Die Frau
Ilse Eckart
DIE »EHRLICHKEIT« DES NEUEN WEIBES
In das Redaktionszimmer des »Narrenschiff« - unerfreulichen Angedenkens - tritt im Winter 1897 ein fünfzehnjähriges Mädchen, um Verse anzubieten. Der Redakteur entdeckt in der Verfasserin der Verse eine »gottbegnadete Dichterin von ausgeprägter Eigenart«. Die nächste Nummer des Narrenschiff bringt ein Gedicht von Marie Madeleine:
Champagne frappé
Aus der eisesstarrenden Hülle
springen in goldenschäumenden Gluten
in ihrer sinnberauschenden Fülle
Heiß empor die Champagner-Fluten.Willst Du so recht das Rechte fühlen,
mußt aus dem Eis Du das Feuer genießen:
Jene Fraun, die die Heiligen spielen,
mußt Du in Deine Arme schließen.Glaub's! In den ruhig blickenden Weibern
zucken die allerwildesten Triebe,
und am tollsten lodert die Liebe
in den weißen Madonnenleibern.Und aus den überschlanken Gestalten
sprüht es in lodernden Flammenbächen,
gleichwie aus Islands Gletscherspalten
Schäumend die glühenden Quellen brechen.Flammen, die Dich züngelnd umspielen,
die sich in Leib und Seele Dir gießen! —
Willst Du so recht das Rechte fühlen,
mußt aus dem Eis Du das Feuer genießen!
Das Gedicht gehört jetzt zu der Sammlung der Kypros-Lieder, die in kurzer Zeit acht Auflagen erlebt haben. Die Geschichte von dem fünfzehnjährigen Backfisch, der den Redakteur des Narrenschiff mit seinem Besuch und seinen pikanten Versen erfreute, erzählt besagter Redakteur, Herr Paul Sklarek, zur empfehlenden Einführung des zweiten Bandes der Marie Madeleine-Dichtung: Die Drei Nächte, die - was man a priori wirklich nicht für möglich halten würde - die Kyproslieder an Dreistigkeit noch weit übertrumpfen. Von dem Inhalt der „drei Nächte" heißt es in diesem Vorwort:
»In schrankenloser, genialischer Individualität haben Sie all den glühenden Gedanken, die tiefverborgen und uneingestanden im Herzen des Weibes ruhen, einen künstlerischen Ausdruck gegeben. Sie werden angefeindet werden, denn groß und stark ist die schönheitsabholde, sinnenfeindliche Partei der Dunkelmänner, in deren nazarenische Finsternis Sie mit der lodernden Fackel grell hineinleuchten mit diesen des Weibes Wesen dokumentierenden »Drei Nächten«. Sie werden mißverstanden werden, denn breit und mächtig zieht dahin der Strom der Banausen, die in allem nur das ihnen Nahestehende, das Niedrige, wittern und bei denen ein Venusbild nur deshalb Interesse erweckt, weil es nackt ist. Doch die Banausen und Dunkelmänner mögen zetern und höhnen - unberührt davon schwebt in Regionen, die jenen unerreichbar sind, Ihre Kunst.«
Die »des Weibes Wesen dokumentierenden« drei Nächte führen in das Schlafzimmer des Grafen Maximilian, der als »ein Märtyrer der Liebe« im letzten Stadium der Rückenmarkschwindsucht liegt. Die letzten Nächte, die er zu leben hat, will ihn Sibylle, deren SaisonFlirt er war, träumen lassen von der Liebe, die ihn zu Grunde gerichtet hat. Sie will ihm erzählen von der Venus destructiva, der die höchste Macht über alle Menschengeschlechter einst und jetzt und in Ewigkeit eigen ist. Sie erzählt von der Astarte-Priesterin, die an der Sinnen-Sehnsucht, die keine Erfüllung kennt, zu Grunde geht, von der »blonden Oberstentochter mit dem tobenden Blut unter der kühlen weißen Mädchenhaut«, - á la Champagne frappe - von der verzehrenden Liebe der kranken Fürstin zu ihrem untreuen Gatten, und dann erzählt sie »das Märchen, das lasterhafter ist als alles.« Dies lasterhafteste Märchen ist sie selbst: — »in meiner Phantasie bin ich eine Dirne! In meiner Phantasie ist nicht eine Stelle an mir, die nicht ein brennender Mund geküßt hat! In meiner Phantasie gibt es kein Laster, das ich nicht ausgekostet bis zur Hefe!«
»Und in Wirklichkeit------! — Ich habe nichts begangen als Gedankensünden! — Vielleicht bin ich das traurigste Märchen von allen!«
Nun wird mancher Leser der Ansicht sein, daß man solche Litteratur ihre Rolle ruhig ausspielen lassen soll, wo sie ein Publikum findet, da an solchem Publikum nichts zu gewinnen und nichts zu verlieren sei. Aber es ist, so unglaublich es klingt, eine Thatsache, daß man die Gedichte der Marie Madeleine auf den Rokokotischchen der Boudoirs findet, daß man sie in den Salons der sogenannten »höchsten Kreise« singt. Und es ist eine Thatsache, daß die Tendenz dieser Dichtung denn daß wir hier reine, tendenzfreie Kunst vor uns haben, wird Herr Sklarek uns nicht glauben machen - sich mit bestimmten charakteristischen Richtungen der GegenwartsKunst sehr nah berührt, daß sie nur in krassester Ausprägung einen Zug darstellt, der uns noch vieler Orten entgegentritt.
Diese beiden Thatsachen aber zwingen zur Beachtung und zur Kritik.
Die Gegenwart thut sich etwas zu gute auf ihre »Ehrlichkeit«: Ehrlichkeit gegen sich selbst und gegen andre, ehrliches Ausleben jeder Seite der Persönlichkeit, ehrüches Bekennen jeder inneren Regung, ehrliche Kunst sind die Schlagwörter. Und eine der widerwärtigsten Phrasen dieser Modemanie ist die von der »Ehrlichkeit des neuen Weibes.«
Man darf nicht verkennen, daß auf dem Grunde dieser in bedauerlichster Weise heruntergekommenen Bewegung etwas Edles und Berechtigtes war. Ohne Frage ist es eine große Aufgabe unserer gesamten geistigen Kultur gewesen, sich von dem flachen Konventionalismus, in dem Leben und Kunst der »Väter« vielfach befangen waren, zu lösen. Ohne Frage sind dadurch erst wieder neue Entwicklungsmöglichkeiten gewonnen, neue Tiefen erschlossen, neue Quellen aufgegraben. Ohne Frage wäre ohne dieses Losringen kein Fortschritt auf geistig-sittlichem und künstlerischem Gebiet möglich. Ohne Frage hat das »cela depend«, das wir an die Stelle eines unterschiedslos überall angelegten Maßstabs setzen, das sittliche und ästhetische Urteil vertieft und verfeinert. Aber es steht demgegenüber ebenso fest, daß man sich in dieser Bewegung auf eine schiefe Ebene hat drängen lassen. Und das ist vor allem in der Auffassung des Erotischen geschehen, dessen sittliche Bewertung immer eines der feinsten Probleme des sittlichen Taktes sein wird, ein Problem, für dessen Lösung sich keine Normen aufstellen lassen, weil sie nur aus dem tiefsten Wesen der Persönlichkeit heraus in jedem einzelnen Fall gefunden werden kann. Darum aber ist die Sicherheit des Urteils gerade auf diesem Gebiet so leicht erschüttert, die Klarheit des Erkennens so leicht getrübt, die Feinheit des Gefühls so leicht abgestumpft. Darum verträgt das »ja« und das »nein«, mit dem ein ungetrübtes Gefühl die mannichfachen Fragen auf diesem Gebiet löst, so wenig die theoretische Zersetzung und Erörterung, darum verliert man für dieses Ja und Nein so leicht den Halt. Man gewöhnt sich, unter dem Einfluß einleuchtender Theorien und unter dem Zauber künstlerischer Gestaltung manches zu ertragen und zu bewundern, was zuerst peinlich war, manches natürlich zu finden, das kraß und manieriert erschien. Viele, auch Urteilsfähige, sind diesen Weg gegangen. So dreist man in der künstlerischen Programmmache vom Starken zum Stärkeren und Stärksten weiter ging, so sehr war man auf der andern Seite geneigt, sich dem, was geboten wurde, anzupassen, seine Anschauungen nach »modernen« Begriffen zu modifizieren, zu »erweitern.« Denn wer nimmt gern das Odium des »schönheitsabholden, sinnenfeindlichen Banausen« auf sich, das über jeden verhängt wird, der gegen die Äußerungen dieser sogenannten »Ehrlichkeit« zuweilen etwas einzuwenden hätte. Was hat sich unser litterarisch und ästhetisch interessiertes Publikum alles gefallen lassen von Laura Marholm bis auf Marie Madeleine! Und nicht bloß gefallen lassen! Auf was für Geschmacklosigkeiten hat es sich nicht mit Leib und Leben einschwören lassen! Was hat es nicht alles als freie, reine Kunst gläubig und mit pflichtschuldiger Begeisterung hingenommen, was thatsächlich in ebenso unkünstlerischer Weise der Tendenz diente, nur der entgegengesetzten, wie die kunstwidrigste moralische Geschichte.
Um solch bewußtes, absichtliches Hinüberschreiten in das Gebiet »jenseits von Gut und Böse« aber handelt es sich in der Dichtung der Marie Madeleine. Sie ist nicht der reine künstlerische Ausdruck einer ganzen, großen Leidenschaft, die frei und unbekümmert ihre Glut ausglüht und ihre Kraft auslebt, sie ist ein häßliches Ausspielen von Trümpfen aus einer sinnlich überreizten Phantasie. Das erklärt nun freilich Herr Sklarek für ein Mißverständnis der Banausen, »die überall nur das ihnen Nahestehende, das Niedrige wittern«, die eine Venus nur deshalb interessiert, weil sie nackt ist. Nun, Marie Madeleine hat selbst sehr unmißverständlich gezeigt, um was es ihr zu thun ist. Sie spricht es oft genug mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit aus, daß das Element ihrer Dichtung eben jene Schwüle sei, in der die Sinne sich auf die Nacktheit der Venus richten. Ihre Gedichte atmen nicht die gesunde künstlerische Weltfreudigkeit, der gegenüber die »Dunkelmänner« allerdings im Unrecht sind, sondern die widerwärtige Gourmanderie des Übersättigtseins, die den Lebensquell auch der Kunst vergiftet. Das »so recht das Rechte genießen« giebt die Nuance des Marie Madeleineschen Sinnenkultus. Und in diesem bewußten, raffinierten Aufsuchen und Herausdrängen des Pathologischen und Perversen liegt, ganz abgesehen von allem andern, das ganz Unkünstlerische der Dichtung Marie Madeleines, über das ihr glänzendes Formtalent ästhetisch Gebildete nicht hinwegzutäuschen vermag.
Über Friedrich Schlegels Lucinde sagte Dorothea Mendelssohn beklommen: »Oft wird es mir heiß und wieder kalt ums Herz, daß das Innerste so herausgeredet werden soll.« Heute sieht man in diesem Herausreden einen freudig zu begrüßenden Beweis von der »Ehrlichkeit des neuen Weibes«, ja man wagt es auszusprechen, daß das Lebenselement dieser Lieder das - bisher uneingestandene - Wesen des Weibes sei.
Die Aufnahme des Buches durch das Publikum hat bewiesen, wie erstaunlich groß die Macht der modernen Phrase ist. Man hat sich die doch mit sehr wenig Geist und Phantasie zu bewerkstelligende Verkehrung der Begriffe, die Proklamation des Pathologischen als des Normalen, des Kranken als des Lebensvollen, des Perversen als des Natürlichen gefallen lassen, um doch ja auf der Höhe der Zeit zu stehen.
Für die Frau ist die Dichtung der Marie Madeleine ein Schlag ins Gesicht.
Daß viele diesen Schlag gar nicht zu empfinden scheinen, ist ein eklatanter Beweis für die kritiklose Gläubigkeit aller dem gegenüber, was von bestimmten Journalistenkreisen mit dem Stempel »modern« geaicht ist, eine Gläubigkeit, die das unfehlbarste Kennzeichen der Halbbildung ist.
Aber trotzdem sind wir überzeugt, daß das gesunde Gefühl der deutschen Frau noch stark genug ist, um schließlich doch diese »Ehrlichkeit« zu brandmarken als das, was sie ist: ein frivoler Bruch mit dem Heiligsten der Frauenseele, jener undefinierbaren und unmeßbaren, aber doch über allen Zweifel gewissen Macht des sittlichen Taktes; um diese des »Weibes Wesen dokumentierenden« Lieder als das zu erkennen, was sie sind: eine Verklärung des Dirnentums.
Heft 4/1902
Helene Lange
ZUR »KALAMITÄT« DES
FRAUENSTUDIUMS
Als in den achtziger und neunziger Jahren die Führerinnen der deutschen Frauenbildungsbewegung ihre ganze Kraft einsetzten, um den Frauen den Zugang zu den deutschen Universitäten zu eröffnen, da hatten sich die meisten von ihnen die Entwicklung des Frauenstudiums ganz anders gedacht, als sie gekommen ist. Man hatte als sicher angenommen, daß den Frauen, die das Reisezeugnis eines deutschen Gymnasiums beibrächten, völlig gleiche Rechte mit den Studenten gewährt werden würden, anderen aber einstweilen der Zutritt streng versagt bliebe. Zu ziemlich allgemeiner Verwunderung hat sich die Sache gerade in dem führenden Staat, Preußen, genau umgekehrt vollzogen. Den Abiturientinnen blieb ihr gutes Recht bis auf den heutigen Tag versagt, dagegen wurde mit nur allzu großer Liberalität Thür und Thor geöffnet, um eine Schar ungenügend qualifizierter In-und Ausländerinnen zuzulassen.
Daher kommt es, daß man heute in Berlin und an andern deutschen Universitäten vom Frauenstudium als einer »Kalamität« spricht.
Woher diese Kalamität in der Hauptsache kommt, zeigen einige Vorgänge, die sich in diesen Tagen in den medizinischen Kreisen der Universität Halle abspielten. Die Veranlassung dazu boten die dort Medizin studierenden russischen Studentinnen.
Die Unzulänglichkeit der Vorbildung vieler Russinnen hat vor einiger Zeit an der Universität Zürich, die ihnen mit großer Langmut jahrzehntelang entgegengekommen war, besondere Maßregeln notwendig gemacht. Die Russinnen müssen heute entweder die Schweizer Matura nachweisen oder ein gegen früher bedeutend verschärftes Aufnahmeexamen machen.
Die Folge war, daß in Zürich der Prozentsatz der Russinnen in auffallendem Maße gesunken ist, und die unzureichend vorgebildeten nach Deutschland auswandern, wo sie, mit dem Reifezeugnis eines russischen »Mädchengymnasiums« versehen, ohne weiteres aufgenommen werden.
Was es mit diesen »Gymnasien« auf sich hat, scheint man aber doch allmählich herauszufinden.
In diesen Tagen fand sich am schwarzen Brett der Universität Leipzig, an der auch eine größere Anzahl Russinnen eingeschrieben waren, folgender Anschlag: »Nach erlassener Verordnung des Königl. Ministeriums des Kultus und des öffentlichen Unterrichts wird künftighin das Reifezeugnis von einem russischen Mädchengymnasium ausnahmslos nicht mehr als genügende Grundlage für die Erlangung eines Hörerscheins angesehen werden. Der Rektor.«
Auf den preußischen Universitäten sind den Russinnen einstweilen noch die gleichen Rechte vergönnt, wie den Inhaberinnen eines vollgiltigen deutschen Maturitätszeugnisses. So studieren in Halle 35 russische Medizinerinnen, von denen 31 an den AnatomieKursen, 4 an den klinischen Kursen teilnehmen. Eine von diesen 35 hat überhaupt kein Zeugnis aufzuweisen gehabt. 14 hatten zur Zeit der Aufnahme kein Latein. Von den 16 übrigen haben die meisten »Hauslehrerinnenzeugnisse«, d.h. sie haben eine Bildung, die noch erheblich unter der Seminarbildung der deutschen Lehrerinnen steht. So konnte es denn vorkommen, daß auf dem Präpariersaal in Halle diese russischen »Medizinstudierenden« vergebens nach der Übersetzung von musculus obliquus externus gefragt wurden. Auf die Bedeutung von musculus führt die Wortähnlichkeit, obliquus weiß keine, zu externus meldet sich eine schüchtern mit der Übersetzung »erster.« Eine Szene, einer deutschen Quarta würdig!
Es ist wahrhaftig nicht zum verwundern, wenn infolge solcher Vorkommnisse sich der Hallischen Studentenschaft eine gewisse Erregung bemächtigte. Mußte doch durch den hier dokumentierten Tiefstand der Vorbildung das Niveau des Studiums mit Notwendigkeit herabgedrückt werden. Noch mehr Grund zu der Befürchtung, in ihrem Studium beeinträchtigt zu werden, hatten die in Halle studierenden Medizinerinnen mit deutschem Maturitätszeugnis. Lag es doch bei der großen Menge der Russinnen, die den deutschen in siebenfacher Zahl gegenüberstanden, nur zu nahe, daß die durch sie erregte Mißstimmung sich gegen das Frauenstudium überhaupt wandte. Ebenso klar war es den Deutschen aber auch, daß eine schwere Schädigung des Frauenstudiums lediglich durch den Ausschluß der Russinnen verhindert werden könne. So wandten sie sich an die einzige Stelle, wo eine prinzipielle Entscheidung getroffen werden konnte, an den Preußischen Kultusminister, dem sie nachfolgende Petition einreichten:
Ew. Excellenz
erlauben sich die Endesunterzeichneten die ergebene Bitte vorzutragen, dahin wirken zu wollen:
- daß zu den medizinischen Studien keine Damen zugelassen werden, die nicht die obligatorische Vorbildung (Abiturientenexamen, resp. Pysikum) nachweisen können,
- daß besonders auch den Ausländerinnen gegenüber auf dieser Forderung bestanden und bei Beurteilung ihrer Vorbildung deutscher Maßstab angelegt werde.
Zu dieser Bitte veranlassen uns die augenblicklichen Verhältnisse in Halle, wo zur Anatomie und zu den Kliniken 35 Russinnen zugelassen sind auf ein einfaches Hauslehrerinnenzeugnis hin oder das Abgangszeugnis eines sogenannten russischen »Gymnasiums«, das in Wirklichkeit kaum mit unsrer höheren Töchterschule auf gleicher Stufe steht, und in keiner Weise Anspruch erheben kann auf Gleichstellung mit deutschen Gymnasien. Die Frauenuniversität in Rußland bleibt diesen Damen verschlossen, weil sie für sie nicht die geforderte Vorbildung besitzen; in Deutschland aber öffnet man ihnen bereitwillig eine Hochschule, zu der Reichsangehörige nur nach Ablegung der Reifeprüfung zugelassen werden.
Wir deutschen Studentinnen in unsrer geringen Zahl verschwinden unter dieser Masse von Russinnen, und die natürliche Folge davon ist, das alles, was man ihnen zur Last legt, auch uns zugeschoben wird, worin wir eine Beeinträchtigung unseres Ansehens erblicken zu müssen glauben. Ferner glauben wir wahrzunehmen, daß sich unter der hiesigen deutschen Studentenschaft infolge dieser Zustände eine steigende Mißstimmung geltend macht, die geeignet wäre, das bis dahin gute Einvernehmen zwischen den Studierenden beider Geschlechter ernstlich zu stören.
Ew. Excellenz
ganz gehorsamste
Gertrud Roegner, stud. med., Hermine Edenhuizen, cand. med., Elisabeth Cords, cand. med., Hildegard Lindner, cand. med., Hedwig Meischeider, stud. med., Hallenser Studentinnen mit deutschem Abiturientenexamen.
Eine Abschrift der Petition ging an den Dekan der medizinischen Fakultät. Auch unter den Studenten, deren Kollegialität den vollgiltig vorgebildeten Studiengenossinnen gegenüber nichts zu wünschen übrig ließ, fand eine Bewegung in derselben Richtung statt. Eine in der Angelegenheit berufene Versammlung vereinbarte eine Resolution, die der medizinischen Fakultät eingereicht werden soll.
Mit Unrecht hat das sozialdemokratische Lokalblatt in Halle diese Bewegung als »teutonische Auslandhetzerei« gekennzeichnet; es handelt sich lediglich um den Protest gegen Elemente von unzureichender Qualifikation, nicht gegen die Russinnen an sich....
Bei diesem Stand der Dinge dürfen wir wohl sagen, daß die fünf Hallischen Studentinnen durch ihr energisches, aber in jeder Beziehung maßvolles und korrektes Vorgehen dem Frauenstudium einen wesentlichen Dienst geleistet haben. Es kann auch wohl keinem Zweifel unterliegen, daß ihr Gesuch seinen Erfolg haben wird; muß sich doch den Behörden auch in nächster Nähe, in Berlin, die Unnahbarkeit des augenblicklichen Zustandes aufdrängen. Ohne Zweifel befinden sich auch unter den Russinnen tüchtig vorgebildete Elemente. Diesen wird es ja ein Leichtes sein, sich durch eine Prüfung als solche auszuweisen.
Aber die Sache hat noch eine andre, für das Frauenstudium sehr ernste Seite. Der in Halle in Betracht kommende Dozent ist Professor Roux, ein Mann, der seine sehr günstigen Erfahrungen in Bezug auf das Frauenstudium mit anerkennenswerter Objektivität mehrfach ausgesprochen hat, und dessen Persönlichkeit zu intakt dasteht, als daß man infolge der mannigfachen Unannehmlichkeiten, die ihm selbst die ganze Angelegenheit bereiten mußte, einen Rückschlag auf seine Stellung zum Frauenstudium überhaupt zu fürchten hätte.
Aber wie, wenn es anders stünde? Dann würde nur zu leicht das eintreten, was bei der völligen Rechtlosigkeit der deutschen Abiturientinnen immer zu befürchten stand: ihr Ausschluß von Fächern, welche für die von ihnen abzulegenden Prüfungen Vorbedingung sind.
Dann schlägt natürlich die Idee der Frauen-Universitäten wieder muntere Schößlinge. Man stelle sich aber gerade auf Grund der gegenwärtigen Verhältnisse eine solche Frauen-Universität einmal vor. In Deutschland mag es heute so rund 1000 Studentinnen geben. Darunter befinden sich vielleicht ca. 70 mit deutscher Maturität. Soll nun die Frauen-Universität auf das Niveau derer zugeschnitten sein, die »externus« mit »erster« übersetzen, oder will man etwa für die 70 wirklich vorbereiteten eine Universität mit allen 4 Fakultäten einrichten?
Beides ist gleich unmöglich und gleich überflüssig. Von den 1000 Studentinnen gehört mindestens die Hälfte überhaupt nicht auf die Universität. Entweder handelt es sich um schlecht vorbereitete Ausländerinnen, die hier ihrer mangelhaften Bildung wegen doch nichts lernen können, oder um Damen, die eine Mode mitmachen, bei der für sie ein kleiner Nimbus abfällt. Die andre Hälfte besteht zum großen Teil aus Lehrerinnen. Wenn diesen, soweit sie nur seminaristisch, d. h. für die Universität gleichfalls ungenügend vorgebildet sind, eine Zusatzprüfung in Latein, Mathematik und propädeutischer Philosophie auferlegt würde (womit ihnen selbst der allergrößte Gefallen geschähe), so würde die Zahl der deutschen Studentinnen so zusammenschmelzen, daß ihre Unterbringung auf deutschen Universitäten nicht die geringste Schwierigkeit hätte. Zugleich aber würde eine im ganzen genügende Vorbildung garantiert sein. Die deutschen Universitäten, das muß festgehalten werden, sind nicht Fortbildungsschulen, sondern höhere Fachschulen.
Ja, heißt es da, wir lassen aber auch die Ausländer zu; wir müssen gleiches Recht für alle haben.
Handelt man etwa nach diesem Grundsatz den deutschen Abiturientinnen gegenüber? Überdies ist solche mechanische Gerechtigkeit thatsächlich eine Ungerechtigkeit. Während bei den männlichen Studierenden der vollberechtigte deutsche Student die Regel, der bloße Hörer die Ausnahme bildet, steht es bei den Frauen umgekehrt. Nur etwa 7 Prozent aller weiblichen Hörer sind wirkliche Studentinnen. Sie werden erdrückt von der Masse der andern, und alles, was man diesen mit Recht zur Last legen kann, trifft sie ungerechterweise mit. Darum wäre es durchaus gerechtfertigt, die Anforderungen an die außerordentlichen Hörerinnen noch schärfer zu fassen, als die an die außerordentlichen Hörer. Dann brauchte das Frauenstudium keine Kalamität für die Universitäten zu sein, denn es steht diesen nichts im Wege, alle Unzuträglichkeiten mit einem Schlage zu beseitigen. Wohl aber ist der augenblickliche Zustand der Dinge zu einer unerträglichen Kalamität für die ernsthaft studierenden Frauen geworden.
Wir sind überzeugt, der Preußische Kultusminister, an dessen Wohlwollen für die studierenden Frauen wir durchaus keinen Grund haben zu zweifeln, wird nicht anstehen, Maßregeln zu treffen, durch die ihnen und den deutschen Universitäten gewährt wird, was sie beanspruchen können und müssen: Schutz gegen den Dilettantismus.
Heft 4/1902
Frauenrundschau
Dr. Ella Mensch (Darmstadt)
DIE FRAUEN UND DAS THEATER
Von der Schaubühne als einer Volksbildungsstätte zu reden, ist ebenso gebräuchlich als alltäglich. Und wer einigermaßen mit den wirklichen Verhältnissen vertraut ist, weiß recht gut, daß diese Redensart im besten Fall ein Ideal proklamiert, das nur beim Zusammentreffen von ganz besonders günstigen Umständen vorübergehend erreicht worden ist.
Das leidenschaftliche Interesse am Theater, welches bei der Frauenwelt womöglich noch stärker ist als bei den Männern, ist an sich ganz unabhängig von einem Einblick resp. einem Verständnis für die Ursachen, welchen die Bühnenkunst ihr Dasein verdankt und für die Wirkungen, welche von ihr ausgehen.
Scheinbar ist keine Sphäre so durchtränkt von der unmittelbaren Anteilnahme der Frau wie die Welt des Theaters, und in Wahrheit gibt es kein Gebiet, auf welchem das moderne Frauenideal sich weniger durchzusetzen vermocht hat, als gerade hier. In der Welt des Theaters ist der Mann der unumschränkte Gebieter; sein Geschmack, seine Anschauungen beherrschen das Bühnenbild der Szene. Sie setzen sich aber auch im Zuschauerraum durch; sie entscheiden die Annahme oder Ablehnung des Stückes. Und endlich kommen sie fast ausschließlich zu Wort in dem Wiederhall, welchen die Bühnenereignisse in der Tagespresse, in der Theaterkritik finden. Diese Zustände haben einen historischen Untergrund, sie erklären sich aus der Entstehung des theatralischen Werks. Der Geist in diesem ist gebunden an einen ziemlich komplizierten Apparat. Die Herstellung, die Überwachung desselben liegt in der Hand des Mannes, denn die Frau hat gar keine Routine, keine Schulung in den hundert praktischen Handgriffen, die hier erforderlich sind. Wo soll sie sie auch her haben? Auf die tausende von Porträt- und Blumenmalerinnen kommt auch nicht eine einzige Dekorations- und Kulissenmalerin, auf das Heer der Kunststickerinnen auch nicht eine, die im Maschinenfach zu Hause ist, wenigstens schwerlich in deutschen Landen, woselbst doch gerade die Kunst der Theatralik mit ihrem ganzen Zubehör die relativ höchste Staffel erklommen hat. Was der Frau die Hindernisse und Schranken bereitet, wenn es sich um den Eintritt in Künstlerberufe handelt, ist nicht so sehr das Vorurteil der Gesellschaft, der Konkurrenzneid der Kollegen, als tatsächlich das Ungeübte in all dem, was zum Handwerksmäßigen einer Kunst gehört; sie weiß zu wenig Bescheid in den Elementarfragen. Der gute, praktische Sinn der Frau ist durch die Erwägungen von dem, was sich für die Frau schickt und was sich für sie nicht schickt, derartig eingeengt und verkümmert worden, daß er sich nie organisatorisch herausgewagt hat. Vor nichts sucht man das junge Mädchen aus guter Familie, selbst, wenn man schon die Erwerbsnotwendigkeit ins Auge zu fassen geneigt sein sollte, so zu bewahren, als vor dem »von der Pike auf dienen«. Immer sieht sich die Frau, welche künstlerisch arbeitet, einem Apparat gegenüber, einem Gerüst, das sie sich niemals selbst bauen kann, weil alle Erfahrungen dazu fehlen. Das bringt sie von vornherein in ein weit größeres Abhängigkeitsverhältnis, als es der Mann über sich ergehen lassen muß. Der Dekorationsmaler, der Maschinendirektor, der Beleuchtungsinspektor u.s.w., diese Funktionen fallen von vornherein nicht ins Bereich der weiblichen Leistungen. Aber in der Führung des Ganzen wiederholt sich das nämliche. Die Mobilisierung der Kräfte, die Anordnung der Komparserie, die ganze Entwicklung des Stücks liegt in den Händen des Mannes. Nach dem Namen eines hervorragenden weiblichen Regisseurs dürfte man in den Annalen der Theater vergeblich suchen. Wohl hat es Direktricen, Theaterleiterinnen gegeben und gibt es bis zur Stunde. Aber von irgendwelcher epochalen Bedeutung sind diese mit wenigen Ausnahmen niemals geworden, weil ihr Auftreten keineswegs mit einem neuen Prinzip verknüpft war, sie vielmehr in dem ausgefahrenen Geleise ihren Thespiskarren ruhig weiter zogen. Das scharfe Kommandowort, welches unbedingt nötig ist, wenn auf der Szene eine künstlerische Gesamtwirkung erstehen soll, mag man aus dem Munde einer Frau nicht allzugern vernehmen; und gerade die geistig inferioren Elemente beugen sich ihm am wenigsten.
In den Lesekomitees gestattet man der Frau wohl Eintritt; sie nimmt teil an den Beratungen auf Grund der Lektüre, aber eine ausschlaggebende Stimme bei Annahme und Ablehnung der diskutierten Stücke erhält sie fast nie, strebt sie auch kaum an, da die vielen bühnentechnischen Aufgaben, die bei jeder Inszenierung in Frage kommen, sich ihrer Kontrolle entziehen und ihre Mitwirkung erst dann verlangt wird, wenn die Fundamente des Baues bereits fertig stehen....
Im Zuschauerraum sind es freilich die Frauen, oder besser gesagt die Damen, welche zuerst ins Auge fallen, da sie hervorragend dekorativ wirken. Das ist ihre Hauptbeschäftigung. Sie können den Gang des Stückes mit Interesse verfolgen - den Ausgang, den Erfolg oder den Durchfall entscheiden die Männer. »Ihr Schönen, wir brauchen euren Beifall, doch euer Urteil nicht!« Dieses Wort des »Cyrano von Bergerac« gilt noch heute in all den Räumen, wo Schauspiel vor sich geht. Denn die Frauen der Intelligenz, diese kleine bescheidene Welt, aus welcher eine Fülle neuer Ideen keimt, hat ja gar nicht die Mittel, sich en masse im Theater, etwa gar in einer Premiere, wo wie in einer Schlacht die Lose geworfen werden, breit zu machen. Von ihrem Urteil hängt zunächst gar nichts ab. Das Hinaufschrauben der Eintrittspreise, eine unumgängliche Begleiterscheinung jedes splendiden Theaterneubaus, ist nicht nur das beste Mittel, den gebildeten Mittelstand, sondern vor allem die gebildete, aber finanziell nicht eben sehr kräftige Frauenwelt mehr und mehr aus dem Theater hinauszudrängen. Wenn diese nun wenigstens in der Theaterkritik die ihr gebührende Rolle einnehmen könnte, so würde sich auch manches zum Vorteil ändern. Aber die Schriftstellerin sieht sich von diesem Zweig literarischer Tätigkeit so gut wie ganz ausgeschlossen. Zu den sogenannten tonangebenden Kritikern der Reichshauptstadt zählt keine Frau. Gewiß, es gibt weibliche Journalisten, welche die Provinzblätter mit oft recht hübschen Plaudereien über die Berliner Bühnenaffären versorgen - aber bis jetzt ist es keiner einzigen Frau möglich gewesen, zur Theaterkritik, wie sie zur Zeit geübt wird, eine neue Note, aus eigener Kraft, zu stellen. Und doch wäre das im höchsten Grade wünschenswert, denn jedes Lebensgebiet, in welchem sich auf die Dauer nur ausschließlich Manneswille und Manneseigensinn betätigt, verarmt, vertrocknet. . . . Die Hebung der Theaterkritik kann lediglich von der wissenden, tideal gesinnten und intellektuell gebildeten Frau ausgehen, weil ihr der Ton parlamentarischer Obstruktion, den man jetzt häufig auch in der Kunstkritik anschlägt, nicht gut genug sein wird, weil ihr angeborenes Gefühl für Würde und sittliche Schönheit davor zurückbebt und sodann, weil bei ihr, in ihrem Lager jetzt wieder die stärkere Jugend, das Impulsive, das Ursprüngliche zu finden ist.
Unsere modernen Theaterkritiker sind alles mögliche: geistreich, witzig, scharf, zersetzend, brutal - aber bei allen Kraftausbrüchen »jung« - das sind sie nicht. Geistige Jugend ist immer mit einer Reinheit und Keuschheit seelischen Empfindens gepaart. Nicht bei der Frau schlechthin finden wir dieses Vermögen. Aber die Frau, welche sich von der Schablone frei gemacht, vor öder Nachahmung sich hütet und frei und sicher ihre Lebenskreise zieht, ist die berufene Hüterin dieser Jugend, welche ihr auch zugleich ein Gefühl der Pietät verleiht und sie vor dem Irrtum bewahrt, die Kritik als Selbstzweck anzusehen. Wir haben sie herzlich satt, die Jongleurkünste und Zirkussprünge in der Theaterkritik. Wir wollen wieder eine ehrliche Hingabe an die Sache selbst. Da liegt ein Zukunftsfeld für die schriftstellernde Frau!
Heft 4/1903
Die neue Generation
Henriette Fürth
MUTTERSCHAFT ODER BERUF
Wir haben gesehen, dass Mutterschaft kein lebenfüllender Beruf ist. Damit erledigt sich unsre zweite Frage eigentlich ganz von selbst im Sinne einer Verneinung. Nicht nur die theoretische Erwägung oder die praktischen Einblicke, die wir bis jetzt gewonnen haben, zwingen uns, so zu urteilen, sondern auch die Erfahrung von Jahrtausenden, die ganze bisherige Entwicklung entscheidet in unserem Sinne.
Niemals, so weit wir auch zurück- und wohin immer wir blicken, gab es eine Zeit, die die Mutterschaft als lebenerfüllenden, alles andere ausschliessenden Beruf gewertet und geübt hätte. Mutterschaft war stets eine Funktion des Weibes neben einer Fülle von anderen. Ihre zeitliche Abfolge ist uns aus geschichtlichen und kulturhistorischen Dokumenten bekannt. Ihr Nebeneinander können wir auch heute überall beobachten, anfangend von der ausgebreiteten Arbeitslast, die in Vieh-, Feld- und Hauswirtschaft sowohl dem Weib der un- oder halbkultivierten Völker, als auch den Millionen unserer Kleinbäuerinnen und Landarbeiterinnen aufgebürdet ist, bis zu der mannigfaltigen Erwerbsund Berufstätigkeit, die bei den Kulturvölkern von Müttern aller Stände ganz regelmässig und in immer steigendem Masse ausgeübt wird.
Alles das ist schon so oft und so zutreffend gewürdigt worden, dass ich mir an einigen wenigen Stichwörtern genügen lassen kann. Havelock Ellis nennt das Weib den Schöpfer und Pionier der meisten gewerblichen Hantierungen und Fertigkeiten. Im deutschen Mittelalter finden wir Frauentätigkeit in fast allen Gewerben, und ein grundsätzlicher Ausschluss fand nirgends statt. Das Maschinenzeitalter aber hat die weibliche Arbeitskraft in ganz ungeahnter und geradezu unheimlicher Ausdehnung in seinen Dienst gezwungen. Und zwar auch die der verheirateten Frauen.
Nur eines unterscheidet die gewerbliche Frauenarbeit von heute von jeder früheren. Vordem vollzog sich die Erwerbstätigkeit der weiblichen Bevölkerung im Rahmen des Haushaltes bezw. der Hauswirtschaft. Heute vollzieht sie sich ausserhalb des Hauses. Sie ist zur vom Hause völlig losgelösten reinen Lohnarbeit geworden. Früher produktive Arbeit innerhalb des Hauses, heute reine Lohnarbeit draussen.
Das gerade ist es, dies Herausreissen der Frauenarbeit aus dem Familienverband, was so schmerzlich empfunden und so tief beklagt wird. So wie es auch die völlige Trennung der Berufs- von der mütterlichen Sphäre ist, die vielen die in der notgedrungenen Vereinigung der beiden liegende Härte erst zum Bewusstsein gebracht und den Wunsch gezeitigt hat, die unter den alten Formen nicht mehr zu vereinigenden Pole: Mutterschaft und Beruf auch äusserlich streng von einander zu scheiden. Das heisst also, einen Zustand herbeizuführen, den keine frühere Zeit gekannt, keine als wünschbar bezeichnet hätte.
Eine Trennung ferner, die heute mehr denn je zu einer Unmöglichkeit geworden ist. Bei der Würdigung der dafür massgebenden Gründe können wir uns kurz fassen. Denn auch hier handelt es sich nur um die wiederholende Zusammenfassung bekannter Dinge. Das Haus ist aus einer auch produktiven zu einer nur verzehrenden Einheit, die hauswirtschaftliche Arbeit infolge der Loslösung der verschiedenen Arbeitsgebiete und der mannigfachen Erleichterungen innerhalb der Hauswirtschaft auf ein Mindestmass zurückgeführt worden.
Eine Arbeitskraft allein kann normalerweise gar nicht soviel verdienen, wie zur Befriedigung aller Bedürfnisse gebraucht wird. Der eine Familienerhalter wird je länger je mehr zu einer Fiktion, Söhne und Töchter und zuletzt die Ehefrauen müssen mithelfen. Es waren im Jahre 1895 schon 6V2 Millionen Weibliche, darunter 1057000 Ehefrauen und nahezu eine Million Witwen, die auf diese Weise genötigt waren, Mutterschaft und Beruf mit einander zu vereinen. Die Ergebnisse der diesjährigen Berufszählung werden, wenn nicht alles trügt, dartun, dass nicht mehr 12,04pCt. aller Ehefrauen und 44pCt. aller Witwen als hauptberuflich Erwerbstätige, figurieren, sondern dass die betreffenden Zahlen mit 20 und 50 pCt. eher zu niedrig als zu hoch angenommen sind.
So wird die Vereinigung von Mutterschaft und Beruf zu einem unentrinnbaren Muss für eine immer steigende Zahl von Ehefrauen. Und so wird das Rechnen mit diesem Muss und die Vorbereitung darauf, d. h. also die berufliche Schulung in Hinblick auf die Inanspruchnahme der verwitweten Frauen zu Erwerbszwecken, zu einer Notwendigkeit für alle.
Für die aber, die den grossen Zahlen der Reichsstatistik nicht glauben, nun noch ein anderes: Um 1899 wurde von Reichs wegen eine Umfrage veranstaltet, durch die die Beamten der Gewerbeaufsicht die Gründe und die Folgeerscheinungen der Fabrikarbeit verheirateter Frauen feststellen sollten. Von den 229000 fabrikarbeitenden Frauen, die damals ermittelt wurden, gab die Hälfte an, dass die bare, blanke Not sie zum Mitarbeiten nötige. Andere machten andere Gründe vorübergehender oder dauernder Art namhaft (Krankheit des Mannes, Saisonarbeit, Trunksucht), und nur 4pCt. arbeiteten mit, um einen Notpfennig zu ersparen. Überall hier also nicht: Mutterschaft oder Beruf! sondern ganz einfach und selbstverständlich: Mutterschaft und Beruf!
Wir haben uns mit der Frage: Mutterschaft oder Beruf bis jetzt nur in Verbindung mit der ehelichen, d. h. also der sogenannten legitimen Mutterschaft beschäftigt. Einmal, weil diese Betrachtungsweise die herkömmliche und darum geläufige ist. Weiter auch darum, weil es sich dabei zweifellos um die weitaus überwiegende Zahl von Mutterschaftsfällen handelt. Aber wir dürfen daneben doch auch nicht vergessen, dass 1/9 aller Geburten im deutschen Reich ausserhalb der Ehe zustande kommt. Von verschwindenden Ausnahmen abgesehen, sind jene 180000 Mütter aus dringenden ökonomischen Gründen darauf angewiesen, die Mutterschaft mit dem Beruf zu vereinigen.
Aber nicht nur aus ökonomischen Gründen. Die heutige Form der Monogamie ist das Produkt eigentumsrechtlicher, das ist also wirtschaftspolitischer Erwägungen. Diese Erwägungen sind heute zu einem Teil gegenstandslos geworden, denn der einzige Besitz von Millionen ist ihre Arbeitskraft. Auf sie ist ihr ganzes Dasein gestellt und nach der Erfahrung von Jahrtausenden ist mit Sicherheit zu erwarten, dass diese neue Lebensgrundlage sich auch ihre besonderen Formen der Sitte und Sittlichkeit schaffen werde. So fest daher auch vielen noch der gesetzlich und kirchlich fundamentierte Bau der heutigen Eheform scheine: sein Inhalt ist brüchig geworden. Heute schon gibt es Menschen genug, die es mit ihren Begriffen von Sittlichkeit unvereinbar finden, dass sich Männer und Frauen um Vermögen und Stellung und ohne dass ein Fünkchen Zuneigung oder gegenseitiger Hochschätzung dabei ist, in die Ehe, das heisst also in die denkbar engste Lebensgemeinschaft verkaufen. Menschen, denen das Verständnis dafür abgeht, warum Mutterschaft, aus Liebe hervorgegangen, mit dem Stigma der Unmoral und Schande behaftet und Mutterschaft als das Resultat gesetzlich und kirchlich abgestempelter kühler Überlegung hehr und heilig erscheint.
Der ökonomischen Unabhängigkeit, wie sie der Beruf verleiht, bedürfen die Vorkämpfer und Verfechter jener Anschauung, die aus Gründen wurzelechter Sittlichkeit die Mutterschaft aus der dogmatischen Zwangsverkettung heutiger Gerechtsame herausheben wollen. Des beruflichen Rückhalts bedürfen erst recht jene, die aus Zufalls- und Temperamentsgründen zur Mutterschaft gekommen sind.
So weit, so gut. Wie kommt es aber, dass trotzdem immer wieder und mit grossem Nachdruck die Forderung der Trennung von Mutterschaft und Beruf erhoben wird? Die Antwort gibt sich von selbst:
Niemals zuvor trat die in gewissem Sinne unausweichliche Gegensätzlichkeit von Mutterschaft und Beruf so scharf zutage als bei der heute notwendigen räumlichen Trennung beider.
Niemals zuvor aber auch bedrängten die traurigen und in manchem Sinne geradezu verhängnisvollen Folgeerscheinungen dieser Trennung so sehr die Gemüter und die Gewissen aller Verantwortlichen wie aller denkenden und fühlenden Menschen überhaupt. Menschenopfer ohne Zahl fordert die Vereinigung von Mutterschaft und Beruf. Wir haben in Deutschland eine Säuglingssterblichkeit, die die des Auslandes übertrifft und 20,7pCt. aller Lebendgeborenen beträgt. Sie ist zweifellos durch die wachsende Industrialisierung des Landes, durch die wachsende Anteilnahme der verheirateten Frauen an der ausserhäuslichen Erwerbstätigkeit mitverschuldet. Eine zwingende Bestätigung erfährt diese Unterstellung durch die Angaben über Säuglingssterblichkeit, wie sie in den Berichten der Gewerbeaufsichtsbeamten aus dem Jahr 1899 für die industriellen Bezirke nachgewiesen wurde, in denen die Fabrikarbeit verheirateter Frauen allgemein üblich ist. »Den Arbeiterinnen einer grossen Zigarrenfabrik in Oppeln starben von 447 ehelichen geborenen Kindern 220 = 49 pCt, von 34 unehelichen 17 = 50 pCt. Aus Posen wird eine Säuglingssterblichkeit von 41 pCt. gemeldet; im textilindustriellen Langenbielau beträgt die Zahl der Gestorbenen 54, in Reichenbach in Schlesien 44 vom Hundert.« In Aue (Königreich Sachsen) geben die Mütter, »um nachts von der ermüdenden Fabrikarbeit ausschlafen zu können, den sogenannten aus alten getrockneten Mohnblättern gewonnenen Beruhigungstee«, der, nach ärztlicher Aussage, auf die Dauer gegeben, die Sterblichkeit erhöhe.
Zu der Verwüstung an Volkskraft, wie sie uns in der durch Berufsarbeit der Mütter verschuldeten Säuglingssterblichkeit entgegentritt, gesellt sich anderes. Da ist die Verwilderung und Verwahrlosung der Jugend, die in der wachsenden Kriminalität der Jugendlichen einen greifbaren und schmerzlichen Ausdruck gewinnt. Da ist ferner so unendlich viel Siechtum, Hoffnungslosigkeit und Tod, mit dem Tausende und Abertausende von Müttern dafür zahlen müssen, dass sie Mutterschaft und Beruf allen Hemmungen und Hindernissen zum Trotz miteinander vereint haben.
Und da sind endlich auch die intellektuellen und moralischen Opfer, die der Vereinigung von Mutterschaft und Beruf tagtäglich gebracht werden müssen. Helene Simon und Adele Gerhard haben sich in einer sehr interessanten, auf den Aussagen zahlreicher Expertinnen beruhenden Studie mit dem Problem: »Mutterschaft und geistige Arbeit« auseinandergesetzt. Sie kommen zu dem Schluss, dass »in der Mehrzahl der Berufe ein Konflikt zwischen geistigen und künstlerischem Schaffen und dem erfüllten Frauenleben unvermeidlich ist.«
Zuletzt und um die Reihe voll zu machen, ist auch noch mit einem Worte jener zu gedenken, die das »Mutterschaft oder Beruf!« bezw. Mutterschaft oder geistige Arbeit damit rechtfertigen wollen, dass sie der Befürchtung Ausdruck geben, es könne ein von Vater und Mutter herrührendes intellektuelles Erbe zur intellektuellen Hypertrophie führen. Weiter, dass gerade die besten, d. h. die energischsten gesundesten, begabtesten Frauen die wenigsten Kinder bekommen würden, da die anderweitig interessierte und gesättigte Frau keine grosse Familie begehre. Also auch von hier aus die Forderung: Mutterschaft oder Beruf!
Eine ganze Fülle von Gegensätzen und Belastungen hat sich uns bei der Frage: Mutterschaft oder Beruf? aufgetan. Dennoch stehen wir keinen Augenblick an, unsere Forderung dahin zu formulieren: Mutterschaft und Beruf! Mutterschaft und Beruf! im Namen der wirtschaftlichen, geistigen und sittlichen Selbstständigkeit des Weibes. Mutterschaft und Beruf! zuerst und vor allen Dingen im Namen der Mutterschaft selbst.
Wir werden das zu beweisen haben, und wir wollen und werden es beweisen.
Wie töricht ist es zu glauben, dass das starkgeistige, an Leib und Seel gesunde Weib auf das Kind oder auf Kinder verzichten möchte. Wer verzichtet denn auf Kinder oder begnügt sich mit höchstens zweien? Das tun die unnützen reichen Dämchen oder Grossbourgeoisie, die nur sich selbst denken, nur sich selbst fühlen wollen und können. Die leeren Genussüchtlinge, denen jede Mühe und Sorge, jedes Fürandereseinsollen als eine ungehörige und unerträgliche Beeinträchtigung ihrer Lebensansprüche, das ist ihrer ungemessenen Selbstsucht, erscheint.
Dann gibt es auch noch männliche und weibliche Nichtsalsgehirnmenschen. Sind das aber ganze, starke Menschen, und ist es schade darum, wenn die sich nicht fortpflanzen?
Das wirklich starke und lebensvolle Weib wird seiner Lebenssehnsucht im Kinde den greifbarsten, in die Ewigkeit fortwirkenden Ausdruck geben wollen, und keine Geistestat, kein Ruhm der Welt wird ihm Ersatz für das sein können, was es durch freigewollten Verzicht auf diesem Gebiete verliert. »Durch seine Taten fortleben zu wollen? Wer dürfte so kühn sein, seine Taten auf einem von Anlagen und Leistung aller Art so reich gedüngten Kulturboden als in die fernste Ferne fortwirkend zu empfinden? Müssen wir alle uns nicht sagen, dass unser Kultureinsatz, gross wie er uns oder anderen erscheine, im besten Falle nichts ist als ein flüchtiges Samenkorn, dessen Gedeihen von Wind und Wetter tausendfacher Zufälligkeiten abhängig ist? Und müssen wir uns auf der anderen Seite nicht sagen, dass unsere beste Möglichkeit, bleibende Kulturwerte zu schaffen, darin besteht, tüchtige Kinder heranzubilden, fortwirkende lebendige Ausstrahlungen unseres Seins? Sie sind zugleich der Hafen der Liebe, in dem wir vor Anker gehen, wenn wir müde von unseren vergeblichen Hoffnungen und Träumen, müde der Fata morgana, die man Leben nennt, uns zur Ruhe betten möchten.«
Freilich gibt es da auch noch Nebenfragen zu entscheiden, die aber nicht grundsätzlicher, sondern persönlicher Art sind und nur von Fall zu Fall entschieden werden können. Die verschiedenen Grade körperlicher und geistiger Gesundheit und Schaffenskraft werden hier mitzureden haben. Und auch Opfer, schmerzliche Opfer werden zu bringen sein. Es gibt Frauen, die auf die höchste Ausreifung und Gestaltgebung ihrer schöpferischen Kraft verzichten müssen, weil die Mutterpflicht sie fordert, und es gibt andere, die ihrer Liebe entsagten, weil der Mann ihrer Wahl sie auf das Prokustesbett überkommener Vorurteile spannen, d. h. sie zur geistigen Selbstaufgabe, zum Verzicht auf einen liebgewordenen Beruf zwingen wollte. Aber das ist Menschenschicksal. Aus Schmerzen werden unsere Freuden geboren und alles Höchste wird mit Herzblut bezahlt. So viel vom Weibe als Selbstzweck. Nun aber zum Weib als Mutter und zum Kinde. Mit dem Tragen und Gebären des Kindes ist die Mutterpflicht nicht etwa erfüllt, sondern beginnt eben erst. Da ist zuerst die Körperpflege. Kein Zuviel, kein Zuwenig. Weder übertriebene Abhärtung, noch schwächliche Verzärtelung. Kein Überfüttern, kein Mangel. Nicht überängstlich und nicht sorglos und leichtsinnig sein. Immer die rechte Mitte. Es gehört mehr Verständnis, geduldige Treue und Selbstzucht dazu, nur die einfache Körperpflege eines Kindes sachgemäss zu betreiben, als die meisten sich vorstellen mögen. Dann das weite und mit der fortschreitenden Entwicklung des heranwachsenden Kindes sich ständig ausdehnende und vertiefende Gebiet geistiger und psychischer Beeinflussung! Nur vollwertige, allseitig gebildete, fest in sich selbst ruhende Persönlichkeiten sollten hier eigentlich am Werke sein dürfen.
Darüber ist ja nun auch kein Streit. Selbst jene, die aus tausend Gründen die berufliche Inanspruchnahme der Frau hintanhalten möchten, geben zu, dass die reichste und allseitigste Bildung für den Mutterberuf eben gut genug ist. Sie verwandeln die höheren Mädchenschulen in Lyzeen und öffnen die Pforten zu jeder Art geistiger und ästhetischer Kultur des Weibes. Sie vergessen aber eins, dem Naumann in seinem: »Die Frau im neudeutschen Wirtschaftsvolke« einen kennzeichnenden Ausdruck gegeben hat; »Man sagt ihr, sie solle sich an der Erziehung ihrer Kinder genügen lassen. Aber wie kann jemand erziehen, der nichts erlebt?« Nur das, was wir am eigenen Leibe erfuhren und erlebten, das gehört uns, und über das können wir verfügen als über unsern freien Besitz.
Was nützt es uns, alle Weisheit der Welt aus Büchern, Vorlesungen und Vorträgen zusammen zu klauben? An uns wird es haften. Äusserlich wie ein Kleidungsstück, das man ablegen kann und eines Tages unfehlbar ablegen wird. Soll es aber ein organischer Teil unseres Selbst werden, so müssen wir hinaus in den frischen Strom des Lebens, müssen erleben und erfahren.
Menschen müssen wir werden, um Mütter sein zu können. Und in diesem Zusammenhang ist es ganz gleichgültig, ob wir etwas mehr oder weniger geistige und ästhetische Schulkultur besitzen, ob wir etwas mehr oder weniger vom Cinquecento wissen. Nicht gleichgültig aber ist es, ob und wie wir den Platz ausfüllen, an den das Leben uns gestellt hat. Ob wir, gleichviel ob in der Tretmühle mechanischer Berufsübung oder auf den Hochsitzen menschlicher Kultur, uns als notwendige Glieder einer unendlichen Kette empfinden lernten. Ganze Menschen, die ein lebendiges Verhältnis zu ihrer gesamten Umwelt erlangten, denen sich der Blick in die Wesenheiten und Zusammenhänge des Seins erschliesst und die lebendiges, selbsterkämpftes Fühlen, Wissen und Verstehen ihren Kindern als gute Gabe und Lebensvorbereitung darreichen können.
So bedürfen wir des Berufes für das Weib im Namen der Mutterschaft. So bedürfen wir seiner, wie früher aufgezeigt wurde, aus ökonomischen Gründen, das heisst im Sinne wirtschaftlicher Sicher- und Besserstellung der Familiengemeinschaften.
Trotzdem würde ich, angesichts der Schädigungen und schweren Unzuträglichkeiten, die sich als die Folge der Vereinigung von Mutterschaft und Beruf herausgestellt haben, mich unbedenklich jenen gesellen, die vom Weibe den Verzicht auf den Beruf fordern, wenn diese Schäden und Mängel unausweichlich und organisch mit der Berufsübung verknüpft wären. Glücklicherweise ist es nicht an dem. Die in den liberalen Berufen tätige Frau wird sich mit ihrer durchaus auf die Individualität gestellten Berufsübung je nach Kraft, Können und besonderen Nebenumständen abzufinden haben. Der berufstätigen Frau als Massenerscheinung aber kann man mit Leichtigkeit durch eine Reihe teils arbeitstechnischer, teils hauswirtschaftlicher Erleichterungen zu Hilfe kommen.
Nichts rechtfertigt die Beschäftigung von Frauen in gesundheitsgefährlichen und die Nachkommenschaft bedrohenden Gewerbearten. Nichts, nicht einmal das egoistische Interesse des Arbeitgebers macht die heute noch üblichen überlangen Arbeitszeiten erforderlich. Die Beweise dafür, dass mit verkürzter Arbeitszeit eine steigende Intensität der Arbeit einhergeht, sind erbracht. Dasselbe gilt für die Erhöhung der Löhne. Spencer hat in einer seiner Erziehungsschriften nachgewiesen, von welch entscheidendem Einfluss die Güte der Ernährung und gesamten Lebenshaltung auf die Leistungsfähigkeit ist.
Weiter ist da der ganze Komplex von Massnahmen zum Schutze der Mutterschaft, der ganz von selbst den Schutz des Kindes umschliesst und für breite Schichten die vernunftgemässe Vereinigung von Beruf und Mutterschaft überhaupt erst ermöglicht. Es ist nicht angängig, diese mit der Regelung der Arbeitszeit wichtigste Frage im Anhang unserer Darlegungen zu behandeln. Es soll daher nur zusammenfassend gesagt werden, dass eine ausgebaute Mutterschaftsversicherung allen arbeitenden Frauen, die dessen bedürfen, Schutz, Pflege und Unterstützung im Wochenbett sowie die vergrösserte Möglichkeit rascher Wiederherstellung und dauernder Gesunderhaltung gewährleistet. Ebenso wie sie die zu Schutz und Fürsorge der Säuglinge notwendigen Veranstaltungen einschliesslich der Generalvormundschaft und sonstigen Rechtsvertretung der Unehelichen zu schaffen berufen ist.
Dem Schutz und der Sicherung der Frau als Mutter, den Verbesserungen der Lage und der Arbeitsbedingungen der weiblichen Berufstätigen schliessen sich dann als Drittes eine Reihe von Erleichterungen hauswirtschaftlicher Art an. Schon jetzt bekommt man auf den Märkten der Grosstädte halbvorgerichtete Gemüse, ausgeweidete Fische: in besonderen Verkaufsstellen gemahlenen Kaffee, heisses Wasser etc. Nichts hindert daran, dass die Genossenschaften der verschiedensten Art, vor allem aber die Konsumvereine, diese Ansätze weiter ausbauen, dass mit der Zentralheizung und dem elektrischen Licht auch die Zentralwaschanstalt etc. das Leben der Massen verschönt und erleichtert.
So sei's denn geendet. Die Mutterschaft ist, so wie der natürliche, auch der vornehmste Beruf des Weibes. Zu keiner Zeit aber war er der alleinige. Dass er das nicht war, verschwand vordem unter der zeitlich und räumlich eng damit verknüpften Berufsübung der Wirtschafterin und Hausmutter.
Die Entwicklung hat in der Mehrzahl der Fälle den hauswirtschaftlichen Beruf im weiteren Sinne (Feldwirtschaft, Hausfleiss etc.) hinweggenommen. Sie hat den der Hausmutter eingeengt und ihn selbst nach der erziehlichen Seite hin durch Ergänzungen wie Kindergärten, Schule etc. noch weiter beschnitten.
Die Frau muss daher ihren Zusatzberuf draussen suchen. Wie wir gesehen haben aus wirtschaftlichen ebenso wie aus ethischen Gründen.
Das ist nicht eben leicht, und der Übergang ist schmerzhaft. Neue Formen der Vereinigung von Mutterschaft und Beruf müssen gefunden werden. Mit scharfen Kanten und Spitzen schneiden die Unbilden der Übergangszeit ins Familiengewese und ins Fleisch der einzelnen. Gesundheit und Lebensfreude fallen ihnen zur Beute.
Das geht vorüber. Von je waren es die Menschen des Übergangs, waren es die Pfadfinder des Gedankens und der Tat, die die Kosten des Fortschritts bezahlen mussten, und der Weg zur Höhe ist mit Herzblut getränkt.
Aber wir sehen schon den Weg. Wir kennen die äusseren Hilfsmittel und werden sie anwenden lernen.
Und als Ziel winkt die Erlösung und Befreiung. Nicht nur des Weibes, sondern der Menschheit.
Das Weib ist die Mutter. Das heisst, sie ist der Urquell jeder Kraft, jedes Könnens. Ist das Weib aufrecht, gesund und stark an Leib und Seele, schaffensfreudig und schaffenstüchtig, dann wird es auch der Sohn sein und die Tochter.
Mann und Weib, Seite an Seite. Anders geartet, aber gleich gewertet.
So wird der Beruf aus einer Last zu einem Erlöser. So wird aus der schmerzhaften Analyse: Mutterschaft oder Beruf! die befreiende Synthese: Mutterschaft und Beruf!
Eine Zukunft seh' ich dämmern,
da ein freudiges Geschlechte,
frei von Krankheit und von Elend,
frei von Schuld und Furcht der Sünde,
siegreich seine Schlachten schlägt.
Nr. 4/1908
AUS DER TAGESGESCHICHTE
Die unbefleckte Fahne.
Die Nr. 43 der »Sonneberger Zeitung« enthält folgende Anzeige: Warnung! Wir warnen hiermit jedermann vor dem Weiterverbreiten des falschen Gerüchts, dass unsere Fahnenträgerin in anderen Umständen ist. Nicht diese, sondern die Begleiterin E.A. ist es. Da dieselbe die Fahne nicht in die Hand bekommen hat, so ist unsere Fahne als unbefleckt zu betrachten. Diejenigen Personen, welche sich wiederholt der unverschämten Lüge bedienen und uns mit unserer Fahne beleidigen, werden wir gerichtlich belangen. Der Vorstand des Turnvereins Hönbach.« - »Gut Heil!«
Ein Liebesfest in Kambodscha.
Der französische Weltreisende Leclerc hatte, wie er in der »Revue Indo-Chinoise« berichtet, Gelegenheit in einem Dorfe Kambodschas einem der eigenartigsten orientalischen Feste, dem sog. »Mondfest« beizuwohnen. Obwohl schon seit mehr als 200 Jahren verboten, wird es alljährlich im Oktober bei Vollmond gefeiert. Der Mond ist nach chinesischen Begriffen weiblicher Natur und wird im fernen Osten als glückbringende Göttin der Fruchtbarkeit betrachtet. Die Frauen backen am Festtage grosse Bananenkuchen, die mit Einbruch der Nacht zusammen mit Blumen und Essenzen vor die Häuser gelegt werden. Über diesen Opfergaben wird ein Bambusgestell mit Räucherkerzen befestigt, die im Moment des höchsten Mondstandes angezündet werden. Gleichzeitig erschallt der »PrahGesang«, ein Gruss an den Mond. Nach dem Gesang wird zu Spielen und Tänzen übergegangen, deren eigentlicher Sinn nicht lange verborgen bleiben kann. Die jungen Leute gehen alsbald paarweise auseinander, um der Göttin der Fruchtbarkeit zu opfern.
Gehaltszahlung für die Dauer eines
ausserehelichen Wochenbetts.
Vor kurzem klagte vor dem Kaufmannsgericht München die Kontoristin M. gegen die Firma Metzeier u. Co. auf Zahlung von 90 M. als Gehalt für Monat April. Vor Gericht bat die Firma um Klageabweisung; die Klägerin sei durch ein aussereheliches Wochenbett an der Leistung der Dienste gehindert worden; dies könne nicht als ein »unverschuldetes Unglück« im Sinne des § 63 angesehen werden. Der klägerische Vertreter wandte ein: Die Klägerin sei schon seit 41/2 Jahren bei der beklagten Firma in Stellung, sie habe bis am Vormittag vor ihrer Entbindung im Geschäfte bei der Beklagten gearbeitet; sie sei Witwe, zurzeit verlobt. Das Wochenbett falle unter den Begriff des unverschuldeten Unglücks im Sinne des § 63 des Handelsgesetzbuches. Das Gericht gelangte zur Verurteilung der Beklagten mit folgender Begründung: Streit besteht unter den Parteien darüber, ob ein aussereheliches Wochenbett als ein »unverschuldetes Unglück« anzusehen ist. Diese Frage ist in der Literatur nicht unbestritten. Das Gericht hat sich der klägerischen Ansicht angeschlossen mit der Begründung: da der aussereheliche Geschlechtsverkehr weder gesetzlich noch nach heutiger Lebensanschauung ein Verschulden sei, so können es auch seine Folgen nicht sein.
Gegen die milde Bestrafung der Sittlichkeitsverbrecher
richtet sich folgender Erlass des bayrischen Kultusministeriums: »Es wird häufig darüber geklagt, dass gegen Personen, die der Verübung roher und unsittlicher Handlungen schuldig gesprochen werden, auf zu milde Strafen erkannt wird. Die Klagen beziehen sich hauptsächlich auf Fälle der Begehung solcher Handlungen gegen Frauen oder Kinder und namentlich auf Fälle, in denen die Fat unter Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses verübt wurde. Zu ihrer Rechtfertigung wird auf die verhältnismässig schweren Strafen hingewiesen, mit denen oft geringfügige Eingriffe in fremde Vermögensverhältnisse geahndet werden. Die Entscheidung darüber, welche Strafe in einzelnen Fällen angemessen ist, steht zwar den Gerichten zu, das Gesetz räumt aber der Staatsanwaltschaft das Recht ein, durch Antrag und Ausführungen auf diese Entscheidung einzuwirken. Hiervon den richtigen Gebrauch zu machen, ist die besondere Pflicht der Staatsanwaltschaft. Sowohl bei der Vorbereitung der öffentlichen Anklage und während der gerichtlichen Voruntersuchung, als auch in der Hauptverhandlung muss sie auf die Ermittelung der Tatsachen hinwirken, die für die Bestimmung der Strafe wichtig sind. Kommt sie nach gewissenhafter Prüfung aller Umstände des Falles zu dem Ergebnis, dass eine Bestrafung der Schuldigen am Platze ist, so hat sie dies bei der Stellung und Begründung ihres Antrages in der Hauptverhandlung mit vollem Nachdruck geltend zu machen. Dabei muss sie in den Fällen der Verübung roher und unsittlicher Handlungen gegen Frauen und Kinder, namentlich auch deren grössere Schutzbedürftigkeit, auf die Unersetzlichkeit des angerichteten Schadens und auf die Niedrigkeit der Gesinnung, die in der Begehung solcher Handlungen gegen Frauen und Kinder überhaupt und besonders dann zutage treten, wenn die Tat unter Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses verübt wird, das gebührende Gewicht legen, um eine der Schwere der Tat entsprechende Bestrafung herbeizuführen, die auch das öffentliche Rechtsbewusstsein als ausreichende Sühne der Tat empfindet.«
Nr. 4/1908
Das Frauenstimmrecht
Dr. Käthe Schumacher
SIND DAS NOCH DAMEN?
In diesem Ausruf hat die deutsche Presse ihr Urteil über die letzten Ereignisse der englischen Frauenstimmrechtsbewegung gesprochen. Der 1. und 4. März bedeutete für Presse und Publikum in Deutschland das sinnlose Zerstören fremden Eigentums durch Amazonen, wilde Weiber, tolle Weiber, rabiate Weiber, Wesen, die jeden Anspruch auf die Achtung ihrer Mitmenschen, auf den Schutz der Gesetze verscherzt haben.
Einer sachlichen Darstellung der Vorgänge, einer genauen Schilderung ihrer Gründe bin ich in keinem deutschen Blatte begegnet. Von den Suffragettes wird nur »das Sensationelle« gemeldet, sie gehören noch nicht zum Programm der politischen Presse, haben noch keinen festen Platz über dem Strich, keinen Anteil an der Vorbildung der Berichterstatter und Zeitungsleiter. Ich glaube mit voller Richtigkeit behaupten zu können, daß keiner unserer führenden Redakteure »Votes for Women« liest; auch die Berichterstatter lesen es nicht, sonst hätten sie anders berichten müssen. Das englische Frauenstimmrechtsorgan - das auch eine Übersicht der englischen Presse bringt - ist aber das einzige Blatt, aus dem man sich einen klaren Begriff der Vorgänge machen kann. Da die Kenntnis allein der Tatsachen und ihrer Motive dem deutschen Publikum durch unsere Presse nicht geboten, da auch die Frauen und viele Frauenrechtlerinnen schlecht über diese Dinge unterrichtet sind, ist es Pflicht, hier aufzuklären. Am 1. März d. J. begaben sich Mrs. Pankhurst, Mrs. Marshall, Mrs. Tuke (die erste und die letzte sind im Vorstand der Women's Social and Political Union) nach Downing Street und warfen dem Ministerpräsidenten, sowie anderen Ministern Fenster ein. Gleichzeitig wurden im Westend durch eine Anzahl Suffragettes große Schaufenster zerschlagen. Da die Suffragettedemonstration erst für den 4. März angekündigt war, kam dies Vorgehen der Polizei ganz unerwartet. Trotzdem wurden viele Frauen verhaftet, so auch die drei Führerinnen. Am 4. März wurde dann der wohlorganisierte Hauptschlag geführt: Zwischen 3/4 6 und V4 7 Uhr abends zerschlugen Hunderte von Frauen mit Hämmern für etwa 100 000 M. Schaufensterglas im Westend und der City. Es folgten Hunderte von Verhaftungen, und am Dienstag den 5. März ließ die Regierung, um die Bewegung ins Herz zu treffen, Mr. und Mrs. PethickLawrence, die Besitzer und Herausgeber des Kampfblattes Votes for Women, verhaften. Christabel Pankhurst entging ihr und ist bis jetzt nicht aufgefunden. Somit schienen die Suffragettes ihrer Führer beraubt, ihres Blattes beraubt, ja, die Regierung erwog, ob sie nicht das Vereinsvermögen beschlagnahmen könne.
Die Anklage gegen Mr. und Mrs. PethickLawrence lautet auf »Verschwörung« (conspiracy), sie fallen unter das Gesetz von 1801, dem Malicious damage to property act (böswillige Eigentumsbeschädigung), und wurden vor den Central Criminal Court of London gestellt. Nachdem man sie drei Wochen voneinander getrennt im Untersuchungsgefängnis gehalten, sind sie anfangs April gegen hohe Kaution bis zur Verhandlung freigelassen worden. Mr. Lawrence ist selbst Jurist und Anwalt. Seine Frau, die gleich ihm dem gebildeten und besitzenden Bürgertum angehört, hat sich schon vor ihrer Ehe in sozialer und politischer Arbeit betätigt. Diejenigen Frauen, die am 1. und 4. März Eigentum unter 5 £ (100 M.) beschädigten, wurden sofort vor das Polizeigericht (Police court) gestellt und dort zu 1 - 6 Monaten Gefängnis, teils mit, teils ohne harte Zwangsarbeit, verurteilt, also in der III. Abteilung, der niedrigsten und erniedrigendsten. Wer Schaden über 5 £ verursacht, wurde vor die Geschworenen (the sessions) gestellt und dort gleichfalls zu 1 - 6 Monaten Gefängnis, teils mit, teils ohne Zwangsarbeit, verurteilt. Ein kleiner Teil der Demonstranten ist gegen Versprechung guten Betragens (good behaviour, d. h. der ferneren Enthaltung von Feindseligkeiten) freigelassen. Noch andere haben Geldstrafen der Haft vorgezogen. Diese Möglichkeit wurde nur erstmalig Verhafteten gegeben und vorwiegend von solchen benützt, die sonst ihre Stellung und damit das Brot ihrer Angehörigen verlören. Um nicht ganz mit ihren Angehörigen brechen zu müssen, haben einige Suffragettes im Kampf andere Namen getragen. Unter den zu Zwangsarbeit verurteilten ist Dr. Ethel Smyth, die große englische Komponistin, die Anfang März ihre Werke auf dem Internationalen Musikerkongreß in Berlin dirigieren sollte, auf diese Auszeichnung aber verzichtete, um mitzukämpfen und mitzuleiden. Auf Mrs. Pankhurst lasten zwei Anklagen: Fenstereinwerfen (vor dem Polizeigericht). Verschwörung (vor dem Central Criminal Court). Denn Mrs. Pankhurst ist die Gründerin und Vorsitzende der Women's Social and Politicäl Union, und als solche, gleich ihrer Tochter Christabel, in die Anklage auf conspiracy verwickelt. Sie ist eine Frau von etwa 50 Jahren, die Witwe eines hochansehenen Politikers und Anwalts, seit langen Jahren in sozialer Arbeit tätig und durch diese Arbeit davon überzeugt: ohne Frauenstimmrecht kein Heil für die Frau. Im Gefängnis wurde diese zarte Frau sehr rücksichtslos, ja mit absichtlicher Härte behandelt, aus einer guten, geheizten Zelle in eine alte, feuchte und finstere gebracht, vom Untersuchungsrichter angefahren, des freien Verkehrs mit ihrer Sekretärin und ihrem Anwalt beraubt und der Unwahrheit geziehen, als sie sich darüber beschwerte. Durch Aufbieten alles parlamentarischen und öffentlichen Einflusses ist es jetzt gelungen, Mrs. Pankhurst gegen Kaution auf freien Fuß zu setzen, damit sie ihre Verteidigung vorbereiten kann, den Rest ihrer »Strafe« für das Fenstereinwerfen hat sie später zu verbüßen.
Diese Behandlung einer Frau, die Tausenden in England ein neuer Messias, eine Heilige, eine Märtyrerin ist, erschüttert die Gemüter.
Die elementaren Tiefen regen sich.
Eine der Demonstranten, die Krankenpflegerin Pitfield, hat am 4. März im Londoner Hauptpostamt einen Korb mit Spänen, Papier und Parafinöl angezündet und sich dann ruhig verhaften lassen. Sie ist schwer leidend; durch einen Schlag, den sie bei einer der früheren Demonstrationen erhielt, ist Krebs bei ihr entstanden. Sie wurde zu 6 Monaten Gefängnis in der II. Abteilung verurteilt. Von dieser Tat hat die Presse bei uns kaum Notiz genommen. Erscheint die »Petroleuse« zu gefährlich, oder zu bedauernswert?
Durch die Verhaftung der Führer sollte die Suffragettebewegung gelähmt werden. Am Dienstag den 5. März waren alle »Häupter« im Gefängnis oder »verschwunden.« Am 8. März aber erschien Votes for Women wie sonst, mit einem genauen sachlichen Bericht über alle Ereignisse und einer Anzahl leerer Stellen: der Drucker hatte sich geweigert, den eingesandten Text (z. T. Ausführungen aus Reden englischer Minister) zu drucken, er sei zu gefährlich (inflammatory). Die Leitung oder die Reden der öffentlichen Versammlungen übernahmen nun Elizabeth Robins, Evelyn Sharp, Mrs. Brailsord, Mrs. Chapman, Annie Besant, Lady Constance Lytton. Parlamentarier, Geistliche, Anwälte, Ärzte traten auf und sprachen und schrieben für die Frauen.
Am 28. März wurden 200 000 M. gezeichnet, das Ergebnis einer einzigen Versammlung in der Albert Hall.
Und es war doch »gefährlich« geworden, Suffragette zu sein: wer an die Spitze der Social and Political Union tritt, riskiert eine Anklage auf Verschwörung, wer in den Versammlungen spricht, weiß, daß die Polizei seine Worte aufschreibt, die bekannten Suffragettes werden durch Geheimpolizisten verfolgt, denn sie könnten ja Christabel verbergen, den Gefangenen sucht man Aussagen gegen die Führer abzulocken, Frauen, die das Stimmrechtzeichen tragen, werden auf der Straße von Männern angefallen, die Straßenverkäuferinnen der »Votes for Women« beschimpft und mißhandelt, der Frauenstimmrechtsbuchhandlung (London), dem Frauenklub (Edinburg) hat man die Fenster eingeworfen, ohne daß die Polizei einen Finger rührt, während sie gegen die Suffragettes mit der ganzen Hand zugreift.
Welche Beweggründe treiben die Suffragettes in dies Ungemach, Leid und Leiden, in diese Gefahr und Schmach? Das ergibt sich aus den Verhören der Verhafteten vom 1. und 4. März. Durchweg erklären sie: Wir sehen keinen anderen Weg, unser Ziel zu erreichen. Das Leben der meisten Frauen in den Häusern und Familien der Armen, die Arbeitsbedingungen der meisten Erwerbsfrauen, das Eherecht sind unerträglich, unsere sozialen Verhältnisse auf der Abhängigkeit, Hörigkeit, Prostitution der Frau aufgebaut. Das kann nur durch Frauenwahlrecht anders werden. Schon gut, wird dem entgegnet, aber warum deshalb Fenster einschlagen? Eigentum vernichten?
Und wiederum lautet die Antwort der Suffragettes: Weil dies der einzige Weg zum Wahlrecht ist. Durch das Fenstereinwerfen sind nur die reichen Versicherungsgesellschaften geschädigt, Menschen wurden nicht verletzt; Fenstereinschlagen ist aber eine alte Form, politisch-soziale Unzufriedenheit zu äußern und eine sehr milde Form. Es ist uns Frauen widerwärtig und abscheulich, selbst diese milde Form von Gewalt anwenden zu müssen, wir sehen aber keinen anderen Weg zum Ziel. Oh, heißt es dann, der Wege sind sehr viele: Vereine, Versammlungen, Petitionen, Gesetzentwürfe, friedliche Arbeit.
Diese Wege, entgegnen die Suffragettes, sind seit 60 Jahren mit größter Hingabe, Geduld, Ausdauer und stets erneuter Kraft beschritten worden. Sie führen aber nicht zum Ziel. Das angeblich liberale Ministerium ist durch Argumente und Leistungen nicht zu überzeugen. Es weicht nur der Gewalt. Also brauchen wir Gewalt. Auch die Männer haben ihre politischen Rechte nur durch Gewalt erreicht. Gladstone sagt: Hätte man in kritischen Augenblicken die Männer nur zur Geduld ermahnt, die Freiheiten dieses Landes wären nie errungen worden. Der jetzige Minister Lloyd George, ein früherer Aufrührer, sagt: Wenn dem Volk sein Recht nur durch Gewalt erreichbar war, hat das Eigentum gelitten, sonst bedroht das Volk kein Eigentum.
Den Suffragettes blieb am 1. und 4. März aber nur noch Gewalt. Denn welches war die verzweifelte Lage des Frauenstimmrechts? Nach vielen Mühen war ein Kompromiß zwischen Konservativen und Liberalen zustande gekommen, die sogenannte Conciliationbill, die allen Frauen, die Gemeindewähler sind (eine Million Frauen, davon 82 Prozent erwerbende Frauen), das politische Wahlrecht geben wollte. Die Suffragettes fordern sonst das gleiche Stimmrecht für Mann und Frau; um aber mit dem Frauenstimmrecht überhaupt einen Anfang zu machen, hatten sie sich mit dieser beschränkten Forderung einverstanden erklärt. (Der englische Mann besitzt zwar noch nicht das allgemeine Wahlrecht, jedoch ist die geforderte Steuerleistung sehr niedrig, sieben Millionen Männer wählen.)
Die Conciliationsbill war durch die erste Lesung gekommen (mit 157 Stimmen Mehrheit, weit mehr als viele andere Gesetze des liberalen Ministeriums erhalten haben). Es galt nun, sie in die zweite und dritte Lesung zu bringen. Seit 1867 haben die englischen Frauen diesem parlamentarischen Spiel mit ihrem Schicksal beigewohnt, immer kam es bis zur zweiten Lesung, und dann hatte das Lied ein Ende. »Die parlamentarische Uhr schlug immer 2, nie aber 3.« Die Führerinnen der Women's Social and Political Union wußten, das Ministerium sei in Sachen des Frauenstimmrechts geteilter Meinung, sie versahen sich also von ihren Hauptgegnern (Ministerpräsident Asquith, Minister Churchill) eines Gegenstreiches. Er kam: Minister Lloyd George, der angebliche Freund des Frauenstimmrechts, brachte plötzlich einen Regierungsentwurf (Reformbill) auf allgemeines Männerwahlrecht ein und rühmte sich dann, der Conciliationbill »den Garaus gemacht« zu haben (to have torpedoed the conciliationbill). Allerdings war an eine Annahme der Conciliationbill nun nicht mehr zu denken, sie hatte jedes Interesse verloren, denn das Ziel aller Frauenstimmrechtler konnte nur noch die Ausdehnung des allgemeinen Wahlrechts auf die Frauen sein. Aussicht auf Annahme hat diese Forderung' aber nur, wenn sie von der Regierung gestellt wird. Die Unterstützung einzelner wohlwollender Abgeordneter genügt nicht, das haben die Frauen seit 1867 gelernt. Wie man mit ihnen umsprang, hatten sie ja soeben wieder erfahren. Die Regierung aber erklärte, das Frauenstimmrecht nicht in den Entwurf aufnehmen zu wollen, die Thronrede brachte keine bessere Botschaft, und überdies forderte einer der Minister, Mr. Hobhouse, die Suffragettes direkt heraus: die Frauenstimmrechtsagitation sei ja gar kein allgemeines Verlangen, sie habe noch keine der Gewalttaten gezeitigt, die bei den politischen Kämpfen der Männer vorgekommen seien. Nun haben die Stimmrechtlerinnen die größten Petitionen und die größten Demonstrationen aufzuweisen, die Englands politische Geschichte je gekannt. Allerdings hatten sie bisher weder Schlösser und Zollhäuser verbrannt noch Menschen getötet, noch Eigentum beschädigt. Da das Ministerium diese Gewalttaten als Kennzeichen einer »populär demand«, also des Volkswillens, betrachtet, beschlossen die Suffragettes, diesen Beweis in der mildesten Form zu erbringen. Und so kam es zu den Sachbeschädigungen des 1. und 4. März. Minister Hobhouse, der eigentliche Anstifter, lebt auf freiem Fuß, die Suffragettes sitzen hinter Schloß und Riegel.
Die Conciliationbill ist am 26. März, wie vorauszusehen, abgelehnt (257 : 242) worden. Die Sozialisten haben dafür, viele Liberale und alle Irländer dagegen gestimmt, denn der Entwurf war kein Regierungsentwurf, sonst hätten sie ihn angenommen, um das Ministerium zu halten.
Die Frauen der Social and Political Union, die allen Ständen angehören, sind fest entschlossen, den Kampf durchzukämpfen. Sie wollen nichts für sich, sie wollen nur Gerechtigkeit für andere. Was ist Eigentumsvernichtung gegen die Frauenvernichtung unserer angeblich zivilisierten Gesellschaft? Und was sind einige selbst sehr wertvolle Existenzen gegen die Befreiung von Tausenden? Diese Befreiung aber kann nur vom Wahlrecht kommen: vor den streikenden Kohlenarbeitern, die dem Lande ebensoviel Millionen gekostet wie die Suffragettes Schillinge, vor den streikenden Kohlenarbeitern, die eine Million Wähler darstellen, stand die Regierung mit gezogenem Hut, und das Parlament schnurrte für sie wie eine aufgedrehte Spieluhr. Den Suffragettes, die keine Wähler, bot man nur Kerker und Zwangsarbeit: in vier Tagen war das Gesetz über den Minimallohn fertig, in 40 Jahren konnte keine Frauenstimmrechtsbill zustande kommen. Nach dem ersten Schreck hat sich ein Teil der öffentlichen Meinung nun auch auf Seiten der Suffragettes gestellt. Soviel Rachsucht, Haß, Niedrigkeit ist durch Regierung, Behörden, Presse, Publikum an ihnen ausgelassen worden, daß sich das öffentliche Gewissen kräftig für sie zu regen beginnt. Sie mögen unrecht getan haben, sagen die einen, aber sie sind selbstlos und edel; sie verkörpern in einer genußsüchtigen Zeit das höchste Ideal, sagen die anderen, sie sind Nachfolger Christi, ihr Geist der unbesiegliche Geist der Selbstverleugnung. Die Kirche ergreift immer offener für sie Partei, die Church League for Women Suffrage (Kirchenbund für Frauenstimmrecht) hat einen großen öffentlichen Umzug ihnen zu Ehren gehalten, eine tiefe Volksbewegung gärt auf, die mit Gewalt nicht zu dämmen ist. Denn wer sich mit klarem Bewußtsein zu überlegter und organisierter Gewalt entschließt, ohne eigenen Vorteil zu suchen, der kann nicht gebrochen werden.
»Sind das noch Damen?« Nein, gewiß nicht. Die Dame und ihr enger Klassenegoismus ist der Gegenpol der Suffragette. Aber »Menschen« sind es, »Menschen«, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit. Christus pries sie selig, und Heinrich von Kleist sagt, daß es Gott lieb ist, wenn Menschen ihrer Freiheit wegen sterben.
Heft 1/2/1912
Rosika Schwimmer (Budapest)
ERZIEHUNG UND FRAUENSTIMMRECHT
Der fortschreitenden Entpatriarchalisierung des Lebens ist es noch immer nicht gelungen, mit den ihres Sinnes doch mehr und mehr entblößten patriarchalischen Phrasen und Tendenzen aufzuräumen. Den »schäbigsten« dieser Phrasen gleichwertig ist die Behauptung: Erziehung sei Frauensache. Sie spiegelt jene patriarchalische Epoche wieder, in der die sozialen und produktiven Funktionen der Frau zu Geschlechtsfunktionen gestempelt wurden.
Umsonst zeigt uns die ökonomische und technische Entwicklung, daß die in primitiven Zeiten entstandene Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau den Umständen der Selbsterhaltung angemessen war, die Entwicklung der Arbeitsteilung also denselben Gesetzen folgen muß, wir halten noch immer fest daran, in der Erziehung eine geschlechtliche, weibliche — ja, noch enger - mütterliche Funktion zu sehen.
Die Wurzel dieser Täuschung liegt in dem großen Wirrwarr, der aus der Verknotung sexueller und sozialer Funktionen entstanden ist. Die Mutter ist - normalerweise - die unersetzliche Ernährerin ihres Kindes. Das Säugen des Kindes ist aber auch die einzige geschlechtliche Funktion im großen Prozeß des Aufziehens der menschlichen Nachkommenschaft. Alles übrige ist soziale, d.h. nicht an geschlechtliche Tätigkeit gebundene Leistung.
Körperliche Pflege, Erziehung und Unterricht sind durchweg soziale Funktionen, das beweisen all die ledigen oder kinderlosen Frauen und alle Männer, die irgendwie mit Kinderpflege, - Erziehung - oder Unterricht beschäftigt sind. Es ist kein Zufall, daß Pestalozzi, Fröbel und die unverheiratete Ellen Key mehr für die Erziehung der Menschheit geleistet haben, als Millionen Mütter aller Generationen. Denn wie bei all den irrtümlich für Geschlechtsfunktionen gehaltenen sozialen Leistungen, wie Kochen, Backen, Aufräumen, Haushalten etc., kommt es auch bei den mit der Kindererziehung zusammenhängenden Beschäftigungen auf die Dreieinigkeit: Neigung, Befähigung und Ausbildung an.
Diese von der physischen Mutterschaft ganz unabhängigen Faktoren sind bei Männern ebenso wie bei Frauen anzutreffen. Und daß Männer und kinderlose Frauen die gesetzmäßigen Notwendigkeiten der Erziehungstätigkeit klarer erfassen als die »praktischen« Mütter, ist nur selbstverständlich; sie sind nicht durch subjektive Hemmungen am ungestörten Übersehen des ganzen Gebietes verhindert.
Was Charlotte Perkins Gilmann und Hedwig Dohm als Mütter ihren Kindern bedeuten, wissen wir nicht, daß die aber als Theoretikerinnen (Charlotte Perkins Gilman: Concerning Children, deutsch: Kinderkultur, im Kulturverlag, Berlin; Hedwig Dohm: Mütter, S. Fischer, Berlin) den Müttern der Kulturwelt unschätzbare Stütze für die größte aller Aufgaben geworden sind, ist unzweifelhaft. Das sind Frauen, die dargelegt haben, daß Erziehen, Pflegen und Unterrichten keine instinktiven Arbeiten sind, sondern Eigenschaften erfordern, die nicht durch die physische Gebärleistung in der Mutter erwachen. Wenn die Mutterschaft an sich die zum Erziehen notwendigen physischen und seelischen Bedingungen in der Frau erwecken könnte, wären weniger Strafanstalten und Krankenhäuser in der Welt nötig.
Was die großen Theoretiker für die geistige Erziehung, haben männliche und weibliche Physiologen, Kinderärzte für die körperliche Erziehung der Kinder geleistet. Die überfüllten Kinderfriedhöfe zeigen, wie wenig die Wissenschaft der Kinderpflege Allgemeingut geworden ist. Die Menge antisozialer, ethisch tiefstehender Individuen, die Masse der unkultivierten, unfeinen Leute, wie sie der Durchschnittsmensch repräsentiert, sind lebende Beweise für die Unzulänglichkeit der bloß auf Instinkt und Tradition aufgebauten Erziehungskunst.
Unter dem Zwang der Entwicklung übernimmt der Staat immer mehr und mehr Elternpflichten, er wird - wie der Chinese sagt Vater und Mutter seiner Bürger. Dieses Verhältnis ist in vieler Beziehung noch stark stiefelterlich, das Bemühen, es zu einem innigen, zärtlichen umzugestalten, ist aber in allen Kulturländern zu erkennen.
Erziehung und Unterricht werden immer mehr soziale Pflicht des Staates, die Verantwortung bürdet man aber noch immer der Frau, der Mutter auf. Der gute, alte Spruch behauptet jedoch noch immer: Die Erziehung liegt in den Händen der Mutter.
Der in den meisten Kulturstaaten eingeführte Schulzwang entriß der Familie Unterricht und Erziehung energisch. Wohl hieß es, man habe nur den Unterricht entpatriarchalisiert, die Erziehung sei in der Sphäre des Heimes belassen, das ist aber Absurdität. Unterricht und Erziehung sind unlöslich verkettet. Ein Beispiel für viele möge das beweisen: Die Mutter durchtränkt das Kind mit ehtischen Ideen, mit Abscheu vor Töten und Morden. Die Schule lehrt im Heroenkultus, es gäbe nichts Herrlicheres, Patriotischeres als Töten, Töten, auf dem Schlachtfelde Töten. Tausende solcher Widersprüche entstammen der unnatürlichen Trennung von Unterricht und Erziehung. Daß diese Teilung unhaltbar ist, wird ja auch heutzutage in den Fachkreisen erfreulicherweise immer mehr und mehr anerkannt. Je weiter nun die Entwicklung in dieser Richtung fortschreitet, desto ungerechter wird die an und für sich absolut ungerechte Ausschließung der Frau aus der Politik.
Die Forderung, teilzunehmen an der Gesetzgebung, ist ein Ausdruck dafür, daß die Frau den ihr durch die technische, ökonomische und soziale Entwicklung entrissenen Einfluß auf ihre Familie zurückerobern will. Handel und Industrie nahmen die Arbeit der Frau aus dem Haus, die Frau folgte ihren Arbeiten in die Fabrik, in den Laden. Der Staat nimmt ihr die Erziehung aus der Hand, so will sie Einfluß auf diesem Gebiete mit den zeitgemäßen Verhältnissen entsprechenden Mitteln: politische Rechte ausüben.
Die Frauen, die um dieses bedeutendste aller Rechte kämpfen, sind im Reinen darüber, daß es zur Ausübung der mütterlichen Pflichten den eigenen Kindern wie der Gesamtheit gegenüber einfach unerläßlich ist.
In vielen Ländern erstreckt sich der Schulzwang schon auf das dreijährige Kind. In Ungarn z. B. sind Kinder von drei Jahren an kindergartenpflichtig. Von Unterricht kann da natürlich keine Rede sein, es handelt sich also nur um Erziehung. In vielen Staaten wird den schulpflichtigen Kindern Alkohol, Tabak, das Besuchen öffentlicher Unterhaltungsplätze, das Korsettragen verboten. Diese Verbote sind rein politische Akte, da sie auf parlamentarischem Wege erbracht werden. Der Staat mischt sich ganz ungeniert in die »Familienangelegenheit« Erziehung, es ist also durchaus absurd, die Ergebnisse der Erziehung — ob gut oder schlecht — einzig der Frau zuzuschreiben.
So entschieden daher die ausschließliche Verantwortlichkeit der Frau abgelehnt werden muß, ebenso energisch muß auch gegen den Ausschluß der Frau aus der politischen Tätigkeit, die heute zentrale Kraft des Erziehungswesens ist, protestiert werden. Im Namen ihres berechtigten Willens: teilzuhaben an dem größten Menschenwerk, an der Erziehung.
Da das Leben nicht weiblich ist, kann die Erziehung nicht reine Frauensache sein; da es aber auch nicht männlich ist, darf sie nicht zur Männerangelegenheit werden. Unser Leben ist ein menschliches, es muß also aus männlicher und weiblicher Tätigkeit entstehenden menschlichen Leistungen aufgebaut werden. Somit kann auch die Politik, wo sie exklusiv männlichen Charakter hat, kein allgemein befriedigendes Erziehungsresultat aufweisen.
Den besten Beweis für diese Behauptung liefert uns die Erziehungspolitik jener Länder, in denen Frauen das Stimmrecht erworben haben.
Die Erfahrungen in Wyoming, Colorado, Utah, Idaho, Australien, Finnland und Norwegen zeigen, daß die Frau ihre politischen Rechte in erster Reihe zugunsten sozialer Einrichtungen verwendet, allem voran die Volkserziehung berücksichtigt.
Frauenstimmrechtsstaaten waren die ersten, die Verkauf oder Ausschank von Alkohol und Tabak gesetzlich verboten, öffentliche, unentgeltliche Kindergärten obligatorisch machten, strenge Gesetze gegen Kinderarbeit und öffentliche Schaustellung von Kindern erließen. Diese Staaten waren am erfinderischsten in Mitteln und Wegen, allen Schwierigkeiten des Erziehungswesens zu begegnen, Colorado, das Musterland für Schul- und Erziehungswesen, für Kinderschutz in jeder Beziehung, hatte jahrelang in Mrs. Helen Locin Grenfell einen weiblichen Unterrichtsminister. Diese Frau steht jetzt, da sie aus Gesundheitsrücksichten auf den Ministerposten verzichtete, das Land ihrer Dienste aber nicht ganz entraten will, an einer eigens für sie kreierten Stelle an der Spitze der Unterrichtsverwaltung.
Colorado hat alle die Hilfsanstalten, deren Errichtung in vielen europäischen Staaten noch als diskutables Problem behandelt wird. Es hat Schulen für notorische Müßiggänger, für Schwachbegabte, es hat obligatorische Schulspeisung. Hier hat man die Wanderbibliotheken mit besonderer Sorgfalt auch mit Jugendlektüre versorgt. Neben unzähligen anderen Einrichtungen verdankt das Land seinen Frauen - durch deren Stimmrecht - die Errichtung der Jugendgerichte. Diese unschätzbare Institution konnte sich erst dann durchsetzen, als das Frauenstimmrecht den genialen Vater der Idee, den Richter Ben B. Lindsey in das Parlament brachte. Jahrelang konnte er als Parteiloser nicht ins Parlament gelangen, die Frauen verstanden es aber, sofort über alle Parteigrenzen hinaus für die Erwählung eines Schulmannes einzutreten, der der Welt so Großes wie das Jugendgericht zu bieten hatte.
Ein origineller erzieherischer Gedanke wurde im Jahre 1903 im Parlament von Utah von weiblicher Seite verwirklicht. In diesem Staate wird um 9 Uhr abends Retraite geläutet. Aber nicht — wie in militärischen Ländern — für die Soldaten, sondern für alle Kinder unter 14 Jahren, die nach dem Läuten der Kinder-Abendglocke nicht mehr auf der Straße weilen dürfen. Das Schulbibliothekwesen, strenge Maßnahmen gegen die Pornographie und vieles Ähnliche zieht aus den Frauenstimmrechtsländern siegreich in die Welt, zum Beweis dafür, daß Erziehung eine soziale Frage ist, daher erfolgreich nur gemeinschaftlich von Mann und Frau geleistet werden kann.
Es gibt keinen größeren Widerspruch, als der Entwicklung des Erziehungswesens zu dienen und der Frauenstimmrechtssache gleichgültig oder gar feindlich gegenüberzustehen. Wer für das eine ist, muß auch für das andere sein, oder, wer Frauenstimmrecht bekämpft, schlägt nicht nur der Gerechtigkeit ins Gesicht, sondern hindert auch die Entwicklung des Erziehungswerkes.
Heft 1/2 1912