An Sexualität zu denken und über Sexualität zu sprechen, bedeutet in erster Linie, an Körper zu denken und über sie zu sprechen. Schon lange, bevor uns irgendein bewußter Gedanke an Sex durch den Kopf geht, haben wir alle ein Gefühl für unsere körperliche Identität. Als Kind bereits entwickeln wir ein Gespür dafür, wie wir uns als menschlicher Körper fühlen und wie wir körperlich auf andere wirken. Sobald Drei- oder Vierjährige gelernt haben, ihren Körper zu gebrauchen und sich ein Bild von ihm zu machen, ist eine ihrer ersten Sorgen: Was ist »richtig« für ein Mädchen? Was ist angemessen für einen Jungen? Jungen haben unter der Tyrannei des Macho-Modells zu leiden, und das ist besonders hart für diejenigen unter ihnen, die sich viel lieber mit »Weiberkram« beschäftigen. Doch immerhin zielt ihre Erziehung darauf ab, ihnen Macht zu verleihen. im Gegensatz dazu besteht das Ziel der traditionellen Mädchenerziehung darin, sie machtlos zu machen, und zwar in der Wirklichkeit wie in ihrer Phantasie.
Ein dreijähriges Mädchen mag beim Spielen mit anderen Kindern ausgelassen, ungehemmt, vielleicht sogar grob und »herrisch« sein. Wenn es dann in die Schule geht und jene langen kanadischen Winterabende vor dem Fernseher verbringt, ninunt es Botschaften in sich auf, die von allen möglichen Institutionen ausgestrahlt werden. Mädchen sollten nicht dominant sein; sie sollten nett sein. Mädchen sollten ruhig sein, nicht laut. Mädchen weinen, Jungen nicht. Mädchen kümmern sich rührend um kleine Brüder und Haustiere; Jungen sind grausam zu kleinen Tieren und Kindern, die jünger sind als sie selbst. Mädchen spielen Mutter und Kind; Jungen treiben Sport. Was bedeutet das für das körperliche und sexuelle Selbstbild von Mädchen? Hier möchte ich auf meine eigenen Erfahrungen zurückgreifen. Als Kind hatte ich eine eher unbestimmte Vorstellung davon, wie ich als erwachsene Frau sein würde (vielleicht deshalb, weil wir noch keinen Fernseher besaßen). Doch ich wußte genau, wie ich nicht sein sollte. Ich sollte nicht Fußball spielen, obwohl das mein Lieblingsspiel war. Ich sollte nicht herumschreien oder meine Kleider schmutzig machen. Ich sollte nicht ins Schwitzen kommen, außer vielleicht sonntags nachmittags, wenn ich meine alten Jeans trug. Ich sollte nicht stark sein. Und ich sollte keine Spiele für mich und meine jüngere Schwester erfinden. Stattdessen erwartete man von mir, daß ich mich in die ordentlichen Phanthasien meines älteren Bruders fügte und jeweils die Rolle spielte, die er mir zuwies. Also hörte ich gehorsam zu, wenn mein Bruder uns ausführliche Geschichten über jedes existierende Flugzeugmodell erzählte, langweilte mich zu Tode und sehnte mich immerzu nur danach, draußen spielen zu dürfen. Nach einer Weile rebellierte ich dann gelegentlich und ging nach draußen, wobei ich einen Riesenkrawall verursachte, weil ich wollte.
Glücklicherweise glaubte meine Mutter nicht an die Theorie der traditionellen Mädchenerziehung. Ihr machte es nichts aus, daß ich viel lieber »Cowboy und Indianer« spielte als mit Puppen. Doch obwohl meine Mutter mich gewähren ließ, vermittelte mir die gesamte Umwelt eine sehr eindeutige Botschaft: Meine Träume, ein Sportstar zu werden, konnten nur gedeihen, wenn ich mich in meiner Vorstellung in einen jungen Mann verwandelte. Als meine Schwester und ich eine ausgeklügelte Phantasiewelt konstruierten, in der wir starke Helden waren, gaben wir uns die grotesken Namen Tom und Harry (die besonders grotesk waren, weil wir in Spanien aufwuchsen). Im Spanien Francos gab es keine Schulpsychologen - wahrscheinlich war das ein Vorteil für meine Schwester und für mich. Doch hätte es einen Schulpsychologen gegeben, hätte er sicherlich gesagt, ich durchlebe eine Zeit der Verwirrung, was meine Geschlechtsidentität anging. Er hätte mich durch seine Brille hindurch betrachtet, sich über den Bart gestrichen und gefragt: Warum verachtest du Puppen? Und warum haßt du die Farbe Rosa? In der Tat, überall abnorme Symptome. Wer über gesunden Menschenverstand verfügte, hätte leicht erkennen können, daß ich mich keineswegs insgeheim danach sehnte, einen männlichen Körper zu haben. Ich lehnte meine Eierstöcke und die Gebärmutter, die ich noch gar nicht kannte, nicht ab. Ich sehnte mich einfach danach, stark, zäh, intelligent und in verantwortlicher Position zu sein. Manche meiner Sehnsüchte, wie die Wißbegierde, ließen sich mehr oder weniger stillen, zum Beispiel durch Lesen. Doch die Sehnsucht, stark zu sein, wurde dauernd frustriert und war daher in meinem Bewußtsein dauernd präsent. Stark zu sein, ermöglicht es dir, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Stark zu sein bedeutet, daß du dich gut fühlst und daher auch gut aussiehst. Und dies steht in völligem Gegensatz zur Theorie vom »richtigen Mädchen«. Denn diese Auffassung behauptet, wenn du die Rituale femininer Schönheit durchläufst, wirst du schön aussehen und dich als Belohnung dafür vielleicht auch gut fühlen - wenn du nicht gerade zu sehr damit beschäftigt bist, dir über die Milliarden von Dingen Sorgen zu machen, die seit deinem letzten Blick in den Spiegel vielleicht falsch gelaufen sein könnten. Gut auszusehen ist, nach der Theorie über »richtige Mädchen«, das wichtigste Ziel im weiblichen Leben; sich gut zu fühlen ist dagegen eher nebensächlich.
Die Aufteilung in sich gut Fühlen und gut Aussehen hängt mit einer grundlegenderen Dichotomie zusammen: etwas Tun versus beobachtet Werden, Subjekt sein versus Objekt sein. Dies bedeutet nicht, daß alle Sorge um die äußere Erscheinung nur aus dem Bedürfnis heraus entsteht, ein bewegungslos verharrendes Objekt zu sein. Frauen sind stolz auf ihre äußere Erscheinung, die eine aktive Bestätigung der eigenen Person bedeutet. Doch das Problem für Frauen besteht darin, daß die dauernde Sorge um die äußere Wirkung häufig vor allen anderen Sorgen Vorrang hat. Darüber hinaus sind die Normen, an denen wir unsere äußere Erscheinung messen, uns von außen aufgezwungene, unmöglich zu verwirklichende Ideale. Sie zielen nicht darauf ab, uns wirklich stärker und schöner zu machen. Einer der Gründe, warum wir versuchen, den legendären »perfekten Körper« zu imitieren, liegt darin, daß wir für Männer attraktiv sein wollen. Doch der Prozeß, aus uns selbst eine angemessen feminine Erscheinung zu machen, geht häufig weit über das hinaus, was irgendein Mann von irgendeiner Frau erwarten würde. Wir verinnerlichen die Normen der Gesellschaft und beginnen uns wirklich schlecht zu fühlen, wenn unsere äußere Erscheinung einer bestimmten Vorgabe nicht entspricht. Wir werden nicht nur von Männern beurteilt; wir selbst betrachten unseren Körper (und den anderer Frauen) kritisch aus dem Blickwinkel des Mannes schlechthin, wie er von Modeschöpfern und in Hollywood zum Ausdruck gebracht wir.
Szene 1
Der Umkleideraum eines Sportzentrums. Nach einer Sportstunde laufen die Frauen in verschiedenen Stadien der Nacktheit durch den Raum. Ihr Weg führt vom Umkleideraum zur Dusche, von dort aus zum Whirlpool, dann zurück zur Dusche, zum Haartrockner, auf die Waage und schließlich zur Umkleidekabine zurück. Eine rothaarige, etwa dreißigjährige Frau in guter körperlicher Verfassung, seufzt tief auf, als sie auf ihrem Weg zum Whirlpool am großen Spiegel vorbeigeht. Sie betrachtet sich kurz, runzelt die Stirn und wickelt sich noch fester in ihr großes Handtuch. Zehn Minuten später kehrt sie vom Whirlpool zurück, entspannt, das Handtuch lässig über die Schulter geworfen, statt es wie vorhin dazu zu verwenden, ihren Körper vor den Blicken anderer Frauen und dem allmächtigen Spiegel zu verbergen. Diesmal blickt sie geistesabwesend kurz in Richtung des Spiegels, und ein Anflug von Ucheln huscht über ihr Gesicht. Ihre Brüste scheinen ihr heute zu gefallen. Doch nachdem sie ihre Sachen aus dem Spind geholt und die Unterwäsche angezogen hat, beschließt sie, sich auf die Waage zu stellen. Die Skala zeigt, daß sie heute zwei Pfund mehr wiegt als noch am Dienstag. Das Stirnrunzeln kehrt zurück und bleibt in ihr Gesicht eingegraben, während sie sich fertig anzieht und sich die Haare kämmt. Plötzlich fühlt sie sich müde. Frauen befinden sich dauernd im Krieg mit ihrem Körper. Denn sie bzw. ihr Körper sind schließlich solchen Altersverwüstungen ausgesetzt wie Orangenhaut und Falten - es handelt sich ja um den Körper einer Frau. Tief im Innernjedes weiblichen Körpers lauern unheimliche Substanzen, geradezu widerliche Flüssigkeiten, schleimige und unsaubere Öffnungen. Peinlicherweise bläht sich der Leib jeden Monat auf, dann krampft er sich zusammen und blutet unter Schmerzen. Doch selbst die äußere Hülle, die schöne Oberfläche, enttäuscht uns. Im allgemeinen sind weibliche Körper rund, nicht schmal und straff; haben Kurven, nicht nur um die Brüste, sondern auch um den Po und die Oberschenkel. Nach dem gängigen Schönheitsideal müssen sich 95 Prozent aller Frauen ungenügend, ja häßlich fühlen. Es ist erschreckend, daran zu denken, wie viele Frauen ihren Körper zutiefst verachten, hassen, ihn bekriegen. Es ist erschreckend, aber notwendig, uns diese Tatsache bewußt zu machen, wenn wir lernen wollen, uns mit uns selbst gut zu fühlen. In unserer übertrieben kritischen Bewertung unseres Körpers spielt die irrationale Angst vor Fett wahrscheinlich eine größere Rolle als jeder andere Faktor, selbst das Altern. Es kommt nicht selten vor, daß eine Frau, die 110 Pfund wiegt und schon fast mager aussieht, ein körperliches Selbstbild hat, das eher dem eines gestrandeten Walfischs entspricht. Die betreffende Frau würde weder von ihrem Freund noch von der öffentlichen Meinung als übergewichtig bezeichnet, doch ihre eigenen Kriterien verzerren ihr tatsächliches Körperbild wie ein konvexer Spiegel. Sie betrachtet sich immerzu als zu fett, und sie setzt »fett« gleich mit häßlich, faul, träge, sozial isoliert und sogar depressiv
Szene 2
Ein vierzehnjähriges Mädchen, körperlich gut in Form, sitzt auf der Bettkante. Sie ist dabei, sich anzuziehen, um zur Schule zu gehen, anschließend wird sie Basketball spielen. Sie zieht sich die Unterhose an und einen Kniestr-umpf, und während sie den anderen hochzieht, fällt ihr Blick auf ihre Oberschenkel. Sie erstarrt. Ihre Arme und Beine und sogar ihr Oberkörper sind schon in Ordnung, denkt sie, aber schau dir diese Oberschenkel an. Warum können sie nicht aus festen Muskeln bestehen? Warum müssen sie so teigig aussehen, muß sich ihr wabbelndes Fleisch beim Hinsetzen ausbreiten? Wenn sie nur diese ekelhaften Wülste loswerden könnte, wäre alles gut. Für einen Augenblick stellt sie sich vor, einen magischen Rasierapparat zu haben, der keine Verletzungen hervorruft; kein Blut wäre zu sehen, wenn sie sich ihr überflüssiges Fleisch herausschnitte. Dann könnte sie ihren Körper neu formen, so wie ein Bildhauer eine Gestalt aus einem Marmorblock formt. Dann wäre sie perfekt.
Dieses Mädchen war ich. Es überrascht wohl kaum, daß ich wenige Monate nach diesem Vorfall magersüchtig wurde, was meine Gesundheit für zwei Jahre vollkommen ruinierte und mich in beinahe verhungertem Zustand im Krankenhaus enden ließ. Doch im Kampf gegen meinen Körper war das Fett nicht der einzige oder auch nur der wichtigste Feind. Als ich erst einmal zu dünn wurde, wußte ich genau, daß ich sehr viel besser aussehen würde, wenn ich mehr Fleisch auf meinen nur allzu sichtbaren Knochen hätte. Doch nachdem ich auch die letzte Fettzelle losgeworden war, begann ich das Nicht-Essen zu genießen, das Hungern als Kick zu empfinden. Es gefiel mir, meine Familie in hellen Aufruhr zu versetzen, angestarrt zu werden und - was noch wichtiger war - eine perfekte Kontrolle über meinen Körper und meine Instinkte auszuüben. Ich wußte, meine Eltern wollten nichts so sehr, als daß ich endlich wieder äße, und ich assoziierte den Nahrungstrieb mit ihrem Verlangen, nicht mit meinem. »Ich«, das war das mystische, hungernde Selbst im Kampf gegen die niederen Instinkte. Ich entzog mir nicht nur die Nahrung, sondern schließlich auch das Wasser. Die Kalorien waren nur die feindliche Artillerie; der wahre Feind, gegen den ich kämpfte, war mein Körper, waren meine Triebe, meine Bedürfnisse. Und beinahe hätte ich gewonnen. Als ich dreißig Pfund Untergewicht hatte, brachten mich meine verzweifelten Eltern zum Kinderkrankenhaus in Toronto. Als frühreife, altkluge Fünfzehnjährige in einen Saal voller achtjähriger Diabetiker und Blinddarmoperierter gesperrt zu sein, entsprach allem anderen als meiner Vorstellung einer mystischen Erfahrung. Das Krankenhauspersonal sprach zu keinem Zeitpunkt mit mir über meine Krankheit, nannte sie nicht einmal beim Namen, machte jedoch deutlich, daß ich das Krankenhaus erst verlassen durfte, wenn ich zehn Pfund zugenommen hätte. Ich wußte, ihnen war es relativ gleichgültig, ob ich überlebte oder starb, daher war mit dem Nicht-Essen nichts mehr zu beweisen. Also aß ich und aß, schlang sogar die deftigen Schokoladenpuddings herunter, die sie mir als Nachtisch vorsetzten. Ein paar Wochen später wurde ich entlassen, zehn Pfund schwerer, aber nicht ein Gramm klüger.
Natürlich geht nicht jede so weit. Doch da ich es bis zu diesem Extrem trieb, war ich gezwungen, mir die verrückte Dynamik der Selbstbeherrschung, die ich da entwickelt hatte, genauer anzusehen. Es dauerte viele Jahre (und ich sträubte mich lange), bis ich schließlich begann, meinen Körper, das Essen, die Attraktivität und die Beziehung zwischen Geist und Instinkten positiver zu betrachten. Von daher ist es kein Zufall, daß ich meine Magersucht erst endgültig überwand, als ich sexuelle Beziehungen einging. Als ich meiner Sexualität ein positives Gefühl entgegenbringen konnte, brach die magersüchtige Trennung zwischen dem wahren »Ich« und den niederen Instinkten zusammen. Für viele Mädchen ist der Instinkt, der unter Kontrolle gebracht werden muß, weniger die Lust als der Hunger. Bezeichnenderweise findet denn auch der Kampf um Selbstkontrolle für Frauen in der Küche statt, nicht unter der Bettdecke. Schokolade und Eis sind die Todsünden heranwachsender Mädchen.
Man bringt uns bei, daß es schlecht ist, »sich den Bauch vollzuschlagen«, doch man lehrt uns nicht, das Vergnügen eines guten Essens zu schätzen und herauszufinden, was wir wann essen wollen. Um die Freuden guten Kochens und Essens beraubt, wissen wir meist nur eines: Essen macht dick. Wir wachsen auf irn Kampf zwischen Zucker und Stärke einerseits und weiblicher Schönheit andererseits. Beide Pole dieses Gegensatzes sind gleichermaßen künstlich, doch der Effekt ist, daß es so aussieht, als ob Schönheit und Erfolg nur dadurch erlangt werden könnten, daß wir einen grundlegenden Instinkt unseres Körpers niederringen: den Hunger. Und so verbringen Mädchen ihre Teenager-Jahre damit, ihr Bedürfnis nach Nahrung zu bezwingen und ihren Stoffwechsel mit gelegentlichen ZuckerOrgien durcheinanderzubringen. Kein Wunder, daß wir Mühe haben, beim Sex »natürlich« zu sein.
Die Dialektik erotischen »Erkennens«
Die merkwürdige Tendenz junger Frauen, ihre körperlichen Ängste und Bedürfnisse weg vom Sex und hin zur Nahrung zu verschieben, läßt sich in gewissem Ausmaß durch die problematische Rolle erklären, die Sex in unserer Gesellschaft spielt. Dieses Problem ist offenbar paradox, denn einerseits ist unsere Gesellschaft höchst sexualisiert, andererseits höchst repressiv. Betrachten wir zunächst die Sexualisierung. Wir wachsen auf umgeben von »sexy« Bildern und werden pausenlos mit einer Propaganda bombardiert, nach der sexuelle Erfüllung das letzte Ziel menschlichen Strebens sein sollte. Vom Softporno bis hin zu Artikeln in Frauenzeitschriften über die große Bedeutung von Sex in der Ehe enthalten die meisten kulturellen Massenprodukte eine eindeutige Botschaft: Sex ist äußerst wichtig. Er mag als rundum gut (Playboy), als schlecht (traditionelle Religion) oder als eine Mischung aus gut und schlecht (Ratgeberbücher) dargestellt werden, doch alle stimmen darin überein, daß Sex ungeheuer wichtig ist.
Nicht immer wurde Sex so betrachtet. Erst seit dem Ende des neunzehnten und besonders im zwanzigsten Jahrhundert wird ihm diese entscheidende Rolle zugeschrieben. Unser Jahrhundert hat eine eigene Wissenschaft des Sex entwickelt, und die Humanwissenschaften sind dazu übergegangen, fast jede menschliche Aktivität als die äußere Ausdrucksform versteckter sexueller Wahrheiten zu betrachten. [1] Außerdem hat das unglaubliche Wachstum des Warenmarktes auch eine Ausbeutung sexueller Bedürfnisse und Phantasien ermöglicht, ja erzwungen, um den Konsum zu erhöhen. Andere soziale Faktoren sind an der Sexualisierung der Gesellschaft beteiligt, wie etwa der gleichzeitige Rückgang traditionellen religiösen Glaubens und romantischer Vorstellungen, die Sex nur aus Liebe heraus gelten lassen. Doch wo immer auch im einzelnen die Ursachen liegen mögen - es ließe sich ein ganzes Buch ausschließlich darüber schreiben - festzuhalten bleibt, daß Sex zu einem wesentlichen Schmiermittel für das reibungslose Funktionieren des Konsum-Kapitalismus geworden ist, sowohl als vermarktete Ware als auch in seiner Funktion als attraktive Beigabe zu anderen Produkten.
Wir begingen jedoch einen verhängnisvollen Irrtum, wenn wir glaubten, daß die Allgegenwart des Sex die sexuelle Unaufgeklärtheit und Repression als Probleme hätten verschwinden lassen. Eine sexualisierte Gesellschaft garantiert den einzelnen keineswegs sexuelle Erfüllung. Sex ist keine Sache oder Substanz, deren Anwesenheit an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit meßbar wäre. »Sex« bezieht sich vielmehr auf eine Vielfalt menschlicher Möglichkeiten und Praktiken und deren kulturelle Ausdrucksformen. In unserer gegenwärtigen Gesellschaft herrschen ganz bestimmte Arten des Sex vor und werden von der dominierenden Kultur sehr stark gestützt, während andere sexuelle Möglichkeiten im wörtlichen Sinne unsichtbar bleiben. Wer diese praktiziert, gehört automatisch einer stigmatisierten Minderheit an. Und wie wir in Kürze sehen werden, hängt das, was die einzelnen unter dem Wort »Sex« verstehen, sehr davon ab, welchem Geschlecht sie angehören, welche sexuelle Orientierung sie haben und in gewissem Ausmaß auch, zu welcher Klasse oder Rasse sie gehören. Es hat also wenig Sinn, sich darüber zu streiten, ob es ganz allgemein zuviel Repression oder zuviel Permissivität gibt. Wir können jedoch fragen: Wie haben sich die vorherrschenden Ansichten über die Bedeutung des Sex mit den Jahren verändert? Und was waren die Konsequenzen der »Modernisierung des Sex«, wie das ein Autor einmal genannt hat,[2] für die Gesellschaft allgemein und für Frauen als unterdrückte Gruppe?
Zahlreiche Feministinnen haben darauf hingewiesen, daß die »Modernisierung des Sex« einen widersprüchlichen Effekt auf das Leben und das Selbstbild von Frauen gehabt hat. Auf der einen Seite hat das zwanzigste Jahrhundert die sexuelle Lust der Frauen »entdeckt«. Die Bedeutung solcher Sexualstudien wie die von Masters und Johnson, Shere Hite und anderen sollte nicht unterschätzt werden, wie es manche zynische oder Experten-überdrüssige Feministinnen tun. Millionen von Frauen erwarten heute mit großer Selbstverständlichkeit vom Leben, daß es für sie sexuelle Lustempfindungen bereithält, und viele sind sogar bereit, dafür zu kämpfen. Die Erwartung sexueller Erfüllung, sowohl in der Ehe wie in außerehelichen Beziehungen, wird kaum je in Frage gestellt. Und zahlreiche Männer haben begonnen, alte Sexualpraktiken zu verändern, um diesen neuen Erwartungen weiblicher Lust zu entsprechen. Sie tun es sicher zum Teil widerwillig, halbherzig und ohne die Frau direkt zu fragen, was sie möchte. Doch es gibt eben die allgemeine Erwartung, Sex sollte nicht nur Männern, sondern auch Frauen Lust verschaffen, und dies ist eine bedeutsame historische Veränderung. Auf der anderen Seite hat die (Hetero-)Sexualisierung der sozialen Beziehungen und die Betonung der sexuellen Aspekte in allen Beziehungen jedoch in mancher Hinsicht dazu beigetragen, Frauen ein weiteres ideologisches Gefängnis zu bauen. Nun wird von Frauen erwartet, sie sollten sexuelle Athletinnen sein, an ihrem Sex »arbeiten« und die unrealistische Erwartung erfüllen, mehrfache Orgasmen zu bekommen. So empfinden zahlreiche Frauen zwar körperlich mehr Lust als ihre Mütter, unterliegen aber auch neuen Pressionen und empfinden das Ideal der sexuell befreiten Frau nicht selten als eine äußerlich aufgezwungene Norm, der sie genügen müssen. Wenn Sex eine so ungeheure Bedeutung bekommt, dann sind Frauen - auch wenn betont wird, heterosexuelle Beziehungen sollten auf Gegenseitigkeit beruhen - immer noch der Inbegriff von »Sex«. Veränderungen des Sexualverhaltens und der Sexualnormen haben daher eine größere Auswirkung auf Frauen als auf Männer, einfach deshalb, weil Sex (wie Beziehungen überhaupt) nach wie vor als die Domäne der Frauen betrachtet wird. Da Frauen mehr über Sexualität definiert werden als Männer, ist Sexualität für uns ein gefährlicheres Terrain. Selbst wenn einer möglichen Schwangerschaft nicht mehr dieselbe Bedeutung zukommt wie früher, riskieren Frauen als Gruppe immer noch mehr als Männer, wenn sie ihr Sexualleben verändern. Dies teilweise deshalb, weil in der öffentlichen Meinung »leichte Mädchen« oder »frigide Frauen« nach wie vor stigmatisiert sind und jede von uns daher stets aufpassen muß, ihre soziale Anerkennung nicht zu verlieren. Noch bedeutsamer sind jedoch unsere emotionalen Schwierigkeiten, wenn es um Sex und Beziehungen geht. Wir beziehen unsere Selbstdefinition eher als Männer aus unseren Beziehungen; und auf der rein sexuellen Ebene brauchen wir häufig lange Zeit, um uns in/mit unserem Körper und unserem Begehren wohlzufühlen. Aller Propaganda zum Trotz, Sex sei eine einfache (Tat)Sache, wissen wir genau, daß das nicht stimmt; es gibt viele (einander widersprechende) soziale Einflüsse, die Sex weiterhin problematisch machen und die Entwicklung einer »unschuldigen« Sexualität behindern. Die Probleme, die der historische Prozeß der »Modernisierung des Sex« mit sich gebracht hat, werden durch psychologische Faktoren noch kompliziert, die Sexualität für alle Menschen problematisch werden lassen, darunter wiederum ganz besonders für Frauen.
Die Dialektik des Begehrens
Das sexuelle Begehren ist beim Menschen nicht nur ein physiologischer Vorgang. Durch unsere sexuellen Empfindungen und Beziehungen spielen wir unsere grundlegende psychische Dynamik aus, ganz besonders in einem Zeitalter, das der Sexualität einen so hohen Stellenwert für die Selbstverwirklichung beimißt. Die »Modernisierung des Sex« ist nicht nur eine Ideologie, die uns von außen beeinflußt-, wir empfinden so, daß Sex für unser psychisches Wachstum entscheidende Bedeutung hat, und in diesem Sinne ist Sex auch entscheidend. Unsere Gesellschaft liefert für bestimmte physiologische Bedürfnisse keine alternativen Möglichkeiten, die außerhalb sexueller Beziehungen verwirklicht werden könnten. Wer freiwillig oder gezwungenermaßen allein lebt, muß einen Großteil ihrer Zeit und Energie allein dafür aufbringen, nach Alternativen zu suchen. Physiologisch ausgedrückt: Es könnte uns großartig gehen ohne Sex mit PartnerInnen (und Onanie ist erwiesenermaßen, zumindest für Frauen, körperlich wesentlich effektiver), doch die emotionale Komponente ist schwer zu ersetzen.
Einer der wichtigsten emotionalen Vorgänge beim Sex ist das Bedürfnis, jemanden ganz zu kennen und von ihm/ihr »erkannt« zu werden. Dieses Bedürfnis nach Anerkennung und Kenntnis, nach »der Wahrheit«, ist von zahlreichen Philosophen - von Plato bis Freud mit der Erotik verknüpft worden. Doch Freud hat bereits darauf hingewiesen, daß dies nicht nur, nicht einmal in erster Linie, ein intellektueller Prozeß ist. Wenn wir uns danach sehnen, von einer anderen Person »erkannt« zu werden, dann nicht nur aus Gründen der Wahrheitsliebe, sondern mindestens ebenso sehr aus Gründen der Macht. Ein Individuum verfügt solange nicht über Macht, bis es ein anderes findet, das die eigene Individualität und Handlungsweise anerkennt. Wie der Philosoph Hegel es einmal ausgedrückt hat, werden wir erst zu Subjekten, indem unsere Handlungen von anderen Subjekten gesehen und erkannt werden, die dann objektiv unsere Behauptung, Subjekte zu sein, bestätigen können.
Wir alle haben - in sexuellen wie in nicht-sexuellen Beziehungen - das Bedürfnis, als autonome menschliche Wesen, als unabhängig und mächtig gesehen zu werden und uns so zu fühlen. In einer erotischen Situation bedeutet das: Wir wollen alle die/der LiebhaberIn sein, die/der die Situation unter Kontrolle hat, die/der den Sex beginnt. Doch wir haben ein gleich starkes Bedürfnis danach, unsere Macht aufzugeben, uns einem stärkeren Wesen hinzugeben, das uns »nimmt« und uns von der ungeheuren Verantwortung erlöst, aktiv zu sein und Entscheidungen treffen zu müssen. Das Bedürfnis, uns unserer sexuellen Macht zu versichern und jemanden zu überwältigen, wechselt sich dauernd mit der tiefen Sehnsucht ab, verschlungen zu werden, in den Mutterleib zurückzukehren, gleichermaßen überwältigt wie beschützt zu werden. Diese Dialektik, dieses Zusammenspiel von Gegensätzen, spiegelt sich im Kampf des kleinen Kindes wider, unabhängig von der Mutter zu werden, sich gleichzeitig aber ihrer Liebe und ihres Schutzes versichern zu wollen. Bei Jungen, denen ausdrücklich und unterschwellig vermittelt wird, daß sie Männer werden sollen, das heißt radikal »anders« als die Mutter, besteht die Tendenz, die Spannung zwischen Unabhängigkeit und Verschmelzung in einen permanenten (undialektischen) Wunsch zu verwandeln, andere, besonders Frauen, zu beherrschen. Der Junge haßt es, von der Mutter abhängig zu sein und entwickelt eine Gegenphantasie, in der er allmächtig ist und seinen Willen allen Frauen aufzwingen kann. Auch Mädchen durchleben diesen Differenzierungsprozeß, doch sie können ihre Mutter nicht als radikal »andere« betrachten. Also neigen sie dazu, sich eher mit ihr zu identifizieren, ebenso wie mit anderen Quellen der Fürsorge und Autorität, selbst wenn sie versuchen, mächtiger und unabhängiger zu werden. Nancy Chodorow hat darauf hingewiesen, daß viele psychologische Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen weit weniger markant wären, wenn nicht ausschließlich Frauen kleine Kinder versorgten.[3] Die Mutter-Kind-Beziehung und all ihre ungelösten Widersprüche prägen unweigerlich die Machtdynamik erotischer Beziehungen. Da Jungen fast ausschließlich von Frauen großgezogen werden und da ihnen beigebracht wird, ihr Geschlecht als wesentlich für ihre Selbstdefinition zu betrachten, wachsen sie in dem Gefühl auf, das Objekt ihres Begehrens sei das fundamental andere. Für den Jungen bedeutet die unvermeidliche Abhängigkeit von Erwachsenen in erster Linie Abhängigkeit von Frauen, insbesondere von starken, mütterlichen Frauen. Er weist diese Abhängigkeit zurück und beginnt, feindselige Gefühle gegen Frauen allgemein zu hegen. Heranwachsende Frauen sind dagegen nicht so schnell bereit, das andere zu objektivieren oder Elternfiguren zurückzuweisen. Dies könnte eine sehr positive Eigenschaft sein, wenn sie gepaart wäre mit einem ausgeprägten Selbstwertgefühl. Doch leider hindert die typisch weibliche Sozialisation Frauen daran, ein solches Selbstwertgefühl zu entwickeln. Die Frau, die »erfolgreich« sozialisiert ist, wird sich mit den Bedürfnissen und dem Begehren des anderen identifizieren, anstatt ihr eigenes Bedürfnis, ihr eigenes Begehren zu entwickeln und zu spüren. Die vielgerühmte weibliche Selbstlosigkeit könnte tatsächlich ein positiver Charakterzug sein, wird aber zu einem negativen Merkmal, wenn eine Frau lediglich für und durch Männer lebt. Zugespitzt formuliert: Die Selbstlosigkeit verwandelt sich in ihr Gegenteil; denn wenn die Frau keine anderen Bedürfnisse mehr hat als die ihres Mannes/Sohnes, ist ihr Bemühen, diese zu verwirklichen, nichts anderes als ihr besonderer Weg zur Selbstverwirklichung schlechthin. Wir sind wahrscheinlich alle in der Lage, uns das eine oder andere Beispiel solcher Frauen vor Augen zu führen, die in diese Falle gegangen sind, als sie versuchten, die perfekte Hausfrau und Mutter zu werden.
Die sexistischen sozialen Beziehungen sind es, die Frauen dazu drängen, nur die »unterwürfige« Seite der erotischen Dialektik auszuleben. Es ist eine sexistische Gesellschaftsstruktur, die beide Seiten der Dialektik voneinander trennt und Männern die Rolle des Jägers/Liebhabers/Subjekts zuweist, Frauen dagegen die der Gejagten/Geliebten/des Objekts. In unserer nach wie vor recht strikt nach Geschlechtern getrennten Gesellschaft stagnieren die erotischen Interaktionen: Der Liebhaber kann nicht der Geliebte werden, der Beschützer kann nicht Schutz suchen. Männer müssen automatisch die »starke« Rolle spielen, und Frauen sollen sich kampflos in die Rolle derjenigen fügen, die genommen wird und die sich ergibt. Unter bestimmten Umständen lassen die Rollen sich umkehren, doch das bedeutet immer, gegen das ankämpfen zu müssen, was als das »Normale« gilt; es bedeutet, gegen den Strom schwimmen zu müssen. In Kinofilmen wird die Situation, daß ein Mann unter der »Knute« seiner Frau steht, immer als erklärungsbedürftig betrachtet, während das Gegenteil als »natürlich« präsentiert wird. Unter »normalen« Umständen sind Männer »sexy«, weil sie über die männliche gesellschaftliche Macht verfügen. Die Bilder männlicher Erotik, die auf Frauen zielen, sind so unterschiedlich wie die Formen männlicher Macht: Der gewalttätige, starke Held einer klassischen Romanze ist erotisch aufgrund seiner direkten physischen und psychischen Macht, während der junge Arzt erotisch ist als netter, verläßlicher Beschützer von nebenan. Michael Jackson, Aristoteles Onassis und Prinz Charles werden, so unterschiedlich sie sein mögen, allesamt als sexy (oder, wie es in Frauenzeitschriften so dezent heißt, als »begehrenswert«) dargestellt. Ihr Sexappeal ist verschieden - entsprechend der gesellschaftlichen Bedeutung ihrer jeweiligen Rolle - doch der gemeinsame Nenner besteht darin, daß Macht zum Sexappeal eines Mannes ungeheuer beiträgt: Macht ist erotisch. Frauen dagegen sollen auf keinen Fall aktiv Macht ausüben. Wir sollen uns hüten, sexuelle Spiele anzufangen und haben nicht einmal uneingeschränkt das Recht, der erotischen Initiative eines Mannes ein Ende zu setzen. Dagegen verfügen wir über eine sehr indirekte und begrenzte Form von Macht: die Macht der Unterwerfung. Wenn die Unterwerfung allerdings zu einer Form von Macht werden soll, müssen wir dafür sorgen, daß sie etwas wert ist. Wir müssen also zurückhaltend sein, müssen die Frau spielen, die »schwer zu kriegen« ist, müssen die Zeit des Umwerbens verlängern und den Sex hinauszögern. Auf diese Weise üben wir eine indirekte und äußerst passive Form der Macht über den Aggressor aus, eine Art von Macht, die am besten durch den sexistischen Begriff der »weiblichen List« beschrieben wird. Unterwerfung ist unsere eigentümlich weibliche Form der Macht. Sie ist die Essenz unserer »weiblichen Erotik«. Die Zurückhaltung der Gejagten muß sexuell verklärt werden, genauso wie die Stärke des Jägers. Dies heißt jedoch keineswegs, weibliche Frauen seien auf schwächliche Weise passiv. Es braucht sehr viel Intelligenz, Können und Energie, um die weibliche Rolle gut spielen und das Optimale aus dem Vorenthalten oder Gewähren der persönlichen Einwilligung herausholen zu können. Eine Frau, die vollkommen passiv ist und nicht unter ihren »Jägern« auswählt, verfügt nur über einen äußerst geringen Sexappeal. Die Frauen, die in der traditionellen Kultur am meisten »sexy« sind, spielen das passive Spiel der Macht mit ihrem eigenen Sexappeal so perfekt wie ein kluger Börsenmakler: Sie kalkulieren den Zeitpunkt und hüten sich, (sich) zu schnell zu verkaufen. Entsprechend ist eine vollständig nackte Frau niemals so sexy wie eine, die nur fast nackt ist und den Mann beliebig hin und herdirigiert, indem sie ihn lockt oder ihm verspricht, sie werde zu gegebener Zeit und am rechten Ort »alles« enthüllen. Viele der Frauen, die immerzu betonen, sie haben mit Feminismus nichts im Sinn, sind genau jene, die so gut gelernt haben, ihre passive Macht einzusetzen, daß der Eindruck und das Gefühl von aktiver Macht entsteht.
Ich begann diesen Abschnitt mit der Bemerkung, einer der wichtigsten Aspekte der Erotik sei das Bedürfnis, jemanden zu kennen und erkannt zu werden, das heißt, das Verlangen nach Anerkennung. Nun können wir als menschliche Wesen nur von anderen Menschen anerkannt werden, bevorzugt von sozial gleichen. Ein Objekt, ein passives Ding, kann uns keine Anerkennung verleihen. Wenn also ein Mann erfolgreich eine Frau in ein Quasi-Objekt verwandelt hat, wenn er sie vollständig ihrer sozialen Macht beraubt und von sich abhängig gemacht hat, wird sein Verlangen nach Anerkennung zwangsläufig frustriert werden. Denn die Frau ist praktisch zu einem Nicht-Menschen geworden, und ihre Anerkennung gilt entsprechend wenig. Das Bedürfnis des Mannes nach Dominanz und danach, andere seinen jeweiligen Launen entsprechend zu instrumentalisieren, wird daher vielleicht in Erfüllung gehen; sein ebenfalls starkes Verlangen nach Anerkennung jedoch wird sich nicht erfüllen lassen. Wie Jessica Benjamin[4] gezeigt hat, besteht ein Grund für die sexuelle Gewalt von Männern gegen Frauen in der Wut, die Männer erleben, wenn sie eine Frau beherrschen und sie ihrem Willen unterwerfen und dann nicht länger Spaß an dieser Unterwerfung haben. Verfügt eine Frau nicht länger über einen eigenen Willen, stellen das Ringen mit ihr und der Unterwerfungsakt keine Herausforderung mehr dar. Diese spezifische Dialektik der Beherrschung löst sich nicht auf in gegenseitige Anerkennung als gleichwertige, wie es der Fall sein kann, wenn die beteiligten Individuen sozial gleichgestellt sind. Dann nämlich findet ihr erotisches Spiel von Unterwerfung und Eroberung im Kontext gegenseitiger Anerkennung ihrer jeweiligen Individualität und Menschlichkeit statt. In einer Situation, in der der Ehemann ein Macho ist und die Ehefrau die Unterwürfige, stellt der erotische Kampf kein dialektisches Spiel mehr dar und verliert sogar gänzlich seinen spielerischen Charakter. Es findet dann eher ein einseitiger Abstieg in extreme Rollen statt, die dann die Bedingung für extreme Gewalt einerseits, extremen Masochismus andererseits darstellen.[5]
Darin liegt der Widerspruch, der in der Erotik männlicher Macht enthalten ist. Auf der einen Seite ist der mögliche Einsatz von Gewalt durch den Mann Bestandteil seines Sexappeals. Doch auf der anderen Seite ist der tatsächliche Einsatz brutaler Gewalt alles andere als erotisch, besonders für Frauen, aber auch für Männer selbst. Brutale Gewalt ist der Ersatz für gegenseitige Anerkennung, ein Ersatz, der dann angewandt wird, wenn die beiden Partner nicht gleichwertig sind und als vollständige menschliche Wesen gelten. Gewalt zerstört die Möglichkeit gegenseitiger Anerkennung. Die Frau, der Gewalt angetan wird, verwandelt sich in ein Objekt und kann die Anerkennung, nach der sich der männliche Aggressor so sehnt, nicht geben. Wenn der männliche Herrscher seine Macht durch Gewalt ausübt, wird die Frau als Sklavin sich in einen leblosen Körper verwandeln und nicht in der Lage sein, seine Herrschaft anzuerkennen. Der männliche Sieg ist also gleichzeitig eine Niederlage der Männer.[6] (Diese Dynamik ist wahrscheinlich der Hauptgrund, weshalb in pornografischen Darstellungen immer eine Frau gezeigt wird, die freiwillig damit einverstanden ist, daß ihr Gewalt angetan wird - dies nicht so sehr aus männlichem Respekt für die Frau, sondern weil das männliche Macht-Begehren letztlich frustriert würde, stellte man sie nur als untätiges Objekt dar.)
Damit erotische Anerkennung möglich ist, müssen beide Beteiligten vollständige menschliche Wesen sein. Und sie müssen darauf vorbereitet sein, sich gegenseitig als solche zu erkennen. Das bedeutet nicht, daß sie absolut gleich sein müssen und wir nur Beziehungen zu Menschen desselben Geschlechts, derselben Altersgruppe, Rasse oder sozialen Schicht eingehen könnten. In vielen Fällen ziehen Gegensätze sich auch an (wie pradoxerweise ebenso gilt: Gleich und gleich gesellt sich gern). Der Punkt, auf den es ankommt, ist der: Diese Unterschiede sollten nicht als rigide und dauernde Anzeichen für die eigene »natürliche« Rolle betrachtet werden, sondern als Elemente eines erotischen Spieles, dessen Ziel darin besteht, die gewöhnliche soziale Bedeutung solcher Unterschiede aufzuheben. Ein kleines Beispiel: Selbst wenn eine heterosexuelle Frau Spaß daran hat, beim Sexualverkehr auf dem Rücken zu liegen, mag sie vielleicht durchaus auch einmal die »normale« Position umkehren und eine Weile oben liegen, nur um zu sehen, wie es sich anfühlt, wenn sie diejenige ist, die den Rhythmus der Körper kontrolliert. Wenn ihr die »obere« Position gefällt, wird sie vielleicht immer noch lieber »unten« liegen, doch zumindest weiß sie, daß es keinen zwingenden Grund gibt, warum Männer oben liegen sollten. Und auch ihr männlicher Partner mag etwas dazugelernt haben. Die Betonung muß also auf der dynamischen Veränderung liegen. Wir müssen mit den Ritualen und Symbolen der Erotik experimentieren, damit die Dynamik sexueller Macht zu einer wirklichen gegenseitigen Anerkennung von Menschen führen kann, die vollständige menschliche Wesen und daher gleichwertig sind, ohne dasselbe sein zu müssen.
Viele Feministinnen haben darauf hingewiesen, daß die Erotisierung männlicher Macht, zum Beispiel in der Pornografie, das Patriarchat stützt, indem sie es »sexy« erscheinen läßt. Daher sind zahlreiche Feministinnen zu dem Schluß gekommen, daß wir die Sexualität von solchem Schmutz »reinigen« und alle Formen von Macht aus dem erotischen Spiel heraushalten sollten. Ich halte das für einen Fehlschluß. Meiner Ansicht nach ist nicht die Macht an sich schlecht, sondern eher die Art und Weise, wie Macht von einem Geschlecht gegen das andere und von einem Individuum gegen das andere eingesetzt wird. In unserer Gesellschaft werden sowohl die Ökonomie wie die erotische Macht dazu benutzt, Menschen mit geringerer Macht auszubeuten. Doch wir können die wirtschaftliche Macht an sich nicht einfach »aufgeben«. Allerdings können wir die ökonomischen Bedingungen verändern, so daß die wirtschaftliche Macht kollektiv verteilt wird und nicht von einer Person oder Gruppe gegen andere angewandt werden kann. Ähnlich hat die erotische Macht dazu geführt, daß sie beinahe gleichgesetzt wurde mit Vergewaltigung und anderen Formen von Gewalt gegen Frauen. Doch sind wir realistisch, wenn wir uns eine feministische Gesellschaft vorstellen, in der es keine erotische Macht gibt, keine überwältigende Lust, und in der alles in weiche Zärtlichkeit und gegenseitige Fürsorge gehüllt ist?
Wo es starke erotische Anziehung gibt, da ist Macht im Spiel. Der Punkt ist, daß wir die Geschlechterbeziehungen (und auch die Rassen- und Klassenbeziehungen) so verändern müssen, daß die Macht der einen Person nicht automatisch die Demütigung der anderen bedeutet. Wir müssen sicherstellen, daß jede/r sowohl LiebhaberIn wie Geliebte/r sein kann, BeschützerIn und Beschützte/r, die/der Nehmende und die/der sich Unterwerfende. Dies wird gesellschaftliche Veränderungen bedeuten, nicht nur ein anderes Bewußtsein schaffen. Gegenwärtig ist es für eine heterosexuelle Frau schwer, ihrem Begehren »frei« nachzugeben und sich sexuell überwältigen zu lassen, denn sie lebt in einer Gesellschaft, in der alle paar Minuten eine Frau vergewaltigt wird. Wir müssen die Macht gleichmäßig verteilen. Dann werden wir frei sein, wirklich mit Macht und Sexualität spielen zu können und wirklich die Möglichkeiten der Dialektik des Begehrens zu erforschen. Es geht dabei nicht um völligen Verzicht auf sexuelle Macht, sondern um deren Subversion und Veränderung. Auf diese Weise werden wir die Dialektik eher kontrollieren können, freier sein zu wählen, uns zu verändern und angstfrei damit experimentieren zu können. Erotische Macht muß vom Müll patriarchaler sozialer Beziehungen befreit werden; sie sollte dazu dienen, Gleichwertigkeit - nicht synonym mit Gleichheit - zu erotisieren, statt Ungleichwertigkeit.
Die feministische Vision der Erotik hat nichts mit egalitärer, homogenisierter Langeweile zu tun, in der keine Person die andere überwältigt und in der Hingabe verboten ist. Die feministische Vision (oder ich sollte vielleicht besser sagen: meine feministische Vision) versucht, die beiden Pole zu integrieren - Autonomie und Verantwortlichkeit, Macht und Hingabe. Und zwar für Frauen wie für Männer. Doch das bedeutet nicht, daß wir unsere Rollen mechanistisch betrachten sollten: 50 Prozent der Zeit aktiv, 50 Prozent der Zeit passiv. Ein weniger mechanistischer Ansatz enthält nicht nur die Vorstellung »vertauschter Rollen«, sondern auch die Wahrnehmung der Tatsache, daß die »passive« Person nicht notwendigerweise machtlos und schwach sein muß, die »aktive« nicht unbedingt dominierend und mißbrauchend. Ein dynamisches Verständnis von Gleichheit bedeutet auch, daß jede/r der beiden PartnerInnen sich mit der Lust der/des anderen identifiziert, beobachtet und empfindet, wie die »passive« oder »aktive« Lust der bzw. des anderen sich voll entwickelt, reift und plötzlich in ihr Gegenteil umschlägt. Dynamische Gleichheit beginnt mit dem gegenseitigen Einvernehmen, daß beide ein Recht auf ihre Lust haben, und - da gleichzeitige Orgasmen nicht die Norm sind - daß es vielleicht zu einem gewissen Ausmaß an Rollentausch kommen wird. Doch wenn das einmal feststeht, wäre es alles andere als produktiv, wenn plötzlich mit der Stoppuhr festgehalten würde, wer die/den andere/n wie lange liebt. Dynamische Gleichheit bedeutet, sexuelle Macht zu teilen; sie bedeutet nicht, abzusichern, daß jede/r genau die gleiche Zahl von Orgasmen hat. Zur dynamischen Gleichheit oder Gleichwertigkeit gehört auch, sich mit der Lust der/des anderen zu identifizieren, so daß wir uns manchmal befriedigt fühlen können, nicht nur weil die/der andere einen Orgasmus hat, sondern auch durch ihren/seinen Orgasmus.
Diese Identifikation heißt nicht Aufhebung aller Unterschiede. Es gibt immer eine gewisse Spannung zwischen Geben und Nehmen, oben und unten Liegen, und diese Unterschiede werden immer ein integraler Bestandteil der Erotik bleiben. Doch die Identifizierung ermöglicht eine gegenseitige An-Erkennung zweier menschlicher Subjekte, die einander als autonom respektieren und alle erotischen Möglichkeiten, die sich im Liebesspiel ergeben, in gewisser Hinsicht als zu beiden PartnerInnen gehörend betrachten. Mit anderen Worten, die vielfältigen Möglichkeiten des erotischen Spiels werden in einer Situation entwickelt, in derjede Rolle und jede Vorstellung (einschließlich unseres Verständnisses von »männlich« und »weiblich«) aktualisiert wird durch eine Abgrenzung von ihrem Gegenteil, ihrer komplementären Lust. Wenn sie einmal voll entwickelt sind, gehören diese Möglichkeiten jedoch beiden PartnerInnen und können von jeder/jedem auf ihre/seine Weise erlebt werden.
Frauen wurden in dem Bewußtsein erzogen, sich vor allem mit solch passiven Lustempfindungen zu identifizieren, wie penetriert zu werden, doch es gibt keinen Grund, warum wir nicht lernen können, unsere Phantasie einzusetzen und die Lust zu empfinden, jemanden »zu nehmen«. In gewissem Ausmaß bedeutet das, körperlich abenteuerlustig zu sein, doch es kann auch bedeuten, die Dinge anders zu empfinden und anders darüber zu denken. Manche Feministinnen haben darauf hingewiesen, daß der Geschlechtsverkehr in der Missionarsstellung nicht unbedingt bedeuten muß: »Passive Frau wird von aggressivem Mann gefickt«. Diese Position kann genausogut zum Beispiel so erlebt werden: »Starke Frau verschlingt einen zögernden Mann«. Es gibt also keinen Grund, weshalb Feministinnen einen Fetisch aus der quantitativen Gleichwertigkeit in der Sexualität machen sollten, nur weil das traditionelle Denken Ungleichheit und Beherrschung betont. Ähnlich sollten wir auf unsere lange Erfahrung, als Sexualobjekte behandelt worden zu sein, nicht so reagieren, daß wir zum anderen Extrem übergehen und sämtliche Formen der Objektbildung ablehnen und uns selbst in die unmögliche Position reiner Subjekte versetzen. Das möchte ich näher erläutern. Als Feministinnen haben wir versucht, das Selbstbewußtsein von Frauen und die emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten von Männern zu verbessern, in dem Versuch, die Ungleichheit der Geschlechter so weit wie möglich zu reduzieren. Und wir haben darauf bestanden, daß Frauen nicht die Objekte männlichen Begehrens sind, sondern eigenständige menschliche Subjekte. Ein Minimum an »Objektbildung« ist für die erotische Interaktion, ja für jede Interaktion absolut notwendig. Wenn wir am Morgen an den Kleiderschrank gehen und unsere Kleidung für den Tag zusammenstellen oder wenn wir uns die Haare schneiden lassen, wenn wir alles unternehmen, um braun zu werden oder es uns aus gesundheitlichen Gründen verbieten dann objektivieren wir uns selbst, das heißt, wir stellen uns selbst dar als ein bestimmtes Objekt im Verhältnis zu unserer Umwelt. Wir alle wollen unsere äußere Erscheinung kontrollieren, die Art, wie wir uns als Objekte zur Schau stellen. Und umgekehrt, wenn wir jemanden attraktiv finden, dann sprechen wir nicht nur auf ihre/seine innerste Seele an, sondern auch auf einen bestimmten Körper. Also machen wir uns selbst und andere die ganze Zeit zu Objekten. Als Feministinnen wenden wir uns gegen die Art von Objektivierung, die wir beispielsweise in der Pornografie finden: Wenn Frauen in reine Objekte verwandelt werden, anonyme Kreaturen ohne eigenen Willen, ohne Namen und ohne spezifische Persönlichkeitsmerkmale. Wenn Frauen ausschließlich als Objekte dargestellt werden, dann werden sie eindeutig ent-menschlicht. Doch unsere Ablehnung dieser Art von »übler« Reduzierung sollte uns nicht dazu verführen, ins andere Extrem zu verfallen und jede Objektbildung abzulehnen. Wir sind keine körperlosen Seelen und würden uns wahrscheinlich auch gar nicht wohlfühlen, wenn wir solche wären.
Es geht also nicht darum, der ausschließlichen Subjektivität halber jegliche Objektbildung zu verwerfen, sondern beide Aspekte der menschlichen Existenz sollten integriert werden. Es geht darum, ein menschliches Subjekt zu bleiben, auch dann, wenn wir als erotisches Objekt aufgefaßt werden und umgekehrt. In einer sexuell reizvollen und dabei gleichberechtigten Erotik sind beide PartnerInnen gleichzeitig Subjekt und Objekt - sowohl füreinander als auch für sich selbst. Der hier vertretene Ansatz geht davon aus, daß beide PartnerInnen einander als sozial gleiche oder auf jeden Fall als gleichwertige anerkennen. Das klingt einfach, doch es ist gar nicht so leicht, überkommene Stereotype aufzugeben - und das gilt nicht nur für die Geschlechter- und Sex-Stereotype. Ein/e LiebhaberIn mit höherer Schulbildung mag sehr rasch bestimmte Annahmen über die geistige und emotionale Vielfalt der/des weniger »gebildeten« LiebhaberIn hegen; Menschen verschiedener Rassen werden alle Spannungen mitbekommen, die zwischen ihren beiden Rassen gesellschaftlich existieren, und sie können diese Spannungen nicht einfach ablegen, indem sie sagen: »Aber wir beide behandeln einander ausschließlich als Individuen«. Es ist unmöglich, so zu tun, als existierten die Unterschiede nicht, die eine solch starke soziale Bedeutung haben, und selbst wenn es möglich wäre, so besteht unsere Aufabe als Menschen, denen an Gleichheit gelegen ist, doch darin, soziale Ungleichheit auch in unserem Gefühlsleben abzuschaffen, nicht nur, sie zu ignorieren.
Es gibt heutzutage viele Frauen in den unterschiedlichsten Lebensumständen, darunter nicht nur eingeschworene Feministinnen, die genau das in ihrem Sexualleben tun: Sie versuchen, die gesellschaftlich erworbenen Ungleichheiten, die unser erotisches Leben bislang prägten, zu unterminieren. Es gibt auch manche Männer, die an diesem Vorhaben teilnehmen, gewöhnlich in Verbindung mit Frauen, die sie lieben. Führen wir also unsere Diskussion fort über erotische Gleichwertigkeit ohne identische Gleichheit, über erotische Unterschiede ohne Beherrschung - und zwar im spezifischen Kontext der Theorie und Praxis der Heterosexualität.