Lose Blätter im Interesse der Frauenfrage
Marie Stritt
DIE FRAUENFRAGE DER OBEREN ZEHNTAUSEND
Die bekannte, noch vor wenigen Jahren aufgestellte Behauptung eines deutschen Staatsmannes: es gäbe bei uns keine Frauenfrage, würde heute selbst dem naivsten Kritiker unserer socialen Zustände als ein »frommer Wahn« erscheinen, denn wie überall, so steht auch bei uns die so lange unterdrückte und todtgeschwiegene Frauenfrage auf der Tagesordnung obenan, ist sie eine der meisten discutirten, wenn nicht die meistdiscutirte Frage der Gegenwart geworden. Auf allen Lebensgebieten, in allen Gesellschaftskreisen, in Wort und Schrift, in einer Fachliteratur, die selbst für den Eingeweihten nicht mehr zuübersehen ist, in jedem Zeitungsblatt und Blättchen, im Parlament und in der Volksversammlung, vom Katheder und von der Kanzel, in künstlerischen Darbietungen und wissenschaftlichen Abhandlungen, in fröhlicher Gesellschaft und bei ernster Berathung, officiell und nicht officiell tritt sie uns in tausenderlei Gestalt und Beleuchtung entgegen, in der Weltstadt und im kleinsten Nest ist man vor ihr nicht mehr sicher. Und nicht nur die Existenz, sondern bis zu einem gewissen Grade auch die Berechtigung der Frauenfrage, insoweit sich dieselbe aus den veränderten wirthschaftlichen und socialen Verhältnissen unserer Zeit mit Naturnothwendigkeit ergeben mußte, wird heute kein Vernünftiger mehr in Abrede zu stellen wagen. So verschieden die Gesichtspunkte sind, nach denen diese Frage beurtheilt wird, so verschieden die Wege, die zu ihrer Lösung vorgeschlagen werden, in Bezug auf ihren Ursprung stimmen die verschiedensten Anschauungen überein: Die durch den ungeahnten Aufschwung der Naturwissenschaften, durch die zahllosen Entdeckungen und Erfindungen auf technischem und industriellem Gebiet hervorgerufene fundamentale Umgestaltung aller wirthschaftlichen und Produktionsverhältnisse, die naturgemäß auch mit der geistigen Entwicklung der Kulturmenschheit in innigster Wechselwirkung steht, sie hat, wie zu allen anderen socialen Umwälzungen, so auch zu der modernen Frauenbewegung den entscheidenden Anstoß gegeben. Das Maschinenalter, welches alle Menschenkraft entwerthete und die Frau aus dem Schutz des Hauses verdrängte, in dem sie bis dahin reichlich Arbeit und wenigstens ausreichend Brot gefunden hatte, es bot, indem es der Einzelnen die bisherige wirthschaftliche Existenzbedingung entzog, der Frauenbewegung als solcher die wirthschaftliche Voraussetzung, deren sie zu ihrer Entwicklung bedurfte.
So richtig diese allgemein verbreitete Ansicht in Bezug auf die mächtige Zeitströmung ist, als welche sich uns heute die moderne Frauenbewegung darstellt, so falsch ist der daraus gezogene Schluß, die landläufige Auffassung der Frauenfrage als einer bloß ökonomischen Existenzfrage und einer ausschließlichen Gegenwartsfrage des weiblichen Geschlechts. Wohl hat die wirthschaftliche und technische Entwicklung unseres Jahrhunderts dieFrauenfrage zu ihrer gegenwärtigen eminenten actuellen Bedeutung erhoben - geschaffen aber hat sie dieselbe nicht. Im Prinzip ist diese Frage uralt, ihre Spuren lassen sich bis zu den ersten Anfängen aller menschlichen Gesittung zurückverfolgen. Wohl hat vielfach erst die materielle Noth die Frauen auch zur Erkenntniß der geistigen und sittlichen Nothlage ihres Geschlechtes gebracht, aber die schöpferische Idee, der Gedanke der Frauenbefreiung, der Gleichstellung der Geschlechter war als Forderung der Humanität und Gerechtigkeit schon zu allen Zeiten in einzelnen erleuchteten Köpfen lebendig, ohne daß eine wirthschaftliche Nothlage dabei in Betracht gekommen wäre. Die edelsten weiblichen Gestalten in Sage und Dichtung legen Zeugniß dafür ab - denn auch die reichste Volks- und Dichterphantasie kann nichts . . Anders geartet, aber gleich gewertet. ersinnen, wofür im Leben das Urbild und die Begriffe fehlen - daß die werthvollsten Persönlichkeiten unter den Frauen aller Zeiten und Völker sich gegen die Fesseln ihrer socialen, geistigen und gesetzlichen Hörigkeit gesträubt, daß sie es als Schmach empfunden haben, in allen menschlichen Beziehungen nicht als vollwerthige Individualitäten mit Selbstzweck, sondern immer nur als Mittel zum Zweck, als Hülfswesen zur Fortpflanzung der Gattung gewerthet zu werden. Die eine Frauenfrage, auf die es im Grunde einzig und allein ankam und ankommt, auf die auch heute noch alle socialen, wirthschaftlichen und ethischen Einzelfragen hinauslaufen, sie ist bewußt und unbewußt schon vor uns von Millionen Frauen — und wie gesagt nicht von den schlechtesten — an das Leben gestellt worden, ohne daß sie bis jetzt die rechte Antwort gefunden hätte - die eine bedeutungsvolle, inhaltschwere Frage nach dem Recht der eigenen Persönlichkeit, nach dem Recht der freien Selbstbestimmung.
Diese alles umfassende Frage ist aber ebenso eine Lebensfrage derjenigen Frauen, die durch Geburt oder zufällige Glücksumstände auf die obersten Sprossen der gesellschaftlichen Leiter gestellt sind, wie sie eine Lebensfrage für die unversorgte Tochter des Mittelstandes oder für die Proletarierin ist, die sich im Schweiße ihres Angesichtes für ihr kärgliches tägliches Brot abquält. Im Prinzip, nach Gesetz und Sitte ist die Stellung der Frau dem Manne gegenüber in allen Ständen die gleiche, so verschieden sie auch äußerlich zur Geltung kommt, und von einem ethischen Gesichtspunkt ist - wenn ich mich der etwas starken, aber die extremsten Erscheinungsformen der vieltausendjährigen Frauenfrage sehr treffend bezeichnenden Ausdrücke einer enragirten Frauenrechtlerin bedienen darf die Stellung eines »Amusirvogels« im goldenen Käfig gewißt nicht minder entwürdigend, wie die des armen vielgeplagten »Lastthieres«.
Es ist nur natürlich und selbstverständlich, daß zunächst die wirthschaftliche Seite der Frauenfrage in den Vordergrund gerückt und in der Propaganda am nachdrücklichsten betont wird - bildet doch, wie die Verhältnisse liegen, für die ungeheuere Mehrheit der Kulturfrauen die Betheiligung am Erwerbsleben, die Erschließung neuer, auch der besseren und einträglicheren Berufszweige, die Forderung vollwerthigen Lohnes bei vollwerthiger Leistung, die gesetzliche Regelung der Frauenarbeit etc. die unerläßliche Grundbedingung eines menschenwürdigen Daseins. Gerade darum aber erscheint es zum richtigen Verständniß der Frage (an der leider so viele Unberufene, völlig Verständnißlose ihr Heil versuchen) und zur richtigen Würdigung ihrer eminenten kulturellen Bedeutung doppelt nothwendig, auf das so vielfach übersehene ideelle Moment hinzuweisen, das derselben zu Grunde liegt. In dieser Beziehung läßt sich am deutlichsten auf jene Kreise der Frauenwelt exemplificiren, bei denen die wirthschaftliche Frage gar nicht, wenigstens nicht in dieser Gestalt, nicht in der Nöthigung zu selbständiger Erwerbsthätigkeit in Frage kommt. Und nicht nur die einseitige Beurtheilung als ausschließliche Noth- und Brotfrage wird an den oberen Zehntausend, wo von »Unversorgten« ein für allemal keine Rede sein kann, gründlich berichtigt - auch in Bezug auf die ebenso verbreitete, ebenso irrige Auffassung der Frauenfrage als einer »Jungfernfrage« schlechthin, muß sich selbst dem oberflächlichsten Beobachter die Ueberzeugung aufdrängen, daß diese Frage weder in der Theorie noch in der Praxis durch die Verheirathung der gesammten ledigen Weiblichkeit, durch die Ehe überhaupt, gelöst, sondern im Gegentheil sehr häufig noch erheblich complicirt und verschärft wird.
Vor allem aber kommt gerade durch diejenigen, die, zwar außerhalb der wirthschaftlichen Kämpfe stehend, doch an allen anderen modernen »Fragen« des weiblichen Geschlechtes in gleichem Maße betheiligt sind, wie die ungeheuere Masse der Besitzlosen, die Solidarität und Interessengemeinschaft aller Frauen in überzeugender Weise zur Geltung.
In zweierlei Richtung vollzieht sich der geistige und sittliche Fortschritt des Menschengeschlechtes: in einem erhöhten Persönlichkeitsbewußtsein, das in dem Streben nach persönlicher Freiheit und in einem erhöhten Gemeinsamkeitsbewußtsein, das in dem Streben nach Bethätigung für das Wohl der Allgemeinheit zum Ausdruck kommt. Die beiden Prinzipien des Individualismus und des Altruismus, die im geistigen Leben unserer Tage eine so hervorragende Rolle spielen und für jeden Gebildeten geläufige Begriffe und noch geläufigere Schlagworte geworden sind, die sich keineswegs bekämpfen oder ausschließen, sondern ergänzen und Hand in Hand gehen, sie sind auch die mächtigen geistigen und moralischen Triebkräfte unserer heutigen Frauenbewegung.
Dem erhöhten Persönlichkeitsbewußtsein entspricht auch in den höheren Gesellschaftskreisen der überall wahrnehmbare Drang der modernen Frau nach Wissen und Bildung, nach geistiger Unabhängigkeit und nach einer Lebensführung unter eigener Verantwortung. Daß dies Streben noch keine höheren Wellen geschlagen hat, liegt wohl zumeist daran, daß die Frau der oberen Zehntausend trotz ihrer wirthschaftlichen Unabhängigkeit in dieser Beziehung viel ungünstiger gestellt ist, viel unfreier, viel mehr gebunden durch die conventioneilen Schranken der Sitte, Gewohnheit, Ueberlieferung, als die Frau der unteren und mittleren Stände, für welche die grausame aber mächtigste Vorkämpferin der Frauenbewegung, die Noth, diese hemmenden Schranken schon zum großen Theil niedergerissen hat. Es gehört schon ein ganz ungewöhnlicher moralischer Muth, eine ganz reine ideale Begeisterung dazu, um gegen den Strom des guten Herkommens zu schwimmen - wenn man es »Gottseidank nicht nöthig hat«.
Die Frau, das junge Mädchen der oberen Zehntausend, die ihre Hand nach den wohlbehüteten Schätzen der Wissenschaft ausstreckt, folgt nicht einer äußeren Nöthigung zu einem selbständigen Berufe, sondern einem unabweisbaren inneren Bedürfniß nach geistiger Vertiefung und Befreiung, dem edelsten menschlichen Triebe: nach Erkenntniß um der Erkenntniß willen, der heißen Sehnsucht, ihrem Leben einen lebenswerthen Inhalt zu geben.
Es gibt keinen verhängnißvolleren Irrthum, wie den leider so allgemeinen, daß dieser Inhalt dem Leben jeder Frau durch Ehe, Mutterschaft, Haushalt vollauf gegeben sei. Er konnte nur möglich werden, weil die Nächstbetheiligten, die Frauen selber - vereinzelte Ausnahmen, die als begabte Dichterinnen und Schriftstellerinnen natürlich immer als Ausnahmen galten, abgerechnet - sich bisher über ihr Innenleben, über ihre geistigen und seelischen Bedürfnisse so selten wahrheitsgemäß zu äußeren wagten. Wo aber der Mann sich berufen fühlte, seine Ansicht über Aufgaben, Bestimmung oder Seelenleben des Weibes auszusprechen, hat er - wie leicht begreiflich und natürlich - meist den Wunsch zum Vater des Gedankens gemacht....
Die Erziehungs- und Bildungsfrage des weiblichen Geschlechtes, von der für die Arbeiterin und für die erwerbende Frau des Mittelstandes, also für mehr wie neun Zehntel aller Frauen, hauptsächlich die wirthschaftliche Existenz abhängt, ist für die Frau der besitzenden Stände nicht sowohl eine praktische als eine ethische, darum aber nicht minder brennende, ihr ganzes Wohl und Wehe beeinflussende, ja bedingende Frage. Wenn sie sich also den Bestrebungen ihres Geschlechtes um vollwerthige Erziehungsanstalten, - sowohl in Bezug auf eine bessere Allgemein- wie eine bestimmte Fachbildung - um Freigabe des Hochschulstudiums und der wissenschaftlichen Berufe anschließt, so thut sie es nicht blos im Interesse derer, denen diese Errungenschaften einen directen praktischen Nutzen gewähren, sondern auch in ihrem und ihrer Standesgenossinnen allereigenstem Interesse. Solange unsere Töchter nicht einsichtsvoller erzogen werden, dürfen wir keine einsichtsvolleren Frauen und Mütter erwarten — nur der Unverstand kann hier Ursache und Wirkung verwechseln. Der Wahlspruch »Lehrt sie denken« - ist die Zauberformel für die materielle, geistige und sittliche Erlösung des Weibes.
Es gilt zwar gegenwärtig als oberster Rechtsgrundsatz, daß alle Angehörigen eines Staates vor dem Gesetze gleich sind, aber bekanntlich stehen die thatsächlichen Bestimmungen des bürgerlichen und öffentlichen Rechtes damit nicht im Einklang. Correcterweise müßte es heute noch in den meisten Gesetzgebungen heißen: Jeder Mann ist vor dem Gesetze gleich, und jede Frau ist vor dem Gesetze gleich. Hieraus ergibt sich, daß die Frauen aller Stände auch an der Entwicklung der Rechtsfrage in gleichem Maße betheiligt sind, .. Anders geartet, aber gleich gewertet. folglich auch gleich lebhaft dafür interessirt sein müssen. Durch die Vollendung und Annahme des neuen bürgerlichen Gesetzbuches für das deutsche Reich und die von den Frauenrechtlerinnen dagegen in's Werk gesetzte Agitation ist diese Frage in letzter Zeit auch bei uns in den Vordergrund gerückt, auch bisher fernstehenden Kreisen zugänglich geworden und hat das allgemeine Interesse und Verständniß für die Frauenfrage ganz außerordentlich gefördert. Im Strafgesetzbuch dem Manne als ebenbürtig erachtet und gleichgestellt, civilrechtlich als selbständige Rechtspersönlichkeit nur insoweit anerkannt, als die Unverheirathete oder Witwe in Betracht kommt, zählt die Frau im öffentlichen Recht in Deutschland noch gar nicht mit, ist sie von jeder Betheiligung an der lokalen und politischen Selbstregierung des Volkes ausgeschlossen. Sie hat weder Sitz und Stimme in der Armen- und Waisenpflege, noch im Schulund Erziehungswesen, noch in der Kommunal-Verwaltung, noch bei der Gesetzgebung, noch irgendwo sonst, wo ihre eigensten Angelegenheiten, über die ihr allein ein competentes Urtheil zusteht, zur Berathung und Entscheidung kommen.
Ein langer, beschwerlicher Weg ist da noch zurückzulegen, eine mühevolle Arbeit zu vollbringen, ehe die Frauenwelt an das erwünschte Ziel, zu ihrem guten Menschenrecht und zu ihrem vollen Pflichtantheil an allen Culturaufgaben der Menschheit gelangen wird, ohne die eine befriedigende, harmonische Lösung aller wirthschaftlichen, sozialen und ethischen Menschheitsfragen nicht möglich ist. Inwieweit auch die Frauen der oberen Stände sich an dieser Arbeit, an den Kämpfen ihres Geschlechtes betheiligen, hängt von dem Maß der individuellen Erkenntniß, des persönlichen Muthes der Einzelnen ab. Jedenfalls kann die Antwort, die man leider noch so oft zu hören bekommt, wenn man glückliche - und bequeme Frauen an ihre socialen Pflichten erinnert: »Mich trifft das nicht, mir gehts gut, ich bin mit meinem Lose zufrieden« - hier nicht gelten. Es trifft uns alle, die Königin wie die Bettlerin, denn » alle Frauen sind vor dem Gesetze gleich.« ...
In höchst geistvoller Weise hat vor einiger Zeit ein junger Philosoph die Frage: »Weib oder Persönlichkeit?« in einer Broschüre behandelt und das Resultat seiner Betrachtungen in die Antwort: »Weib und Persönlichkeit« zusammengefaßt. Damit bezeichnete er sehr glücklich das VoUmenschenthum, auf welches alle Bestrebungen der modernen Frau gerichtet sind. Die einseitige, von Alters her übliche Auffassung des Weibes lediglich als Geschlechtswesen hat alle bangen Frauenfragen der Gegenwart heraufbeschworen, nirgends aber prägt sie sich so klar und scharf aus, wie in dem widersinnigen Begriff der »weiblichen Sonderehre«, wie in den Prinzipien unserer landläufigen doppelten Moral, gegen welche die moderne Sittlichkeitsbewegung überall den Kampf aufgenommen hat. Die Herrschaft dieser doppelten Moral in den Beziehungen der Geschlechter ist aber nirgends so anerkannt, nirgends so absolut maßgebend, wie in der Frauenwelt der oberen Zehntausend. Das wirthschaftliche Moment ist ohne Zweifel von großem Einfluß auf diese Thatsache, vor allem dürfte sie aber darauf zurückzuführen sein, daß die Frauen dieser Kreise, trotzdem man sie lediglich für ihren Geschlechtszweck, d.h. für die Ehe und das Wohlgefallen des Mannes erzieht, doch sorgfältig und geflissentlich in völliger Unkenntniß über alles, was mit dem geschlechtlichen Leben zusammenhängt, erhalten werden, und in dieser völligen Unwissenheit den schönen, beruhigenden Märchen von der Verschiedenheit der männlichen und weiblichen Veranlagung, dem verschiedenen Sittengesetz und der verschiedenen Ehre nur allzu vertrauensvoll Glauben schenken. Auch der Umstand, daß die direkten Opfer der doppelten Moral und der damit im engsten Zusammenhang stehenden verhängnißvollen gesetzlichen und sozialen Einrichtungen niemals in diesen Kreisen selbst, sondern weit, weitab, in einer ganz anderen Welt zu suchen sind, kommt dabei in Betracht. Die wohlerzogene Frau hört und liest wohl oft genug von den »Gefallenen, Verlorenen, moralisch Todten«, von dem »Auswurf der Menschheit«, sie weicht ihnen in den Straßen der Großstadt in weitem Bogen aus, wenn sie der Zufall ihr in den Weg führt, aber sie denkt nicht entfernt daran, diese Unglücklichen als Unglückliche Lose Blätter im Interesse der Frauenfrage 97 oder gar als Wesen ihrer Art anzusehen. Sie ahnt nicht, darf es nicht ahnen, in wie nahen Beziehungen sie selbst zu diesem »Auswurf der Menschheit« steht, wen dafür die Schuld trifft, daß sie, die correcte, zartfühlende Frau mit dafür verantwortlich ist, ja daß sie selber nur zu oft das indirecte Opfer dieser Zustände wird, deren zersetzenden Einfluß auf das Familienleben, deren verheerende physische und moralische Folgen sie wohl vor Augen sieht, aber nicht auf ihren Ursprung zurückzuführen wagt.
Wie übel man es ihr vermerkt, wenn sie es doch thut und sich dagegen wehrt, wie weit in dieser Beziehung noch die Begriffsverwirrung geht, beweist u. a. - vielleicht am eclatantesten - das Vorurtheil der guten Gesellschaft gegen die geschiedene Frau, selbst gegen diejenige, die erwiesenermaßen ohne jede eigene Schuld, nur den Muth hatte, unerträgliche Fesseln zu lösen und sich aus einer entwürdigenden Gemeinschaft zu retten. Man verzeiht ihr nicht einmal die Kenntniß der Schuld, die man dem Schuldigen selbst nur zu gerne verzeiht. So kommt es, daß Manche lieber das Schlimmste duldet, oder besser die Augen davor verschließt, als das Odium der Geschiedenen auf sich nimmt.
Auch in dieser Beziehung bereiten sich - trotz aller traurigen fin de siecle-Erscheinungen große Wandlungen im Volksbewußtsein vor. Die alten festgewurzelten Begriffe von »männlicher und weiblicher Ehre«, »von nothwendigem Uebel« und »Austobenmüssen« etc. sind bedenklich ins Wanken gerathen. Die zuerst daran rüttelten, waren tapfere, großherzige Frauen, denen sich in richtigem Verständniß des weiblichen Ehrbegriffes die Erkenntniß aufdrängte, daß es keine Schande ist, diese schlimmsten Dinge zu kennen und von ihnen zu sprechen, wohl aber eine Schande, Augen und Ohren dagegen zu verschließen und sie todtzuschweigen. Sie wissen ganz genau, daß es mit Moralpredigen und Polizeimaßregeln nicht gethan ist, daß hier vor allem ausschlaggebende wirthschaftliche Factoren mitsprechen, und eine wesentliche Umgestaltung nur durch die materielle und intellectuelle Befreiung des weiblichen Geschlechtes herbeigeführt werden kann — aber sie wissen auch, daß neben der allgemeinen Propaganda zunächst jede einzelne Frau in ihrem Kreise unendlich viel zur allmähligen Verwirklichung der Idee, zur Weckung des öffentlichen Gewissens beitragen kann, als Gattin und vor allem als Mutter und Erzieherin des heranwachsenden Geschlechtes. Welche Hülfsmittel ganz besonders der Frau der höheren Stände durch ihr gesellschaftliches Uebergewicht und ihre wirthschaftliche Unabhängigkeit in die Hand gegeben sind, sowohl in Bezug auf die freiere Wahl eines sittlich ebenbürtigen Lebensgefährten, wie in Bezug auf eine natürlichere, gesündere, aufklärende Erziehung ihrer Töchter - und ihrer Söhne - Hülfsmittel, die bei der wirthschaftlich Unfreien in Wegfall kommen - das braucht nicht besonders betont zu werden. Freilich wird sie dieselben nur dann in der richtigen Weise und mit dem richtigen Nachdruck zur Geltung bringen können, wenn sie selbst aufgeklärt, selbst schon in diesem Sinne erzogen ist — oder sich selbst erzogen hat. Und so kämen wir denn auch hier auf die erste, grundlegende Forderung zurück, daß die Frau zunächst denken lernen muß, wie denn in der Frauenfrage alle Gebiete mit einander im engsten Zusammenhang stehen, gesondert überhaupt nicht zu behandeln und nicht zu lösen sind. ...
Ein weiteres Feld organisatorischer Thätigkeit eröffnet sich hier den für die Hebung ihres Geschlechtes und für das Gemeinwohl wirkenden Frauen - ein viel weiteres liegt auf einem anderen Gebiete. Armenpflege und Wohlthätigkeit genügen lange nicht mehr den Forderungen des neuen socialen Geistes -; ja sie gehören als Erscheinungs- und Bethätigungsformen unseres socialen Gewissens in der Theorie eigentlich schon der Vergangenheit an, wenn sie auch in der Praxis, die bekanntlich mit der Theorie immer auf etwas gespanntem Fuße steht, noch einen unentbehrlichen Factor zur Volkswohlfahrt und die nothwendige Ergänzung aller socialen Bestrebungen bilden, bis zu einem gewissen Grade wohl immer bilden werden. Aber, wie die heutige medicinische Wissenschaft neben der Theorie der Hygiene eine immer größere Bedeutung einräumt, wie sie ihre Aufmerksamkeit noch mehr als auf die Heilung vorhandener Krankheitszustände, auf geeignete Maßnahmen zur Verhütung derselben richtet, so gehen auch die modernen Socialwissenschaften, so müssen alle rationellen praktischen, socialen Bestrebungen auf eine vorbeugende Thätlgkeit hinausgehen. Es handelt sich darum und ist als vornehmste Aufgabe unserer Zeit erkannt, andere Lebensbedingungen für die arbeitenden Klassen zu schaffen und so den Krankheitserscheinungen am Volkskörper den Nährboden zu entziehen, ihre Entstehungsursache zu beseitigen. Grundverschieden sind die Wege, auf denen dies Ziel angestrebt wird, grundverschieden auch die Mittel, die dabei zur Anwendung kommen. Die Einen verlangen nur mehr oder minder durchgreifende Reformen in Bezug auf Arbeitsbedingungen, Lohnverhältnisse, Arbeiterschutz, im Rahmen der bestehenden staatlichen Einrichtungen und gesellschaftlichen Verhältnisse — die Anderen erblicken einzig und allein in der gänzlichen Auflösung der heutigen Gesellschaftsordnung das Heil und die Rettung, im Klassenkampf aber das Mittel, diese gänzliche Auflösung herbeizuführen. Darin aber sind die verschiedenen Richtungen einig, daß die wirthschaftliche und sociale Befreiung des vierten Standes nur durch diesen Stand, durch Selbsthilfe erreicht werden kann, und daß dazu die Organisation der Arbeiterschaft, vor allem berufsgenossenschaftlicher Zusammenschluß, die unerläßliche Grundbedingung ist. Diese Selbsthilfe zu fördern, jeden gerechten Anspruch derselben aus allen Kräften zu unterstützen, ist heute die erste ethische und sociale Pflicht der Besitzenden, die als solche auch von den besten, tüchtigsten Männern und Frauen erkannt worden ist. Ganz besonders ist dies das Gebiet, auf dem nach dem leuchtenden Vorbild, das uns in dieser Beziehung die englischen Frauen gegeben haben, auch bei uns gegenwärtig alle Frauenarbeit einzusetzen hat, auf dem vor allen Dingen gerade die Frauen der oberen Zehntausend unendlich segensreich wirken könnten, wenn sie die Frauenfrage der untersten Millionen, der Armen und Aermsten, durch Förderung und Unterstützung ihrer Organisationen, durch Eintreten für ihre berechtigten Forderungen zu ihrer eigenen Frauenfrage machten.
Auf welche Weise, mit welchen Mitteln dies geschehen müßte, darüber auch nur eine flüchtige Andeutung zu geben, würde weit über den Rahmen meines Themas und eines kurzen Vortrages hinausführen. Der alte Handwerksspruch sagt: Wer soll Meister sein? - Wer was kann. Wer soll Lehrling sein? Jedermann; - in unserem Falle möchte ich sagen: jede Frau, die unabhängig in gesicherter Lebensstellung, in Behagen und Ueberfluß lebend, den ehrlichen Willen hat, ihr bescheidenes Theil zum Wohl der Allgemeinheit beizutragen. Die erste sociale Pflicht wird es für sie sein, die Augen nicht länger den realen Thatsachen zu verschließen, sich sowohl durch eigene unmittelbare Anschauung, wie durch Studium der einschlägigen Literatur von den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Unzähligen Kenntniß zu verschaffen, die mit ihrer Lebenskraft für alle ihre Bedürfnisse, für ihren Luxus und für ihr tägliches Brot aufkommen müssen und dabei oft selber ihr tägliches Brot nicht haben.
Wer erst den richtigen Einblick gewonen hat, muß zu dem gleichen Resultat, zu der gleichen Ueberzeugung gelangen: daß so unnatürlichen und unhaltbaren Zuständen gegenüber politische Schlagworte so wenig angebracht sind wie philantropische Palliativmittel, ebenso wie sich niemand, der für Wesen, Bedeutung und Ziele unserer Bewegung das richtige Verständniß gewonnen hat, der Erkenntniß wird verschließen können: daß die Frauenfrage aller Frauen Frage ist, und daß ihre richtige Lösung auch für unser Geschlecht in »der Weisheit letztem Schlüsse« gipfelt:
»Nur der verdient die Freiheit und das Leben, Der täglich sie erobern muß!«
Nr. 14/1894
Frauenleben
Die Redaktion der Zeitschrift FRAUENLEBEN
An unsere Leser.
Mit dieser Nummer beginnt Frauenleben in einem neuen Format und mit bedeutend vermehrtem Inhalt zu erscheinen. Wir hoffen, dadurch den Wünschen unserer langjährigen Abonnenten entgegen zu kommen und zu den alten Freunden noch manche neue zu gewinnen.
Unserer Tendenz getreu, werden wir wie bisher die berechtigten Ansprüche der Frauen vertreten, und zwar unter Vermeidung von Phrasen und Uebertreibungen. Billige Recepte zur Bekämpfung aller socialen Uebelstände, sowie langathmige Abhandlungen über Unterdrücktsein und Sclaventhum werden in unserem Blatte keinen Raum finden. Dagegen werden wir bemüht sein, die Frauen, ihre Ansprüche und ihre Leistungen so gerecht als möglich zu beurtheilen, ein anregendes Bild des Frauenlebens auf allen Gebieten zu geben und durch praktische Aufsätze über Frauenerwerb, Kunst, Litteratur und Hygiene etc. unseren Leserinnen zu nützen.
Wir könnten noch mancherlei versprechen, doch ziehen wir es vor, unsere Leser ohne viele Worte auf nachstehende Blätter, als auf die Skizze unseres Programmes zu verweisen. Um dieses Programm im vollen Umfange durchführen zu können, erhoffen wir das Interesse aller gleichgesinnten Frauen.
Nr. 1/1901
Anselm Heine
GEÖFFNETE THÜREN
»Und was wollen Sie nun ergreifen, Fräulein Corvin? Welchen Beruf haben Sie sich gewählt?«
»Ich- ich weiß wirklich noch nicht. Tante Ludmilla will, ich soll zu ihr ziehen — sie wohnt im Stift, - meine Schwestern aber sagen, ich muß nach Berlin - in irgend eine Pension - das Gymnasium besuchen.«
Sie hat eine rührende, kleine Art zu sprechen, so wie Kinder oder ganz hoffnungslose Menschen. »Muth, Muth!« sagte er freundlich, »ich begreife ja - nach solchem Verluste, - aber endlich müssen Sie doch auch wieder vorwärts denken. Gerade im Sinne Ihres Vaters! Wenn er noch lebte -« »Ja, Papa wünschte es, daß wir uns selbständig machten.« — Doctor Sander blickt theilnahmsvoll auf die junge schwarzgekleidete Gestalt, die mit verschlungenen Händen und gesenktem Haupte vor ihm steht, den Kopf ein wenig zurückgebogen und leichtes Haar um Ohr und Wange spielend. Schade, daß man das süße kleine Mädel nicht gleich mit sich nehmen kann. Aber das wäre unpraktisch. Als armer Privatdozent! Und bis er es zum Heiraten gebracht hätte, wäre die kleine Olli Corvin längst selber was geworden. Lehrerin oder Diaconissin, oder Vorsteherin irgend eines nützlichen Instituts. So eine Berufsfrau — mit all den Ecken und Härten der Kämpfenden - all dem Unvornehmen, das den neuen Culturen anhaftet. Schade! »Das ist mal so heutzutage,« sagte er laut. »Die Mädchen sind selbstbewußter geworden. Sie finden es unwürdig, nur so dazusitzen und zu warten, bis man ihnen Titel und Stellung anheiratet. Nicht wahr? Früher begnügten sie sich mit dem Negativ »Unverehelicht« als Standesbezeichnung, heute will jede selbst was sein. Sie dürfen nicht glauben, daß ich dagegen spreche! Sie sind im Rechte. Vollständig im Rechte. Warum hat man Ihnen den Käfig geöffnet? Nun müssen Sie eben hinaus.« »Nun muß man hinaus«, wiederholt sie leise. »Und wir Männer — wenn sich auch manchmal noch so ein Rest Pascha in unserm Blute dagegen wehrt, — wir gewöhnen uns in die neue Anschauung.« »Ja, ich glaube, so ist es«, bestätigt sie wieder verträumt und traurig.
Brüderlich nimmt er ihre kleinen kalten Hände zwischen die seinen. »Und vergessen Sie nicht, daß Sie Freunde haben, die Ihnen helfen möchten.« Sie ist ganz still vor ihm stehen geblieben, scheu, wie ein verflogenes Vögelchen, auf das man die Hand legt. »Ich weiß, ich weiß«, sagt sie hastig, »und sie fragen ja auch alle, was ich nun »ergreifen« werde.« Er hält noch immer ihre Hände in Haft, ruhig, ohne Dringlichkeit, aber wie er in ihr stummes, melancholisches Gesichtchen sieht, quillt eine große Zärtlichkeit in ihm auf, als müsse er dieses hilflose kleine Geschöpf bewahren und halten fürs Leben. Es ist sonnig und still im Verandazimmer. Nichts als das trockene Hüpfgeräusch des Dompfaffen auf seinen Stangen. Vom Garten athmen die Jasminbüsche gewaltige Duftstöße herauf. Dazwischen fließt der zarte weiße Blumengeruch der Akazien. Olli fühlt des Mannes werbende Empfindung als neue Lebensfülle auf sich einströmen. Ihre kühle weiche Haut strafft sich in wohliger Wärme. So steht sie da auf dem blumigen Dielenteppich erwartungsvoll und weich, mit gefesselten Händen, als trügen Sonnenschein und Düfte ihr eine Verheißung zu. Der junge Mund zittert ein wenig. Fragend schlägt sie die Augen auf. Sie schauen sich an und empfinden dabei eine solche Seligkeit, daß sie erbleichen. Tiefes gesättigtes Schweigen ist auf sie nieder gesunken. Ein Augenblick - und aus diesem Schweigen wird sich die entscheidende Bewegung, das bindende Wort gestalten. Olli's Brust dehnt sich gewaltsam, das schwarze Jet-Kreuz an ihrem Halse blitzt blendend auf. Unwillkürlich schließt Sander die Augen vor dem spitzen Strahl. Und blitzschnell löst sich ihm das leichte physische Unbehagen in eine Reihe mißfügiger Vorstellungen! Ob sie im Stift auch so was tragen würde? Wenn er jetzt Olli an sich bindet, braucht sie sich keinen Beruf zu suchen. Sie wird einfach zu Tante Ludmilla gehen und auf ihn warten. Jahrelang! Mit ewig auf ihn gerichteter Geduld, ewig für ihn geöffnetem Kelche. Es hat beinahe was Lähmendes, daran zu denken! Und kommt man endlich - anstatt einer begegnenden frei entwickelten Seele eine »Angehörige«, Hörige, ein Echo! Aber das genügt einem nicht mehr heutzutage! — Mit einer unwillkürlichen Bewegung gibt er die umfaßten Hände frei. In Olli ist es plötzlich kalt geworden. Alle Fluthen sind zurückgeebbt. Wohin sie blickt, nur die öde Verlassenheit von vorhin. Und wie so plötzlich wieder? Große Tropfen überlaufen ihre Wangen und bleiben, in viele glitzernde Brillanten zerstäubt am Krepp ihres Kleides hängen. Bedrückt sieht Sander zu, wie sie langsam darin aufgesogen werden. »Wenn ich Ihnen für Ihre Zukunft irgend etwas nützen dürfte«, sagte er herzlich. »Sie wissen, daß Sie immer auf mich rechnen können.« Olli wartet, bis ihre Stimme fest geworden ist. »Ich danke Ihnen«, erwidert sie dann mit einem dünnen, conventioneilen Lächeln, »vielleicht später. Erst habe ich das Gymnasium durchzumachen und dann - - Papa wünschte ja immer, daß ich Medizin studirte«.--------Nun ist er gegangen. Olli stellt sich ans Fenster und sieht ihm nach, wie er über den sonnigen Marktplatz geht. Sein Schatten gleitet ihm nach, seltsam verkürzt, wie mit hochgezogenen Schultern. Und jetzt ist nur noch der zu sehen. Langsam und schmal kriecht er an der gelben Rathhauswand entlang. Nun ist auch das verschwunden. Vorbei. Olli starrt noch immer hinab. Gedankenlos. Die Luft um sie her ist gleichsam verschleiert von einer stummen Bitterkeit, die nach lösenden Gedanken ringt. Nichts formt sich in ihr zur klaren Vorstellung von Allem, was sie sieht. Unbeweglich steht die goldne Birnbaumkrone über dem Pfarrgarten. Kleine Mädchen kauern am Boden und stecken von den vergilbten Blättern, die auf sie herabwehen, Ketten und Kränze zusammen. Vor dem »Kölner Hof« jagen sich zwei Fleischerhunde mit großen Sprüngen umeinander. Da steht der lahme Mensch wieder und bettelt. Er hat ihr mal seine Geschichte erzählt: Zehn Jahre hätte er im Zuchthause gesessen, seine ordentliche Arbeit gehabt und jeden Tag sein Essen, bis sie ihn auf einmal begnadigt hätten. Von da ab wär's ihm schlecht gegangen. Kein Mensch, der sich um ihn bekümmert hätte. Dazu mitten im Winter. Er hätte auch wieder zurück gewollt. Aber sie hätten ihn nicht genommen. Denn wer einmal zur Freiheit begnadigt ist, der muß eben raus. Da hilft kein Bitten.
Jetzt humpelt er weiter. Genau den Wegstreifen entlang, den Sander vorhin ging. Es kommt Olli so vor, als würde ihr Erinnerungsbild dadurch beschmutzt. Und als wäre wirklich etwas daran haften geblieben, so klingen ihr auf einmal Sanders Worte zurück, in einer neuen, furchtbaren Bedeutung. »Man hat Ihnen den Käfig geöffnet, nun müssen Sie hinaus.«
Jawohl hinaus. Unerbittlich hinausgestoßen, auch die Zärtlichen, die zu ihrem Wohle der Abhängigkeit bedürfen. Schutzlos stehen sie dann im ungewohnten Anhauche des Lebens, bis sich die bescheidene Schönheit ihres Wesens verkrümmt und verhärtet zur Unform. Sehnsüchtig schleichen sie an den Außenmauern ihres Gefängnisses vorbei, ob einer Mitleid hätte, sie wieder hineinließe in die alte Anspruchslosigkeit, aber umsonst, denn es gibt für sie einen Zwang zur Freiheit - in dem neuen Gewissen der anderen.
Man hat ihnen die Thüren geöffnet - nun sind sie zur Freiheit verurtheilt.
Nr. 1/1901
Neues Frauenleben
Henriette Fürth (Frankfurt a.M.)
DIE SEXUELLE FRAGE
Wer sich gewöhnt hat, die sexuelle Frage nur unter dem engen Gesichtswinkel des eigentlich Geschlechtlichen zu betrachten, der wird voll Erstaunen der Fülle von Beziehungen zu allen, auch den scheinbar weitabliegenden Gebieten des menschlichen Lebens gewahr werden, die ihm das treffliche Werk des schweizerischen Gelehrten mit überzeugendei Eindringlichkeit und Folgerichtigkeit nachweist.
Wem aber die Sexualität mehr ist: die zentrale Lebensmacht, die im Guten wie im Bösen unser Schicksal bestimmt, die in unsere geistige Wesenheit gerade so hineinragt wie in unsere körperliche und seelische, der wird mit frohem Aufatmen ein Werk begrüssen, in dem ein anerkannter Gelehrter, der zugleich ein ganzer Mann und ein feinfühlender Seelenkenner ist, das Ganze der sexuellen Frage vor uns aufrollt.
Es in allen seinen Teilen zu würdigen, ist unmöglich. Die Abschnitte, in denen der Fachmann die Anatomie und Physiologie der Sexualorgane, ihre Pathologie und Therapie erörtert, sind mustergiltig in ihrer knappen Klarheit. Die Art, wie Forel hier seinen Stoff meistert, wie er auch bei den heikelsten Kapiteln den Leser mit dem sicheren Zutrauen erfüllt, dass hier fern von Sentiment und Sensation und doch in unendlich herzwarmer Weise von einer Sache geredet wird, die das Wohl und Wehe aller betrifft, lässt es nicht nur wünschbar, sondern geradezu notwendig erscheinen, dass das Werk in der Hand des denkenden Erziehers, also auch der Eltern nicht fehlen sollte.
Ist es auch recht schmerzlich, an Kapiteln wie z. B. dem über die Keim- und Stammesgeschichte der Lebewesen oder an dem über die sexuelle Evolution, in dem die geistvolle Hypothese Semons über die Mneme (das Artgedächtnis) als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens in sympatisierender Weise behandelt wird, achtlos oder vielmehr bloss hinweisend vorübergehen zu müssen, so gebietet doch die Unmöglichkeit einer umfassenden und erschöpfenden Behandlung aller zur Diskussion stehenden Fragen die Beschränkung auf ein Spezialgebiet.
Von dieser Erwägung ausgehend, haben wir uns vorwiegend mit den Teilen des Werkes zu beschäftigen, die, wie die Fragen und Aufgaben der Pädagogik, die Niederschläge der sexuellen Verhältnisse und Anschauungen im Rechts- und Gesellschaftsleben, darnach angetan sind, die Frauen als Menschen wie als Mütter in gleicher Weise zu interessieren.
Das erste der uns in diesem Zusammenhang fesselnden Kapitel ist das VI. über die »Ethnologie, Urgeschichte und Geschichte des menschlichen Sexuallebens und der Ehe«. Forel macht sich hier völlig und, wie mir scheint, ziemlich kritiklos die Auffassung Westermarcks zu eigen, nach der der Mensch von Haus aus mongamisch veranlagt sei, wobei freilich unter Monogamie mit W. jede »länger oder kürzer dauernde Verbindung zwischen bestimmten Männern und Frauen« verstanden wird, »die über den blossen Fortpflanzungsakt hinaus mindestens bis nach der Geburt des Kindes währt.« Zum Beweis werden die, wenn wir so sagen dürfen, monogamischen Sitten der höheren Säugetiere herangezogen und geleugnet, dass Promiscuität (regellose geschlechtliche Vermischung) selbst zu irgend einer frühesten, jeglicher Kultur baren Zeit vorhanden gewesen sei. Was er dafür geltend macht, ist wenig stichhaltig. Auch versteht Forel Morgan falsch, der die nachweisbaren Verwandtschaftssysteme nach Mutterseite keineswegs direkt auf Promiscuität, sondern auf die sie ablösende Gruppenehe zurückführt. Und wenn, wie hier geschieht, Forel die Prostitution als die einzige vorkommende und ausschliesslich als Degenerationsmerkmal zu wertende Promiscuität bezeichnet, so mag das für die heutige Prostitution zutreffen, steht aber im übrigen in Widerspruch mit einer Reihe durchaus schlüssiger gegenteiliger Bekundungen namhafter Forscher, die es als zweifelhaft erscheinen lassen, ob der Mensch von Haus aus monogam ist, oder ob wir nicht vielmehr die Monogamie als eine Blüte kultureller Entwicklung zu betrachten haben. Dafür spricht u. a. auch die Tatsache, dass Prostitution keineswegs zu allen Zeiten und bei allen Völkern für schimpflich galt, bezw. gilt. So gibt es eine Reihe von Völkerschaften (im malayischen und im Südseearchipel, Japaner etc.), die die voreheliche Prostitution als rechtlich und sittlich zulässig betrachten. Die verschiedenen Formen der Ehe (Polyandrie, Polygamie) beweisen in der gleichen Richtung und machen die strenge Monogamie als ein Produkt kultureller Differenzierung wahrscheinlich. Wahrscheinlich, denn schlüssig wird man erst dann darüber urteilen können, wenn die heutige Zwangsehe mit ihrem Gefolge von Unmoral und Heuchelei durch freie selbstgewählte bezw. individuell bestimmbare Geschlechtsverhältnisse ersetzt sein wird. Für sie tritt denn auch Forel rückhaltlos ein, obwohl oder vielmehr gerade weil ihm die »innerlich wahre Monogamie als das normalste, höchste und beste sexuelle Liebesverhältnis« erscheint (S. 411, 4. Aufl.). Aber »wenn auch die Monogamie die normalste und natürlichste Form der Ehe und der Familie bildet und wenn sie an sich die besten Bedingungen eines dauerhaften Glückes sowohl für die Ehegatten wie für deren Kinder bietet oder wenigstens bieten kann, so muss man bis zur Blindheit voreingenommen sein, um nicht einzusehen, dass es ein grundsätzlicher Fehler gegen die Natur ist, die Monogamie als die allein seligmachende Eheform, als den einzigen Rettungsanker des sexuellen Verkehrs zu betrachten und aus ihr eine rechtliche Zwangsjacke für die Menschheit zuzuschneiden.«
Einen weiteren wertvollen Fingerzeig für die den Charakter der Einehe bestimmenden Entwicklungsfaktoren und die Stellung der Frau innerhalb und zu der Ehe gibt uns Forel in dem Hinweis darauf (Kap. 6, S. 167), dass bei den Wilden und teilweise auch bei den Bauern Weiber und Kinder eine Hauptquelle des Reichtums, weil arbeitsam und bedürfnislos sind, während städtische Kultur, mit ihren kostspieligen Frauen und ihrer teueren Kindererziehung der Eheschliessung abgünstig seien. Hier treten alle unsere Zeit bedrängenden Wirtschaftsfragen an unser Problem heran. Die Kulturwelt hat sich allzusehr daran gewöhnt, in der Frau nur das Geschlechtswesen zu sehen und dies um so mehr, je weniger die veränderte Produktionstechnik mit ihren Verschiebungen und Folgeerscheinungen auf hauswirtschaftlichem Gebiet der Ehefrau eine produktive Anteilnahme am Wirtschaftsleben zuwies.
Heute aber, wo Millionen Frauen wiederum in regelmässiger, vorwiegend produktiver Erwerbsarbeit stehen und immer neue Millionen der Arbeit und nicht der Geschlechtlichkeit als einem Lebensinhalt zustreben, mag man mit Sicherheit einen Umschwung auch auf sexuellem Gebiet voraussagen.
Bücher wie das Forel'sche sind geradezu Wahrzeichen in dieser Richtung und es entspricht nur dem neuen Stand der Dinge, wenn Forel im Verlauf seiner Auseinandersetzungen über die zivilrechtliche Seite der Ehe die Auffassung vertritt, dass die Zivilehe ein auf der absoluten rechtlichen Gleichstellung und völligen Gütertrennung der Ehegatten begründeter, leicht löslicher Vertrag sein müsse, dem durch psychische Qualitäten und vor allem durch die Kinder, für die beide Eltern dauernd die moralische und wirtschaftliche Verantwortung zu tragen hätten, Halt und Dauer verliehen werde. Er tritt in diesem Zusammenhang auch für die Zulässigkeit von Probeehen ein und will ferner die hauswirtschaftliche Arbeit der Frau ökonomisch gewertet und entsprechend entlohnt sehen.
Diese anscheinend oder vielmehr in den Augen vieler in dem vorliegenden Zusammenhang durchaus nebensächliche Forderung enthält einen Kern und Beziehungen von unendlicher Tragweite auch auf dem Gebiet der sexuellen Psychologie und sogar der Pathologie. Sie rührt an die wirtschaftliche Hörigkeit der Nur-Ehefrau, einen Krebsschaden unserer Rechts- und unserer gesellschaftlichen Gewohnheitsordnung, der nicht nur Unbequemlichkeiten, sondern mehr Herabwürdigung, Unglück und Leid im Gefolge hat, als der oberflächliche Beobachter sich träumen lässt. Das Gesetz schreibt allerdings vor, dass der Ehemann seiner Frau und seinen Kindern einen angemessenen Lebensunterhalt schuldet. Welche Handhaben aber sind für die Erfüllung dieses Buchstabenrechtes gegeben? In wie viel Tausenden, ja Hunderttausenden von Fällen muss die Hausfrau das ihr zustehende Wirtschaftsgeld herausbetteln oder durch unwürdige Praktiken herauslisten? In wie viel anderen bekommt sie von dem sogenannten »Ernährer« entweder gar nichts oder einen für die Bedürfnisse der Familie absolut unzureichenden, zum Einkommen des Mannes in gar keinem Verhältnis stehenden Betrag? Das führt dann zu Verrohung und moralischer Entartung auf beiden Seiten, wenn es auch nicht immer so weit kommt wie in der bekannten Mordaffäre in Offenbach am Main. Dies der starren Dogmatik der Gesetzgebung vorauseilende, aber den tatsächlichen Erscheinungen und Notwendigkeiten der Zeit um so sicherer entsprechende Fühlen und Denken, das sich mit den bedeutsamsten Forderungen modernen Frauentums begegnet, kennzeichnet das Schaffen und die Gedanken- und Gefühlswelt Foreis. Ein ganzer Mann redet hier zu uns, dem man auch da, wo man ihm nicht zu folgen vermag oder ihm entgegen sein muss, die Anerkennung absoluter Wahrhaftigkeit und sittlichen Freimutes nicht versagen kann. Ein Kämpfer für das Recht und eine neue Moral auf Gebieten, auf denen die allerwenigsten sich zu klaren Erkenntnissen oder gar zum Mut des Bekennens durchringen.
Die Sexuell-Pathologischen finden in ihm den verständnisvollen Freund und ärztlichen Berater, der für diese Unglücklichen unser Mitgefühl wachruft und für sie an jene Gerechtigkeit und Menschenliebe appelliert, die ihren lebendigen Ausdruck nicht in Zuchthäusern und Strafgefängnissen, sondern in vorbeugender Fürsorge, in der ärztlichen Ueberwachung und Behandlung und im Notfalle in der zeitweiligen oder dauernden Internierung oder der Kastration solcher Entarteter findet. Nicht der Strafrichter sollte hier zuständig sein, sondern der Psychiater, dessen Machtvollkommenheiten entsprechend zu erweitern wären. Auch die Homosexuellen will er dem Arzt überantwortet und dem Strafrichter nur für den Fall der Schädigung Dritter freie Hand gelassen sehen. Mit voller Schärfe sollen dagegen alle sexuellen Verbrechen und Vergehen gegen das Kind geahndet werden. Eine Forderung, die zweifellos die Billigung aller finden, ganz gewiss aber in Frauenkreisen rückhaltloser Zustimmung gewiss sein kann.
Das Kind ist ihm das Heiligtum, das es uns allen sein sollte. Sowie er die Zeugung geistig oder körperlich verkrüppelter Kinder brandmarkt und in Ehen, in denen ähnliches zu befürchten ist, den Präventivverkehr fordert, so tritt er auch mit aller Entschiedenheit der leider immer noch recht verbreiteten Anschauung entgegen, die im Kinde das unbeschränkt ihrer diskretionären Gewalt überlassen Eigentum der Eltern und einen im egoistischen Familieninteresse verwendbaren Ausnützungsgegenstand sieht. Unter Hinweis auf den Fall Dippold und ähnliches, auf die Roheiten und Misshandlungen von Kindern durch die eigenen Eltern fordert er eine dem eingeborenen Rechte des Kindes entsprechende Einschränkung der elterlichen Gewalt bei voller Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Verantwortlichkeit und Verpflichtung der Erzeuger.
Das Kind ist ein geheiligter Selbstzweck, der Zukunftsträger der Gesellschaft. Darum muss seiner »richtigen, allseitigen körperlichen und geistigen Entwicklung die ganze Sorgfalt der Gesellschaft gewidmet sein. Harmonisch müssen Intellekt, Gefühl und Willen, Charakter, Altruismus und Aesthetik nach Möglichkeit entwickelt werden. Ein guter erblicher Typus muss durch richtige Erziehung und Arbeit zur vollen Entfaltung gelangen.«
Wie das zu geschehen habe, entwickelt Forel nach den Grundsätzen hervorragender Pädagogen und unter Zugrundelegung der in den Lietz'schen Landerziehungsheimen und ähnlichen Veranstaltungen erzielten Erfahrungen und Erfolgen in dem trefflichen 17. Kapitel seines Werkes, das Eltern und Erziehern ganz besonders ans Herz gelegt sei.
Zur Frage der Vorbereitung der Töchter auf Ehe und Mutterberuf, wie überhaupt der sexuellen Aufklärung wird manch goldenes Wort gesprochen. Die Gesamterziehung aber, die im Elternhaus und die in der Schule, soll nicht auf einseitiger Verstandeskultur, sondern auf allseitiger harmonischer Beeinflussung von Intellekt, Seele, Gefühl und Wille aufgebaut werden. Wie freudig können wir alle da zustimmen, wir, denen die Erziehungspraxis schon längst klar gemacht hat, dass alles Moralisieren und furchtbar wichtige Erziehen von Uebel, dass ein Minimum von Erziehung ein Maximum von Weisheit ist und nur ein vorbildliches Tatleben uns die rechte Einwirkung auf unsere Kinder sichert.
Und dann das Vermögen, ein Kind in rechter Weise zu beurteilen und unvermerkt zu führen. »Was unsere Pädagogie und unser Unterricht bisher nicht verstanden haben, das ist, den Menschen richtig zu werten. Der soziale Wert eines Menschen besteht aus zwei Faktorengruppen: die erblichen Anlagen (geistige und körperliche) und die anerzogenen oder angelernten Fähigkeiten . . . Erst auf der Basis einer richtigen Wertung der Menschen wird man auch eine richtige bewusste menschliche Zuchtwahl begründen können.«. (S. 523.) Mit diesem Ausspruch sind wir zum grundlegenden Punkte des Forel'schen Werkes gelangt, zu dem, der dem Menschen Forel aus warmem Fühlen für die Menschheit die Feder in die Hand gedrückt haben mag. In logischer Verknüpfung reiht er sich jenen Sätzen der Einleitung an, in denen es heisst: »Die Menschheit muss für ihr Glück wünschen, dass ihre Fortpflanzung in einer Art geschehe, die ihre sämtlichen physischen und psychischen Eigenschaften, sowohl mit Bezug auf Kraft und körperliche Gesundheit, als mit Bezug auf Gemüt, Verstand, Wille, schöpferische Phantasie, optimistische Liebe zur Arbeit, Lebenslust und Solidaritätsgefühl fortschreitend erhöhe. Somit muss sich jeder Lösungsversuch der sexuellen Frage auf die Zukunft und das Glück unserer Nachkommen richten.«
Damit sind wir mitten in einem Kapitel, das mehr als jedes andere umstritten, in dem die Wegeführung und Urteilsfindung schwieriger und verantwortungsvoller ist als auf jedem anderen, die freie Meinungsäusserung einen grösseren moralischen Mut voraussetzt als irgendwo sonst.
Von der richtigen Erwägung ausgehend, dass die Qualität der Volksvermehrung wesentlich wichtiger sei als die Quantität, tritt Forel der Frage des Neo-Malthusianismus gegenüber. Nicht allgemeine Beschränkung der Kinderzahl, sondern Einrichtungen, die darnach angetan sind, die Fruchtbarkeit geistig und körperlich gesunder Menschen zu erhöhen und entartete Elemente tunlichst von der Fortpflanzung auszuschliessen. Er argumentiert dabei so: »Ein tüchtiger Mensch leistet für die Gesellschaft viel mehr, als er von ihr nimmt und ist daher nationalökonomisch ein Wert. Ein geistiger oder körperlicher Krüppel nimmt dagegen meist mehr als er leistet und bedeutet daher national-ökonomisch ein Defizit.« Darum soll körperlich oder geistig stark belasteten Menschen die Ehe zwar nicht verboten, wohl aber die Fortpflanzung widerraten werden. Forel empfiehlt an dieser Stelle den Präventivverkehr, den er auch dann für angezeigt hält, »wenn junge Menschen eine Ehe miteinander eingehen, bevor sie wirtschaftlich kräftig genug sind, eine Familie zu erhalten.« Nicht mit Unrecht erblickt er in einer Verallgemeinerung solcher Tendenzen ein wirksames Bekämpfungsmittel der Prostitution, der die wirtschaftliche Unmöglichkeit einer frühzeitigen Familiengründung unendlichen Vorschub leistet, und endlich sieht er darin die Möglichkeit, eine über das Mass der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit hinausgehende Kinderzahl zu verhüten.
Die Furchtsamen, denen jeder neue Gedanke und erst recht auf dem unverletztlichen Gebiet überkommener Moral Schrecken einflösst und ebenso die Pharisäer und Heuchler werden Zeter darüber schreien, dass ein Mann der Wissenschaft solcher Verderbnis öffentlich das Wort zu reden vermag. Das berührt glücklicherweise die gesunden und beherzigenswerten Darlegungen Foreis nicht, die ebenso schlicht, ruhig und unsensationell sind, als andere Publikationen zu dieser Frage durch die Art ihrer Behandlung widerlich und abstossend wirken.
Die Gefahr, die indess andererseits unbestreitbar in einer Befürwortung des Präventivverkehrs liegt, glaubt Forel, und meines Erachtens mit Recht, genügend dadurch eingedämmt, dass die lebens- und zeugungskräftigen Menschen, von denen ein brauchbarer Nachwuchs zu erwarten ist, sich dann vorwiegend vermehren werden, während der Verzicht egoistischer und genusssüchtiger Menschen auf Fortpflanzung vom rassepolitischen Standpunkt aus nicht als Schaden zu betrachten ist. Wer durch freiwilligen Verzicht auf Nachkommenschaft das Leben verneint, der ist eben des Lebens nicht wert.
In ähnlicher Weise nimmt Forel Stellung zur Frage des Abortus. Grundsätzlich ist ihm der Embryo unantastbar. »Das Recht auf Leben soll die Frucht haben, sobald sie gezeugt worden ist . . . Auf der anderen Seite sollten recht viele Ausnahmen von dieser Regel gestattet werden, und sollten die Aerzte nicht gar so streng sein, »denn sie sind es vor allem, die in der Frage zu entscheiden haben.« . . . Und »Es ist eigentlich schrecklich, dass die Gesetze uns zwingen, Früchte, die als Kretinen, Idioten, Hydrokephalen, Mikrokephalen und dergl. geboren werden, am Leben zu erhalten. Wird man nicht in Zukunft dazu gelangen, es wenigstens zuzulassen, dass unter Zustimmung der Eltern und nach gründlicher ärztliche Expertise, solche unglückliche Neugeborenen durch milde narkotische Mittel beseitigt werden, statt sie durch Zwang des Gesetzes einem Märtyrerleben zu überantworten? Auch hierin schmachtet unsere Gesetzgebung noch unter dem Druck einer alten religiösen Dogmatik. Einerseits organisiert man grosse Armeen, um Tausende der gesündesten Menschen zu töten, und lässt viel Tausend andere durch Hunger, Alkoholismus, Prostitution und Ausbeutung zugrunde gehen, während man andererseits von der Medizin verlangt, dass sie alle Kunst und Anstrengung darauf verwende, um elende, körperliche und geistige Krüppel möglichst lange am Leben zu erhalten.« (S. 441 f.)
Und im traurigen Gegensatz dazu wiederum der Fluch, der auf den sogenannten »Kindern der Liebe« lastet! Eine Bewegung ist im Werden, um ihnen zu helfen. Aber noch dämmert kaum das Frührot dieses neuen Tages der Menschenfreiheit und mit unserem Autor können wir uns sagen: »Gelangen wir, wie wir es hoffen, zu grösseren Frauenrechten und zu einer grösseren sexuellen Freiheit im allgemeinen und auch in der Ehe, SO werden immer seltener andere als strengmedizinische oder sozial-hygienische Gründe den künstlichen Abortus rechtfertigen können. Der ungerechte Makel, der heute noch an unehelicher Mutterschaft haftet, rechtfertigt zwar sehr viele Fälle von künstlicher Fruchtabtreibung und sogar von Kindesmord. Es muss aber anders werden. Keine Schwangerschaft sollte künftig zum Schandmal für ein Weib werden und irgend einen Grund zur Verheimlichung geben.«
Wir sind am selbstgesetzten Ende unserer fragmentarischen Notizen zu dem umfassenden Werke Foreis. Denn nur notgedrungen verzichten wir darauf, auf so manches einzugehen, was Forel zum Alkoholismus und besonders was er in seinem Schlusskapitel: »Rückblick und Zukunftsperspektive« zur Frage der künftigen Ehegestaltung etc. zu sagen hat. Aber wir würden glauben, einem Menschen von seiner Bedeutung unrecht zu tun, wenn wir einige Einwendungen, die wir zu machen haben, unterdrückten. Dass wir Einwendungen zu machen haben, versteht sich von selbst. Der einzelne und sei er ein noch so umfassender Geist, kann ganz unmöglich allen Teilen dieser Frage in gleicher Vollkommenheit gerecht werden.
Daneben sorgen auch das Gefühl und Temperament des Verfassers, Eigenschaften, die in so glücklicher Weise die Eindringlichkeit und Ueberzeugungskraft des Ganzen erhöhen, dafür, dass Widerspruch nicht ausbleiben kann. So begegnen wir an einzelnen Stellen, trotz unbedingten Eintretens für die Frauensache, der eingeborenen Auffassung, dass der Mann im allgemeinen denn doch dem Weibe überlegen sei. Auch will mir der Chauvinismus des weissen Kulturträgers nicht gefallen, der sich berechtigt glaubt, über nach seiner Meinung inferiore Menschenrassen das Todesurteil auszusprechen. Das tut aber Forel nicht nur in Bezug auf Neger und niedrig stehende Naturvölker, sondern auch in Bezug auf die Chinesen.
Doch das sind Nebendinge. Das Schönste und Beste an dem Werke aber, das alle für die höchsten Menschheitsprobleme Interessierten ihrem Bücherschatz einverleiben sollten, ist, dass hier nicht ein verknöcherter Fachmann oder ein fanatischer Parteigänger zu uns redet, sondern ein Mensch. Ein klar denkender und warm fühlender Mensch, der Zustände und Geschehnisse im Lichte des Entwicklungsgesetzes vor uns entstehen lässt und sie betrachtet und behandelt unter dem Gesichtspunkte des Menschen, dem nichts Menschliches fremd ist.
Nr. 2/1906
Marie Chowanetz (Berlin)
BODENREFORM
Ich weiss von den Wohnungs- und Grundbesitz-Verhältnissen in Oesterreich nicht viel, da ich, obgleich eine Oesterreicherin, schon zu lange von der Heimat entfernt bin, aber ich erfahre ab und zu, dass die Wohnungen in Wien noch viel teuerer seien als in Berlin. Ein solcher Misstand wird wohl die gleichen Ursachen haben. Meine Landsmänninnen mögen mir verzeihen, dass ich auch nicht weiss, ob man in Oesterreich schon auf Abhilfe gesonnen, und ob man sich darüber schon klar geworden ist. Ich will von der Ursache des Entstehens, von den Zielen und den Bestrebungen des »Bundes Deutscher Bodenreformer« erzählen. Er scheint mir einer der gesündesten und segenreichsten Vereine zu sein. Ausnahmsweise gehen hier die Interessen der Regierung mit dem Fortschritt Hand in Hand. Der Bund geht von dem Gedanken aus, dass das immer sich noch steigernde Massenelend zum grossen Teil von der Wohnungsnot herrührt. Jeder, der nicht wirklich vermögend ist, hat darunter schwer zu leiden. Alljährliche Mietsteigerungen haben stetigen Wohnungswechsel, Ausgaben über die Verhältnisse, Aufgeben genügender Befriedigung anderer notwendigster Bedürfnisse im Gefolge. Aber für den Arbeiterstand bedeutet die Mietshöhe direkt eine Lebensund moralische Gefahr. Wie oft erzählen die Zeitungen anlässlich von Katastrophen und Strassenexzessen von Kellerlöchern, in denen mehrere Familien, darunter Kranke und Kinder, hausen, in welchen von Luft, Licht und Reinlichkeit keine Rede sein kann und in welchen sich sans gene vor der Jugend alle möglichen rohen und unsittlichen Vorgänge abspielen. Aus solchen menschlichen »Heimstätten« geht die Zahl unserer Krüppel und Verbrecher hervor. Die Flugblätter des Vereins für »Bodenreform« liefern gar manches statistische Beispiel zu diesem Kapitel. So z. B. die Festnagelung einer kleinen Anzeige aus einem Thüringer Blatt: »Dort und dort (in Mühlhausen) ist ein Platz in einem Bette! zu vermieten!!« Wie oft mag die Ursache, dass Familienväter, die vorher sparsam und tüchtig gewesen, immer mehr die Wirtshäuser aufsuchen und schliesslich zu Trunkenbolden werden, darin liegen, dass sie, bei vermehrter Kinderschar, nach des Tages Last und Mühe zu Hause keinen ruhigen Fleck mehr fanden. Eine den Verhältnissen entsprechend grössere Wohnung ist ihnen unmöglich geworden, weil die Miete der kleinen Wohnung schon weit über ihre Zahlungsfähigkeit hinaus geht. So fliehen sie das freudlose Heim und suchen Vergessen ihrer ungemütlichen Lage und ihrer Lasten im Glase. Dann das Los der Frau, die für die Miete mitschuften muss und das Los der Kinder!
Und was ist schuld an dem Wohnungselend, das so viel, viel tiefgreifender ist, als man in solch einem Aufsatz berühren kann? Der Bodenwucher.... Sie alle, — die Gesamtheit, das Volk, - muss dazu dienen, die Bodenwucherer reich zu machen. Niemand sieht etwas Besonderes darin, eine günstige Konjunktur geschickt zu benutzen. Die Moral steht in dieser Hinsicht noch so unklar da, dass ich glaube, überhaupt nicht viele Menschen finden zu können, die der Versuchung widerstehen würden, bei günstiger Gelegenheit durch billigen Kauf und teuren Verkauf eines Grundstückes ihr Vermögen zu begründen.
Das Gewissen muss da erst geweckt werden. Das versucht der Verein für Bodenreform zu tun. Der Anstoss zu dieser Bewegung ging von Amerika aus durch das epochemachende Werk von Henry George: Progress and poverty. In Deutschland verbreitete als Erster der Berliner Universitätsprofessor der Nationalökonomie Adolf Wagner die reformierenden Ideen. Seine Anhänger scharten sich zu einem Verein zusammen, und nach mancherlei Krisen hat seit 1898 Adolf Damaschke die Leitung des »Bundes für deutsche Bodenreform«. Der Bund hat seinen Sitz in Berlin und hat in vielen Städten Zweigvereine. A. Damaschke's grosses Verdienst ist es, dass er seine Forderungen nur immer auf das gegenwärtig Erreichbare beschränkt. Er hat heute einen grossen Teil der Wissenschaft auf seiner Seite, wie oben gesagt, ist die Regierung seinen Vorschlägen nicht abgeneigt, und mehrere Gross- und andere Städte und Dorfgemeinden haben ihre Gemeindeverwaltung in Bezug auf Bauordnung oder GrundSteuersystem schon teilweise darnach reformiert. Naturgemäss fehlt es dem Verein nicht an erbitterten Gegnern, denn seine unmittelbaren Erfolge sind nicht in die Augen springend, aber durch ganz ausgezeichnete Broschüren hervorragender Fachschriftsteller, durch treffliche Flugblätter, durch das Organ des Bundes die »Deutsche Volksstimme«, durch Vereinsversammlungen mit Vorträgen und Diskussionen wird Aufklärung und Verständnis in weite Kreise getragen. Es hat sich auch eine Frauengruppe gebildet unter dem Vorsitz von Frau Eisner von Gronow. Diese Gruppe arbeitet an der Seite der Männer, um namentlich die Frauen für die Bodenreform zu gewinnen, hier an den Gewissen zu rütteln, dort über die Ursachen des Mietedruckes aufzuklären, möglichst viel Mitglieder um die Fahne des Bundes zu scharen, denn nur dann, wenn er einen grossen Teil des Volkes hinter sich hat, kann der Bund etwas ausrichten. Und die Frage, um die er kämpft, ist wahrlich eine brennende für alle Schichten der Bevölkerung. Ich habe bis jetzt auch noch niemanden, weder Mann noch Frau gefunden, der nicht, wenn ich ihm alles erzählte, voll des wärmsten Interesses für den Verein gewesen wäre, welcher Partei oder Anschauung er auch sonst angehörte. Freilich, bei den Bodenspekulanten habe ich es noch nicht probiert, da dürfte das Spiel wohl nicht so leicht sein!
Und nun zur Abhilfe gegen den Bodenwucher: Das erste Mittel dagegen ist »die Steuer nach dem gemeinen Wert«, das will sagen: die bebauten und unbebauten Grundstücke werden gleichwertig, und zwar nach ihrem Verkaufswert besteuert. Dieser Wertsteuer steht die Regierung sehr wohlwollend gegenüber und über 60 Städte, darunter Breslau, Barmen, Düsseldorf, Köln etc. und eine noch grössere Zahl von Landgemeinden haben sie eingeführt, und zwar überall mit grossem Erfolg. Die Lasten wurden gleichmässiger verteilt und die Einnahmen erhöht. Der Hausbesitzer und somit auch der Mieter wird bedeutend entlastet, der Bodenspekulant aber nimmt Teil an der Aufbringung der Gemeindelasten. Neben dieser Steuer kommt die »Umsatzsteuer« in Betracht im Verhältnis des »Zuwachswertes«. Sie erschwert das rasche Kaufen und Verkaufen von Grundstücken und damit die schwindelhafte Steigerung des Bodenwertes. In einigen französischen und belgischen Städten werden die günstigen Wohnungsverhältnisse dieser Steuer zugeschrieben. Eine weitere Forderung verlangt, dass die Grundstücke in den staatlichen oder Gemeindebesitz übergehen sollen. Man darf dieses System durchaus nicht mit dem kommunistischen verwechseln. Die Grundstücke werden gegen Pacht dem Einzelnen überlassen. Hand in Hand damit geht das »Erbbaurecht«, das heisst das Recht, durch welches der Pachtvertrag nach 70 oder 100 Jahren abläuft und das Grundstück mit allem, was darauf gebaut ist - dafür wird eine entsprechende Entschädigung gezahlt - wieder an den Staat und die Gemeinde geht. Dadurch kommt der inzwischen gesteigerte Wert des Bodens wieder der Gesamtheit zugute und konzentriert sich nicht gehäuft auf einen Besitzer. Dieses »Erbbaurecht« ist ein uraltes deutsches Recht und wir haben noch in unserer Sprache das Wort »Almende«, welches davon zeugt, dass es nicht »Gemeindeland« gegeben, das sich törichterweise die Gemeinden aus der Hand nehmen Hessen, oder das sie verschleuderten, wodurch die Bauernschaft herunter kam. In einzelnen Dörfern beginnt man dies einzusehen und schafft langsam ein neues Gemeindeland. Natürlich ist so etwas wie die Ausführung von Bodenverstaatlichung etz. nur in sehr langen Zeiträumen denkbar. In den neuerworbenen Kolonialländern könnte damit der Anfang gemacht werden. Kiautschou ist ein Versuch davon. In den alten Kulturländern ist das nur schwer und teilweise möglich. Aber, dass daran gedacht wird, ist schon ein grosser Fortschritt und führt zu manchen Massnahmen gegen die Wildheit der Bodenspekulation.
Auch haben private Gesellschaften schon hie und da versucht, nach den erläuterten Grundsätzen Kolonien zu gründen. Hier in der Umgegend von Berlin gibt es mehrere solcher Heimstätten-Genossenschaften und ihr einziger Fehler ist nur, dass ihre Ansiedlungen so weit von der Grosstadt gelegen sind, dass sie für Viele gar nicht in Betracht kommen können. Eine dieser Kolonien, die vegetarische Obstbaukolonie »Eden« bei Oranienburg, ist ebenfalls auf der Grundlage der Bodenreform eingerichtet, obwohl ihre Zwecke ja noch mannigfacher sind. Ihre Eigenart ist, dass sie es mittellosen Leuten erlaubt, allmählich »Heimstätten« zu erbauen, das heisst zu erarbeiten. Diese Kolonie wird demnach, wie ich bei meinem Besuche zu erkennen glaubte, zum grössten Teil von Handwerkern und Landarbeitern bewohnt, die teilweise im Taglohn der Gesellschaft, teilweise ihr eigenes Land bebauen, den Lohn und den Ertrag ihrer Früchte zum Leben und zur Zahlung der Pacht verwenden. Durch grosse Arbeitsamkeit und Anspruchslosigkeit werden sie freie Menschen mit gesundem Tagewerk. »Eden« hat heute 40 Wohnhäuser, ein Verwaltungsgebäude mit angrenzendem Schuppen, worin das Obst der Kolonie zum Verkaufe gesammelt oder zu Marmeladen und Fruchtsäften eingekocht wird, ein Erholungshaus und eine Schule. Die pekuniären Verhältnisse der Kolonie sollen im Steigen begriffen sein.
Dann gibt es noch die Heimstättenkolonie Nicolassee bei Schlachtensee, deren herzige Villen reizend aus dem Grün lugen, wenn man vorüberfährt. Auch noch andere Kolonien bei Berlin, z. B. Finkenkrug etz., verfolgen die gleichen Ziele. Eine schöne Obstbaukolonie befindet sich auch in der Schweiz bei Zürich, die, wie ich hörte, schon grössere Anforderungen an die Teilnehmer stellt, wie »Eden«. Auch in Südfrankreich soll sich eine ähnliche befinden. In den Vereinigten Staaten Amerikas ist eine ideale Heimstätten-Kolonie Fairhope am Fluss Mobile Bay im Staate Alabama. Diese Kolonien haben alle dies gemeinsam, dass der Grund und Boden der Gesellschaft gehört und den einzelnen Mitgliedern zu einem jährlich zu zahlenden Pachtbetrag überlassen wird. Hier in den Kolonien um Berlin besteht allerdings die Einrichtung, dass eine zehnjährige Pachtzahlung berechtigt, das Anwesen als Eigentum zu besitzen.
Zu all diesen Versuchen, obwohl er damit direkt gar nicht in Verbindung steht, gab der Bund für deutsche Bodenreform die Anregung.
Ich würde mich herzlich freuen, hätte ich die Frauen Oesterreichs so weit für die Bodenreform zu interessieren vermocht, dass sie sich näher damit beschäftigen und die Anregung weiter tragen. Wahrscheinlich wurden diese Fragen auch schon in Oesterreich diskutiert, aber um ihnen Geltung zu verschaffen, müssen sich die Kräfte, wie in jedem Kampf, soll nur die geringste Hoffnung auf Sieg bestehen, zielbewußt konzentrieren und nach geschlossenem Programm vereint arbeiten.
Nr. 12/1904
Die Gleichheit
AUS DER BEWEGUNG
Anträge deutscher Genossinnen zur Frage des Frauenwahlrechts an die Internationale Sozialistische Frauenkonferenz zu Kopenhagen.
- Zur Frage des Frauenwahlrechts bekräftigt die Zweite Internationale Konferenz Sozialistischer Frauen die Resolution, welche die Erste Konferenz zu Stuttgart 1907 beschlossen hat. Angesichts der fortgesetzten Versuche, die große Mehrheit des weiblichen Geschlechts durch die Einführung eines beschränkten Frauenwahlrechts zu prellen und gleichzeitig damit dem Proletariat in seiner Gesamtheit einen Weg zur politischen Macht zu verlegen, betont die Konferenz insbesondere nochmals diese Grundsätze: Die sozialistische Frauenbewegung aller Länder weist das beschränkte Frauenwahlrecht als eine Verfälschung und Verhöhnung des Prinzips der politischen Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts zurück. Sie kämpft für den einzig lebensvollen konkreten Ausdruck dieses Prinzips: das allgemeine Frauenstimmrecht, das allen Großjährigen zusteht und weder an Besitz, noch Steuerleistung, noch Bildungsstufe oder sonstige Bedingungen geknüpft ist, welche Glieder des arbeitenden Volkes von dem Genuß des Rechtes ausschließen. Sie führt ihren Kampf nicht im Bunde mit den bürgerlichen Frauenrechtlerinnen, sondern in Gemeinschaft mit den sozialistischen Parteien, welche das Frauenwahlrecht als eine der grundsätzlich und praktisch wichtigsten Forderungen zur vollen Demokratisierung des Wahlrechts überhaupt verfechten. Angesichts der steigenden Bedeutung, welche der politischen Emanzipation des weiblichen Geschlechts für den Klassenkampf des Proletariats zukommt, erinnert die Konferenz des weiteren an die folgenden Richtlinien: Die sozialistischen Parteien aller Länder sind verpflichtet, für die Einführung des allgemeinen Frauenwahlrechts energisch zu kämpfen. Daher sind insbesondere auch ihre Kämpfe für Demokratisierung des Wahlrechts zu den gesetzgebenden und verwaltenden Körperschaften in Staat und Gemeinde als Kämpfe für das Frauenwahlrecht zu führen, das sie fordern und in der Agitation wie im Parlament mit Nachdruck vertreten müssen. In Ländern, wo die Demokratisierung des Männerwahlrechts bereits weit vorgeschritten oder vollständig erreicht ist, haben die sozialistischen Parteien den Kampf für die Einführung des allgemeinen Frauenwahlrechts aufzunehmen und in Verbindung mit ihm selbstverständlich all die Forderungen zu verfechten, die wir im Interesse vollen Bürgerrechts für das männliche Proletariat etwa noch zu erheben haben. Pflicht der sozialistischen Frauen in allen Ländern ist es, sich an allen Kämpfen, welche die sozialistischen Parteien für die Demokratisierung des Wahlrechts führen, mit höchster Kraftentfaltung zu beteiligen, aber auch mit der nämlichen Energie dafür zu wirken, daß in diesen Kämpfen die Forderung des allgemeinen Frauenwahlrechts nach ihrer grundsätzlichen Wichtigkeit und praktischen Tragweite ernstlich verfochten wird. Die sozialdemokratischen Frauen Deutschlands und der Verband der Wahlvereine Berlins und Umgegend.
- Um die Einführung des politischen Frauenwahlrechts zu beschleunigen, ist es die Pflicht der sozialistischen Frauen aller Länder, den obenstehenden Grundsätzen entsprechend eine unermüdliche aufklärende Agitation über die soziale Berechtigung und Bedeutung der politischen Emanzipation des weiblichen Geschlechts in Wort und Schrift unter die breitesten Massen zu tragen und jede sich darbietende Gelegenheit zu diesem Zwecke auszunutzen. Insbesondere müssen sie Wahlen zu politischen und öffentlichen Körperschaften irgendwelcher Art die114 . Anders geartet, aber GLEICH GEWERTET ser Agitation dienstbar machen. Im Falle, daß dem weiblichen Geschlecht das Wahlrecht zu solchen Körperschaften zusteht Kommunal- und Provinzialvertretungen, Gewerbegerichte, Krankenkassen usw. - müssen die Frauen veranlaßt werden, dieses ihr Recht restlos und einsichtsvoll zu gebrauchen, im Falle, daß die Frauen dabei ganz oder teilweise Rechtlose sind, müssen sie von den Sozialistinnen zum Kampfe für ihr Recht gesammelt und geführt werden; unter allen Umständen ist bei dieser Betätigung auch die Forderung des vollen politischen Frauenwahlrechts nachdrücklich zu vertreten. Bei der alljährlichen Maifeier - ganz gleich in welcher Form sie stattfindet - muß die Forderung der vollen politischen Rechtsgleichheit der Geschlechter betont und begründet werden. Im Einvernehmen mit den klassenbewußten politischen und gewerkschaftlichen Organisationen des Proletariats in ihrem Lande veranstalten die sozialistischen Frauen aller Länder jedes Jahr einen Frauentag, der in erster Linie der Agitation für das Frauenwahlrecht dient. Die Forderung muß in ihrem Zusammenhang mit der ganzen Frauenfrage der sozialistischen Auffassung gemäß beleuchtet werden. Der Frauentag muß einen internationalen Charakter tragen und ist sorgfältig vorzubereiten.
Klara Zetkin,
Käte Duncker und Genossinnen
Nr. 24/1910
Dr. Marion Phillips
EIN DROHENDER KRIEG DER GESCHLECHTER
Genossin Dr. Marion Phillips in London hat in den »Daily News« folgenden Artikel veröffentlicht, der auch außerhalb Englands Beachtung verdient:
Frauen, die mit dem industriellen Leben selbst nicht in nähere Berührung gekommen sind, bekunden eine große Hoffnungsseligkeit über die zukünftige Stellung der Frau in der Industrie. Sie beglückwünschen die arbeitenden Frauen zu der Energie, mit der sie ihre Fähigkeiten anstrengenden Verrichtung anpassen; sie beglückwünschen sie, daß sie »im Interesse der Nation« zu persönlichen Opfern bereit sind. Die jetzige Lage scheint solchen Damen ein gutes Vorzeichen für die Frauen. Alles, was Frauen in dieser Zeit des Kampfes leisteten, ihre Betätigung glänzender Fähigkeit, neue und oft grenzenlos schwere Aufgaben zu bewältigen; die wunderbar kaltblütige Tapferkeit, mit der sie in den Lazaretten und sogar auf den Schlachtfeldern wirkten: alles das, so dünkt ihnen, muß zu einer Anerkennung der Bedeutung der Frauen im Leben der Nation führen und die Gewißheit rechtfertigen, daß das weibliche Geschlecht bald nach Friedensschluß, die vollen Bürgerrechte erlangen wird, für die seine Vorhut so lange kämpft. Aber die jetzigen Veränderungen auf industriellem Gebiet bringen eine große, ernste Gefahr mit sich. Ihr Ergebnis kann leicht der schärfste soziale Gegensatz der Geschlechter sein. Es herrscht heute eine Nachfrage nach Frauenarbeit, die in der Vergangenheit nicht ihresgleichen hat, und diese Nachfrage ist am größten bei schwereren und gröberen Arten der Fabrikarbeit. Die Nachfrage nach Arbeitskräften ist in den leichten, hochqualifizierten Luxusgewerben so gut wie null. Dagegen ist sie außerordentlich stark auf dem Feld der Munitionserzeugung, das rasch und stetig an Ausdehnung gewonnen hat und gewinnt. Hier nicht so sehr, um Männer in den ihnen bisher vorbehaltenen Produktionszweigen zu ersetzen, als vielmehr, um immer mehr Frauen bei Arbeiten einzustellen, die sie jederzeit verrichteten, für die aber nun ein ungeheuer gestiegener Bedarf nach Kräften vorhanden ist. Dazu kommt weiter auch tatsächlich die Verwendung von Frauen bei gelernter und noch mehr bei ungelernter Arbeit in Fabriken, wo früher keine oder doch nur sehr wenig Arbeiterinnen beschäftigt wurden. Ferner gibt es Tausende von Frauen, die als Schaffnerinnen, Handelsangestellte usw. die Posten von Männern in Berufen übernehmen, die wohl schon weibliche Arbeitskräfte verwendeten, allein nicht in so großer Zahl wie jetzt. Im Handelsgewerbe, im Bureaudienst ist die Zunahme der Frauenarbeit besonders auffallend. In manchen Berufen sind die Gewerkschaften imstande, auf die Beschäftigung von Frauen einen entscheidenden Einfluß auszuüben. So haben die Eisenbahnerverbände schon eingegriffen, um für die Frau bei gleicher Leistung gleichen Lohn wie für den Mann durchzusetzen. Das Munitionsgesetz sieht vor, daß in den von Gewerkschaften kontrollierten Unternehmungen die früher vereinbarten Arbeitsbedingungen für die Zeit nach dem Kriege sichergestellt werden können. Wo die Gewerkschaften stark sind, können sie eine Regelung durchsetzen, die für die Arbeitnehmer der Gefahr von Verschlechterungen vorbeugt. Aber es muß in Betracht gezogen werden, daß überall im Lande Frauen in Betrieben beschäftigt werden, die sowohl für die Kriegsverwaltung wie für den privaten Bedarf arbeiten und keiner gewerkschaftlichen Kontrolle unterstehen. Diese Betriebe sind also in der Lage, ungehindert die größtmögliche Herabdrückung der Produktionskosten - also auch die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen - anzustreben. Überdies sehen wir auf manchen Gebieten ein mangelndes Verständnis der Gewerkschaften für die Notwendigkeit der Frauenorganisierung. Wir stoßen auf alte Vorurteile und auf die Abneigung, die Frau als Arbeiterin unter den gleichen Bedingungen wie den Mann zur Arbeit zuzulassen und in die Organisation aufzunehmen. Der geschichtliche Untergrund dieses Widerstandes ist in dem schädlichen Einfluß zu suchen, den die Einführung der Frauenarbeit auf die Arbeitsbedingungen fast ausnahmslos ausgeübt hat.
Wenn der Friede kommt, werden die Kriegsindustrien ihre Produktion verringern. Von den für die Kriegsbedürfnisse errichteten Betrieben wird einer nach dem anderen seine Tore schließen. In der Notzeit, die wahrscheinlich dem Kriege folgt, wird die normale Industrie dahinkümmern, und die Gewerbetätigkeit wird einem ärgeren Tiefstand verfallen, als wir ihn je gekannt haben. Die Unternehmungen, die während des Krieges ihr Arbeitspersonal riesig vermehrten, werden dann die Zahl der Beschäftigten aufs äußerste einschränken. Wo es sich um gewerkschaftlich kontrollierte Betriebe handelt und die Gewerkschaft stark ist, wird die Frau aufhören müssen, die Arbeit der Männer zu verrichten, und die Männer werden auf ihre alten Posten zurückkehren - sofern Bedarf nach Arbeitskräften ist. Ungeheure Scharen von Frauen, die in Munitionsbetrieben usw. beschäftigt waren, werden ihre Entlassung erhalten. Manche werden ihre Geschicklichkeit in ihrem alten Berufe eingebüßt haben, andere werden dort größere Arbeitslosigkeit finden. Auch haben — von den kontrollierten Unternehmungen abgesehen - andere Firmen sich mehr oder minder bestimmt verpflichtet, die Männer wieder bei ihrer früheren Arbeit einzustellen. In manchen Fällen werden die Unternehmer dies tun, in anderen nicht.
Endlich müssen wir auch die veränderten Verhältnisse des Industriemarktes in Betracht ziehen. So sehr wir auf ein baldiges Ende des Krieges hoffen, so müssen wir doch auf einen Menschenverlust von mindestens einer Million gefaßt sein. Außer den Verlusten in den Schützengräben müssen wir mit größerer Sterblichkeit und Kränklichkeit im Lande selbst rechnen, als Folge der Überarbeit und anderer Kriegswirkungen. Die riesige Zahl der Toten, Krüppel und Kranken wird zu einem Sinken der Heiratsziffer führen und zu einer Vermehrung der arbeitsuchenden Frauen.
Die Aussichten für die Zukunft sind trübe: Eine Masse Arbeit und Brot suchender Männer und Frauen, manche davon durch die übermäßige Arbeit dieser letzten Jahre körperlich zugrunde gerichtet; eine daniederliegende Industrie; eine Welle allgemeiner Verarmung und Erschöpfung. Männer, die aus dem Kriege zurückkehren und ihre Arbeit nicht wieder finden; Frauen, die entlassen werden, um den Männern Platz zu machen; Frauen, die entlassen werden, weil die Produktion eingestellt wird und Friedensarbeit für sie nicht da ist; Frauen, die entlassen werden, weil sie ihre Leistungstüchtigkeit in dem einzigen Beruf, der ihnen offensteht, verloren haben; Männer, die entlassen werden, weil die Unternehmer gefunden haben, daß Frauenarbeit billiger und ebenso ertragreich als Männerarbeit ist. Die Tüchtigkeit und Anpassungsfähigkeit der Frauen wird zur Gefahr, solange sie nicht mit dem Stolz auf die Berufstätigkeit verbunden ist, der einen anständigen Lohn für die Leistung fordert.
Auf dem Boden dieser Entwicklung sind alle Voraussetzungen eines scharfen, ja des schärfsten Kampfes der Geschlechter in der Industrie gegeben - eines Krieges, in dem die männlichen Arbeiter und die von ihnen abhängigen Frauen den Frauen gegenüberstehen werden, die arbeiten müssen, um zu leben.
Dieser Krieg kann jedoch verhütet werden, aber nur dann, wenn ohne Verzug eine konsequente Aktion zur Aufklärung und Organisierung der Frauen unternommen wird. Die Grundlage dieser Aktion muß die Gewerkschaftsbewegung sein. Die Organisierung der Frauen ist von höchster Wichtigkeit. Vereinigt euch also, Männer und Frauen, um eine Regelung der Löhne in den gewerkschaftlich kontrollierten wie in der unkontrollierten Industrie des ganzen Landes zu fordern. Ein Mindestsatz für Zeit- und Stücklohn, auf der Grundlage des Lebensunterhalts der Männer festgesetzt, muß dem jetzigen Durcheinander folgen und die Frauen endgültig auf die gleiche Stufe der Entlohnung wie die Männer heben. Hinter allem muß für jeden Mann und jede Frau, die nach dem Kriege entlassen werden, die Verantwortlichkeit der Gemeinschaft stehen, in der Regierung verkörpert. Nur diese Verantwortlichkeit kann uns vor größeren sozialen Kämpfen bewahren und dem Konflikt zwischen Mann und Frau vorbeugen wie dem Herabsinken der ganzen werktätigen Bevölkerung auf eine niedrigere Stufe der Lebenshaltung und Kultur.
Nr. 17/1916
W. Sollmann
DIE FRAUEN UND DIE PRESSE
Schon in den letzten Jahren vor dem Kriege haben einige bürgerliche Parteien den Frauen ein größeres politisches Tätigkeitsfeld zu öffnen begonnen. Selbst das Zentrum, das neben den Konservativen am zähesten bestrebt war, die Frauen vom sogenannten öffentlichen Leben fernzuhalten, sah schließlich Frauen in seinen öffentlichen Versammlungen gern und zog sie im Wahlkampf 1912 zum erstenmal in größerem Maßstab zur Wahlarbeit heran. Von der Gewährung entsprechender Rechte an die Frauen in den Organisationen der Zentrumspartei hörte man freilich nichts. Wesentlich weiter gingen mancherorts die Liberalen. Sie begründeten liberale Frauengruppen in ihren Parteiorganisationen und begannen die Damen, denn um solche handelte es sich, politisch zu schulen. Daß die umwälzenden Wirkungen des jahrelangen Weltkrieges die Politisierung der Frauen beschleunigen werden, scheint gewiß. Es ist bemerkenswert, daß auch bürgerliche Politiker mit der veränderten Einschätzung der Frau zu rechnen beginnen, die eine Folge der größeren wirtschaftlichen Bedeutung der Frauenarbeit ist. Die »Kölnische Zeitung « (Nr. 1307), bekanntlich eines der bedeutendsten liberalen Blätter Deutschlands, geht sogar so weit, die alten Behauptungen von der Minderwertigkeit der Frauen als überwunden beiseite zu schieben. Sie schreibt:
»Unter all den säuberlich aufgebauten Theorien, die der scharfe Besen des Krieges rücksichtslos auf den Scherbenhaufen gefegt hat, war unter anderem auch ein dickes Bündel über das, was Frauen begreifen, leisten und schaffen können. Ein dickes Bündel von Anschauungen und Überlieferungen, von denen viele vermutlich noch lange am Leben geblieben wären. Einfach nur aus dem Grunde, daß es möglich war, in großem Maßstab den Gegenbeweis zu führen. Wo es um Leben und Ehre geht, können Theorien nicht erst lange gefragt werden. Die Nation brauchte von heute auf morgen all ihre Kräfte, brauchte die äußerste Anspannung, die restlose Ausnutzung aller irgend verfügbaren Kräfte. Kein Mensch konnte mehr lange fragen: Mann oder Weib? Die Arbeit war da und mußte getan werden. Und siehe da: Der gesuchte Gegenbeweis in großem, ja in größtem Maßstab war da. Von heute auf morgen, ohne erleichternde Vorbereitung oder Übergangszeit, mußten die Frauen in den Sattel, mit oder ohne Theorien - und einmal im Sattel, konnten sie auch reiten! Wo es ihnen schwer wurde, wo es etwa zu Anfang nicht klappte, lag es, wie sich zeigte, nicht an der mangelnden Befähigung, sondern an der mangelnden Schulung, also an etwas, das von Haus aus weder männlich noch weiblich und willkürlich zu verbessern ist.«
Das Blatt des liberalen Großbürgertums stellt ferner nachdrücklich fest, daß von den neuen Arbeitsleistungen der Frau keineswegs das Heinesche Wort gelte:
»Aber fragt mich nur nicht wie«, sondern: »Die ernsthaften Berichte aus den verschiedenartigsten Betrieben lauten durchweg dahin, daß von den Frauen genau das gleiche verlangt wird wie von den Männern, und daß sie sich durchaus bewähren, was um so höher zu veranschlagen ist, als ein außerordentlich großer Teil dieser Frauen doch sozusagen von heute auf morgen, ohne oder mit der denkbar kürzesten Lernzeit einspringen mußte.... Der Befähigungsnachweis ist in großem Stile erbracht.«
Das sind Feststellungen, die für unseren Kampf um die politische Gleichberechtigung der Frau kräftig ausgenützt zu werden verdienen. Die liberale »Kölnische Zeitung« läßt ihrem theoretischen Umlernen auch sofort praktische Taten folgen. Sie sieht die schwierigen, vielgestaltigen Probleme, die aus dem Hineinziehen von neuen Millionen Frauen und Mädchen in das Erwerbsleben entstanden sind und fordert die Frauen zu verstärkter Mitarbeit in der Presse auf. Das große bürgerliche Blatt wird in Zukunft wöchentlich mindestens einmal einen breiten Raum ausschließlich den Fraueninteressen gewähren. Das ist nicht allzuviel, aber als Zeichen der Zeit beachtenswert, auch für die sozialdemokratische Presse.
Die bisher nur von kärglichen Erfolgen belohnten Bemühungen, die erwerbstätigen Frauen und Mädchen politisch und gewerkschaftlich zu organisieren, können durch die Art der Behandlung der Fraueninteressen in der Tagespresse stark gefördert oder, je nachdem, auch gehindert werden. Das Bestreben, sich der vielerlei besonderen Forderungen und Sorgen der Frauen mit dem notwendigen Eifer anzunehmen, hat einigen Parteiblättern während des Krieges die Treue der Leserinnen auch bei erhöhten Bezugspreisen erhalten. Nur selten bestellte bei solchen Parteizeitungen eine Frau ab, »weil mein Mann eingezogen ist und das Blatt für mich keinen Wert mehr hat«. Es kann nicht ganz zufällig sein, daß andere Parteiblätter, selbst bei stark vermindertem Bezugspreis, die Frauen nicht zu halten vermochten. In einer Zeit mit so außerordentlich gesteigerter Bedeutung des Frauenlebens und Frauenwirkens muß es sich rächen, wenn diese Tatsache in den Spalten einer Zeitung nicht genug berücksichtigt wird.
Über den Ausbau unserer Parteipresse nach dem Kriege wird viel geschrieben und geredet, meist von Männern. Es werden bestimmt auch nach dem Kriege sehr wichtige Gebiete nicht genügend berücksichtigt werden, wenn nicht die Frauen stärkeren Einfluß auf die sozialdemokratische Presse gewinnen als bisher. Gegen den guten Willen der Redaktionen, die Frauenbewegung zu fördern und den Fraueninteressen zu dienen, sei damit nichts gesagt. Hatten wir doch schon vor dem Kriege in der Parteipresse da und dort besondere »Frauenbeilagen«. Solche Beiblätter, in die man von Zeit zu Zeit alles zusammenkehrt, von dem man glaubt, daß es die Frauen »interessieren« könnte, sind jedoch nicht entscheidend für die zweckmäßige Behandlung der Frauenprobleme vom sozialdemokratischen Standpunkt aus. Vielleicht ist es sogar empfehlenswerter, diese Probleme im allgemeinen Teile der Zeitung zu bearbeiten, weil sonst gar so viele Männer glauben, die Spalte »Für unsere Frauen« ginge sie nicht das geringste an. Notwendig ist aber, daß die Männer ebenfalls über die Frauenfrage unterrichtet werden.
Selbst ein Blatt wie die »Kölnische Zeitung« scheint zu fühlen, daß ihre Redaktion der weiblichen Mitwirkung in stärkerem Maße bedarf, daß sie sich mit einem Aufruf zur Mitarbeit an die Frauen wendet. Den allermeisten proletarischen Frauen wird es aus naheliegenden Gründen unmöglich sein, sich schriftstellerisch für ihr Parteiblatt zu betätigen, obwohl man aus Erfahrung hinzusetzen muß, da von schlichten Arbeiterfrauen mitunter recht brauchbare Beiträge zu erlangen sind. Auf jeden Fall können jedoch Arbeiterfrauen aus ihrem eigenen Erleben heraus durch Anregung und Kritik dem Parteiblatt nützen, nicht zuletzt aber durch eine geschickte Vertretung in der Preßkommission. Nicht darauf kommt es an, daß »eine Frau« in die Preßkommission gewählt wird, nein, die beste, die klügste und erfahrenste Genossin gehört in den Ausschuß, der über die Haltung des Parteiblattes auch in Frauenfragen zu befinden hat. Die durch den Krieg hervorgerufenen Umwälzungen des Frauenlebens werden nach Friedensschluß zu lebhaften Bewegungen führen, die entsprechenden Widerhall in der Tagespresse finden müssen. Unsere sozialdemokratische Presse muß dabei die Führung behalten. Daß dies geschehe, dafür haben vor allem die sozialdemokratischen Frauen Sorge zu tragen.
Nr. 12/1917
H. Meisel-Heß
FRAUENKULTUR IM NEUEN
DEUTSCHLAND
Wie sich die Kultur im besiegten Deutschland gestalten wird, vermag niemand vorauszusagen. Denn die geistige Entwicklung eines Volkes hängt von seiner politischen und wirtschaftlichen Lage ab.
Die Frauen stehen jedenfalls vor gänzlich neuen und schwierigen Aufgaben. Denn sie sollen einerseits an allen öffentlichen Angelegenheiten tatkräftig mitwirken, andererseits ihre natürlichen Aufgaben erfüllen, das heißt heiraten, gebären, Kinder erziehen und einen Haushalt führen.
Man pflegt zu sagen, daß eine Mutter eher sechs Kinder ernähren kann als umgekehrt sechs erwachsene Kinder eine Mutter. In der »guten alten Zeit« - vor dem Kriege - war das noch möglich; in dem verarmten und ausgehungerten Deutschland werden Ehepaare vermutlich sechs Kinder nicht aufziehen wollen - die Geburtenzahl wird sinken.
Die wirkliche Frauenkultur kann nur abseits vom brutalsten Erwerbskampf gedeihen. Denn eine abgehetzte und vom täglichen Daseinskampf erschöpfte Frau hat nicht mehr die Kraft, in ihrem eigenen Heime viel Kultur zu verbreiten. In einem wirklich sozialistischen Staate muß auf die schwächeren physischen Kräfte der Frau Rücksicht genommen, das heißt, Frauenkräfte dürfen nicht ausgebeutet werden.
Im öffentlichen Leben wird die Frau ohne Zweifel durch Takt und Güte - dort, wo sonst die männlichen Leidenschaften sich zu gewalttätigen Gefühlen steigern - mildernd eingreifen. Niemals werden Frauen, die in der öffentlichen Volksvertretung Sitz und Stimme haben, Kriegsvorlagen annehmen und in neue Kriege einwilligen können. Allerdings haben sie bei Kriegsausbruch in die allgemeine »Kriegsbegeisterung« miteingestimmt - weil eben Massensuggestionen von unerhörter Gewalt sie dazu zwangen.
Die Hauptaufgabe der Frau im neuen Deutschland liegt auf dem Gebiet der Friedensbewegung, vielmehr der tatkräftigen Kriegsverhinderung. Nie mehr sollten Frauen ihre Männer und Söhne mit dem Wahlspruch der alten Spartanerinnen: »Mit dem Schilde oder auf dem Schilde« in den Krieg schicken, sondern eher den Machthabern, die sie zu Kriegen zwingen wollen, mutigen Widerstand entgegenstellen.
Warum man Revolutionen erst nach einem verlorenen Kriege macht - anstatt bei Ausbruch des Krieges -, darüber habe ich mir vergebens den Kopf zerbrochen. Auch der glänzendste Sieg würde ja für die furchtbaren Menschenverluste keine Entschädigung bedeuten. Die Kultur der Frauen muß sich dahin entwickeln, daß sie ihren Söhnen von Kindheit an den Abscheu gegen den Krieg einprägen und sie lehren - »Speere werfen« gegen diejenigen, die ihnen zumuten, Menschen zu töten!
Die Kultur der Ehe ist die eigentliche und intimste Sphäre der Frau. Bei dem Gefahrenwirbel, der das Leben geworden ist, ist dringend zu raten, diese Gemeinschaft so dauerhaft wie möglich zu erhalten, damit die Menschen nicht ganz atomisiert werden und nicht bloß in staatlichen und anderen sozialen Berufspflichten aufgehen, die ihnen niemals das ersetzen, was nur ein Mensch dem anderen geben kann: Liebe!
Nr. 16/1919