Frauenwelt
Susi Bork
KÖRPERPFLEGE UND
SCHONUNG DER FRAU
Wenn man die Literatur zurückverfolgt, die von Körperpflege handelt, so bemerkt man, daß der größte Teil der Bevölkerung auch in Deutschland erst in den letzten Jahrzehnten begonnen hat, dem Körper dieselbe Reinlichkeit angedeihen zu lassen, die man selbstverständlich für äußere Kleidung und Dinge verwendete. Und auch in unserer so sportlich eingestellten Zeit, mit ihren Anforderungen an die Erhaltung von Jugendlichkeit und Elastizität kann man immer noch feststellen, daß eine mechanische Körperpflege zwar erfolgt, daß aber in weiten Kreisen immer noch die Kenntnisse fehlen, die erst zu einer sachverständigen Körperpflege führen.
Es wird besonders von den Frauen viel unnützes Geld für reklamereich angebotene Schönheitssalben und Tinkturen ausgegeben, die zwar nicht schaden, aber doch nachweisbar nur für den Hersteller einen wirklich bedeutenden Nutzen, nämlich pekuniärer Art, bringen. Von dieser Behandlung soll hier nicht gesprochen werden, sondern von Forderungen, die der Körper, wenn er gesund und widerstandsfähig bleiben soll, stellt und eben ganz besonders der weibliche Körper; erfüllt man diese Forderungen nicht, so rächt sich das mit Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens und Herabsetzung der Arbeitsfähigkeit und frühem Altern!
Nach den ärztlichen Erfahrungen ist es erwiesen, daß die Leistungsfähigkeit der Frauen bis ins Alter hinein viel stärker von richtiger Sauberkeit und Schonung abhängen, als man leider in den Kreisen besonders der auch körperlich schwer arbeitenden und proletarischen Frauen weiß. Dabei ist zu dieser richtigen Hygiene gar kein großer Geldaufwand nötig, mit geringen Mitteln und allerdings gewissem Zeitaufwand, der aber einfach da sein muß, kann jede Frau ihr Recht darauf geltend machen.
Woher kommen die meisten körperlichen Schwierigkeiten der Frauen? Aus der Rücksichtslosigkeit gegenüber der tatsächlichen Schonungsbedürftigkeit zur Zeit des monatlichen Unwohlseins! Zu dieser Zeit sind ein großer Teil der Frauen mehr oder weniger schwer krank, denn die wenigen Frauen, die sich in keiner Weise in ihrem Befinden gestört fühlen, sind so in der Minderheit, daß sie das Bild, welches sich dem Arzt erfahrungsgemäß bietet, nicht grundlegend zu ändern vermögen.
Obwohl dieser Zustand an sich selbstverständlich ein normaler, physiologischer Prozeß im Leben der Frau ist, verwischt er die ohnehin schon unscharfe Abgrenzung vom Gesunden zum Kranken bei den einzelnen Individuen. Schon daß die Schmerzen so stark sein können, daß sie gelegentlich den Geburtswehen verglichen werden können, daß Neigung zu Erbrechen, Kopfschmerzen, Migräne, Magenstörungen, Verstopfung und Durchfall, Herzbeschwerden, ja sogar Temperaturerhöhungen vorkommen, kennzeichnet die Menstruation als zum mindesten »stark abweichend vom Gesunden!« Diese Beschwerden zu denen noch viele, sogar Anschwellung der Schilddrüse, kommen, die ich noch extra anführe, weil sie zeigt, wie stark die innere Sekretion (Absonderung von Drüsensäften) umgestellt wird, wird jedermann für Krankheitsäußerungen und nicht nur Gefühle von Unbehaglichkeit halten. Zu diesem rein Körperlichen kommt nun noch meist eine veränderte seelische Verfassung an diesen Tagen. Starke Reizbarkeit, Tränenausbrüche und Empfindlichkeit gegenüber jedem vielleicht ganz harmlos geäußerten Wort kennzeichnen die kritische Stimmung. Manche Frauen leiden an schweren Depressionen, andere sind streitsüchtig und entbehren jeder Spur von Selbstbeherrschung. (Aus diesen Ausführungen werden viele Frauen sich das heraussuchen, das ihnen den eigenen Zustand schildert.) Ich bin der Ansicht, daß aus der Erkenntnis der Gemeinsamkeit des Zustands heraus manche versuchen werden, dieser Stimmungen Herr zu werden, indem sie sich tröstend sagen, daß die Tage leichter zu überstehen sind, je mehr man gegen ein Sichgehenlassen anzukämpfen versucht. Es ist ja bekannt, daß freudige und traurige Ereignisse den Eintritt des Unwohlseins beschleunigen oder verzögern können; selbst die Schmerzen sind dadurch zu beeinflussen und die psycho-physische (seelisch-körperliche) Wechselwirkung ist hier einwandfrei festzustellen. Wie sehr die Abhängigkeit der Frau yon diesem Zustand in der Justiz anerkannt wird, beweist die mildere Beurteilung von Straftaten, die während der Periode begangen werden, und die Möglichkeit, seine Ladung als Zeugin vor Gericht während dieser Tage auf einen geeigneteren Zeitpunkt verlegen zu lassen.
Leider wird diese Rücksicht nur für solche besonderen Situationen genommen. Während der Alltag und die Frauen selbst trotz besserer Kenntnis der Lage der Dinge noch immer versagen. Soweit sie im Beruf stehen, genieren sie sich eine gewisse Rücksicht zu erbitten, selbst die Frauen untereinander entlasten sich kaum, auch wenn es möglich wäre, ohne Auseinandersetzung mit den Vorgesetzten. Denn nach den augenblicklichen wirtschaftlichen Zuständen scheidet ja die Möglichkeit, an solchen Tagen zu fehlen, fast ganz aus. Nur die im Haushalt tätige Frau hat noch Gelegenheit sich zu schonen vor Überanstrengung, aber wie oft wird gedankenlos gerade an solchen Tagen der Waschtag angesetzt! Früher zu Bett gehen sollte im genannten Fall jede Frau, denn der Körper muß behandelt werden wie bei jeder anderen Erkrankung, wenn sie auch nur leicht ist. Er ist jeder Infektion von außen zugänglicher als an normalen Tagen, weil seine Widerstandskraft herabgesetzt ist. (Aus diesem Grunde empfiehlt sich auch geschlechtliche Enthaltsamkeit während der Menstruation, auch harmlose Unreinlichkeiten können Entzündungen hervorrufen.) Ein normales Unwohlsein dauert im Durchschnitt etwa drei Tage; eintägige oder längerdauernde Blutungen sollen die Veranlassung geben, einen Arzt zu Rate zu ziehen. Während der Wechseljahre gibt es unregelmäßige Blutungen, d.h. statt am 1. des Monats erst am 18. oder 20., aber nie in dem Sinn, daß sie mehr als einmal monatlich auftreten, und Blutungen von mehr als vier Tagen gibt es auch zu dieser Zeit nie normalerweise. Das glauben leider viele Frauen noch immer nicht und schwächen sich durch den ungeheuren Blutverlust, statt sofort zum Arzt zu gehen und die Ursache der Blutung feststellen zu lassen, die mit den Wechseljahren als solche in gar keinem Zusammenhang stehen, sondern nur rein zufällig in diese Zeit fallen.
Viele Frauen würden ohne diesen weitverbreiteten Irrtum noch jahrelang gesund leben, die so elend zugrunde gehen, weil sie erst einen Arzt zuziehen, wenn Rettung nicht mehr möglich ist.
Während der Zeit des Unwohlseins ist ganz besondere Sauberkeit erforderlich. Die Wäsche kann gewechselt werden, wenn sie verunreinigt ist und auch die Vorlagen (möglichst aus weichem, aufsaugenden Stoff), sollten so oft als irgend möglich gewechselt werden.
Es bestehen da noch mittelalterliche Vorstellungen in den Köpfen mancher Frauen, sie halten das sich Waschen in diesem Fall für schädlich, ebenfalls das Wechseln von Wäsche. Mit diesen Vorstellungen muß gründlich aufgeräumt werden! Jede Menstruation entspricht einer Ovulation, d.h. einer Eireifung, und seiner Abstoßung. Die Blutung ist gewissermaßen eine Verwundung der Gebärmutter und hat wie alle absondernden Wunden einen ziemlich starken Geruch, gegen den man nur durch Waschungen vorgehen kann. Wie an jedem Tage jede Frau und jedes Mädchen mindestens einmal morgens die äußeren Genitalien (Geschlechtsteile) mit warmem Wasser waschen soll, in das ein Schuß Lysoform getan ist oder ähnliches, so erst recht während der Periode. Dagegen sind Scheidenspülungen an diesen Tagen zu vermeiden, weil das Gewebe durch die Blutung aufgelockert und besonders zugänglich für Infektionen ist. Aus dem gleichen Grunde soll man besonders zu dieser Zeit den Unterleib warm halten und vor Erkältung schützen. Die Sauberkeit kann eher etwas übertrieben werden als vernachlässigt, denn durch üblen Geruch und Ungepflegtsein einer Frau, gingen schon oft Ehen und Freundschaften auseinander, ohne daß beiden Teilen der Grund der Unstimmigkeit je ganz bewußt wurde.
Es ist etwas sehr Wahres daran, wenn man behauptet: »den oder die kann ich nicht riechen!« Jeder betonte Geruch wirkt unangenehm, gleichviel ob er aus Parfüm oder Schweiß besteht. (Um lästigen Achselgeruch zu entfernen, gibt es jetzt Antischweißcreme, der sehr ausgiebig ist und für wenig Geld in den Drogerien zu haben ist. Man reibt ihn nach dem Waschen ein und vermeidet auf diesem Weg auch Durchschwitzen der Kleider.) Außerdem soll man die Haut täglich einpudern an den Hautstellen, wo Hautfalten aneinander liegen und leicht wund werden. Dadurch verringern sich auch Hautinfektionen und Entzündungen.
Bemerkenswert ist, daß Blasenleiden bei weiblichen Personen häufiger sind als bei Männern, das ist nicht nur organisch bedingt, sondern auch begünstigt durch unvernünftige leichte Unterkleidung, die zu Erkältungen Anlaß gibt, besonders in der Zeit der Periode, wie ich schon ausgeführt habe.
Wer an starken Schmerzen während der Periode leidet, sollte versuchen, diätisch zu leben und nur leichte Speisen zu essen, wie Kartoffelbrei, Reis, durchgerührtes Gemüse und nicht gerade Eisbein mit Erbsen und Sauerkraut. Natürlich muß für gute Verdauung gesorgt werden. Durch vom Arzt verschriebene schmerzlindernde Tabletten hat jede Frau die Möglichkeit, sich den Zustand zu erleichtern. Wenn das alles aber nicht genügt, muß eben Bettruhe und gleichmäßige Wärme ein übriges tun. Oft hilft auch ein operativer Eingriff oder eine entsprechende allgemeine Behandlung durch den Arzt, wenn der Zustand unerträglich wird. Denn es ist hier wie bei allen Erkrankungen oft nötig, nicht nur ein krankes Organ, sondern vielmehr den ganzen kranken Menschen zu behandeln, wenn man einen Erfolg erzielen will.
Heft 20/1931
Die schaffende Frau
Frida Runge
ZWEI LEBENSKREISE ...
EIN BRIEFWECHSEL
7. Brief: Hausfrau an die Berufsfrau
Du schreibst in Deinem letzten Brief, daß Du um die Erkenntnis ringst, ob es heute noch berechtigt ist, um des herrschenden Sittengesetzes willen persönliches Glück zu opfern. Du rührst da an Fragen, die uns alle angehen. Dein Fall ist typisch für eine große Kategorie Frauen, die alleinstehen. Typisch insofern für alle Frauen, da der Drang nach diesem persönlichen Glück heute allzu oft im Widerstreit steht mit den einmal übernommenen Pflichten. Sei es, daß sie in der Ehe, sei es, daß sie im Berufe übernommen worden sind. Denn darüber besteht ja wohl kein Zweifel; indem Du in einer bestimmten kulturellen Schicht der menschlichen Gesellschaft eine selbständige Stellung erhalten hast, hast Du stillschweigend zugleich die Verpflichtung zu einer sittlichen Haltung übernommen. Ganz automatisch wird jetzt von Dir aus die Frage, die immer sofort erscheint, kommen: Was ist denn heute sittliche Haltung? Und in dieser Frage liegt wohl des Pudels Kern, nämlich in der Tatsache, daß überhaupt diese Frage sofort gestellt wird. Es beweist nur, wie unsicher heute der Inhalt der Begriffe Moral und Sittlichkeit geworden ist. Dein Brief vermittelt aber auch eine andere Erfahrung, die heute allzu oft gemacht wird: Die Befriedigung des persönlichen Glücksbedürfnisses gerät in unserer Zeit fast immer mit dem herrschenden Sittengesetz in Konflikt. Gewiß gab es in dieser Beziehung immer tragische Konflikte. Daß sie aber in dem großen Umfang beinahe Norm geworden sind, ist mindestens auffallend und deutet darauf hin, daß in unserem kulturellen Leben nicht mehr alles in Ordnung ist. Näher darauf einzugehen, ist in diesem Rahmen unmöglich. Ich will mich hier beschränken und nur ganz nüchtern und von außen her die heutigen Verhältnisse, so wie sie nun einmal liegen, betrachten und von der Situation sprechen, die sich für die alleinstehende Frau daraus ergibt, wenn sie von der geschlechtlichen Moral abweichen würde. Nehmen wir einmal als Voraussetzung (eine Voraussetzung, deren Richtigkeit auch angezweifelt wird), die Ehe entstand einmal zum Schutze der Frauen und Kinder, so muß hier betont werden, daß dieser Schutz für die Frau heute notwendiger als je ist. Warum? Weil die Frau ganz allein zu zahlen hat, ganz allein, wenn sie sich diesem Schutz entzieht. Nicht nur, daß sie rein biologisch, wie Du schon in Deinem letzten Briefe sagtest, die Folgen zu tragen hätte und außerdem die Meinung der bürgerlichen Gesellschaft im Durchschnitt stark gegen sie steht. Sie wird auch heute noch im freien Kampf der Geschlechter, wohl gemerkt im absolut freien Kampf, meist die Unterliegende sein. Einfach aus dem Grunde, weil immer noch der naive, brutale Geschlechtsinstinkt des Durchschnittsmannes stark über jede zarte menschliche Beziehung zwischen den Geschlechtern siegt. Im Augenblick, wo sie nicht im offiziellen Schutz des Mannes steht, also in den meisten Fällen des Mannes, der vor dem Gesetz ihr Ehemann ist, ist sie eigentlich vogelfrei. Natürlich wird sie, je höher ihr Fortkommen, und je gehobener ihre Stellung ist, desto stärker den »Schutz der Gesellschaft« genießen. Ist sie aber im Wirtschaftskampf eine Nummer unter Nummern, eine kleine Angestellte, nach der niemand fragt, so ist sie Zumutungen ausgesetzt, von denen das Buch »hinter Schreibmaschinen« ein lebendiges Bild gibt. Nicht genug damit, auch in anderen Konstellationen des Beruflebens, wo der Mann nicht der Vorgesetzte oder aus irgendeinem anderen Grunde der sozial Mächtigere ist, fühlt beinahe jeder Mann von heute sich dazu berufen, ein Leben frei nach Goethe zu führen. D.h. er ist »modern«, er kann »sich noch nicht binden«, er fühlt die Neigung eines »bohemhaften Künstlers« in sich, der nicht dazu berufen ist, in einer »spießigen Ehe« seinen »ungeheuren Liebestrieb« zu befriedigen. Nicht nur aus Wirtschaftsnot ist die Ehescheu heute so ungeheuer groß. Es ist der Mangel an Verantwortungsgefühl, die Unmöglichkeit, sich bewußt zu konzentrieren und die Beziehungen zu einem Menschen tiefer auszubauen. Hierzu tritt oft die kalte Berechnung, daß die Ehe auch ein gutes Geschäft zu sein hat, bei der man, wenn man schon seine »Freiheit« aufgibt, wenigstens wirtschaftlich gewinnen will, mindestens will man es nicht schlechter haben als vorher. Diese Anschauung, die heute beinahe Norm geworden ist, wird sich auch nicht ändern, wenn die Frau dieselbe sexuelle Freiheit bekäme wie der Mann, wenn der Abtreibungsparagraph fiele, und wenn von Staats wegen Empfängnisverhütungsmittel usw. verteilt würden. Es richtet sich auch hier, so brutal wie es klingt, genau wie im Wirtschaftsleben, alles nach Angebot und Nachfrage. Es sei denn, es träte eine grundlegende Änderung der Gesinnung ein. Dann allerdings würden sich die Liebes- und Ehefragen nicht länger nach rationalen Erwägungen regeln. So ist es aber doch einfach so, daß der Mann beinahe über die Frauen stolpert, die ihm begegnen wollen, während für die Frau der Mann, den ihr der Zufall in den Weg treibt, oft das erste und letzte Erlebnis bleibt, einfach aus Mangel an Möglichkeit, also aus Mangel an Männern. Durch diesen Mangel an Männern ist der Mann an sich im Kampf der Geschlechter so lächerlich an Wert gestiegen. Darum bestimmt er noch heute fast allein die Geschlechtsmoral, und es ist eine Leichtigkeit zu übersehen, wer in dem absolut freien Kampf der Geschlechter den kürzeren ziehen würde. Nicht umsonst steht das Weib in den Ländern, wo die Frauen in Minderzahl sind, so hoch im Kurs, um vulgär zu reden. In Europa, besonders aber in Deutschland, hat das Weib nicht die Stelle, die ihm eigentlich gebührt. Sie kann infolgedessen nicht ausschlaggebend die Geschlechtsmoral beeinflussen und ändern und die erotischen Beziehungen zwischen Mann und Frau in eine höhere Sphäre rücken. Besonders nicht, wenn sie die Ansichten des Mannes annimmt und auf diese Weise auf sein Niveau herabsteigt, anstatt es grundlegend zu ändern und zu heben.
So sehe ich unsere heutige Lage an. Meine Worte sollen auf Deinen letzten Brief eine Warnung sein, die Vorteile einer größeren erotischen Freiheit nicht zu überschätzen. Ich habe hier nur einen ganz kurzen Überblick geben wollen, so wie die Lage sich dem aufmerksamen Beobachter, der gelernt hat, etwas tiefer zu blicken, darstellt. Es gibt natürlich unzählige Fälle, die sich auf einer höheren Ebene abspielen, die sich nicht mit dem oben geschilderten Bild decken: Schicksale von verantwortungsbewußten Menschen, die durch die unnatürlichen und ungesunden Verhältnisse, die unsere gesellschaftliche Struktur geschaffen hat, in Bedrängnis geraten, denen sie erliegen, weil heute tragischerweise die Verhältnisse oft stärker geworden sind als die Menschen.
Dein Brief schildert schonungslos die Verhältnisse, »so wie sie nun einmal liegen.« Wir sind allerdings gewohnt gewesen, sie aus einem anderen Blickfeld zu betrachten, als wie Du es tust. Gewiß, wir haben uns vielleicht etwas blenden lassen durch die Erfolge, die die Frau im Kampf um gleiches Recht auf öffentlichen Gebieten erlangt hat. Wir haben vielleicht zu stark nur auf die Stimmen eines kleinen Kreises gehört, die laut in der Öffentlichkeit immer und immer wieder die Vorteile gepriesen haben, die die heutige Zeit der »Neuen Frau« gebracht hat: der »Neuen Frau«, die mit ihrer vollkommen geänderten Struktur einen großen Einfluß auf unser kulturelles Leben erlangen würde. Wir haben vielleicht all die leisen Stimmen der großen Masse überhört, die wohl das Recht auf Arbeit erlangt haben, aber keine Möglichkeit haben, sich in natürlichen, gesunden Verhältnissen zu natürlichen, gesunden Frauen entwickeln zu können.
Es ist ja nun klar, solange die Beziehungen der Geschlechter sich nicht in geordneten, durch Instinkt und Willen geordneten Bahnen abwickeln können, bleiben alle Freiheiten und Rechte der modernen Frau auf die Dauer für sie selbst und für das Volksganze letzten Endes wertlos. Wir stehen jetzt mitten in einer Zeit, die das klar erkennt. Die Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts hat vielleicht zu wenig Wert darauf gelegt, die Stellung des Weibes zum Mann zu heben, zu stärken und grundlegend zu ändern. Sie hat zu stark den Kampf gegen den Mann betont und die Frau für sich allein auszubilden und zu heben versucht. Freilich hat sie ja aber auch von je her den allergrößten Wert darauf gelegt, gerade den Intellekt der Frau zu stärken. Nicht nur, um sie zum Lebenskampf zu ertüchtigen, sondern um sie auch gerade dem Manne gegenüber als gleichwertige Gefährtin hinzustellen, um sie vor dem Ausbeutungswillen des Mannes zu schützen. Ob dieser Weg der richtige war, mag dahingestellt sein.
Jedenfalls fühlen wir Frauen, und besonders die alleinstehenden Frauen, daß wir uns inmitten eines Chaos befinden, aus dem uns niemand vorläufig heraushilft und heraushelfen kann. Es ist wohl so, daß heute diejenigen, die selbständig leben und handeln wollen, vollkommen auf sich allein angewiesen sind. Jeder muß sehen, wie er durchkommt. Daß das Leben unbarmherzig ist, weiß ich. Daß jede Bewegung von Sentimentalität in den Beziehungen der Geschlechter unangebracht ist, weiß ich auch. Ebenso klar ist mir aber auch, daß sich auch rechte, lebensvolle Frauen erotischen Gefühlen dem anderen Geschlecht gegenüber gar nicht entziehen können und auch nicht sollten. Jeder, ob Mann oder Frau, muß durch die Liebe hindurchgegangen sein, um ganz zu sich selbst zu kommen. Nichts dürfte daher eine Frau veranlassen, sich um diesen Teil des Lebens zu betrügen oder betrügen zu lassen. Sei es, aus welchem Grunde es sei. Das Leben ist unerbittlich hart. Gewiß. Aber, wer es nicht voll einsetzen kann oder will, kann es auch nicht in seiner ganzen Tiefe und Höhe gewinnen. Man kann natürlich verzichten und läuft dann nicht Gefahr, Schaden zu erleiden, den ich angesichts unserer heutigen Verhältnisse voll übersehe. Ebenso gewiß ist es aber auch, daß ich dann bewußt aus rationalen Erwägungen heraus verzichte, nicht aus moralischen Gründen. Heute, in der Zeit der Umwertung aller Werte, muß ich bekennen, ist es mir unmöglich, eine feste moralische Einstellung diesen Dingen gegenüber zu haben. Da wir gezwungen sind, unser Leben allein zu formen, müssen wir auch das Recht haben - wenn wir die Kraft in uns fühlen -, ein Schicksal auf uns zu nehmen, das unsicher, ungewiß unser Letztes bedroht. Es kommt aber immer noch auf den Menschen allein an, was er aus seinem Schicksal macht. Es kann ihn erniedrigen, wenn er schwach ist, es kann ihn ebenso unerhört stärken und erhöhen. Stärken auch zu dem, was uns jetzt nottut, nämlich: Die Beziehung des Mannes zum Weibe grundlegend zu ändern und zu heben. Fangen wir erst einmal damit an, so werden wir bald erfahren, daß wir dabei an die Wurzel des Menschen überhaupt kommen, von der alles ausgeht und alles beeinflußt wird.
Heft 2/1931
Dr. med. Anne-Marie Durand-Werer
DOPPELVERDIENER
Nachdem der § 14 der Notverordnung endlich gefallen ist, wird in der letzten Zeit wieder von den verschiedensten Seiten Sturm gelaufen gegen die mitverdienende verheiratete Frau. Es sind sogar von verschiedenen Parteien im Reichstage Anträge eingebracht worden, die darauf hinzielen, die verheiratete Beamtin nicht nur im Staatsdienst, sondern auch in der Wirtschaft von Gesetzeswegen zur Aufgabe ihrer Stellung nach der Eheschließung zu zwingen. Erstaunlicherweise werden diese Anträge zum Teil sogar von Frauenseite unterstützt.
Die wenigsten von diesen Antragstellern scheinen sich darüber klar zu sein, weshalb die Frau eigentlich mitarbeitet, und noch weniger scheint man sich die Folgen, die die Annahme derartiger Gesetze auf die Volksmoral und Geburtenziffer unseres Volkes haben würde, zu vergegenwärtigen.
Nach meiner Erfahrung arbeitet die Frau, die einen Mann und Kinder hat, außerhäuslich nur dann, wenn sie muß. Allerdings können wir hier ein inneres von einem äußeren Muß unterscheiden. Dem inneren Muß unterstehen alle Künstlerinnen und die meisten Vertreterinnen der freien Berufe, aber auch manche Lehrerin, Beamtin oder Angestellte gehorcht einem inneren Muß. Der Beruf ist für diese Kategorie Frauen nicht in erster Linie eine Quelle des Gelderwerbs, sondern eine produktive Betätigung, eine absolute Notwendigkeit, der zu Liebe man Opfer bringen kann und gebracht hat. Allein die Tatsache der Frauenbewegung, die Kämpfe, die um die Zulassung der Frau zum Universitätsstudium geführt worden sind, die Opfer an Zeit, Kraft und Geld, die ohne eigene Vorteile im Auge zu haben, von Frauen für die Emanzipation der Frauen überhaupt gebracht wurden, sprechen dafür, wie stark das Gefühl der Berufung zur allgemeinen politischen und speziellen beruflichen Mitarbeit in einem großen Teil der Frauenwelt vorhanden ist.
Und jetzt soll man wieder einmal nicht mehr mitarbeiten dürfen, wenn man verheiratet ist! Wer ist denn schon auf die Idee gekommen, einer Fritzi Massary das Singen zu verbieten, weil ihr Mann auch recht viel verdient? Nicht wahr, diese Frage klingt grotesk? - Aber es besteht genau dieselbe Berechtigung dazu wie bei der verheirateten Beamtin. Denn wir müssen uns doch über eine Tatsache klar sein, und das ist die, daß keine Beamtin angestellt wird, wenn sie nicht sehr tüchtig ist. Bei dem augenblicklichen Überangebot von Kräften gelingt es weder Mann noch Frau, eine einigermaßen gut bezahlte Stelle zu erlangen, wenn er oder sie nicht den Anforderungen genügen - es sei denn, daß eine Partei einen ihrer Proteges anzubringen versteht und man einmal durch Protektion eine Stelle erwischt. Aber auch das ist leichter für den Mann als für die Frau, ganz einfach deshalb, weil die Männer noch in der Mehrzahl sind, und so sehr sie über andere Dinge verschiedener Meinung sein mögen, in der Vergebung von auskömmlichen Stellen bevorzugen sie immer ihr eigenes Geschlecht. Also: die logische Folgerung aus diesen Gedankengängen ist die, daß eine Frau tüchtiger sein muß als der entsprechende Mann, wenn sie überhaupt einen Posten errungen hat. Im Unterbewußtsein sieht also der Mann die Gefahr, daß er überhaupt verdrängt wird und sucht nach Mitteln und Wegen, sich gegen diese »Überverweiblichung« zu wehren. Da man sich ja schwer gegen historische Entwicklungen stemmen kann, und da die Berufstätigkeit der Frau auch von ihrem größten Gegner als eine historische Tatsache anerkannt werden muß, die man nicht mit einem Schlage wieder aus der Welt schaffen kann, muß man auf andere Mittel sinnen. Es ist auffällig, daß immer gerade die Frauen, die in ihrem Beruf am tüchtigsten sind, die ersten sind, die in dieser Zeit des Frauenüberschusses trotz der beruflichen Inanspruchnahme auch heiraten. Wenn wir uns moralisch darüber entrüsten, daß eine verheiratete Frau sich nicht nur ihrem Gatten und ihrer Familie widmet, schalten wir auf diese Weise gerade die tüchtigsten unter den Frauen aus, denn daß eine Frau tatsächlich den Beruf der Heirat vorziehen würde, das erscheint unwahrscheinlich — und nach und nach bleiben diejenigen übrig, die durch ihre Persönlichkeit nicht mehr den Beweis von der Gleichwertigkeit der Frau erbringen.
Ich sprach von einem inneren und einem äußeren Muß. Das äußere Muß ist leider, wenn auch naturgemäß, sehr viel häufiger als das innere Muß. Ich glaube nicht, daß die Durchschnittsfrau nach ihrer Heirat einem ungeliebten Berufe treu bleiben würde, wenn nicht die dringende Notwendigkeit sie dazu zwänge, ich glaube das, nebenbei gesagt, ebensowenig vom Durchschnittsmann. Es wird immer wieder behauptet, daß es der Hang zum Luxus und Wohlleben sei, der die Frauen in den Wirtschaftskampf hinaustreibt. Es mag ganz ruhig zugegeben werden, daß das bei gewissen, wenigen Frauen auch eine Rolle spielt. Aber man sei doch einmal logisch, wieviel Möglichkeit zu Luxus und Wohlleben ist denn überhaupt noch für die Frau gegeben, die den Tag über im Amte arbeitet, morgens und abends noch ihren Haushalt versehen muß? Würde die Frau nicht an sich viel mehr Wohlleben und Komfort genießen, wenn sie nur ihre Hausarbeit täte und im übrigen den Mann für die Erhaltung der Familie sorgen ließe? Würde die Durchschnittsfrau das nicht ganz gewiß tun, wenn nicht eine eherne Notwendigkeit sie dazu zwänge, mitzuverdienen? Ich glaube, wenn Sie diese Fragen einmal durchdenken, Sie werden zu demselben Resultat kommen, das sich mir in der ärztlichen Praxis aus unzähligen Einzelerfahrungen aufgedrängt hat.
Solange der Doppelverdienerparagraph bestand, habe ich wieder und wieder gesehen, wie Menschen, die gerne geheiratet hätten, auf den Weg des Verhältnisses und der Abtreibung gedrängt wurden, da die Frau mit der Eheschließung ihre auskömmliche Anstellung verloren hätte, in der es ihr möglich war, eine alte Mutter, eine junge Schwester, einen studierenden Bruder, manchmal auch einen Vater zu unterhalten. Der Mann seinerseits hat auch noch Verpflichtungen, vielleicht Studentenschulden abzuzahlen, das Gehalt, das an und für sich für ein junges Ehepaar genügen würde, konnte unmöglich reichen, wenn derartige Ansprüche daran gestellt wurden. Das sind die Frauen, die nicht heiraten, und die später, als der § 14 fiel, die Zahl der Doppelverdiener ausmachten, gegen die jetzt so stark Sturm gelaufen wird. Ich behaupte, daß gerade diese Doppelverdiener besonders wertvolle Volkselemente sind, weil sie nicht dem Staat und der Wohlfahrt die Sorge um ihre arbeitsunfähigen Angehörigen überlassen, sondern selbst die Verantwortung auf sich nehmen. Menschen, die das tun, sind auch bei andern Gelegenheiten willens Verantwortung zu tragen. Sehr oft wird die Frau die Arbeit dann aufgeben, wenn der Mann ein Gehalt erreicht hat, das die Erhaltung der Familie gewährleistet, oder wenn die bis jetzt unterstützten Angehörigen gestorben sind oder auf eigenen Füßen stehen, kurz, wenn die zwingende Notwendigkeit zum Mitverdienen verschwunden ist. Viele junge Paare trachten auch danach, beizeiten etwas zurückzulegen, damit ein kleines Kapital vorhanden ist, um in Zeiten der Not einen Rückhalt zu bieten und die Jugend ihrer Kinder etwas weniger trostlos sein zu lassen, als es die Jugend des heutigen Mittelstandes ist. Aber die Familien, die über das tägliche Brot hinaus durch die Mitarbeit der Frau etwas zurücklegen können, sind rar.
Was wird nun die Folge sein, wenn die Anträge auf Dienstentlassung der verheirateten Beamtin durchgehen, wie sie bei der augenblicklichen reaktionären Welle große Aussicht haben? Es werden wiederum die Frauen, die, sei es aus inneren oder aus äußeren Gründen, an ihrem Beruf hängen, nicht heiraten, da man sich aber doch nicht aller individuellen Glücksmöglichkeiten berauben will, wird die Ziffer der Empfängnisverhütung und der Abtreibung wieder gerade in den Volksschichten, in denen sie in den letzten Jahren im Abnehmen begriffen war, zunehmen und sich in einer auf die Dauer doch wohl einmal fühlbaren Abnahme gerade der geistig gehobenen Elemente unseres Volkes bemerkbar machen. Weiterhin wird in den bereits bestehenden Ehen wohl gerade das Gegenteil von dem eintreten, was man erwartet. Die Geburtenziffer wird nicht steigen, wohl aber die Tuberkuloseziffer und die Anzahl der verschleppten Erkrankungen. Nicht nur vom Standpunkt der Frau, die selbst verheiratet ist, Kinder hat und doch aus innerem Muß arbeitet, erhebe ich Protest und fordere euch andere Frauen auf, mitzuprotestieren, auch vom Standpunkt des Staates aus, der wieder einmal von der Gefahr einer Verringerung gerade seiner besten Elemente bedroht ist!
Heft 2/1931
FRAUEN UND ÄRZTE
AN DIE FRONT!
Schriftleitung der»Schaffenden Frau«,
Bln.-Schmargendorf.
Die Verhaftung des Stuttgarter Arztes, Dichters und Menschenfreundes Dr. Friedrich Wolf sowie der Ärztin Frau Dr. Elfriede Jacobowitz-Kienle, und der drohende Prozeß gegen hunderte von Frauen, die sich gegen den schändlichen Paragraphen 218 vergangen haben, fordert zur Gegenaktion aller an einer vernünftigen und eugenischen Geburtenregelung interessierten Kreise heraus. Proteste und Gegenmaßnahmen sind im Gange; die vereinigten Sexualreform-Verbände, die mit immer wachsendem Erfolg ihre Aufklärungsarbeit über die Praxis der Geburtenregelung betreiben, treten ebenso wie ein Teil der Presse für Dr. Friedrich Wolf und seine Arbeit ein; leider scheinen auch schon speziell politische Zwecke sich dieser Sache bemächtigt zu haben. Eine der praktischen Aktionen, die versuchen wollen, gegen die Widersinnigkeit des § 218 Sturm zu laufen, ist der Aufruf des Arztes und Sexualreformers Dr. Heinrich Dehmel, in dem er anregt, daß im öffentlichen Leben stehende bekannte Frauen und Frauen in materiell gesicherter Lebenslage, die sich gegen den § 218 vergangen haben, sich gemeinsam mit namhaften beteiligten Ärzten für eine Aktion der Selbstbezichtigung zur Verfügung stellen. Die Justiz soll gezwungen werden, eine größere Anzahl Prozesse gegen solche Persönlichkeiten einzuleiten: das ist gedacht als Vorarbeit für eine große Massenaktion, die vorbereitet werden muß. Wir bitten Frauen und Ärzte, die irgendwie bei der Vorbereitung einer solcher Aktion mithelfen können und wollen, sich von Dr. Heinrich Dehmel, Berlin-Charlottenburg, Hardenbergstraße 40, Institut für Lebenshilfe, seine Broschüre (gegen Einsendung von 25 Pfg. in Briefmarken) kommen zu lassen; wir bitten ferner um Vorschläge, wie diese und was für andere Aktionen technisch durchgeführt werden können, um ohne unnütze Gefährdung einzelner Beteiligter und ohne Abwälzung auf die wirtschaftlich Schwachen zum Ziele zu kommen; wir leiten derartige Anfragen und Vorschläge weiter und geben Auskunft über Organisationen für Geburtenregelung sowie über alles, was auf diesem Gebiet geschieht und für die Frau aller Stände zu wissen notwendig ist. Heft 2/1931
Die Unzufriedene
Marie Deutsch-Kramer
DAS RECHT AUF SCHÖNHEIT
In einer Zeit, wo in kleinen Staaten Hunderttausende, in größeren Millionen Menschen hungern, wird es vielen vielleicht als gänzlich überflüssig erscheinen, über das Recht der Menschen auf Schönheit zu reden. Und doch ist es notwendig, es einmal auszusprechen, daß es ein Recht ist, das allen zukommt, auf das alle Anspruch haben. Schön zu sein — das Ideal jedes Mädchens und jeder Frau, in der Jugend stärker, aber auch im Alter vorhanden — schien ehemals nur eine Sache der Frauen der besitzenden Klasse, jener Frauen, die stets die nötige Zeit hatten, ihren Körper zu pflegen und zu schonen. Sie hatten auch die Mittel, ihm jene äußere Umrahmung zu geben, jene Kleidung, die, wenigstens nach früheren Begriffen, notwendig war, um wirklich als schön zu gelten.
Wenn eine Frau oder ein Mädchen der arbeitenden Klasse schön war, dann wurde das wohlwollend bemerkt, aber niemand wäre es eingefallen, den arbeitenden Frauen zuzugestehen, daß auch sie schön sein wollen und schön sein können.
Der arbeitende Mensch, dem durch die Länge der Arbeitszeit überhaupt jede Möglichkeit genommen war, für die Ausbildung seines Geistes und Körpers auch nur das geringste zu tun, dem nur gerade so viel freie Zeit gelassen wurde, um dem Körper durch die knappste Ruhezeit die Möglichkeit der weiteren Arbeitsfähigkeit zu geben, konnte nicht im entferntesten daran denken, etwas so Überflüssiges wie Schönheit für sich gewinnen zu wollen.
Das ist nun vollständig anders geworden in dem Augenblick, wo Demokratie und Sozialismus den Achtstundentag und die Arbeiterurlaube erkämpft haben und damit dem arbeitenden Menschen die Möglichkeit gaben, wie ein Mensch zu leben, das heißt: Zeit zu haben zur Pflege von Geist und Körper. Es wären also wohl die äußeren Bedingungen dazu gegeben, leider aber nur in der Theorie. Die Praxis enttäuscht uns.
Denn abgesehen davon, daß in der heutigen Zeit der Wirtschaftskrise der Achtstundentag und vor allem die Urlaube nicht eingehalten werden, macht es die Not der Zeit fast unmöglich, die dem arbeitenden Menschen gegebene freie Zeit auch wirklich zu seinem Vorteil auszunützen.
Die erste Bedingung für die Erfüllung unseres Rechtes auf Schönheit ist also doch vor allem — die Beseitigung der ärgsten Not, die Möglichkeit, das Allernotwendigste zum Leben zu haben.
Wenn also die Frage auftaucht: Wie erhält sich die Proletarierfrau jung und schön? — muß als erste Antwort gesagt werden: Vor allem dadurch, daß sie das Notwendige zum Leben für sich und ihre Familie hat; dadurch, daß ihr Körper die notwendige Nahrung, ihr Geist die Befreiung von den zermürbenden Sorgen des Alltags erreicht.
Dies nun vorausgesetzt - und nur auf dieser Grundlage kann man aufbauen —, gibt es heute auch für die arbeitende Frau leicht erreichbare Möglichkeiten, jung und frisch und schön zu bleiben oder es zu werden.
Es ist kein Zufall, daß dem Sport in den letzten Jahren so ungeheure Massen von arbeitenden Menschen zugeströmt sind.
Die Menschen haben erkannt, daß Sport nicht nur Unterhaltung, sondern Quelle von Gesundheit, Kraft und Schönheit ist.
Allerdings ist das Schönheitsideal, das der Sport vermittelt, weit verschieden von dem Schönheitsbegriff gewisser Klassen, die eine Frau dann als schön bezeichnen, wenn sie geschminkte Lippen, ausrasierte und künstlich nachgezogene Augenbrauen, ondulierte Haare und gepuderte Wangen hat. Das Schönheitsideal des Sports ist das der alten Griechen, die vor allem einen in allen Teilen und Muskeln sportlich gestählten und ausgebildeten Körper als schön bezeichneten. Dazu kommt, daß der Sport zum Aufenthalt im Freien zwingt und daß Luft und Sonne eine Hautfarbe verleihen, die durch die beste Schminke nicht erzielt werden kann. Der einfachste Weg also, sich Jugendlichkeit zu bewahren und Schönheit zu erhalten und zu erwerben, ist: viel Sport zu betreiben.
Freilich werden jetzt viele Frauen einwenden, es fehle ihnen, die durch Haushalt, Beruf und Kindererziehung viel stärker belastet sind als der Mann, an der Zeit dazu. Aber mit etwas gutem Willen ist auch dieses Hindernis zu überwinden.
Täglich zehn Minuten Gymnastik zu treiben, ist sicher fast jeder' Frau möglich. Welche Übungen man da betreiben soll, darüber wird in einer der nächsten Nummern der »Unzufriedenen« ausführlich gesprochen werden. Außerdem gibt es in jedem Bezirke Wiens und in fast allen größeren Orten Österreichs Turnkurse des »Askö«, des Arbeiterbundes für Sport und Körperkultur in Österreich, deren Besuch jeder Frau leicht möglich ist.
Am Sonntag Ausflüge zu machen, schwimmen zu gehen oder im Winter Skilaufen ist gewiß für viele Frauen durchaus nicht unmöglich, sofern sie nur die nötige Geschicklichkeit in der Einteilung ihrer Arbeit haben, so daß sie sich am Sonntag doch etliche freie Stunden sichern.
Wenn ihnen das gelingt, werden diese Frauen nicht nur die Gelegenheit haben, ihrem Körper durch die Ausübung des Sportes zu nützen, sondern sie werden auch durch den Aufenthalt in der Natur eine Ouelle von Freude und Frohsinn finden, die das Zusammenleben der Frau mit Mann und Kindern zu einem wirklich harmonischen gestalten werden.
Nichts ist für das Familienleben gefährlicher, als wenn die Frau und Mutter als eine Arbeitsmaschine abseits steht, wenn Mann und Kinder ins Freie gehen. Voll Luft und Sonne, voll Heiterkeit und Glück kehren sie heim und finden die verbitterte, abgerackerte Mutter, die kein Verständnis für ihre Freude hat und deren ständiges bitteres Verzichten sich schließlich auch in einem vergrämten, früh gealterten Gesicht ausdrücken wird.
Wir haben ein Recht auf Schönheit, ein Recht auf die Schönheit der Natur und der Kulturgüter, aber auch ein Recht auf eigene Schönheit. Wenn uns die Grundbedingungen dazu, die freie Zeit und die Lebensnotdurft, durch den Sozialismus erkämpft wurden, so ist es aber dann unsere eigenste Sache, die Wege, die zu Jugend und Schönheit führen, auch wirklich zu gehen, die Wege, die durch den Arbeitersport körperliche Gesundheit und Kraft, aber auch innere Fröhlichkeit und Heiterkeit geben. Diese Wege können nicht nur die Jungen gehen. Der Sport steht auch den Älteren offen. Man muß nur wollen. Dann werden nicht nur die jungen Männer und Frauen schön werden, dann werden es auch die Alten bleiben.
Nr. 11/1931
BITTEN VON FRAU ZU FRAU
(Im Geiste gegenseitiger Hilfsbereitschaft.)
Die Veröffentlichung der Bitten kann erst
acht Wochen nach Einlangen erfolgen.
Bitten ohne Namensnennung werden
nicht berücksichtigt.
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VON SEELEN- UND HEIRATSNÖTEN
Nr. 423. Ich suche einen Genossen, kein Spieler oder Trinker, bin 28 Jahre alt, ledig und wohne in Wien.
Nr. 424. 50jähriger Genosse mit eigener Wohnung, kein Spieler oder Trinker, sucht eine gute Lebensgefährtin. Wohnt in Salzburg.
Nr. 425. Ich bin 23 Jahre alt und suche einen Genossen, der meinem zweijährigen Buberl ein guter Vater sein will. Bin wirtschaftlich und wohne in Steiermark.
Nr. 426. Ich bin 46 Jahre alt, Witwe mit Pension und suche Genossen als Lebensgefährten. Ich wohne in Kärnten.
Nr. 427. Ich bin Modistin, 22 Jahre alt und suche einen lieben, charaktervollen Genossen, der kein Trinker oder Spieler ist, dafür Naturfreund. Ich wohne in Wien.
Nr. 428. Ich suche einen intelligenten Genossen, kein Trinker oder Spieler, ich bin 21 Jahre alt, habe meinen Beruf und lebe sehr zurückgezogen im Salzkammergut.
Nr. 429. Ich bin 45 Jahre alt, geschieden, habe kleines Haus auf dem Lande und suche guten Lebensgefährten, der kein Trinker oder Spieler ist. Ich wohne in Niederösterreich.
Nr. 430. Ich bin 48 Jahre alt, ledig, und suche Genossin mit eigener Wohnung in Wien, auch mit einem Kinde, als Lebensgefährtin.
Nr. 11/1931
Blätter des jüdischen Frauenbundes
Auszug aus dem Referat von Dr. Rahel Straus
AUSSPRACHE ZUM §218
AUF DER DÜRKHEIMER
SOMMERSCHULE DES J.F.B.
Alle nachstehenden Ausführungen sind möglichst wörtlich wiedergegeben worden, um die unmittelbare Wirkung der Reden auch den Lesern zu vermitteln. Der J.F.B. betont ausdrücklich, daß er sich mit den verschiedenen Darlegungen weder identifiziert noch dazu Stellung nimmt.
Die Redaktion
Wir haben zu untersuchen, inwieweit der § 218 des Deutschen Strafgesetzbuches innerlich berechtigt ist.
Gesetze müssen den ethischen Willen eines Volkes ausdrücken. Tut das der § 218? Uns scheint, er tut dies nicht. Denn die Abtreibung wird im weitesten Ausmaß geübt, ohne daß die Frauen, die sie bei sich vornehmen lassen, der gesellschaftlichen Aechtung verfallen, wie bei irgend einem anderen kriminellen Tun. Im Gegenteil: die Frauen unterstützen sich gegenseitig mit Rat und Hilfe.
Hat das Gesetz wenigstens den einen Erfolg, daß es aus Furcht vor Strafe von der Handlung abschreckt? Auch diese Frage muß verneint werden. Denn die Zahl der kriminellen Aborte wird in Deutschland auf 500000 jährlich geschätzt, eine Zahl, die eher zu niedrig als zu hoch angesetzt ist.
Das Versagen des Gesetzes ist nur dadurch zu erklären, daß der Wille zur Beseitigung der Schwangerschaft stärker ist als die Angst vor der Strafe. Dieser starke Wille hat seine Ursache in der Not der Frauen, die ungeheuer groß ist in allen Schichten der Bevölkerung.
Nach zuverlässigen Feststellungen finden mehr Abtreibungen statt innerhalb der Ehe als außerhalb. (Die unehelichen Geburten haben gegen früher fast gar nicht abgenommen, während die ehelichen sehr stark zurückgegangen sind.) Jedenfalls spricht diese Tatsache gegen die landläufige Ansicht, die Ursache für die vermehrten Abtreibungen sei in Leichtsinn, Genußsucht und Unsittlichkeit zu suchen; sie beleuchtet im Gegenteil den Notstand, von dem wir sprachen. Die Beschränkung der Kinderzahl ist uralt. Sie tritt immer da ein, wo die Kultur steigt und der Wille zum Aufstieg wächst. Damit wächst auch das Verantwortungsgefühl den Kindern gegenüber; man fühlt die Verpflichtung, ihnen eine gute Erziehung und Ausbildung zu geben.
Nun ist die Dauer der Fortpflanzungsfähigkeit bei der Frau mindestens 20 Jahre. 9-10 Kinder sind also in einer normalen Ehe durchaus zu erwarten. Dies sind auch die Zahlen, die früher häufig waren und nur korrigiert wurden durch eine große Kindersterblichkeit. Eine Form der Beschränkung des Nachwuchses, die uns als eine besonders schlimme erscheint. Heute ist die Aufzucht einer solch großen Kinderzahl wirtschaftlich fast unmöglich und auch für die meisten Menschen seelisch nicht mehr ertragbar.
Es gibt nun zwei Formen, die Geburtenzahl zu regulieren:
1. die Verhinderung der Konzeption,
2. die Vernichtung keimenden Lebens.
Selbstverständlich ist die erste Form bei weitem vorzuziehen; sie ist die Form, die längst von der Oberschicht angewendet wird. Bis vor kurzem war zwar die Verbreitung und Anpreisung antikonzeptioneller Mittel verboten; doch ihre Anwendung war schon deshalb nie untersagt, weil sie ja niemals zu erfassen gewesen wäre. Sicher aber kommt es durch jenes Verbot, daß auch heute noch zu unrecht - viele Aerzte sich scheuen, diese Mittel zu verordnen oder anzuraten.
Wie stellt sich die jüdische Religion zur Verwendung solcher Mittel? Die Orthodoxie lehnt sie absolut ab. Und doch gibt es eine talmudische Bestimmung, die besagt, daß junge Frauen unter zwölf Jahren, ebenso schwangere und säugende Frauen zur Verhütung der Konzeption ein Mittel anwenden sollen. Im Prinzip ist also die Anwendung von Präventivmitteln gestattet. Sache der Rabbiner wäre es, zu prüfen, ob die Anwendung nicht auch in anderen Fällen gestattet werden kann, in denen die Verhinderung der Empfängnis aus ernsten Gründen geboten erscheint. Leider bieten alle Präventivmittel keine unbedingte Sicherheit, und allzuoft werden sie auch aus Indolenz nicht angewendet.
Dann bleibt nur der zweite Weg offen: die Vernichtung des keimenden Lebens.
Warum hat der Staat ein Interesse daran, dagegen strafrechtlich vorzugehen? Drei Gründe werden hierfür angeführt.
- Der Staat braucht Menschen, er braucht Soldaten. Was die Soldaten anbetrifft, so fällt dies für das heutige Deutschland fort. Es scheint uns auch aus inneren Gründen unberechtigt, den Gebärzwang zu fordern, um die Kinder dann als Kanonenfutter herzugeben. - Auch über die Frage, ob der Staat Menschen braucht, kann man recht verschiedener Ansicht sein. In Zeiten, wie wir sie jetzt erleben, mit ihrer ungeheuren Arbeitslosigkeit und der Ueberfüllung in allen Berufen, wird kein Staat behaupten können, daß er Menschenzuwachs braucht. Bliebe
- die moralische Begründung. Sie entspricht nicht einem allgemeinen Volksempfinden, wie wir schon sahen, und kann darum keine Begründung sein für ein Strafgesetz. Damit soll nicht gesagt sein, daß für den einzelnen nicht sittliche Gründe gegen eine Abtreibung vorhanden sein können und sollen.
- Der Staat setzt sich ein für eine religiöse Forderung, die in der Abtreibung eine Tötung sieht. Diese religiöse Anschauung ist durchaus zu verstehen. Die Religion wird stets die Zerstörung keimenden Lebens verurteilen. Sie, die alles Geschehen als göttliche Fügung empfindet, kann nicht zugeben, daß menschlicher Wille, menschliches Handeln in die göttliche Ordnung eingreife. Sache der Religion ist es, diesen Standpunkt zu vertreten mit allen ihr zu Gebote stehenden geistigen Mitteln. - Sie wird bei religiös eingestellten Menschen gewiß hierbei Erfolg haben. Aber das Strafgesetz hat damit nichts zu tun. Ebensowenig wie es uns heutigen Menschen noch tragbar erschiene, etwa die Heiligung des Sabbath durch das Strafgesetz garantieren zu lassen.
Wir sprachen davon, daß die Religion die Vernichtung keimenden Lebens als Tötung empfindet. Aber von Tötung kann keine Rede sein. Es ist zwar biologisch nicht zu bestreiten, daß die Verbindung von Ei und Samenzelle etwas Lebendiges ist, wie jede Zelle lebt, die ihre Funktion erfüllt. - Aber sie ist weit von dem Begriff eines »lebenden Wesens« entfernt, bei dem man von »Tötung« sprechen kann; sowohl nach dem Volksempfinden, als auch nach biologischer Wertung. Als lebend wird das Wesen erst empfunden, wenn es sich durch seine eigene Bewegung bemerkbar macht. Eine Mutter, die die Bewegung ihres Kindes spürt, weiss, daß sie ein lebendes Wesen in sich trägt und stellt sich meist schon mütterlich zu diesem noch Reifenden, Ungeborenen ein. Solange es nur als Keim vorhanden ist - etwa in den 8 bis 10 ersten Wochen - ist es nicht lebensfähig außerhalb des mütterlichen Organismus, es ist ein Teil der Mutter.
Es bedeutet einen Eingriff in ihr persönliches Recht, ihr die Verfügung darüber abzusprechen. Kennt ja doch unser Staat auch keine Strafe gegen Selbstverstümmelung (außer beim Militär) und gegen Selbstmord.
Der einzige, der mitzubestimmen hat, ist der Erzeuger. Dieser aber ist fast ausnahmslos einverstanden. Das gilt innerhalb der Ehe und erst recht bei unehelichen Kindern. Ja, es wird oft das Strafgesetz als Schutz der Frau aufgefaßt dem Manne gegenüber, der sie veranlassen könnte, die Frucht gegen ihren Willen abtreiben zu lassen. Ich glaube nicht an eine solche Schutzwirkung des Gesetzes. Es wird kaum vorkommen, daß die Frau ein Kind austrägt in der Ehe, wenn der Mann es nicht haben will. Sie wird weder ihn anzeigen, noch das Glück und den Frieden ihrer Ehe aufs Spiel setzen.
De jure kennt das Gesetz keinerlei Ausnahmen für die Strafbarkeit der Abtreibung. De facto aber wird ganz allgemein auch von den Gerichten die medizinische Indikation anerkannt. Der künstliche Abortus wird gestattet, wenn eine ernstliche Gefahr für das Leben und die Gesundheit der Mutter besteht.
Solche Indikationen sind sehr dehnbar. Es gibt Aerzte - führende —, für die die Indikation leicht gegeben ist, andere, die in der Mutter nur das Gefäß für das Kind sehen und Schmerzen, Schädigungen, ja dauerndes Siechtum der Mutter ruhig in Kauf nehmen (siehe den Leitfaden von Winter: der künstliche Abort für den geburtshülflichen Praktiker), um nur unter allen Umständen das keimende Leben zu erhalten.
Nun ist es für die Oberschicht leicht, einen Arzt zu finden oder sonst eine Möglichkeit, um sich von einer unerwünschten Schwangerschaft zu befreien. Das weiß jeder, der im Leben steht und die Augen offen hat. Unendlich schwer aber wird es für die Frau aus dem Volke. Für die Kassenpatienten z. B. sind minutiöse Sicherungen vorgesehen: Nachuntersuchung von zwei weiteren Aerzten, Protokolle über den Befund aller dreier Aerzte - körperliche und seelische Qualen für die Frau. So wirkt sich das Gesetz stark als Klassengesetz aus: die einfache Frau wird dadurch oft zweifelhaften Persönlichkeiten in die Arme getrieben, sie leidet dauernden Schaden an ihrer Gesundheit, ja, nicht allzuselten büßt sie ihr Leben ein. Manch eine greift in ihrer Verzweiflung zur Eigenhilfe, zur Stricknadel und ähnlichen Dingen und schädigt sich damit für immer.
Ist schon die medizinische Indikation stark verklausuliert, so wird vorerst die soziale Indikation überhaupt nicht von Gesetz und Rechtsprechung anerkannt. Und dabei ist die soziale Not oft noch lastender als die körperliche: aber auch weniger fixierbar. Was im einen Fall sozial noch leicht tragbar ist, führt in einer sozial höheren Schicht schon zur absoluten Not. Wo eben noch eine Familie anständig bestehen konnte, bedeutet ein weiteres Kind ein Herabsinken ins Elend.
Und nicht nur geldlich ist die Last des neuen Kindes oft nicht mehr tragbar; auch körperlich und seelisch bricht die Mutter zusammen, die nie eine Hilfe hat, nie mehr — von der Geburt des ersten Kindes an - einen Augenblick der Ruhe gekannt hat. Ein Mann kann kaum erfassen, welche Not da vorliegt. Enthaltsamkeit anzuempfehlen ist zwecklos, sie ist nicht durchführbar oder führt zur Zerrüttung der Ehe.
Nicht anerkannt bisher ist auch die eugenische Indikation: die Gefahr, die darin liegt, daß kranke Menschen ihre Krankheit weitervererben und so kranke Nachkommen geboren werden, sich selbst und der Gesellschaft eine Last.
Es ist allerdings heute schon eine starke Milderung des Strafparagraphen eingetreten. Keine Zuchthausstrafe mehr (außer bei gewerbsmäßiger Abtreibung), nur Gefängnisstrafe, Mindeststrafe ein Tag Gefängnis. Das zeigt, daß auch der Gesetzgeber einsieht, daß der Paragraph in seiner Schwere nicht zu Recht bestand.
Hatte aber schon die strenge Bestrafung keinen Erfolg gezeitigt, was verspricht man sich von dieser Aenderung des Gesetzes?
359 Berliner Aerztinnen haben im Hinblick auf all die angeführten Momente eine Eingabe gemacht, in der eine Abänderung des § 218 durch folgenden Zusatz verlangt wird: »Eine Abtreibung im Sinne des Gesetzes liegt nicht vor, wenn ein approbierter Arzt eine Schwangerschaft unterbricht, weil nach den Regeln der ärztlichen Kunst die Unterbrechung zur Abwendung einer Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der Mutter erforderlich ist. Dieselbe Bestimmung gilt, wenn von einem approbierten Arzt wegen sozialer Notlage auf Verlangen der Schwangeren die Unterbrechung ausgeführt wird.«
Damit würde für die Praxis bei Zuziehung eines Arztes § 218 aufgehoben. Ich möchte nur mit einer gewissen Einschränkung diese Eingabe unterschreiben. Ich würde eine Frist setzen für die Zulassung der sozialen Indikation. Ich denke etwa an die achte bis zehnte Woche der Schwangerschaft. Bis dahin hat jede Frau Zeit, sich klar zu werden über eine soziale Notlage, darüber, ob sie das Kind austragen kann oder nicht. Nach der zehnten Woche kann nur noch eine plötzlich eintretende medizinische Indikation (schwere Erkrankung) einen Eingriff rechtfertigen.
Ich wähle diesen Termin auch im Interesse der Frau. Ein künstlicher Abortus, selbst von ärztlicher Hand ausgeführt, ist nie ein ganz ungefährlicher Eingriff; er wird schwerer mit jedem weiteren Monat.
Aber außer dieser zeitlichen Einschränkung sollte keine weitere hinzukommen: wie Konsiliarzwang, Kontrolle, Kommissionen oder ähnliches. Die ganze Entscheidung sollte ausschließlich Sache der Mutter und des Arztes sein.
Nur so wird es uns gelingen, wirklich ärztlich zu handeln. Wir stehen nicht mehr unter der Strafdrohung des Gesetzes; wir können klar, offen, ehrlich mit den Patienten reden. Ich glaube nicht, daß die Zahl der Abtreibungen steigen wird. Im Gegenteil: Ich glaube an das starke mütterliche Gefühl unserer Frauen. Ich glaube, daß bei einer ruhigen, vertrauensvollen Aussprache mit dem Arzt manches Kind ausgetragen wird, das bei der verzweifelten und unberatenen Frau sonst vom Kurpfuscher und Abtreiber entfernt worden wäre. Und wenn wirklich die soziale Not die Frau dazu zwingt, diesmal auf das Kind zu verzichten, dann soll sie wenigstens wissen, daß sie nach menschlicher Voraussicht gesund aus der Hand des Arztes hervorgehen wird, um zu besserer Zeit ein gesundes Kind austragen zu können.
Denn wir, die wir die Aufhebung ohne Einschränkung des Strafgesetzes verlangen, wir fordern wahrlich nicht Abtreibung!
Wir wissen nur, daß nicht Strafen hier helfen können, sondern Stärkung des religiösen Gefühls und des sittlichen Bewußtseins, Erstarkung des Lebenswillen und der Lebensfreude, ein Wissen vom Wert des Daseins und der Aufgabe, die jeder hier auf Erden zu erfüllen hat, an dem Platz, an dem er steht.
Es gibt eine Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Lebens, die tief im Menschen wurzelt, und schönste ärztliche Aufgabe wird es immer bleiben, Leben zu erhalten, nicht es zu zerstören. - Aber gerade deswegen wenden wir uns gegen Strafparagraphen, die im Erfolg versagen, sich als Klassenjustiz auswirken und Tausende von unglücklichen Frauen noch unglücklicher machen, als sie schon sind!
Nr. 11/1930
FORDERUNGEN DER GEGENWART
Die jüngsten politischen Geschehnisse machen mehr als je den inneren Frieden im deutschen Judentum notwendig. Die schwere wirtschaftliche Notlage verbietet es zudem, Mittel für Wahlkämpfe zu verausgaben anstatt zu neuem Aufbau. Daher richten wir an alle Juden in Deutschland die dringliche Aufforderung, bei den bevorstehenden Wahlen zu den Landesverbänden und den Gemeindevertretungen Wahlkämpfe zu vermeiden, Zwiespalt nicht zu verschärfen und nach Möglichkeit den Kampf durch einen Wahlkompromiß auszuschalten.
Der Vorstand des Allgemeinen Rabbiner-Verbandes in Deutschland.
Klara Caro, Köln
In der Reichshauptstadt schlug der Mob die Fensterscheiben ein. Wir Juden haben schon Schlimmeres erlebt und überstanden. Es ist auch jetzt nur die ewige Wiederkehr des einen: daß man für alle Katastrophen und Krisen in der Weltgeschichte uns verantwortlich macht. Ob wir dies je auszurotten vermögen? Den Pöbel können wir nicht belehren, noch uns gegen rohe Gewalt mit gleichen Mitteln wehren. Aber gegen jene wollen wir den Feldzug eröffnen, die da mit Lügen und Entstellungen eine wohlorganisierte Hetz- und Wühlarbeit seit Jahren geleistet haben, deren Zeche wir jetzt bezahlen müssen. Zur wirksamen Bekämpfung dieses Antisemitismus gibt es nur einen fruchtbaren Weg: Systematische Aufklärungsarbeit. Nicht in großen Massenversammlungen, sondern nur in mühsamer Kleinarbeit können wir Verleumdung und Lüge vernichten. In Schulen und Volkshochschulen, in Universitäten und den zu Fachorganisationen zusammengeschlossenen einzelnen Berufsgruppen von der Arbeiterin bis zur Akademikerin wollen wir Aufklärung hineintragen über die geschichtlichen Zusammenhänge unserer geistigen und wirtschaftlichen Struktur, über die Lehren und den Ideengehalt des Judentums.
Darum schlage ich vor, eine Kommission für jüdische Aufklärungsarbeit zu organisieren, der sich alle die Bundes-Frauen anschließen mögen, die fähig und gewillt sind, in ihrer Stadt diese Arbeit zu leisten. Bundesschwestern! Nicht nur für uns wollen wir bauen, sondern auch für unserer Kinder bessere Zukunft und glücklichere Lebensmöglichkeiten. Darum helft erfüllen das alte und ewig junge Wort unseres, großen Lehrers Hillel: »Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für mich? Und wenn nicht jetzt, wann dann?«
Frauen, die für diese Aufgaben interessiert sind, wollen sich zwecks näherer Information, auch über einschlägige Literatur, an Frau Klara Caro, Köln, Lochnerstraße 12, wenden. Ueber weitere Aufgaben und Möglichkeiten nach dieser Richtung werden wir in der nächsten Nummer Näheres bringen.
Marie Thilo
Aus Verbänden, Ortsgruppen und Vereinen
In der von Frau Emmy Vogelstein geleiteten Abendversammlung sprach Frau Paula Ollendorfj über: »Die Gemeinschaftsidee im Bunde innerhalb der Tagesfragen.« Sie ging im wesentlichen auf die Reichstagswahlen ein und wies auf die besondere Bedeutung der diesmaligen Wahlen für die Juden hin. Sie erörterte die Programme der S.P.D., der Staatspartei und des Zentrums als der Parteien, die für die Juden in Frage kommen. Nachdem Herr R.-A. Keiler nochmals die Frauen dringend ermahnte, ihre Wahlpflicht auszuüben, schloß Frau Emmy Vogelstein die Versammlung um 23 Uhr.
Nr. 11/1930