»Der Frauen-Anwalt« »Neue Bahnen«

Luise Büchner
DER FRAUEN-ANWALT

Ein jedes Jahrhundert hat seinen ihm eigenthümlich zugehörenden Charakter, seine besondere Richtung, die es verfolgt. Trug das vorige den Stempel der Aufklärung, so das unserige den der »ausgleichenden Gerechtigkeit«. Niemals, so weit unsere Geschichte reicht, hat man sich mit so allgemeiner Wärme der Schwachen und der Unterdrückten angenommen, niemals sich so selbstlos bemüht, die Mängel der menschlichen Gesellschaft an ihrer Quelle aufzusuchen und auszugleichen. Diese socialen Bestrebungen der reinsten Natur mußten nothwendigerweise auch zur Betrachtung der Verhältnisse führen, innerhalb deren sich die eine Hälfte der menschlichen Familie, die weibliche, bewegt. Konnte der Geist einer höheren »Gerechtigkeit« sich beruhigen, bei dem, was er erschaute? Gewiß nicht! Er sah ein langes Gefolge von Mangel, Entbehrung, Hunger, Schande, Frivolität, Unbildung, Verbildung, Arbeitslosigkeit oder Ueberhäufung der Arbeitslast den Lebensbahnen der unschuldigen Geschöpfe folgen, die so harmlos in's Leben hüpfen und so wenig geeignet sind, den Kampf mit ihm, »den Kampf um das Dasein« zu bestehen! Wo aber finden wir den Erlöser für die obengenannten Uebel? Er tritt in schlichtem Gewände einher, und heißt: Arbeit für Alle! Die Befähigung zur Arbeit, die Möglichkeit der Arbeit und das Recht die Arbeit zu wählen, die ihm zusagt, das ist die, allein dauernden Werth besitzende Morgengabe, welche der Geist des Jahrhunderts dem weiblichen Geschlechte in die Wiege zu legen sucht. — Die Frau soll hinfort von keiner Art der Arbeit, sei sie mechanischer oder geistiger Natur, mehr ausgeschlossen sein, für welche sie ihre Befähigung thatsächlich erwiesen hat. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es zweier Wege; einen, der ihr den Eintritt in solche Arbeitsgebiete eröffnen wird, die ihr bis dahin noch verschlossen waren, den andern, welcher sie für jede Art der Arbeit genügend vorbildet und erzieht. In diesen zwei einfachen Sätzen concentrirt sich zunächst Alles, was für die Lösung der »Frauenfrage« zu thun ist. - Bis zu welchem Grade diese Frage, sowie die von der künftigen socialen Stellung der Frau von höchster Bedeutung geworden ist, und wie sie die ganze civilisirte Welt in Bewegung setzt, wie sie selbst die vorzugsweise romanischen Länder, Spanien und Italien ergriffen hat, beweist der Umstand, daß in Italien bereits seit dem vorigen Jahre ein Blatt ins Leben trat, unter dem Titel: La Donna, die Frau. - Auch in Deutschland ist unser Unternehmen nicht das erste in seiner Art, in der umfassenden Weise jedoch, wie wir es auszuführen hoffen, noch neu. Gestützt auf den Vereinsverband, welcher sich bei der im Spätherbst 1869 zu Berlin stattgehabten Frauen-Conferenz begründet hat, tritt der »Frauen-Anwalt« in's Leben mit der klaren und festen Tendenz, fern von jeder Phrasenmacherei und jedem Aufstellen unnützer Theoreme, die wirklichen Bedürfnisse des weiblichen Geschlechtes in's Auge zu fassen und jene Erfahrungen zu verbreiten, welche zu der praktischen und endgültigen Lösung der aufgeworfenen Fragen führen. Wir dürfen um so mehr hoffen dieses Versprechen halten zu können, als an vielen Orten die That der Discussion bereits weit vorangeeilt ist, und von Seiten der verschiedenen Frauenvereine schon die vielfältigsten Versuche gemacht sind, wie und in welcher Weise das Loos der Frau zu erleichtern und aufzubessern sein möge. Weil aber nun auf diesem schwierigen und noch so wenig betretenen Gebiet der kleinste praktische Erfolg Hunderte von schönen Theorien aufwiegt, soll es die vornehmste Aufgabe unseres Blattes sein, fortlaufende Berichte zu bringen über Alles, was nicht allein in Deutschland, sondern ebenso in andern Ländern geschieht, zur Erreichung des Zieles, das wir Alle gemeinschaftlich anstreben. Durch eine solche übersichtliche Darstellung hoffen wir auch am meisten bei dem noch nicht betheiligten Publikum zur Aufklärung und zum Verständniß der Sache beizutragen. - Die Frauenfrage ist heute in Aller Munde, aber erst die Wenigsten wissen es genau, worum es sich eigentlich handelt, und haben nur unklare Vorstellungen davon, wie und in welcher Weise man bereits vorgegangen ist, und was noch zu thun bleibt. Soll aber unsre Zeitschrift den Sinn ihres Wortes im schönsten und weitesten Umfang erfüllen, so muß sich zu der obenerwähnten, höchst wichtigen, aber rein praktischen Seite des Unternehmens noch eine höhere Idee gesellen, muß sie ganz besonders die erziehliche Seite mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln zu vertreten suchen. Das A und das O aller unserer Bestrebungen für die Frau liegt in dem einen Worte Erziehung! Die ganze weibliche Erziehung muß eine andere werden, dann erst winkt ihr die rechte Erlösung durch die Arbeit. Alles, was man jetzt zu versuchen gedenkt, mit weiblichen Fach- und Gewerbeschulen, Fortbildungsanstalten, Universitäten - ist in die Luft gebaut, ehe nicht die Schule, die höhere, wie die niedere eine andre geworden ist, ehe nicht die weibliche Erziehung und Heranbildung in die Hände solcher gelegt wurde, die selbst dafür gründlich und zweckentsprechend vorgebildet sind. Der »Frauen-Anwalt« ist kein pädagogisches Blatt, aber wir fordern im weitesten Sinne die Kritik über das jetzt Bestehende und Unterlassene heraus, und weisen ihr eine Stelle darin an. An diese beiden wichtigen Punkte möge sich dann in dem Blatte noch manches Andere anreihen; vorerst ein Arbeitsmarkt, wo sich Nachfrage und Angebot begegnen können, dann eine Zusammenstellung und Kritik über die neuen Erscheinungen in der Literatur auf dem Gebiete der Frauenfrage, endlich Artikel technologischen, volks- und hauswirthschaftlichen Inhalts. - Ausdrücklich aber müssen wir hervorheben, wie das Blatt nicht vorzugsweise für einen Leserkreis von Frauen bestimmt ist. Nicht den specifisch weiblichen, den allgemein menschlichen Standpunkt wird es festhalten, und wir wünschen ihm darum nicht allein recht viele Leserinnen, sondern eben so viele Leser. Wie Vater und Mutter sich gemeinschaftlich über der Tochter Ausstattung, ihre Hoffnungen und Wünsche für die Zukunft berathen, so möge auch hier der Frauen-Anwalt, des weiblichen Kindes Recht auf eine würdige Stellung im Leben, auf eine dauernde Ausstattung durch Arbeit, auf eine höhere Befriedigung durch Bildung vertreten, und dabei ganz besonders der Vater sich daran erinnern, daß er nicht allein einen Sohn, daß er auch eine Tochter hat.
Nr. 1/1870

Franziska Essenther
DIE STELLUNG DER FRAUEN IN DER ZUKUNFT

So vielfach die soziale Stellung der Frauen in unsern Tagen erörtert wird, so verschieden sind auch die in dieser Hinsicht laut gewordenen Ansichten. Die Einen verdammen jede Neuerung in unnachsichtlicher Weise; die Andern sind geneigt, der nicht abzuleugnenden Erwerbsbedürftigkeit der Frauen Concessionen zu machen und ihnen einige Erwerbsgebiete, welche bisher Dominium der Männer waren, einzuräumen, ohne deshalb dem Prinzip, daß die Frau am Besten die Grenzen des Hauses nicht überschreiten sollte, untreu zu werden. Wieder Andere anerkennen die Ansprüche des Weibes auf eine partielle oder völlige Gleichberechtigung auf Grund der modernen freiheitlichen Institutionen und der Erfahrungen über die mannigfache Tüchtigkeit einzelner Frauen auf dem Felde der Wissenschaft und Kunst - der Politik und Humanität u.s.w. Die in's Unendliche variierten Differenzen zwischen den Anschauungen der Einzelnen mag sich davon herleiten, daß alle Grundsätze über die soziale Stellung des weiblichen Geschlechtes eine eminent subjektive Färbung haben. Es liegt so ziemlich in der Natur der Sache, daß gerade in dieser Beziehung Jedermann nach seinen persönlichen Gefühlen und Erfahrungen urtheilt. Die Männerwelt ist in den meisten Fällen den Bestrebungen der Frauen feindlich oder doch ungünstig gesinnt, aus dem wenn auch keineswegs edlen, so doch begreiflichen Motive, daß sie ungern auf das Privilegium verzichtet, in der Oeffentlichkeit ausschließlich zu herrschen und das weibliche Geschlecht sich untergeordnet zu sehen. Ueberdies vermag nur ein besonders edel gearteter Mann das Glück zu verstehen, mit einer an Rechten und geistiger Bedeutung ihm gleichstehenden Frau verbunden zu sein. Den glücklich vermählten Frauen geht großentheils der Sinn für jene soziale Frage ab, welche für so viele ihrer Mitschwestern eine Existenzfrage ist. Im Gegensatz werden wieder viele Andere erst durch persönliche Bedrängniß auf das Gebiet selbständiger Erwerbsthätigkeit gedrängt und bringen subjektive Verbitterung anstatt der Begeisterung mit. So entsteht aus einer eng verknüpften Reihe von Faktoren jener Widerstreit von Meinungen einerseits und die seltsame Indifferenz eines großen Theils der Frauen in Sachen ihres eigenen Geschlechtes. Wie dem immer sei, die entschiedene, wenn auch langsam und geräuschlos sich entwickelnde Revolution in der Stellung der Frauen ist eine Thatsache. Bedingt und hervorgerufen ist sie durch unsere sozialen Verhältnisse im Allgemeinen; sie entspricht dem Geiste unserer Zeit, sie wird ihren Verlauf nehmen, ob man gegen sie eifere und sie aufzuhalten suche oder nicht. Was dieser Bewegung abgeht, was den strebenden und denkenden Frauen schmerzlich mangeln muß - wenn sich auch nicht Alle dieses Mangels bewußt sein mögen - das ist das Ideal, ein festgezeichnetes Ideal, das man lieben, auf das man hoffen kann. - Es wird anders mit der Stellung der Frauen, das ist Thatsache. Man errichtet ihnen Hochschulen, um sie zu ehrenvoller Thätigkeit im Handels-, im Verkehrswesen und im kunstgewerblichen Fache auszubilden; man läßt sie zu verschiedenen, wenn auch untergeordnete Aemtern zu; man öffnet ihnen allgemach die Pforten der Hochschulen-----es wird anders! Aber wie weit wird diese Aenderung, diese Neuerung gehen, wie werden sich die Frauen dazu verhalten, wie wird ihre Stellung in der Zukunft im Allgemeinen und Besonderen beschaffen sein, wie vor Allem wird die Frau der Zukunft selbst erscheinen? Die Antwort auf diese schweren Fragen bleibt der Gegenstand alles Zweifels und wohl muß dies lähmend auf alle strebenden Frauen und die aufrichtigen Freunde derselben wirken. Stuart Mill, der glückliche Gatte einer herrlichen geistvollen Frau, allerdings zögert nicht, solche Fragen im weitgehendsten und günstigsten Sinne zu beantworten. Arthur Schopenhauer, dessen hämischer Haß gegen das Weib einer unglücklichen Liebe entspringt, würde sie mit negirender Bosheit widerlegen. In der That ist es kaum möglich, eine vollbefriedigende positive Antwort auf solche Fragen zu finden, da die Emanzipation der Frauen eine Erscheinung modernsten Geistes ist, da die Frauen, so wie es heute bereits der Fall, noch niemals in die Oeffentlichkeit getreten sind und unsere Lehrmeisterin Geschichte uns über diesen Punkt, - vereinzelte, wenn auch noch so charakteristische Erscheinungen ausgenommen, keinen Aufschluß zu geben weiß. Dennoch wollen wir nicht ganz darauf verzichten, ideale Ziele und Zwecke, wie sie von Frauen in der Zukunft vielleicht und wahrscheinlich leuchten werden, auf dem Nebelgrund ferner Zeiten zu fixiren. Wir vermögen das, indem wir den ewig idealen Gehalt alles Frauendaseins in unser Bewußtsein rufen und mit der Strömung des Tages, welche die sogenannte Frauenfrage trägt, zusammenhalten. Ja, das Frauenleben hat einen ewigen idealen Gehalt, welchen Zeit und Sitte niemals schmälern dürfen; das Weib hat eine geheiligte Mission, welche höher steht, als alle Ehren und Würden die es erstreben mag; diese herrliche, erste und einzige Mission ist die Liebe. Es mag befremdend scheinen, daß dies Wort hier ausgesprochen wird, wo die nüchterne praktische Erörterung am Platze schien, und doch ist es der Zweck dieser Zeilen, zwischen die Extreme, welche durch das ideale Weib und das Weib im praktischen Leben bezeichnet werden, eine Vermittelung zu versuchen. In der That wüd der Name der Liebe oft eitel genannt. Man verweist die Frauen auf die Liebe und drängt sie liebevoll von der Tafel des Lebens. Dennoch ist es ewig wahr - die Liebe ist die eigentliche Aufgabe der Frauen. Darum aber, wie es häufig genug geschieht, behaupten zu wollen, daß durch diese Wahrheit das Problem von der Stellung der Frauen gelöst sei, das ist ein schwerer Irrthum. Wenn man den Frauen sagt, sie sollen nicht selbständig streben und arbeiten, sie sollen darauf verzichten, im Falle der Noth oder eigener Veranlagung sich eine Existenz zu gründen, sie sollen nur lieben so heißt dies, sie mit jener Ironie behandeln mit welcher Zeus den Poeten in seinen Himmel lud, da die Gaben der Erde schon vertheilt waren. Ja, die Liebe ist das höchste Glück des Weibes. Jede Frau, mag sie noch so Großes geleistet und errungen haben, der es nicht vergönnt war, irgend wie ein Wesen durch Liebe zu beglücken, sei es auch nur als Freundin, als Schwester, als Beschützerin, oder in welcher Form immer, sie ist arm und elend und ihr Leben ist mehr oder minder ein verlorenes. Auch giebt es keine Größe, keine Ehre, keine Würde überhaupt, welche der der Liebe gleich käme - denn die Liebe ist die Blüthe der Menschheit, ist der echte Himmelglanz, welcher die Menschen heiligt und beseligt. Die Liebe ist vom Himmel, ist göttlich und daß sie die eigentliche Mission der Frauen, das giebt ihrem Geschlechte die unvergänglichste Weihe. Darum aber, weil diese Mission des Weibes eine so ganz ideale, ist es eitel, sie durch Sitte und Gesetz normiren zu wollen. Das Leben tritt an das Weib mit einer Reihe realer Anforderungen unerbittlicher Art heran und diese haben und verlangen ihr Recht. Wir wollen darunter keineswegs die materielle Brodfrage allein verstanden haben, sondern ebenso die Bildungs- und Rechtsfrage. Der Beschränkung der Frau erwächst die Beschränktheit, die Geringschätzung ihrer Leistungen, die Mißachtung ihrer Fähigkeiten. Unser soziales Leben ist ein vergängliches Ganzes - wenn man die Frau hindert, das eine Glied der Kette zu ergreifen, so verliert sie bald den Kontakt mit dem Ganzen und steht außerhalb des Kreises. Und doch fordert die Zeit so häufig von ihr, daß sie auf der Höhe ihres Daseins stehe. Wenn die Frauen nur der Liebe leben sollten, so dürften sie nicht Bürgerinnen der Erde, sondern müßten geflügelte Wesen sein, deren eigentliche Heimath der Aether ist. Die Erde, unsere Welt fordert unerbittlich ihr Recht. Sie rächt sich grausam, wenn man auf ihre Kosten dem Ideale giebt was des Idealen. Daher ist es ein schwerer Irrthum, die Frau um ihrer idealen Mission wegen von realen Rechten auszuschließen. Entweder ist die Frau von der Natur zu öffentlicher Thätigkeit berufen, oder sie ist es nicht. Im ersteren Falle darf man ihr die Ausübung staatsbürgerlicher Rechte nicht vorenthalten, im zweiten Falle ist das Verbot gänzlich zwecklos, da das Weib dann im Kampf um's Dasein mit dem Manne nicht konkurriren kann und nicht konkurriren wird. Wir meinen, daß die Frau so oft und immer, als die Umstände es ihr gestatten, den häuslichen Beruf, die ausschließliche Mission der Liebe wählen wird. Sie wird immer gern auf Ruhm und Ehren, auf die Ausübung öffentlicher Rechte verzichten, um ganz einem geliebten Gatten zu leben. Doch muß man ihr die Wahl, das Recht der freien Selbstbestimmung belassen. In der That trägt das Weib seine eigenen und von denen des Mannes wesentlich verschiedene Daseinsgesetze in sich; man lasse diesen ihre freie Entwicklung und erspare der Frau die Bevormundung durch Verbote und geschlechtliche Ausschließungen. Der prohibitive Charakter unserer Gesetze ist nicht nur eine Schmach für das Weib, er ist eine Schmach für unsere Zeit und unsere Nachkommen werden diesen Barbarismus belächeln oder verdammen, wie wir es mit manchen Institutionen der guten alten Zeit thun. Die Frau von der Erlangung einer wissenschaftlichen Würde, eines Ehrenamtes von staatsbürgerlichen Rechten auszuschließen, nur weil sie, ein Weib ist, sie mit Unmündigen und abgestraften Individuen in eine Kategorie zu stellen, ist nichts als eine Beschimpfung des weiblichen Geschlechtes. Diese Maßregel setzt geradezu eine ungebändigte Natur des Weibes voraus, welche ängstlich in den Schranken gehalten werden müßte, damit sie nicht in Ausschreitungen verfalle. Und doch existiren die »Ausschreitungen« der Frauenemanzipation nur in Lustspielen, Romanen und im Gehirn gereizter Gegner der emanzipirten Frau. Die völlige Gleichberechtigung der Frauen in politischer, sozialer und geistiger Beziehung ist wohl nur eine Frage der Zeit, - möglicherweise einer noch recht fernen Zeit. Weshalb der Prozeß sich so langsam vollzieht, hat Stuart Mill treffend nachgewiesen. Den Frauen der Zukunft werden nicht nur möglicherweise das allgemeine Stimmrecht, sondern auch der Zugang zu öffentlichen Aemtern und jede wissenschaftliche und humanitäre Laufbahn offen stehen. Dennoch wird damit keineswegs, wie es jetzt befürchtet wird, die »soziale Ordnung auf den Kopf gestellt werden«, sondern es wird sich die faktische Stellung der Frauen wesentlich wenig ändern. Die Frauen werden sich im Großen niemals in das öffentliche Leben drängen, sie werden vorherrschend ihrer echt weiblichen Mission treu bleiben. Jedoch wird für einzelne Talente auf jedem Gebiete freie Bahn geschaffen und die Frauen, welche darauf angewiesen sind, sich eine eigene Existenz zu gründen, werden dies müheloser und ehrenvoller vermögen, als jetzt. Von dem ganzen Geschlechte aber wird der Fluch ewiger Unmündigkeit genommen sein und es wird die Mission der Liebe im Geiste der Freiheit und inneren Reife üben!

CHRONIK
OESTERREICH

Wien. Seit dem 1. Dezember vorigen Jahres existirt in Wien eine aus Staatsmitteln begründete Anstalt zur Bildung von Lehrerinnen, während die Lehrerinnen-Bildungsanstalt bei den Ursulinerinnen, welche sich geweigert hatten, geprüfte Professoren oder Lehrerinnen zum Unterricht zuzulassen, geschlossen worden ist. In Folge des jetzt in Wien stattfindenden Setzer-Strikes, haben sich mehrere Buchdruckereibesitzer an den Wiener Frauen-Erwerbverein gewendet, um mit dessen Hilfe Buchdruckerei-Schulen für Frauen einzurichten, wie solche bereits in anderen Städten Oesterreichs, namentlich auch in Prag existiren, wogegen man sie in Wien bis jetzt dem Vorurtheil noch nicht abzuringen vermochte. So erfreulich die dadurch eröffnete Aussicht für die Erweiterung der weiblichen Arbeitsgebiete nun auch ist, haben sich doch mit Recht Bedenken erhoben, ob es richtig sei, gerade einen Strike zum Ausgangspunkte einer derartigen Einrichtung zu machen,  da durch die Erweiterung der Arbeitsgebiete der Frau ja kein feindliches Verhältniß zu den Männern geschaffen, keine Herabdrückung des Lohnes bewirkt werden, sondern im Gegentheil für Männer und Frauen gemeinsam ein besseres, menschenwürdigeres Dasein geschaffen werden soll.

AMERIKA
In Amerika sind in letzterer Zeit abermals sehr viele Frauenconvente abgehalten worden. . . . Auf allen diesen Conventen trat wiederum der Unterschied zwischen der europäischen und amerikanischen Frauenbewegung recht scharf hervor, denn es war in allen fast ausschließlich von der Erlangung der politischen Rechte für die Frauen die Rede, während man in Europa und ganz besonders in Deutschland zunächst und vor allen Dingen die gleiche Berechtigung der Frau zur Arbeit und zur Ausbildung zu den verschiedensten geistigen und technischen Zweige derselben betont. In Wyoming in den Vereinigten Staaten ist vor einiger Zeit eine Frau zum Friedensrichter ernannt worden. Ein Korrespondent des »Newy. World« widmet dieser Dame eine ausführliche Beschreibung: Frau Morris ist von Mittelgröße, sie hat markirte männliche Züge und ihre ganze Erscheinung deutet auf Stärke des Charakters und der Muskulatur. Sie ist 57 Jahre alt und macht daraus durchaus kein Hehl, und ihr Charakter hat, man darf wohl sagen immer etwas Männliches gehabt. Bei dem ersten Gerichtstage, den sie abhielt, trug sie ein Kattunkleid, einen gehäkelten Frühstücksshawl, grüne Bänder im Haar und ein grünes Band um den Hals. Es ging bei dieser Gelegenheit nicht ohne einige geringe Schwierigkeiten ab, indem der vorige Richter einige Papiere nicht zur Stelle geschafft hatte und ohne Weiteres von seiner Nachfolgerin eingezogen wurde. Als indessen sein Vertheidiger nachwies, daß die Verhaftung formell der Berechtigung entbehre, zögerte die Richterin keinen Augenblick ihm seine Freiheit wiederzugeben.
Nr. 1/1870

 

Neue Bahnen

Marie Hecht

DIE FRAUENBEWEGUNG
UND DIE POLITISCHEN PARTEIEN

Die Bildung einer neuen politischen Partei steht bevor. Die nicht konservativen Christlichsocialen oder Nationalsocialen werden am 22. November in Erfurt zusammenkommen, um sich eine feste Parteiorganisation zu geben. - Auch Frauen sind als Delegierte zu kommen aufgefordert, eine Frau (Fr. GnauckKühne) wird in der Versammlung sprechen. Im Programmentwurf der sich bildenden Partei steht der Satz: »Wir sind für Regelung der Frauenfrage im Sinne weiterer Zulassung des weiblichen Geschlechts zu geeigneten Berufen und größerer Sicherung seiner persönlichen und ökonomischen Stellung auf dem Boden des bürgerlichen Rechts.« Die neue Partei nimmt nicht nur Stellung zur Frauenfrage; sie fordert die Frauen zum Anschluß auf.
Fast zu gleicher Zeit hat diejenige der bisherigen politischen Parteien, die sich stets der Frauenbewegung günstig zeigte, die Socialdemokratie, auf ihrem Parteitage in Gotha die Solidarität der Interessen der Genossen und Genossinnen schärfer als bisher betont. Auch die anderen Parteien werden bei ihrer gänzlichen Nichtbeachtung der Frauenbewegung nicht verharren; dafür mehren sich die Anzeichen. - Es wird freilich noch viel Wasser den Berg hinunterlaufen, ehe wir ein Entgegenkommen von dieser Seite zu erwarten haben; über unsere Stellungnahme zu einem solchen haben wir uns noch keine Sorge zu machen. - Aber die Frage, ob ein Anschluß der Frauen an eine der politischen Parteien für unsere ganze Bewegung wünschenswert sei, wird in dem Augenblicke akut, als auch nur eine Partei sich bereit zeigt, eine Gruppe der Unsrigen aufzunehmen. —
Eine Verpflichtung für uns Frauen, unserer politischen Meinung Ausdruck zu geben durch öffentliche Erklärung unserer Zugehörigkeit zu einer Partei, ist selbstverständlich nicht vorhanden. Wir haben weder politische Rechte, noch politische Pflichten.
Aber es erscheint uns oft als moralische Pflicht, was kein bestimmtes Gesetz uns auferlegt, und dieses Pflichtgefühl wird verstärkt, wo unsere Neigung mit ihm Hand in Hand geht. — Wenn die Frau sich zu einer in sich geschlossenen Persönlichkeit herausarbeitet, so muß sie in einem Zeitalter, in welchem die Politik so sehr das Gesamtleben der Völker durchdringt, auch eine eigene politische Ueberzeugung zu gewinnen trachten, und der Wunsch, einer solchen Ausdruck zu verleihen, ist ebenfalls berechtigt. - Auch wird die selbständige Geschäftsfrau die Interessenpolitik verfolgen und je nachdem den agrarischen, den großkapitalistischen, den auf die Hebung des Handwerks, den Schutz der Arbeit gerichteten Bestrebungen ihre Teilnahme bezeugen wollen. —
Doch maßgebender als diese individuellen, die einzelne Frau angehenden Erwägungen würden drei Gesichtspunkte sein, von denen aus eine Annäherung an die politischen Parteien als unserer Bewegung förderlich, unsern Zielen entsprechend erscheinen könnte. Erstens: Durch das Zusammengehen mit Männern in politischen Dingen möchten wir vielleicht Freunde unserer Sache gewinnen und die ganze Frauenfrage einer schnelleren Lösung entgegenführen. —
Zweitens: Unsere Arbeiten auf socialem Gebiet würden eine festere Grundlage erhalten. Drittens: Es wäre möglich, daß unser Einfluß zur versöhnlicheren Haltung der Parteien führte.
Der erste Gedanke würde schwer ins Gewicht fallen, wenn wir auf die Verwirklichung seines Inhalts sicher rechnen dürften. Daß die Zahl der gerecht und edeldenkenden Männer, die bei der einen oder der anderen Forderung uns unterstützt, beständig wächst, wissen wir, aber können wir jetzt schon bei der Gesamtheit der Männer oder auch nur bei einem größeren Bruchteil derselben ein volles Verständnis unseres Strebens, eine richtige Würdigung unserer ganzen Bewegung, eine unbedingte Mitarbeit auf unser Ziel hin hoffen? — Noch nicht! - Wir verlangen sehr viel von den Männern; wir verlangen das Aufgeben einer ihnen als zu Recht zugestandenen Herrscherstellung, das Zulassen der Frau zu dem Konkurrenzkampf, der ihnen schon an sich schwer genug gemacht wird, die Umgestaltung von Theorien und Anschauungen, die durch jahrhundertelange Sitte und altbewährten Brauch geheiligt erscheinen, selbst, wenn sie unheilige sind. Reformen, die von den Imbesitzseienden Opfer heischen, können sich nur langsam und anfangs unvollkommen durchsetzen. Wie langsam, wie unvollkommen, das haben wir erfahren, selbst da, wo man uns entgegen zu kommen schien. Ein anderer bestimmender Grund könnte der sein, daß wir Frauen mithelfen wollen an der Hebung der socialen Mißstände, um durch unsern Anschluß an eine der politischen Parteien einen sicheren Boden für unsere Bestrebungen zu gewinnen. — Ich sage absichtlich nicht eine der socialistischen Parteien, denn auch die alten Parteien versuchen eine Lösung der socialen Frage, nur nach ihrem Programm und in ihrem Sinne.
Der Kampf der Parteien ist ein Kampf um den Einfluß auf die Gesetzgebung. - Auf dem Felde haben die Frauen gegenwärtig noch nichts zu thun, auf ihm werden sie noch lange im Schlepptau mitlaufen. Es fehlt uns nicht nur die politische Schulung, es fehlt der großen Mehrzahl der Frauen noch die Fähigkeit eines weiteren Ueberblicks über alle Gestaltungen des Staats- und Gesellschaftslebens, des Sichloslösens von den umgebenden Verhältnissen. Wir sind noch nicht Theoretiker. Die Forderung, mitbestimmend zu wirken bei Gesetzen, die uns selber angehen, deren Tragweite für unser Geschlecht nur wir zu ermessen imstande sind, muß uns früher oder später gewährt werden, aber darauf werden wir uns für jetzt zu beschränken haben. Unsere sociale Arbeit wird immer eine praktische sein. Wir werden Erfahrungen für die Legislatoren sammeln, Material für die Gesetzgebung herbeitragen, Organisationen in stiller Thätigkeit bilden,    Uebelstände   geduldig   abzustellen oder zu mildern suchen, Wohlfahrtseinrichtungen in gewissenhafter Sorgfalt bedenken oder zur Ausführung bringen. Zu solchen Arbeiten sind wir freier, wenn wir nicht als zu einer bestimmten Partei gehörig betrachtet werden, wir können freier mit Männern verschiedener politischer Richtung zusammenwirken. —
Würden wir Frauen endlich durch lebhaftere Teilnahme am politischen Leben zu einer versöhnlicheren Haltung der Parteien beitragen?
Kampf zwischen den Parteien muß sein, aber gehässig, persönlich sollte dieser Kampf nicht geführt werden, der Gegner sollte nicht verdächtigt, beschimpft, mit schmähenden Ausdrücken belegt werden, wie es auf den Rednertribünen und in den Preßorganen sämtlicher Parteien geschieht. Wenn wir dem Dichter glauben wollten, so wäre es unsere Aufgabe und Beanlagung, solche Zwietracht zu löschen; wenn wir jedoch die Erfahrungen, die wir in uns und um uns machen, reden lassen, so ist's anders. - Wir Frauen entbrennen vielleicht nicht da, wo die Männer es thun, aber wir sind ebenso leidenschaftlich. Wir haben es bewiesen, daß wir die Person von der Sache zu trennen verstehen, aber es geschieht nicht immer - häufiger noch als bei den Männern. - Bis auf einzelne Ausnahmen wären wir zum mindesten unsichere Faktoren zur Herbeiführung eines vornehmeren und edleren Parteikampfes. - Vollends zu einer Annäherung der Parteien könnten wir auch nichts beitragen, wenn wir einer einzelnen Partei angehörten, auf ihr Programm gleichsam eingeschworen wären. Die Leiterinnen des jüngst gehaltenen internationalen Kongresses mochten immerhin den Socialdemokratinnen entgegenkommen, sie einladen zum Kongreß; die Aussprache in der Sektionssitzung zwischen den Führerinnen hüben und drüben mag sehr interessant gewesen sein, die Antwort auf diesen Annäherungsversuch war das Wort der Frau Zetkin in Gotha: »Die Frauenrechtelei der bürgerlichen Frauenbewegung will mit ihren Reformen dem Proletariat bloß den Mund stopfen. Wir aber wollen mit der ganzen bürgerlichen Gesellschaft den Kehraus machen.« - Frau Zetkin konnte als politische Parteifrau nicht anders sprechen. 
Sie ist eine bewußte, überzeugte Socialdemokratin und noch hat die Socialdemokratie den Standpunkt von Marx und Engels nicht aufgegeben. Wer mit der heutigen Gesellschaft paktieren, bei Reformen mithelfen und den großen Kehraus aufhalten will, bröckelt von der Partei ab.
So stehts. Einen namhaften Gewinn für unsere Bewegung - denn ich spreche nur in Beziehung auf diese, nicht auf unsere individuelle Entwicklung - können wir Frauen gegenwärtig durch unsern Anschluß an eine politische Partei, in die wir mit leeren Händen, ohne Votum, also vollständig machtlos einträten, nicht erhoffen, wohl aber hätten wir dadurch eine Schädigung zu fürchten.
Es liegen schon innerhalb unseres Bundes ich meine die Verbindung aller Gesinnungsgenossinnen — genug Elemente, die trennend und gruppenbildend wirken. Wir scheiden uns in Frauenrechtlerinnen der jüngeren radikaleren Richtung, die ungestümer, mit schmetternden Fanfaren vorrücken und in die Gemäßigten, die langsam und stetig fortschreiten wollen und den Hauptnachdruck auf die stille Arbeit legen, in Großstädter und Provinzler, die bei ihrem Wirken mit ganz anderen Faktoren zu rechnen haben, in Süd- und Norddeutsche, bei denen die Temperamentanlage zu verschiedener Auffassung führt; wir scheiden uns, aber wir sind und bleiben - vereint, weil unsere Ziele dieselben sind. - Ganz dieselben. Die einen fassen vielleicht immer den nächsten, die anderen den letzten Haltepunkt ins Auge, doch es ist derselbe Weg. Die Politik würde uns auseinander reißen, indem sie uns verschiedene Ziele aufstellte. Und wir haben noch sehr viel vereint zu thun. — Wenn bei unsern Frauentagen, wie in Nürnberg, in Frankfurt a.M. und kürzlich beim internationalen Kongreß sich Hunderte zur Mitarbeit, Hunderte und abermals Hunderte als teilnehmende Zuhörerinnen versammeln, dann sieht das sehr imponierend aus. Wir wissen indes, welch ein verschwindend kleiner Bruchteil deutscher Frauen unserer Bewegung angehört. Unsere nächste Aufgabe ist es, uns jene Frauen der oberen Stände zu gewinnen, die ihre Sonderstellung noch nicht aufzugeben vermögen, die eine Aenderung ihres Genußlebens  fürchten.  Es  gilt  auch,  die tüchtigsten Mütter und Gattinnen zu gewinnen, die ihren Pflichtenkreis treu ausfüllen, denselben aber eng, sehr eng ziehen, und vor allem haben wir zu gewinnen die Arbeiterinnen des vierten Standes. - Nicht die Socialdemokratinnen, das ist verlorene Liebesmüh. Aber der überzeugten bewußten Genossinnen giebt es nicht viele. Das Gros der Frauen des vierten Standes sucht unklar, unsicher den Druck der Not empfindend, aber die Mittel der Abhilfe nur ahnend, den Weg aus dem Dunkel hinaus. Diese alle haben wir an uns zu ziehen, uns mit ihnen zusammenzuschließen, indem wir sie von der Solidarität der Interessen aller Frauen, unserer Zusammengehörigkeit zu überzeugen suchen durch Wort und That.
Welche weiten Gebiete socialer Thätigkeit uns offen stehen, in welche die Politik ihre Lichter und Schatten nicht wirft, ist wohl kaum erforderlich hervorzuheben. Und daß wir auf solchem Felde Schulter an Schulter mit den Männern arbeiten können und zu arbeiten verlangen, daß diese Arbeitsgenossen Kampfgenossen für unser Recht werden dürften, darauf habe ich schon hingewiesen. Ich thue es aber noch einmal, damit mein Standpunkt nicht mißverstanden werde und betone ausdrücklich, daß ich den Wert einer gemeinsamen Arbeit beider Geschlechter sehr hoch anschlage.
Die Frauenbewegung ist nur eine, nicht eine bürgerliche, eine proletarische, sie ist eine Bewegung aller Frauen auf ein Ziel hin.
Sie ist naturgemäß von allgemeinern Gesichtspunkten ausgegangen, um immer schärfer die Bedürfnisse einzelner Stände und Berufsklassen ins Auge zu fassen.
Jetzt ist der Kreis zu übersehen, der die Interessen und Forderungen der Frauen aller Stände in sich vereint. Hüten wir uns, ihn in Kreisausschnitte zu trennen, die ihreSpitzen gegeneinander kehren könnten.
Sich politischer Rechte würdig zu erweisen, politische Pflichten auf sich zu nehmen, wird die Aufgabe künftiger Generationen von deutschen Frauen sein. Wir haben die unsrige zu erfüllen.
Nr. 23/1896

BRIEFE

Berlin. Der Berliner-Frauenverein, der am 1. März 1894 im engen Anschluß an den Allgemeinen Deutschen Frauenverein gegründet worden ist, hat trotz der kurzen Zeit seines Bestehens eine vielseitige, erfolgreiche Thätigkeit entwickelt. Die Ursache dieser erfreulichen Erscheinung ist in der Zusammensetzung des Vorstandes zu suchen: den Vorsitz führt Frl. Helene Lange, die von einer größeren Anzahl klar sehender, gewissenhafter Frauen umgeben ist, welche ihrerseits wie ihre Führerin auf dem Boden der gemäßigten Frauenbewegung stehen.
Vom 1. Oktober 1894 bis 30. September 1895 fanden 10 Versammlungun des 210 Mitglieder zählenden Vereins statt. Die Damen Lange, Mellien, Dr. Schubert-Feder, Friberg (Helsingfors), Chatterton (Neu-Seeland), die Herren Karl Voelter, Dr. Lange hielten Vorträge, die sämtlich die Pflichten und Rechte, sowie das Schaffen und Wirken der Frauen zum Gegenstand hatten.
In der November-Sitzung 1894 beschloß der Verein auf Antrag des Vorstandes, die bisher in der Poliklinik von Frl. Dr. Tiburtius und Frl. Dr. Lehmus angeschlossene Krankenpflegestation für unbemittelte Frauen in seine Verwaltung zu übernehmen und durch eine bestimmte Summe jährlich zu unterstützen. Sie befindet sich in der Bülowstraße 14 bei Frl. Knopp und besteht einstweilen aus einem geräumigen Zimmer mit vier Betten. Die ärztliche Pflege der Patientinnen haben wie bisher die Damen Dr. Tiburtius und Dr. Lehmus unentgeltlich übernommen. Die Leitung der »Krankenpflegestation des Berliner Frauen-Vereins« steht unter einem Komitee, bestehend aus den Damen: Frau Dr. Tiburtius als Vorsitzende, Frl. Mary Muchall, Frl. Dr. Tiburtius, Frl. Helene Lange und Frau Stettiner. Zum besten dieser segensreichen Anstalt gab Herr Dr. Oskar Schneider im Dezember 1894 ein geistliches Konzert in der Dreifaltigkeitskirche, dessen bedeutender Reinertrag der Kasse der Station überwiesen wurde. In der Anstalt wurden im Laufe des Jahres 39 Kranke (32 verheiratet, 7 unverheiratet) verpflegt. Von diesen bestritten 16 ihren Unterhalt selbst, weil sie einer Krankenkasse angehörten; die übrigen 23 Frauen wurden teils ganz auf Kosten des Vereins verpflegt, teils durch Beiträge aus der Vereinskasse zu den Unkosten unterstützt. Die Zahl der Pflegetage betrug insgesamt 538. - Der Rechtsschutz des Vereins entfaltete in diesem Jahr eine sehr rege Thätigkeit. Acht Rechtsanwälte hatten die Güte, den von den Damen der Kommission an sie empfohlenen Frauen ihren juristischen Rat zu erteilen. Der Rechtsschutz wurde in 225 Fällen in Anspruch genommen, besonders häufig in Ehescheidungs- und Mietsangelegenheiten.
In der Oktobersitzung 1894, welcher Herr Geh. Regierungsrat Krohne als Gast beiwohnte, wurde gewissermaßen unter der Aegide dieses Herrn und durch seinen sachverständigen und wohlwollenden Rat unterstützt eine Kommission für Gefängniswesen ins Leben gerufen. Sie hat sich die Aufgabe gestellt, für weibliche, besonders jugendliche Strafgefangene geistige und materielle Hilfe zu schaffen. Um diese Thätigkeit praktischer und erfolgreicher zu gestalten, hat sich unser Verein an den seit 1828 bestehenden sehr verdienstvollen »Verein zur Besserung der Strafgefangenen« angeschlossen (mit einem Jahresbeitrag von 15 Mark). Seit dem Januar d. J. wohnen regelmäßig eine bis zwei Delegierte des Vereins den Sitzungen des letzteren bei, wodurch die Kommission in steter Fühlung mit ihm geblieben und durch seine reiche Erfahrung und den Einblick in seine großartige und zweckmäßige Organisation, wie durch seine freundliche Unterstützung in ihrer eigenen Arbeit wesentlich gefördert worden ist. Auf eine Eingabe des Berliner Frauen-Vereins vom 22. Juni d. J. hat der Herr Justizminister geantwortet, daß er versuchsweise den vier Mitgliedern der Kommission des Berliner Vereins: Frl. Mellien, Frau von Bültzingslöwen, Frau Dr. Schubert-Feder und Frl. Marie Gottheiner gestatten will, »einmal wöchentlich die jugendlichen Gefangenen im Weibergefängnis in der Bornimstraße in ihren Zellen zu besuchen und sich mit ihnen zum Zweck der Fürsorge zu unterreden«. Diese Besuche haben im August begonnen und finden regelmäßig jeden Dienstag von 3-5 Uhr nachmittags statt und wurden bis jetzt hauptsächlich Kindern von 12-13 Jahren gewidmet. Die Kommission hat außerdem mehreren Strafentlassenen Frauen Arbeit und Stellung verschaffen können. Außerdem besuchen einige Damen die Pflege- und Besserungsanstalten und treten mit den Leitern derselben in Verbindung, um vorkommenden Falles bei Unterbringung eines armen Kindes den richtigen Ort wählen zu können. Der Berliner Frauen-Verein sandte im vorigen Winter je eine Petition an den deutschen Reichstag und an das preußische Abgeordnetenhaus, um Zulassung der Frauen zum Universitätsstudium. Die erstere wurde wegen frühzeitigen Schlusses der Tagung unerledigt zurückgeschickt, die letztere dagegen vom Landtage der kgl. Staatsregierung zur Erwägung überwiesen. Außerdem beteiligte sich der Verein an der Petition des »Bundes deutscher Frauen-Vereine« um Anstellung weiblicher Fabrikinspektoren. Bei der 1. Versammlung des Bundes im April 1895 war der Verein in München durch Frl. Helene Lange und Frau von Bültzingslöwen, bei der des Allgem. Deutsch. Lehrerinnenvereins in Darmstadt (September 1895) und des Allg. Deutschen Frauenvereins zu Frankfurt a.M. (Oktober 1895) durch seine erste Vorsitzende vertreten. In letzterer Versammlung wurde Frl. Helene Lange zur zweiten Stellvertreterin der Vorsitzenden gewählt, wodurch fortan das Band, das uns mit dem Muttervereine, der zugleich der älteste Frauenverein Deutschlands ist, verbindet, noch inniger und fester werden wird.

Leipzig Frau Regierungsbaumeister Krause setzte, unterstützt von einigen anderen Damen, Ende November ein Schreiben an die bedeutenderen Kaufleute, in welchem diese ersucht wurden, den Verkäuferinnen während den geschäftsfreien Zeiten das Sitzen zu gestatten, in Bewegung, zunächst um Unterschriften zu sammeln. Ursprünglich war beabsichtigt, dieses Schreiben nur Damen zur Unterzeichnung vorzulegen, aber auch Herren, besonders Aerzte wünschten dasselbe zu unterzeichnen. In wenigen Tagen waren viele Hunderte von Unterschriften gesammelt, selbst Reichsgerichtsräte unterzeichneten. In dem letzten Absatz des Schreibens war gesagt worden, daß die Unterzeichneten vorzugsweise von denjenigen Kaufleuten Ware beziehen wollten, welche den in dem Schreiben ausgesprochenen Wunsch erfüllen würden. An diese Mitteilung klammerte sich eine Anzahl von Kaufleuten, um eine Versammlung einzuberufen, in der die Erklärung abgegeben wurde, daß dieses Verfahren der Unterzeichner entschieden zurückzuweisen sei, denn es müsse als eine Art Boykott bezeichnet werden. Allerdings sei ja unbedingt den Verkäuferinnen das Sitzen während der Zeit, in der sie weder zu verkaufen, noch Ladenarbeiten zu verrichten hätten, zu gestatten, aber die Drohung sei auf das Entschiedenste zurückzuweisen. 183 der ersten Firmen erklärten jedoch, ohne irgend welche Entrüstung zu zeigen, entweder, daß in ihren Geschäften den Verkäuferinnen das Sitzen längst gestattet sei, oder daß sie in Bälde die betreffenden Einrichtungen treffen würden. Mithin dürfen die unermüdlichen Bemühungen der Frau Krause als durchaus erfolgreich bezeichnet werden, denn es galt in erster Linie die großen Firmen zu gewinnen. In den kleineren Geschäften besteht das Verbot des Sitzens weit seltener, schon weil die Inhaber der Geschäfte ebenfalls am Ladentisch als Verkäufer stehen. So hat es sich wieder gezeigt, daß durch den festen Mut und das warme Mitgefühl einer Vertreterin der Frauenbewegung den arbeitenden Schwestern kostbare Minuten des körperlichen Ausruhens und der notwendigen Erholung verschafft worden sind. Wien. Der Rechenschaftsbericht über das 29. Vereinsjahr des Wiener Frauen-Erwerb-Vereins wurde am 20. November 1895 in der Generalversammlung vom Ausschuß erstattet. Der Bericht spricht zuerst das tiefe Bedauern über den Rücktritt der Vorsitzenden, Frau von Eitelberger-Edelberg aus, welche seit 1867 an der Spitze des Vereins gestanden und unter deren Leitung derselbe seine großartige Entwickelung erreicht hat. Frau Anna von Lucam, welche schon vorher die erkrankte Präsidentin vertreten hatte, übernahm den Vorsitz. Der Verein erfüllt in hervorragender Weise seinen Zweck: er will eine möglichst große Anzahl von Mädchen erwerbsfähig machen und zugleich die geistige Bildung des weiblichen Geschlechtes fördern. Er hat für seine Anstalten im Vereinsjahr 1894/95 89,268 Gulden verausgabt; 71000 Gulden betragen die Einnahmen der Schulen, der Rest wurde durch Subventionen des Landtages, der Regierung und der Kommune Wien, sowie durch Zinsen und die Beiträge der Mitglieder gedeckt. Die verschiedenen Schulen wurden von 1892 Schülerinnen besucht. — Das Mädchenlyceum hat 246 Schülerinnen, die in 6 aufsteigende Klassen verteilt sind; diese 6 Klassen entsprechen den 6 oberen Klassen einer deutschen höheren Mädchenschule. Die Handelsschule hat zweijährigen Kursus und zählt 103 Schülerinnen; von den 42, welche das Reifezeugnis erworben, erhielten 24 sogleich feste Anstellung. Die drei Sprachschulen, die französische, englische und italienische wurde von 174 Schülerinnen besucht. - Die höhere Arbeitsschule ist für Mädchen berechnet, welche die Bürgerschule absolviert haben, daher wird nur in 7 Stunden theoretischer Unterricht erteilt; dagegen sind wöchentlich 23 Handarbeitsstunden. (48 Schülerinnen) Die bisher genannten Anstalten stehen unter der Aufsicht der Schul-Kommission, die von 5 Vorstandsdamen gebildet wird. - Die Zeichenschule und das Atelier für kunstgewerbliche Maltechniken umfassen die verschiedenartigsten Kurse von längerer oder kürzerer Dauer und wirken sehr erfolgreich. - Eine mehrfach gegliederte Anstalt besteht aus dem Atelier für Musterzeichnen, dem Kursus für Flachornament und der Stickschule. Auch in diesen Schulen ist die Oberaufsicht einer Kommission von 5 Damen übertragen. - Zu der dritten Gruppe der Anstalten gehören die Nähstuben, die Schneidereischule, die Modistenkurse, Frisierkurse, Feinwäschereischule und die Kochschule, welche Anstalten von vielen hundert Schülerinnen besucht werden. Außerdem veranstaltet der Verein Winterkurse für Damen, in denen litterarische, kunstgeschichtliche und wissenschaftliche Themata aus andern Gebieten behandelt und welche stark besucht werden. - Der WienerFrauen-Erwerb-Verein ist für Wien von eben so außerordentlicher Bedeutung wie der Lette-Verein für Berlin.
Nr. 1/1896

Auguste Schmidt
UNSER ARBEITSFELD

Was kann ich thun? Wo kann ich helfen? Wie kann ich nützen? Diese Fragen werden häufig an-die Leiterinnen großer Frauenvereine, an die Vertreterinnen der Frauenbewegung gerichtet. Ich weiß nicht, ob meine Mitarbeiterinnen immer die treffende Antwort bereit haben, ich konnte stets nur durch eine neue Frage antworten. Und diese Frage lautete nicht: Wer bist du? oder: Was kannst du? Sie lautete: Entspringt Dein Wunsch einer augenblicklichen Gefühlswallung oder ist es dir Ernst, heiliger Ernst mit Deiner Frage? Von der großen Zahl der Fragenden antworten dann nur wenige mit einem froh entschlossenen »Ja« und diese werden meist auf irgend einem Gebiet unsres großen Arbeitsfeldes tüchtige Helferinnen. Jene Andern hatten vielleicht einen anregenden Vortrag über die Frauenbewegung gehört und hielten den sie beherrschenden Schwarmgeist für Begeisterung. Sie machen wie der Kunstausdruck lautet, vielleicht auch einige Zeit mit, aber zu werkthätigen Helferinnen werden sie nie. Ihnen fehlt zur gedeihlichen Mitarbeit die notwendige Voraussetzung der vollen Hingabe ihres Ich's an das übernommene Werk. Ausnahmen hat es natürlich auch hier gegeben. — Ist es nun nicht notwendig, so meinen Bedenkliche, auch zu fragen: »Wer bist du?« Soll sich diese Frage auf den Stand beziehen, so ist sie ganz überflüssig. Wir haben Arbeit für jedes Können, jede Eigenart. Die Annahme, daß vornehme Frauen, deren Männer hochgestellt sind, mehr als andre nützen können, ist irrig, ihnen sind ebenso wie uns, in vielen Dingen die Hände gefesselt. Bezieht sich aber diese Frage auf die Charaktereigenschaften, die Fähigkeiten, - dann ist sie gerechtfertigt, damit wir auf das der Individualität entsprechende Arbeitsfeld hindeuten können. Es ist kein Stand auszuschließen, denn unsre Arbeit soll der Arbeiterin, wie der Fürstin gelten, auch denjenigen, die unsre helfende Mitarbeit verschmähen. Die Frage: Was kannst du? ist von denen, an welche wir dieselbe richten, nicht immer leicht zu beantworten. Es muß ihnen Zeit gelassen werden, die eigne Kraft zu prüfen und das Arbeitsfeld der  Frauenbewegung zu überblicken. Diejenige Arbeit, welche der Individualität am meisten konform ist, wird auch mit freudiger Neigung ausgeführt werden. Fassen wir zunächst das Ziel unsrer Arbeit in das Auge: Was wollen wir? Die Antwort lautet: Wir wollen die Erwerbsfähigkeit und die Geistesbildung der Frauen nicht von äußeren Schranken einengen lassen und durch Erlangung der Selbständigkeit die Frau befähigen, gleichwertig neben dem Mann zu stehen; wir wollen durch die sittliche Erhebung unsres Geschlechtes veredelnd auf die ganze Menschheit wirken. Es ist unser Programm oft verspottet worden, aber was auf Erden ist von jenen Menschen, die ohne Gesinnung und Urteil nur den Götzen Erfolg anbeten, nicht mit ödem Hohn überhäuft worden? Wer in der Frauenbewegung arbeitet, darf nicht Lob hören wollen, denn Reformen werden nie in den armen Anfängen erkannt, sondern meist nach ihrer Vollendung gepriesen, und bis dahin haben wir noch weit. Am wenigsten ist bis jetzt unsere Arbeit den Fabrikarbeiterinnen zugute gekommen, weil dieselben sich hartnäckig unsren Bemühungen entziehen. Nur ganz vereinzelt ist es gelungen, die Mädchen in Heimstätten zu ziehen, die für sie gestiftet waren. Die Abendschulen, auch die Haushaltungsschulen, die Feierabendhäuser werden höchstens dann besucht, wenn sie von dem Fabrikbesitzer eingerichtet sind. Noch fürchtet die Fabrikarbeiterin zu sehr den Verlust ihrer Freiheit, um mit uns in Beziehung zu treten, und doch bedarf gerade sie so sehr der Unterstützung, des Rates gebildeter, warmherziger Frauen. Auch die politische Strömung, in deren Mitte sie stehen, wirkt uns entgegen, da sie in uns die Vertreterinnen der verhaßten Bourgeoisie sehen. Und dennnoch gilt es, immer und immer wieder den Versuch zu machen, diese enterbten Schwestern zu gewinnen. Nur darf sich niemand von der äußeren Roheit, ja selbst von der inneren Verkommenheit abstoßen lassen. Es gilt, diese Mädchen davor zu bewahren, daß sie in ihrem innern und äußern Elend zu der dunkelsten Stufe des Frauenlebens hinabgleiten. Kann man nicht große Gemeinschaften gewinnen, so begnüge man sich mit einigen Wenigen, die es dem treuen Mitgefühl gegenüber doch endlich lernen, sich mit uns zu freuen. Seit 20 Jahren bemühen wir uns, die Frauen des Volkes zu beeinflussen, daß sie ihre Töchter nicht in die Fabrik, sondern in Dienst schicken, weil frühere Dienstmädchen in der Ehe meistenteils wirtschaftlicher und fleißiger sind als Fabrikarbeiterinnen. Leider ist die Annahme, daß das Dienstverhältnis das Mädchen mehr vor der Versuchung schützt, nicht in jeder Beziehung richtig, denn der größte Prozentsatz der unehelichen Kinder hat z. B. hier in Leipzig Dienstmädchen zu Müttern. Aus andern großen Städten wird dasselbe gemeldet. Und da fragen die Hausfrauen noch: »Was kann ich thun?« Viele von den letzteren verdammen die unsittlichen, undankbaren Geschöpfe, die nicht begreifen können, daß sie nicht nur für ihre Herrschaft da sind! Es ist gerecht und natürlich, daß für solche Frauen nur die schlechtesten Dienstboten übrig bleiben. Die Erziehung der Dienstmädchen ist ein wichtiges Gebiet unsres Arbeitsfeldes. - Die Frauen und Töchter der kleineren Handwerker und Kaufleute, der unteren Beamten haben jedoch unsern Ruf gehört und sind überall in Scharen zu uns gekommen, wenn wir Anstalten für ihre Belehrung und Berufsbildung eingerichtet haben. Die Industrieund Arbeitsschulen, ebenso wie die Fortbildungsschulen, die unter guter Leitung stehen, sind aller Orten überfüllt. Hier haben die Vereine Großes gewirkt, und viele Mädchen sind durch sie erwerbsfähig und bildungsfähig gemacht worden. Noch sind die städtischen und staatlichen Anstalten dieser Art für Mädchen zu zählen; diese ganz große Kulturarbeit haben die Frauenvereine vollbracht, und sie müssen auch jetzt noch ihre volle Kraft einsetzen, um ihr Werk auszubauen. Dann werden die Behörden endlich einsehen, daß sie nicht nur für die Söhne, sondern auch für die Töchter des Staates zu sorgen haben. Die Bereitwilligkeit der Mädchen dieser Kreise, die Anstalten der Frauenbildungs- und Erwerbsvereine zu besuchen, beruht auf der Erkenntnis, daß sie unverheiratet und meist auch noch verheiratet erwerben müssen, und zwar von früher Jugend an. Das ist für diese Stände ein großer Segen und dieselben haben sich in ihrer Leistungskraft und Bildung während des letzten Vierteljahrhunderts sehr gehoben. Sie schließen sich bereits bewußt zu größeren Gemeinschaften zusammen, zur Förderung ihrer materiellen und ideellen Interessen. - Viel ungünstiger liegen die Dinge in denjenigen Schichten, welche wir als den höheren Mittelstand zu bezeichnen pflegen; die Töchter von den höheren Beamten, Offizieren, Aerzten, größeren Gewerbtreibenden werden, obgleich hier viel weniger Eheschließungen stattfinden, doch noch zu einem großen Prozentsatz für das Leben in der Gesellschaft behufs Eheschließung erzogen. Wäre es anders, so würde die höhere Berufsbildung der Frauen längst das Bürgerrecht im Staatshaushalt errungen haben. Selbst die Vorbildung zu Lehrerinnen wird in den meisten deutschen Staaten noch ganz stiefmütterlich behandelt. Die überall verbreitete Anschauung dieser Kreise: »Die Frau ist für den Mann da« hemmt bei den Mädchen das Streben nach Bildung und bei den Männern die Förderung unsrer Bemühungen. Hier können wir Frauen »innere Mission« treiben, indem wir in die Familien unsre Anschauungen über die Berufsarbeit der Frau tragen. Das Familienleben wird nicht verlieren, wenn an Stelle der egoistischen Zerstreuungssucht die Arbeitsfreudigkeit tritt. Daß die Gründung von Mädchengymnasien möglich war, darf als das erste Anzeichen einer Wandlung in den Anschauungen betrachtet werden. Diesem höheren Mittelstand gehören zum größten Teil die Frauen an, die auf unserem Arbeitsfelde eine rege, freudige Thätigkeit entwickeln, doch sei hier mit Dank erwähnt, daß auch einige Damen der höchsten Kreise unsre Helferinnen sind und sich große Verdienste erworben haben. Aus dem Gesagten ergeben sich vielerlei Helferdienste, die auf unserem Arbeitsfelde geleistet werden können, aber die ideellen Ziele, welche unsre Bewegung verfolgt, machen noch andre bedeutsame Mitarbeit nötig. Die Volkskindergärten, die Kinderhorte, welche die Kinder des Volkes vor Verrohung bewahren wollen, die Haushaltungsschulen für Fabrikarbeiterinnen, Dienstbotenschule, Mädchenherberge, Heimstätten aller Art sie alle fordern zu segensreicher Mitarbeit auf. Sie alle tragen bei, unser Geschlecht vor den schlimmsten Gefahren zu behüten. Da ist der Eintritt in die öffentliche Armenpflege zu erkämpfen, da hat man sich der entlassenen Sträflinge, der Obdachlosen anzunehmen, da breitet sich ein Netz verschiedener Stellenvermittlungen über ganz Deutschland aus, da werden Verkaufsstellen gegründet, neue Berufsarbeiten eröffnet und vieles andere. Arbeit genug für die, welche arbeiten wollen. Und hierzu treten die Bestrebungen, welche das Recht der Frauen sichern wollen; so ist der Rechtsschutz von Frauen für Frauen entstanden, so hat der Bund deutscher Frauenvereine seine Petition eingereicht, das Familienrecht betreffend. Daß die Frauenfrage allgemeine ideal-sittliche Ziele verfolgt, beweist sie durch ihre Wirksamkeit in der Mäßigkeitsund in der Sittlichkeitsfrage. Also Arbeit genug! Und dabei habe ich noch gar nicht jener Seite unserer Bestrebungen gedacht, durch welche die Frauen der verschiedenen Stände sich zu Belehrung und Freude versammeln, und in denen sie sich echt menschlich näher treten. Da ist Jung und Alt willkommen und für Jung und Alt giebt es Arbeit. Ich rechne diese Stunden zu den besten meines Lebens. Auch für die Besitzenden, die von ihrem Ueberfluß die kämpfenden Frauen unterstützen wollen, bieten unsre verschiedenen Frauenvereine ein großes Feld der Bethätigung; da wird durch materielle Mittel manche segensreiche Arbeit ermöglicht, die sich jetzt der Verein versagen muß. So empfinden es die Mitglieder des hiesigen Frauen-Gewerbevereins als ein hohes Glück, daß ein edler Freund weiblicher Bildung ihnen eine Bibliothek und Lesehalle, die einzig in ihrer Art ist, geschaffen hat. — Allen, die bisher mitgeholfen, entbiete ich meinen Gruß. Möchte die Arbeit des kommenden Jahres für uns alle eine reich gesegnete sein.
Nr. 1/1896