sich in der Anti-Porno-Kampagne engagiert haben. Es scheint mir, daß ein gewisser Pessimismus die unvermeidliche Reaktion einer Frau sein muß, wenn ihr klar wird, in welch ungeheurem Ausmaß Frauen und Kinder von Männern mißbraucht und mißhandelt werden, die ansonsten als »anständige Bürger und brave Familienväter« gelten und ihrerseits häufig ein gutes Recht zu haben glauben, »ihre« Frauen und Kinder zu vergewaltigen oder zu schlagen. Bei den meisten Frauen wird dieser Pessimismus jedoch in Grenzen gehalten und ausgeglichen durch Blicke auf eine Welt, in der Frauen ihre sexuellen Bedürfnisse ohne Angst vor männlichem Mißbrauch erforschen, und durch die Erkenntnis, daß nicht nur die männliche Sexualgewalt ein ernstes Problem darstellt, sondern auch das sexuelle Unglück und die Schuldgeftihle von Frauen. Leider haben sich einige führende feministische Theoretikerinnen ausschließlich auf die von Männern ausgeübte sexuelle Gewalt konzentriert und nur dieses Thema in die öffentliche Diskussion gebracht, ohne es mit dem Kampf um die sexuelle Befreiung der Frauen zu verknüpfen. Manche dieser Theoretikerinnen legen sogar nahe, die sexuelle Gewalt durch Männer beruhe auf bestimmten angeborenen biologischen oder geistigen Merkmalen von Männern schlechthin. Susan Brownmillers wichtige Studie über Vergewaltigung zum Beispiel behauptet, Männer seien schon allein aufgrund der Tatsache, daß sie einen Penis haben, »potentielle Vergewaltiger«. [4] Damit verwechselt sie die soziale Macht der Männer - die dem Penis seine bedrohliche Bedeutung verleiht - mit physiologischen Tatsachen. Nicht allein die Physiologie ermöglicht es Männern, den komplexen sozialen Akt einer Vergewaltigung auszuführen, es ist das patriarchalische Gesellschaftssystem, welches Männern erlaubt, ja sie geradezu ermuntert, Frauen auf die verschiedenste Weise zu mißbrauchen, wozu unter anderem die Vergewaltigung gehört. Auch Andrea Dworkins Buch über Pornografie bezieht sich wiederholt auf die »männliche Macht«, nicht die patriarchalische Macht, wenn es um den Ursprung der Frauenunterdrückung geht. [5] Wenn eine Frau daran glaubt, etwas körperlich oder psychisch Angeborenes verleite Männer zu sexueller Gewalt, dann ist Pessimismus in der Tat die einzige vernünftige Reaktion. Dann könnten wir aber jegliche Heterosexualität gleich aufgeben, statt zu versuchen, sie zu verändern. Gründlichere Kenntnisse der menschlichen Sozialgeschichte können uns allerdings dabei behilflich sein, ein anderes Bild zu zeichnen, eines, das weder geschönt, noch einheitlich grau in grau ist. Wir können zum Beispiel feststellen, daß die Menschheit einige tausend Jahre lang in relativ egalitären Jäger- und Sammlergesellschaften lebte, in denen es keine sozialen Unterschiede aufgrund des Reichtums gab und in denen die Geschlechtsrollen zwar unterschiedlich verteilt waren, nicht aber Männern die uneingeschränkte Macht über Frauen eingeräumt wurde.
Wir können bei Historikern, insbesondere bei feministischen Historikerinnen, nachlesen, daß zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten eine unglaubliche Vielfalt sexueller und familiärer Lebensformen existierte, und daraus Schlüsse ziehen, wie und warum unsere spezifischen sozio-sexuellen Probleme sich herausgebildet haben. Und dies, ohne in naiven Optimismus zu verfallen, aber auch, ohne zu verzweifeln. Schließlich: Wenn sich die Verhältnisse bereits so sehr verändert haben, werden sie sich sicherlich auch weiterhin verändern, besonders, wenn wir uns zusammenschließen, um manche Entwicklungen in eine ganz bestimmte Richtung voranzutreiben. Einige neuere feministische Veröffentlichungen haben auf den Pessimismus von Dworkin und ihren Mitstreiterinnen reagiert, indem sie ins andere Extrem verfielen und die Bedeutung männlicher Macht und anderer sozialer Einflüsse auf unsere Sexualität leugneten. Diese Frauen sind einer spezifisch amerikanischen Form der Selbsttäuschung verfallen, die historische und gesellschaftliche Einflüsse auf ein Minimurn reduziert und der die Einstellung zugrunde liegt, jeder Mensch sei »seines Glückes Schmied«. Mit anderen Worten: Jedes Individuum sei frei, könne seine persönlichen Phantasien und Bedürfnisse erforschen und ein Leben führen, in dem es sie verwirklicht. Diese individualistische Einstellung ist gewöhnlich strikt antimoralistisch bis hin zur Ablehnung überhaupt jeder moralischen Verantwortung. Diese Einstellung bezeichne ich als sexuelle Libertinage oder libertären Individualismus.

Ein Beispiel für diesen libertären Individualismus findet sich in einem Aufsatz von Muriel Dimen in der jüngst erschienenen und viel beachteten Anthologie Pleasure and Danger: Exploring Women's Sexuality (Lust und Gefahr: Die Erforschung der Sexualität von Frauen). Dimen vertritt die Auffassung, der Feminismus habe die sexuellen Bedürfnisse der Frauen eingeschnürt, indem er auf solchen Normen wie Gleichheit und nicht-traditionellen Geschlechtsrollen bestehe, und so sei eine neue Moral entstanden, was sich politisch korrekt im Bett abzuspielen habe. Ihre Kritik enthält ein Körnchen Wahrheit. Viele frühe Feministinnen verhielten sich tatsächlich wie Tugendwächterinnen, und auf manche trifft das heute noch zu. Doch nichts ist damit gewonnen, im Namen einer Laissez-faire-Sexualpolitik alle Versuche abzulehnen, politische und ethische Maßstäbe anzulegen, wenn es um die Bewertung sexueller Praktiken geht. Dimens Argument beruht auf der unbelegten Behauptung, »die Entdeckung/Schaffung der sexuellen Lust« sei »in erster Linie eine individuelle Reise«. [6] Sexualität wird keineswegs individuell definiert. Dies liegt zum einen Teil daran, daß alle sexuellen Aktivitäten außer Onanie einen unmittelbaren Austausch mit einer anderen Person voraussetzen, zum anderen Teil daran, daß sexuelle Bedürfnisse großenteils sozial begründet sind. Es ist willkürlich, sich auf das Individuum und sein Begehren zu konzentrieren und den gesamten sozialen Kontext zu ignorieren. Außerdem ist Sexualität nichts, das wir einfach »haben«; sie ist nicht unser persönliches Eigentum, das Wir Mit anderen »teilen« können wie ein Ferienhaus. Unsere Sexualität wird geformt und sogar begründet in und durch die Beziehungen zu anderen Menschen sowie durch unsere soziale Stellung. Sexualität ist keine Sache, und noch viel weniger eine »natürliche« Sache, die sich vollkommen frei entfalten würde, gäbe es nur keine sozialen Einschränkungen durch Staat, Kirche oder feministische Tugendwächterinnen, sondern eher ein Prozeß (wie ich ausführlicher in Kapitel Eins darstellen möchte). Selbstverständlich müssen bestimmte biologische Triebe vorhanden sein, damit wir sexuelle Empfindungen spüren können. Doch das, was wir gewöhnlich als »meine Sexualität« bezeichnen, stellt sich in unseren sozialen Beziehungen überhaupt erst her.
Ich behaupte also, die Vorstellung von Sexualität als einer Sache, die jede von uns persönlich besitzt, ist ein Mythos, den unsere individualistische, konsumorientierte Gesellschaft geschaffen hat - ein Mythos, nach dem »freie« Individuen Verträge untereinander abschließen, ihre Sexualität genauso wie ihre materiellen Güter zu tauschen oder zu verkaufen. Es ist naiv anzunehmen, individuelle Bedürfnisse seien die Meßlatte, die wir an unsere Sexualität anlegen sollten. Der Punkt hierbei ist, daß sowohl die sexuellen Pessimistinnen als auch die optimistischen Libertären historische und soziologische Analysen zugunsten naturalistischer Annahmen darüber aufgeben, was Sexualität »wirklich« sei. Die Pessimistinnen betonen die Dominanz männlicher Gewalt und halten männliche und weibliche Sexualität für grundlegend verschieden, ja sogar für einander widersprechend (so betrachten manche das unaufhaltsame sexuelle Begehren als einen den Männern angeborenen Trieb). In ihren Analysen ist das Geschlecht die wichtigste, vielleicht sogar die einzige Erklärungskategorie, und die Geschlechterunterschiede werden als absolut und unwandelbar hingestellt. Die Libertären wiederum betonen die individuelle Autonomie und nehmen an, Sexualität sei eine natürliche Energie, die lediglich durch soziale Regulierungsmechanismen eingeengt und unterdrückt werde. Infolgedessen hoffen sie, wenn wir erst einmal die Fesseln des sexuellen Aberglaubens abgestreift hätten, wären wir frei, unsere Bedürfnisse auszuleben. Für sie ist das Geschlecht nicht so wichtig, da die Sexualität eine rein individuelle Angelegenheit sei. Wir können uns leicht vorstellen, daß die Vertreterinnen dieser beiden Ansichten Schwierigkeiten haben, nicht nur eine gemeinsame Sprache zu finden, sondern bereits hinsichtlich des höflichen Umgangs miteinanden In den Vereinigten Staaten ist die Sexualitätsdebatte unter Feministinnen dahin ausgeartet, daß die Vertreterinnen der beiden Positionen sich häufig gegenseitig nur noch anschreien. Alternative Ansichten werden von beiden Seiten gewöhnlich entweder auf eine der zwei Grundpositionen zurückgeführt oder als halbherzige Kompromißformeln abgelehnt. [7]
Zahlreiche Feministinnen in den USA, Großbritannien, Kanada und Australien haben jedoch begonnen, alternative Theorien zu entwickeln, die den Essentialismus (das heißt den Fehler, die »Essenz« der Sexualität schlechthin oder zumindest der weiblichen Sexualität als naturgegebenes Objekt zu betrachten) sowohl in seiner optimistischen wie in seiner pessimistischen Variante vermeiden.
Die schwarze Schriftstellerin Audre Lorde zum Beispiel hat in den Vereinigten Staaten eloquent und intelligent über die Sehnsucht geschrieben, Frauen möchten die Erotik als dynamische Energiequelle für sich wiedergewinnen.[8] Ihr Ansatz stellt eine eindeutige Verbesserung gegenüber dem Versuch dar, Sexualität als »Sache« zu betrachten.
Der lesbischen Feministin Adrienne Rich ist es gelungen, eine sehr bewußte Wahrnehmung der männlichen Herrschaft über Frauen mit erhellenden Beschreibungen der kreativen Kraft sexueller Liebe, besonders der Frauenliebe, zu verbinden. [9] Ihre Theorie, die sie im Zusammenhang mit einer Analyse der Mutterschaft entwickelte, kann auch bei der Analyse der weiblichen Sexualität von Nutzen sein. Sie trifft nämlich eine sinnvolle Unterscheidung zwischen der patriarchalischen Institution der Mutterschaft (wie sie von medizinischen und pädagogischen Experten und durch ökonomische und soziale Bedingungen hergestellt wird) und den mannigfachen Erfahrungen von Frauen, Mutter und/oder Tochter zu sein. Diese Unterscheidung kann auch in der Sexualitätsdebatte nützlich sein, um so nebulöse Verallgemeinerungen wie »Sex ist gut für Frauen« oder »Sex ist männlich definiert und daher schlecht für Frauen« zu vermeiden. Der in diesem Buch vertretene Ansatz verwendet Adrienne Richs Unterscheidung mit dem Ziel, einen Ausweg aus der Sackgasse der gegenwärtigen feministischen Sexualitätsdebatte zu suchen. Wenn wir immer nur sehen, daß die Institutionen der Sexualität - angefangen bei der Sexualwissenschaft über die Pornografie bis zur christlichen Sexualmoral Frauen unterdrücken, da sie von männergeprägten Definitionen sexueller Lust ausgehen, könnten wir in den Fehler verfallen, uns selbst als mehr oder weniger willfährige Objekte der historischen und sozialen Konstruktion von Sexualität zu betrachten. Doch wenn wir gleichzeitig die Vielfalt unserer eigenen sexuellen Erfahrungen betonen, wird es uns möglich zu erkennen, wie wir diesen sozialen Anpassungskräften widerstehen, ihnen zuwiderhandeln und sie manchmal sogar verändern können.

Unser Körper und unser Leben sind keineswegs hoffnungslos durch die patriarchalische Unterdrückung festgelegt - doch genausowenig können sie vollkommen individuell autonom existieren. Was wir brauchen, ist ein theoretischer Ansatz, der keine rigide Gegenüberstellung von Notwendigkeit einerseits und Freiheit andererseits enthält, sondern die Sexualität als offenes Terrain betrachtet, auf dem die Mächte des Staates, des wissenschaftlichen und moralischen Establishments und der sexistischen Ideologie männlich definierter Lust dauernd einem Widerstand von Individuen und Gruppen begegnen. Die Erfahrungen, die diese Individuen und Gruppen machen, bieten ihnen einen Ausgangspunkt, von dem aus sie die Ideen und die Macht jener in Frage stellen können, die solche unterdrückerischen Institutionen geschaffen haben. Wie der Philosoph Michel Foucault hervorgehoben hat, führt die sexuelle wie die politische Machtausübung dazu, daß die Betroffenen sich sowohl fügen als auch Widerstand leisten. Es kommt darauf an, den Widerstand zu stärken, das Sich-Fügen zu verringern und sich gleichzeitig der Mächte bewußt zu sein, die Druck auf uns ausüben. Dieser dialektische Ansatz betrachtet Frauen als Subjekte und Objekte zugleich und Sexualität als sowohl institutionell wie von Erfahrungen bestimmt. In letzter Zeit haben manche feministische Teilnehmerinnen der Sexualitätsdebatte diesen Ansatz vertreten, zum Beispiel einige Autorinnen der britischen feministischen Anthologie Sex und Love: New Thoughts on Old Contradictions und der kanadischen Anthologie Women Against Censorship. [10] Und dies ist auch der Ansatz, dem dieses Buch folgt - ein Ansatz, der sich weitgehend auf andere Diskussionen stützt, aber doch versucht, die theoretischen Probleme der gegenwärtigen Debatte gründlicher und systematischer zu untersuchen, als es in einem Sammelband-Beitrag möglich ist.
Jeder Versuch, Sexualität aus einer frauenzentrierten, nicht-expertenhaften Perspektive zu betrachten, erfordert nicht nur neue Gedanken, sondern, was wahrscheinlich noch schwieriger ist, eine neue Art zu schreiben. Wissenschaft und Erfahrung haben bislang verschiedene Sprachen gesprochen, und um Theorie und Praxis kombinieren zu können, erfordert unsere Analyse einen kritischen Blick auf beide Sprachen. Frauen waren lange Zeit aus dem Bereich der Theoriebildung ausgeschlossen; und wenn wir heute die theoretischen Werkzeuge aufgreifen, um unsere eigenen Theoriengebäude zu errichten, müssen wir sie uns zunächst einmal gut ansehen und entscheiden, in welchem Ausmaß sie brauchbar sind, wenn Denkerinnen die sexuellen Erfahrungen und Bedürfnisse von Frauen analysieren wollen. In manchen Bereichen ist das bereits geschehen; so haben zum Beispiel einige Frauen diskutiert, in wieweit die theoretischen Konzepte männlicher Denker wie Freud, Jacques Lacan oder Michel Foucault für Frauen, die über Frauen nachdenken, verwendbar sind. Diese Frage ist immer noch nicht vollständig geklärt, und ganz sicher wird es keinen eindeutigen Urteilsspruch über die Bedeutung dieser Theoretiker für frauenzentrierte Gedanken über Sexualität geben. Wahrscheinlich werden wir manche Konzepte unverändert übernehmen können, andere unseren Zwecken anpassen, wieder andere zurückweisen müssen - wobei wir untereinander dauernd über die komplizierte Frage streiten werden, welche Beziehung feministische Gedanken zu nicht-feministischen Sexualitätstheorien haben. Wie dem auch sei: Es gibt ein gewisses Selbst-Bewußtsein unter Feministinnen, sich bestimmter Theorien, Konzepte und Sprachweisen zu bedienen, wenn sie sich mit Sexualität befassen. Und Autorinnen, die über das Thema schreiben, neigen dazu, in der Wahl ihrer theoretischen Begriffe sehr vorsichtig zu sein.
Das andere wichtige Gebiet, auf dem sich Frauen bislang zum Thema Sexualität geäußert haben, ist das der Selbstbekenntnisse. Dieses wiederum ist gekennzeichnet durch eine bemerkenswerte Abwesenheit von Selbst-Bewußtsein und methodologischer Reflexion. Manche Frauen scheinen zu glauben, wir müßten uns die Geschichte unserer Sexualität einfach »erzählen«, und scheinen dabei zu vergessen, daß wir durch das Erzählen auch unsere Erfahrung konstruieren. Die Erfahrung, die wir dann konstruiert haben, paßt zu einem bestimmten Modell einer Geschichte - dem der »wahren Geschichte« zum Beispiel, oder dem pornografischen Modell oder dem Modell des christlichen Bekenntnisses. Wir alle haben Romane gelesen, Fernsehserien angeschaut und uns von den verschiedenen konventionellen Zeichen und Erzählweisen nahelegen lassen, was eine interessante oder realistische Geschichte angeblich ausmacht. Und wir haben das Bedürfnis, in ein bestimmtes moralisches Muster zu passen, wenn wir eine Geschichte über Sex erzählen. Sexgeschichten sind entweder erhebend (in dem Sinne, daß sie mit einer Bekehrung und einer deutlichen Moral für die LeserInnen enden) oder exhibitionistisch und pornografisch. Indem wir von unseren intimsten Erfahrungen und Gefühlen berichten, benutzen wir natürlich die literarischen und moralischen Vorlagen, die uns zur Verfügung stehen, ohne darüber nachzudenken, wie sie unsere Wahrnehmung dessen beeinflussen, was wirklich wichtig war - ja sogar unsere Erinnerung daran, was tatsächlich geschah. Manche unserer Versuche, die sexuelle »Wahrheit« zu erzählen, sind in ihren Motiven recht durchschaubar. Wir scheinen von der Vorannahme auszugehen, es sei therapeutisch, sich die eigene Sexualitätsgeschichte von der Seele zu schreiben; oder es sei erleichternd und/oder anregend für andere, wenn sie erfahren, daß ihre Probleme nicht einzigartig sind, und schließlich sei es nützlich für den Feminismus, insofern als unsere Geschichten - seien es nun Komödien, Tragödien oder Melodramen »die Erfahrung von Frauen« widerspiegelten.
Ein typisches und vielgelesenes Beispiel für die sexuelle Bekenntnisliteratur von Frauen, das hier dazu dienen soll, die gerade aufgeführten theoretischen Annahmen zu überprüfen, ist Kate Milletts Sita, [11] der autobiografische Bericht einer feministischen Schriftstellerin über die besessen-zwanghafte Liebesaffäre mit einer anderen Frau. Interessanterweise scheint die lesbische Seite dieser Beziehung nicht so wichtig zu sein, und eine ganze Reihe heterosexueller Rezensentlnnen, darunter zahlreiche Männer, haben betont, daß sie sich mit Milletts Schilderung ihrer tragischen Liebe vollkommen identifizieren konnten. Es ist ein Kennzeichen solcher Bekenntnisliteratur, daß der soziale Kontext der persönlichen Erfahrung auf ein Minimum reduziert wird und stattdessen die private Dialektik von Freude und Sorgen, Erfüllung und Verzweiflung in den Vordergrund rückt - damit kann sich jede/r leicht identifizieren. Ob es nun für Kate Millett als Autorin therapeutisch war oder nicht, das Buch zu schreiben, vermag die Leserin natürlich nicht zu sagen. Doch läßt sich feststellen, daß Kate als Protagonistin bemerkenswert unverändert durch die Erfahrung und das Schreiben der Liebesgeschichte hindurchgegangen zu sein scheint (sie informiert uns zum Beispiel, daß sie über diese Liebesaffäre zu schreiben begann, während sie noch mittendrin steckte). Am Ende des Buches ist sie von ihrer Besessenheit befreit, aber nur, weil Sita sich in einen Mann verliebt und Kate zurückweist. Noch wichtiger ist vielleicht, daß Millett in ihrem Schreibstil die Zwanghaftigkeit der Beziehung sowohl reflektiert als auch übertreibt; es ist ein Tagebuchstil, der die Handlungen anderer nur insofern untersucht, als sie die Autorin-Protagonistin tangieren und sich auf das Ausleben ihrer Bedürfnisse auswirken. Wenn sie von der ungesunden Zeit der Beziehung schreibt, löst ihr Stil bei der Leserin klaustrophobische Gefühle aus. Ist die Geschichte am Ende moralisch oder pädagogisch gemeint? Die meisten, wenn nicht alle Leserinnen von Sita kennen Kate Millett als feministische Koryphäe. Also liegt das Hauptinteresse des Buches (und der Verkaufsstrategie, wie sie auch durch den Klappentext deutlich wird) in der Verdeutlichung des Widerspruchs zwischen den feministischen Idealen von Gleichheit und Unabhängigkeit in Beziehungen und Milletts Wirklichkeit der Unterwerfung und äußersten Abhängigkeit. Die Tatsache, daß sie sich einer anderen Frau unterwirft, nicht einem Mann, läßt den Widerspruch nur noch schärfer hervortreten. Millett schreibt, daß sie sich häufig wie eine Ehefrau oder eine Geliebte fühlt, die allen Stolz für ein paar wenige Brosamen der Liebe hingibt; seltsamerweise jedoch analysiert sie diesen Widerspruch zwischen feministischer Theorie und ihrer Praxis an keiner Stelle. Ihre feministischen Ideale scheinen für die Dauer der Affäre beiseitegeschoben, ja vollkommen außer Kraft gesetzt zu sein. Sie tauchen nur als Schuldgefühle oder moralische Urteile von außen auf. Millett schreibt in ihr Tagebuch: »Warum finde ich mich bloß damit ab? Sollte ich nicht versuchen zu entkommen und einigermaßen mit Würde zu gehen?«, doch sie verfolgt ihren unvermeidlich scheinenden Kurs von Seite Eins bis zum bitteren Ende, ohne am Schluß zu irgendeiner Einsicht gelangt zu sein. Bekenntnisse abzulegen bedeutet, die eigenen Sünden in allen peinlichen Einzelheiten zu gestehen und sich dann selbst vor dem Beichtvater (den Leserinnen) zu erniedrigen, in der Hoffnung, durch die Kombination von Ehrlichkeit und Selbsterniedrigung die Absolution zu erwirken. Ich frage mich, ob Millett, die wohl nicht in der Lage war, sich selbst ihre leidenschaftliche Besessenheit zu vergeben, den Eindruck hatte, ihre Demütigung in Form eines langen Bekenntnisses veröffentlichen zu müssen, um so die Vergebung der Öffentlichkeit, insbesondere der feministischen Leserinnen, zu »verdienen«.

Mir scheint, die Reaktion der Leserinnen muß dreigestaltig sein. Erstens haben wir alle irgendwann einmal in unserem Leben eine verrückte Liebesgeschichte erlebt und können uns infolgedessen vollkommen mit Kate, der Protagonistin, identifizieren, mit ihr leiden und glücklich sein, wenn sich ein Hoffnungsschimmer zeigt. Wir durchleben erneut, was Millett selbst ihren »Masochismus« nennt, und der Akt des Lesens wird zu einer Besessenheit, ähnlich der Milletts. Zweitens nehmen wir als Feministinnen, die bestimmte Ideale über Gleichwertigkeit und Autonomie in Beziehungen vertreten, Beurteilungen vor über eine ausgesprochen un-feministische Liebesgeschichte inklusive Selbsterniedrigung f der Autorin. Aber drittens verstehen wir uns ja auch darauf, unseren Schwestern zu vergeben, die »von ihren Erfahrungen sprechen« (wie es immer so schön heißt), ihnen über den Kopf zu streichen und zu sagen: »Nun laß mal, geh nicht so hart mit dir ins Gericht, wir geraten alle mal in so einen Schlamassel.« Wir sind das ideale Publikum. Wir können gefesselt sein von ihrer Erzählung und uns mit ihrer Besessenheit identifizieren (das können alle LeserInnen); doch als Feministinnen sind wir in der unvergleichlichen Situation, unsere gefallene Schwester verurteilen und ihr nach Anhören ihres Bekenntnisses vergeben zu können. Wir durchleben alle möglichen Gefühle - sympathisierenden Schmerz, Peinlichkeit, Faszination und Vergebung -, doch an keiner Stelle wird unsere Kritik grundsätzlich, was die Besessenheit selbst angeht, noch werden unsere politischen und sexuellen Überzeugungen in irgendeiner Weise in Frage gestellt. Als Leserinnen sind wir nicht gezwungen, unsere eigenen Erfahrungen tragischer Liebe oder unsere feministischen Ideale von der auf keinen Fall tragischen, gleichwertigen Liebesbeziehung überprüfen zu müssen. Wir lesen einfach wie besessen von einer Besessenheit, die sowohl die unsere wie nicht die unsere ist - das Schicksal jeder Frau, das uns doch als ausschließlich persönliches präsentiert wird; und dann kehren wir mit einem Seufzer in unser eigenes besessenes Leben zurück. Schließlich die Frage: In welchem Sinne enthüllen Geschichten wie Sita die sexuelle Wahrheit über Frauen?
Wie Michel Foucault gezeigt hat, führt die westliche Zivilisation erst seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts den Ursprung sexueller Aktivitäten auf eine essentielle »Identität« zurück - ein Thema, das seither einen wichtigen Untersuchungsgegenstand darstellt und unerschöpflichen Gesprächsstoff liefert. [12] Die Vorstellung, Sexualität enthalte so etwas wie einen inneren Kern, ist höchst problematisch. Und selbst wenn wir von der Existenz und Bedeutung eines sexuellen »Kerns« in jedem Individuum ausgehen, wie können wir dann wissen, daß es gerade dieser Kern ist, der sich im Gespräch zu erkennen gibt? »Über Sex reden« ist problematisch, und das nicht nur aufgrund von Schüchternheit und Unterdrückung. »Über Sex reden« ist ein Mythos, oder genauer gesagt: der Schöpfungsakt einer Fiktion. Über die eigene Sexualität zu sprechen/schreiben, entspricht gewöhnlich den Regeln entweder der Bekenntnisliteratur oder des Exhibitionismus (wie im Fall der Pornografie), und diese beiden Erfahrungsmodi sind nicht weniger problematisch als das wissenschaftlich-theoretische Vorgehen.
Wenn wir sagen, daß wir sehr persönlich über unsere Sexualität sprechen, dann gehen wir im allgemeinen nach einer der folgenden Methoden vor: Wir demütigen uns selbst in der Hoffnung, die Absolution für unsere Taten zu erhalten; wir prahlen mit unserem Wagemut, uns auf sexuelle Experimente einzulassen; wir beweisen unsere Korrektheit, indem wir unsere Handlungen und Gedanken in einen bestimmten moralisch/ethischen Rahmen pressen; oder wir entschuldigen uns dafür, entweder traditionelle moralische Werte oder das verletzt zu haben, was wir für feministische Normen halten. So etwas wie ein unmittelbares Gespräch über Sex, das »Wahrheiten« aufgrund von durchlebten »Erfahrungen« durchscheinen ließe, gibt es einfach nicht. Alles, was wir tun und was uns zustößt, wird entsprechend der Sprachregelungen und Muster interpretiert, die uns zur Verfügung stehen. Was wir »Erfahrung« nennen, ist das Endergebnis eines komplizierten Prozesses der Interpretation. Es ist wichtig, sich diese Sprachregelungen bewußt zu machen. So reagieren wir zwar zum Beispiel häufig skeptisch, wenn es um die Anwendung der Freudschen Theorie oder freudianischer Begriffe zur Umschreibung unserer Sexualität geht, doch sind wir keineswegs ebenso vorsichtig, wenn wir unsere eigenen abgegriffenen linguistischen Muster in Form der Bekenntnisliteratur oder exhibitionistischer Abenteuergeschichten heranziehen.

Die Probleme, die ich gerade skizziert habe, treffen auf dieses Buch genauso zu wie auf jeden anderen Text. Einerseits habe ich manchmal die Versuchung empfunden, persönliche Bekenntnisse abzulegen, andererseits den Drang zu theoretisieren verspürt und festgestellt, daß ich meinen Schreibstil jedesmal drastisch veränderte, wenn ich von einem Modus zum anderen wechselte. Trotz meiner integrativen Bemühungen gibt es immer noch eine Spannung zwischen den beiden Polen von Theorie und Erfahrung, abstraktem Argument und bekenntnishafter Ent hullung; dies teilweise aufgrund meiner begrenzten schriftstellerischen Begabung und teilweise deshalb, weil derzeit kein Mensch in der Lage ist, sich gegenseitig ausschließende Kategorien unserer Kultur zu transzendieren. Ich hoffe nur, daß die Begrenzungen und Spannungen, die diesen Text beeinträchtigen, andere zu dem Versuch anspornen mögen, die beiden Sprachen, die beiden Arten zu integrieren, wie wir uns unserer sexuellen Existenz versichern: durch Theorie und Erfahrung, Subjektivität und Objektivität, maskulines abstraktes Wissen und feminine Intuition.
Eines meiner Ziele bei der Auswahl der Themen für dieses Buch bestand darin, die »Sexualitätsdebatte« noch einmal genau unter die Lupe zu nehmen, um eine gründlichere und damit vielleicht effektivere Diskussion zu ermöglichen. Feministinnen haben zum Beispiel häufig ethische und moralische Fragen der Sexualität in ihre Debatte über Pornografie und Zensur eingebracht. In diesem Buch analysiere ich Pornografie in einem Kapitel als ein kulturelles Produkt, behandle den ethischen Aspekt der Sexualität aber in einem Extrakapitel. Ich bin nämlich davon überzeugt, daß deutlich wird, worum es geht, wenn man einmal beides auseinanderhält.
Ein weiteres Beispiel: Manche feministische Theoretikerinnen haben analysiert, wie das weibliche Begehren in den und durch die Massenmedien geformt wird. Diese kulturkritischen Analysen sind jedoch im allgemeinen nicht in die Diskussion über die sexuellen Erfahrungen von Frauen eingegangen. Auf der anderen Seite laufen Diskussionen über unsere sexuellen Erfahrungen häufig so ab, als handele es sich bei uns um vollständig freie Individuen, die ihre sexuellen »Vorlieben« nach Belieben ausleben können. In Kapitel Sechs habe ich den Versuch unternommen, sowohl die kulturellen wie die Erfahr-ungswerte unserer Sexualität dadurch in anderem Licht erscheinen zu lassen, daß ich die Argumente aus beiden Diskussionen miteinander verknüpfe. Ich vertrete dort die Auffassung, daß unser Verlangen tatsächlich erst gesellschaftlich hergestellt wird, daß uns dies aber nicht in Automaten verwandelt. Wir besitzen eine gewisse Bandbreite an Entscheidungsmöglichkeiten, in welcher Ecke unserer Kultur wir uns einrichten möchten; und wir können das, was wir sehen und lesen, entsprechend unserer eigenen Bedürfnisse und unserer politischen wie moralischen Werte interpretieren. Wir haben sogar eine gewisse Verantwortung dahingehend, Ethik und Lust miteinander zu verbinden. Dies ist das Thema des letzten Kapitels, in dem es darum geht, daß die gemeinschaftlich begründete Ethik (im Gegensatz zur individuellen Moral) in unser Streben nach sexueller Erfüllung integriert werden kann.
Nun noch eine Bemerkung über den geografischen und biografischen Kontext dieses Buches. Zunächst läßt sich feststellen, daß in den letzten Jahren unter kanadischen Feministinnen, Autorinnen, Künstlerinnen, lesbischen Aktivistinnen und anderen Frauen ein kritischer Diskurs über Sexualität entstanden ist. Kanada ist auf allen Gebieten, auch in seiner Kultur, vornehmlich von den Vereinigten Staaten beeinflußt, und die Sexualpolitik bildet da keine Ausnahme. Nichtsdestoweniger haben wir Kanadierlnnen uns einen Sinn für gewisse Unterschiede bewahrt. Wir werden schließlich auch von Entwicklungen in Großbritannien und von französischen Denkrichtungen beeinflußt (wenn auch der französische Einfluß im englischsprachigen Kanada überraschend klein ist, verglichen mit seiner großen Bedeutung in der französischsprachigen Provinz Québec). Es kann also sehr wohl sein, daß wir uns in der guten Position befinden, verschiedene Einflüsse zusammenbringen, Entwicklungen vorantreiben und aus allem etwas lernen zu können, ohne irgendeinem Ansatz dogmatisch folgen zu müssen. Hinzu kommt, daß unsere historische Position als ökonomische und kulturelle Kolonie - auch wenn sich daraus solche Probleme ergeben wie ein Verlagswesen, das auf dem Import US-amerikanischer und britischer Bücher basiert - uns eine angemessene Bescheidenheit verliehen hat. Diese sollten wir uns zwar bewahren, doch sollten die in Kanada Lebenden nicht dem Irrglauben verfallen, alle Originalität käme nur aus New York oder Paris; und diejenigen, die in anderen Ländern leben, sollten nicht glauben, daß alles, was aus Kanada kommt, notwendigerweise aus zweiter Hand und langweilig sein muß. Noch eine Bemerkung über den persönlichen Kontext. Es soll hier nicht so getan werden, als verzichte dieses Buch auf jegliche Theorie oder erhebe andererseits den Anspruch auf »Objektivität«. Ich fühle mich sowohl den Zielen der Frauenbewegung verpflichtet als auch einer spezifischen sexuellen Erfahrung (oder genauer, einer spezifischen Interpretation dessen, was ich »meine Erfahrungen« nenne). Ich habe versucht, meine Erfahrungen und Gedanken zum Ausgangspunkt und nicht zum Endprodukt meiner Diskussion zu machen und (soweit das möglich ist) praktische sexuelle Probleme, die mich persönlich im Augenblick nicht betreffen, dennoch »von innen« zu betrachten. Und ich habe versucht, den Leserinnen den Kern der Theorien zu erläutern, gegen die ich mich wende. Außerdem bin ich persönlich mit einer Vielfalt unterschiedlicher kultureller Normen vertraut - als Tochter spanisch-stämmiger, katholischer, sozialistischer Intellektueller, die jetzt in einer städtischen progressiven Enklave im protestantischen Ontario lebt - und habe verschiedene sexuelle »Lebensstile« kennengelernt und durchlebt, von der Heterosexualität bis zum Lesbischsein, von der Ehe bis zu flüchtigen Liebesaffären. (Soweit meine »Referenzen«.)
Doch das Wichtigste ist, daß ich mich zwar schon seit einigen Jahren als lesbische Feministin bezeichne, mich jedoch bemühe, jeden Dogmatismus zu vermeiden und sowohl für »die Erfahrungen anderer« ein offenes Ohr zu haben, als auch für eigene Gefühle und Gedanken, die nicht unbedingt nahtlos in meine gegenwärtige Selbstdefinition passen. Die Beziehung zwischen Autorin und Leserin ist niemals so direkt und geradlinig wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Jeder Text stellt für die Autorin eine Projektionsfläche dar, auf der sie sich die ideale, sympathisierende Leserin vorstellen kann; demgegenüber erwartet die Leserin von der Autorin mütterliche Ratschläge, verläßliches Wissen oder auch einfach nur aufregende Geschichten, durch die sie ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse erfahren und loslassen kann. Texte »schaffen« sich (und den Autorinnen) immer bestimmte Leserinnen; gleichzeitig absorbieren sie die Projektionen und Wünsche der Leserinnen. Dies trifft besonders auf ein Buch über Sexualität zu. Hier versucht die Autorin, ihre eigenen theoretischen Widersprüche und ihre Ambivalenz gegenüber persönlichen Enthüllungsgeschichten zu verbergen, indem sie sich eine besonders gefügige Leserin vorstellt, die sich von ihrem Text unmittelbar verführen läßt. Sie hofft darauf, weil sie sich dafür entschieden hat, sich verletzlich zu zeigen und Risiken einzugehen, und meint, daß die Leserin ihr daher so etwas wie Loyalität schuldet. (Obwohl ich wußte, wie unwahr und unfair das ist, half mir dieser Glaube dabei, den Text niederzuschreiben.) Die Leserin ihrerseits ist sicher auf der Suche nach mehr als neutraler Information. Auch sie hat ihre Erfahrungen, Gefühle und unerfüllten Phantasien, die sie wahrscheinlich in den Text hineinprojizieren wird. Die eine oder andere Frau wird das Gefühl haben, als schildere ich genau ihre momentane persönliche Lebenssituation; und wenn sie dann feststellt, daß manche Beschreibungen davon abweichen, mag sie das Gefühl bekommen, es seien doch keine Porträts ihrer wirklichen Person - und sie seien deshalb insgesamt nicht zutreffend. Einige Mißverständnisse sind daher unvermeidlich. Beide Seiten können sich aber zumindest der möglichen Fallen und der hinderlichen Muster bewußt sein, die die Beziehung zwischen Autorin und Leserin stagnieren lassen, statt sie dynamisch und fruchtbar zu machen.
Als Autorin habe ich mich bemüht, die beiden Stile, die in Texten über Sexualität am häufigsten benutzt werden, zu vermeiden: im Ton akademischer Weisheiten verkündete pauschale Verallgemeinerungen einerseits, saftige, in verführerischem Ton erzählte Geschichten andererseits. Den Zeigefinger zu erheben, ist für jede/n Autorin eine allgegenwärtige Gefahr. Als Feministin ist mir das in Texten von Männern schon seit langem unangenehm aufgefallen. Doch die harmlos erscheinende Masche, sexuelle Erfahrungen scheinbar ungefiltert mitzuteilen, ist ebenso fragwürdig. Denn dieses Vorgehen umgarnt und verführt, statt zu überzeugen, und hat da gesiegt, wo es gelingt, daß sich die LeserInnen mit der Geschichte identifizieren, ohne sie wirklich zu überdenken. Daher habe ich sowohl in meinen »theoretischen« wie in meinen »aus der Erfahrung heraus geschriebenen« Texten versucht, über reine Autorität und reine Verführung hinauszugehen. Doch es ist unmöglich, diese traditionellen LeserinnenAnsprachen vollständig zu vermeiden, nicht zuletzt deshalb, weil die Leserinnen es gewohnt sind, auf die eine oder die andere Weise angesprochen zu werden. Von daher hat die Leserin, die ich hiermit anspreche, die Aufgabe, Autorität oder Verführung aufzudecken, wo immer sie ihre Macht auszuspielen drohen. Und sie muß genauso die entgegengesetzte Falle vermeiden, das heißt, vorschnell das gedruckte Wort zu entlarven und zurückzuweisen, ohne ihm eine angemessene Chance zu geben. Eine Falle, die dann zuschnappt, wenn Sätze gedacht oder geäußert werden wie: »Das mag ja alles richtig sein, aber auf mich trifft es nicht zu.« Die Zustimmung zu einem allgemein formulierten Satz zu versagen, oder besser: die Übereinstimmung damit vorschnell zurückzuweisen, kann entweder dann geschehen, wenn ein Vorurteil gegenüber der Erfahrung oder Ansicht besteht, der frau gerade begegnet, oder wenn einfach Angst vor dem Unbekannten da ist. Angst und Vorurteile auf sexuellem Gebiet können nicht willkürlich aus dem Kopf verbannt werden, doch frau kann lernen, solche Reaktionen bei sich zu erkennen und sich zu überlegen, woher sie stammen.

Und schließlich möchte ich vermeiden, daß »Schülerinnen« meine als »Autorität« geäußerten Auffassungen einfach nur absorbieren; ich wünsche mir keine schwachen Seelen, die ihre eigenen Bedürfnisse dem erotischen Appeal des Textes unterordnen; und ich will auch keine prüden Geister, die alles ablehnen, was mit ihren als »ureigen« angenommenen Erfahrungen nicht übereinstimmt. Das soll nicht heißen, daß ich die notwendigerweise erotische Bindung zwischen LeserIn und Autorin ganz aufgeben möchte, im Gegenteil. Nur möchte ich, daß es ein gleichwertiges Spiel mit offenem Ende wird, in dem sowohl für Auseinandersetzung wie für Identifikation Raum ist. Beide PartnerInnen müssen sich der Phantasien und Projektionen bewußt sein, die vom Text und von der jeweils anderen Seite ausgelöst werden; beide müssen für das Unerwartete offen sein, für das Wissen, von dem wir nicht ahnten, daß wir es besaßen, für das Verlangen, für das wir keinen Namen hatten. Doch um meine Sicht der LeserIn/Autorin-Beziehung als erotische Bindung besser zu erklären, muß ich zur Diskussion erotischer Interaktion allgemein übergehen, dem Thema des ersten Kapitels.