Die Weltwirtschaftskrise als Herausforderung an den Sozialismus und die sozialen Bewegungen

Die Gewalt der sich weiter vertiefenden kapitalistischen Weltwirtschaftskrise entzieht sich großenteils der Kontrolle der Politiker und der sozialen Bewegungen, egal in welchem Teil der Welt. Ja, die ökonomischen Ereignisse haben eine ganze Reihe von ironischen Rückschlägen der Politik hervorgerufen, besonders für Sozialisten, deren politische und ideologische Projekte immer weniger dazu taugen, den Strom der Geschichte zu lenken. Bestenfalls treiben sie den Strom hinab, schlimmstenfalls werden sie vom Lauf der Geschichte überholt. Die heutige Krise des ideologischen und politischen Überbaus von Marxismus und Sozialismus ist der Widerschein ihrer Basis: der Weltwirtschaftskrise. Wir untersuchen die Krisensymptome im sozialistischen Osten, kurz auch die im kapitalistischen Westen und im Süden der Dritten Welt sowie in einigen neuen sozialen Bewegungen, die sich als Antwort auf die Wirtschaftskrise und das Versagen sozialistischer Politiken bilden. Wenn der Sozialismus eine absehbare Zukunft haben soll, muß er sich zu dieser wahrhaft weltpolitischen Herausforderung hinaufarbeiten.

Die Krise des Sozialismus im Osten

Verglichen mit den theoretischen Hoffnungen und ideologischen Ansprüchen ihrer Führer nehmen sich Platz und Rolle der sozialistischen Ökonomien im Osten wirklich ironisch aus. Kurz vor seinem Tod behauptete Stalin (in »Die ökonomischen Probleme des Sozialismus«), es gebe nun zwei voneinander geschiedene ökonomische und gesellschaftliche Systeme in der Welt, ein kapitalistisches und ein sozialistisches. Sein Nachfolger, Chruschtschow, strafte ihn Lügen, indem er die chinesisch-sowjetische Spaltung des sozialistischen »Systems« anheizte. Er führte in der Sowjetunion den »Gulaschkommunismus« ein und versprach, die USA bis 1980 »einzuholen und zu überholen«. Mitte der sechziger Jahre führte die Sowjetunion zaghafte ökonomische Reformen ein, und einige ihrer osteuropäischen Verbündeten, besonders Ungarn, begannen mutige Reformen ihrer Wirtschaftsorganisation und Politik. Ihr Hauptmerkmal war jedoch die wachsende Bedeutung der Marktpreise und der Integration in den Weltmarkt, einschließlich der Einführung von Weltmarktpreisen in die Binnenwirtschaften Osteuropas, besonders im Handel untereinander. In den siebziger Jahren folgte dann der massive Import westlicher Technologien.
1971/72 wurde in allen sozialistischen Ökonomien — in Osteuropa, in der Sowjetunion, China und Nordkorea — entschieden, ihren Handel mit dem Westen stark auszudehnen und Wirtschaftsabkommen mit dem Westen abzuschließen, um die internationale Arbeitsteilung zu verändern. Das Ziel war, aus dem Westen Technologie zu importieren und für die Produktion von Industriegütern zu benutzen. Sie hofften, die westliche Technologie teils durch Rohstoffexporte und teils durch Industrieexporte bezahlen zu können, die mit Hufe der importierten Technologie produziert werden würden. Ironischerweise kalkulierten alle sozialistischen Ökonomien, und natürlich die kapitalistischen auch, auf die anhaltende Prosperität des Westens. In der Rezession 1973 bis 1975 und in dem schwachen Aufschwung 1975 bis 1979 merkten sie, daß sie sich verrechnet hatten. Sie mußten ihre Schulden erhöhen, um die Importe bezahlen zu können. Die Schulden der sozialistischen Länder wuchsen von 8 Milliarden auf 80 Milliarden Dollar 1981, die der Dritten Welt von 100 Milliarden auf 800 Milliarden Dollar im selben Zeitraum.
Die sozialistischen Ökonomien gerieten in eine intermediäre Stellung in der internationalen Arbeitsteilung. Sie importierten Industriewaren aus dem Westen und exportierten in erster Linie Rohstoffe. In den Süden aber exportierten sie billigere Industriewaren niedrigerer Qualität und importierten von dort Rohstoffe, analog zu ihrer Stellung gegenüber dem Westen. Sie erwirtschafteten einen Handelsbilanzüberschuß mit dem Süden, den sie teils zur Deckung des Bilanzdefizits mit dem Westen benutzten. Ungarn z.B. wickelt über 50 Prozent seines Handels mit dem Westen ab, mehr als mit den anderen RGW-Staaten. Das hat — in dem Maße, wie sich die Krise im Westen entwickelte — zu einer importierten Krise geführt, die die inneren Krisen überlagerte. Am dramatischsten zeigte sich das in Polen: Produktionsrückgang um 2 Prozent 1979, 4 Prozent 1980, 14 Prozent 1981 und 12 Prozent 1982, ein Rückgang der Produktion und des Nationaleinkommens um mehr als einem Viertel mit den entsprechenden politischen Konsequenzen, Solidarnosc usw. Die Entstehung der Soli-darnosc folgte auf jene Streiks, die auf die Fleischpreiserhöhungen im August 1980 reagierten, eine der Sparmaßnahmen, die die polnische Regierung nach den Forderungen des Internationalen Währungsfonds und der westlichen Banken ergreifen mußte. Rumänien befindet sich in einer ähnlich tiefen Wirtschaftskrise. In Ungarn ist die Produktion 1982 absolut gesunken, ebenso in der Tschechoslowakei. In der Sowjetunion stagnierte die Produktion in den frühen achtziger Jahren. In all den Jahren bis 1982 wurde der Plan nicht erfüllt, das Planziel für das folgende Jahr wurde jeweils gesenkt und wiederum nicht erfüllt, bis schließlich 1982 das Wachstumsziel den niedrigsten Stand seit 1928 erreichte (Beginn des ersten Fünfjahrplans). Allgemein war das Wirtschaftswachstum in den sozialistischen Ländern in jedem Planjahrfünft geringer als im vorangehenden.
Werden die sozialistischen Länder zu einer eher abgeschotteten und binnenintegrierten RGW-Wirtschaft zurückkehren oder werden sie die Flucht nach vorn antreten zu einer noch stärkeren Integration in die kapitalistische Weltwirtschaft? Ich fürchte, nur die zweite Antwort ist möglich, oder: ein Mehr der ersten Lösung würde ein Mehr der zweiten einschließen. Sie sind den Weg schon zu weit gegangen. Die ökonomischen und politischen Kosten einer Umkehr wären zu groß. Stalin schrieb in »Die ökonomischen Probleme des Sozialismus«, in der sozialistischen Wirtschaft wirke das Wertgesetz zum Teil, zum andern Teil auch nicht. Er sprach allerdings über ein »sozialistisches Wertgesetz«. Kein »sozialistisches« Wertgesetz jedoch, sondern das Wertgesetz der kapitalistischen Weltwirtschaft wirkt in den sozialistischen Ökonomien. Ich brauche das für Jugoslawien nicht zu zeigen, dort ist es offensichtlich. Aber es gilt auch anderswo in Osteuropa und jetzt immer mehr auch in China. Die Planung wird in China zunehmend abgeschafft und Marktbeziehungen werden, mit Ausnahme lebenswichtiger Güter, eingeführt. Und der chinesische Markt, erst recht der osteuropäische, ist zunehmend mit dem kapitalistischen Weltmarkt verbunden.
Man könnte einwenden, die Sowjetunion sei relativ isoliert. Das trifft auch zu. Die Sowjetunion ist aber über die osteuropäischen Ökonomien mit dem Weltmarkt verbunden. Man denke an die wachsende Abhängigkeit der Sowjetunion von aus Osteuropa importierten Waren, die mit Hilfe aus dem Westen importierter Technologie produziert werden. Jugoslawien, z.B. Zagreb in Kroatien, ist hier ein gutes Beispiel. Hier wurde Technologie aus dem Westen importiert im Glauben, sie durch Industrieexporte bezahlen zu können. Diese erwiesen sich aber als nicht konkurrenzfähig. Der Handel zwischen Jugoslawien und der Sowjetunion hat sich in den letzten Jahren deswegen so ausgedehnt, weil Jugoslawien die im Westen unverkäuflichen und mit Hilfe westlicher Technologie produzierten Textilien in der Sowjetunion verkauft. Hier gibt es die Möglichkeit für eine Dreiecksbeziehung, in der Osteuropa Technologie aus dem Westen kauft, für diese nicht zahlen kann und deswegen die Produkte an die Sowjetunion verkauft, die wiederum, um selbst bezahlen zu können, Erdgas und Öl an den Westen verkauft und so den Kreis schließt. In einer Ausdehnung dieser bereits existierenden Tendenzen liegt eine gewisse ökonomische Vernunft, aber sie würde zugleich die politischen Implikationen des Ost-West-Handels verstärken.
Die Weltwirtschaftskrise verstärkte die Abhängigkeit des sozialistischen Ostens. Die Inflation und andere Manifestationen der Krise wurden aus dem Westen importiert. Der sozialistische Ökonom A. Köves erläutert in der ungarischen Acta Oeconomica (vol. 21, No. 4, 1978, 301f., 306), daß »der Anteil des Handels mit dem Westen im Gesamthandel des RGW anstieg. ... der objektive Entwicklungsprozeß verlangt, daß die Wirtschafts-Politik die Exportorientierung auf Kosten der Importsubstitution bevorzugt« und daß, »mit anderen Worten, die wachsende Teilnahme an der internationalen Arbeitsteilung, die Öffnung gegenüber der Weltwirtschaft durch die Erfordernisse der inneren gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung der RGW-Staaten auf die Tagesordnung gesetzt worden ist«. Die Teilnahme an der internationalen Arbeitsteilung hat sehr weitreichende Konsequenzen gerade in dem Bereich, in dem die sozialistischen Ökonomien unabhängige Alternativen und eine starke Entwicklungspolitik bieten sollten, nämlich in der Technologie. Die Technologieentwicklung hat sich als Nebenprodukt der weltwirtschaftlichen Entwicklung und der langen Zyklen der Kapitalakkumulation im Weltmaßstab herausgestellt. Wenngleich die fortgeschrittenen sozialistischen Ökonomien viele Länder der Dritten Welt überholt haben, bleiben sie doch abhängig von den technologisch fortgeschrittensten Sektoren der kapitalistischen Weltwirtschaft und hinken ihr zunehmend hinterher. Weit entfernt, die USA 1980 zu überholen, ist die Sowjetunion weiter zurückgeblieben und wird mittlerweile von Japan übertroffen.
In der letzten Weltwirtschaftskrise, als es erst ein sozialistisches Land gab, war noch die Hoffnung, dieses Land und kommunistische Parteien anderswo würden die Krise des Kapitalismus nutzen, um die Erneuerung des Kapitalismus und einen Aufschwung auf soliderer Grundlage — wie nach dem Zweiten Weltkrieg — zu verhindern. Das gilt nicht für die heutige Krise. Deswegen ist die Krise des Kommunismus heute viel tiefer. Heute gibt es kein einziges sozialistisches Land und keine kommunistische Partei an der Macht, in der Opposition oder mit Anwartschaft auf die Macht, die ernsthaft vorschlagen würde, die Krise für die Zerstörung des Kapitalismus zu nutzen. Sozialisten und Kommunisten tun heute alles, um auf den Zug einer Erholung des Kapitalismus aufzuspringen. Sie haben alle Hoffnung fahren lassen und alle Anstrengungen aufgegeben, den Zug aus den Gleisen springen zu lassen. Sie wollen einsteigen und mitfahren. Die wirkliche Krise — Gefahr und Chance — des Sozialismus und Kommunismus ist, daß sie nur noch das Programm haben, einem krisengeschüttelten Weltkapitalismus zu helfen, besser zu funktionieren. Die wirkliche Herausforderung besteht darin, ein glaubwürdiges und wirksames Alternativprogramm anzubieten, das wenigstens ebenso gut oder besser ist als das der verschiedenen neuen populistischen sozialen Bewegungen (deren Fähigkeit, Leute zu mobilisieren, selbst das Scheitern der Sozialisten und Kommunisten spiegelt).

Die Krise der Arbeiterparteien

Das totale Versagen bei der Aufgabe, irgendein glaubwürdiges oder gar sozialistisches, politisch-ökonomisches Programm angesichts der heutigen Weltwirtschaftskrise anzubieten, zeigt sich deutlich bei den — sozialdemokratischen wie kommunistischen — Arbeiterbewegungen und Parteien im Westen. Das gilt auch für die eurokommunistischen Parteien.
Die Bezeichnung »eurokommunistisch« ist äußerst eurozentristisch. Man müßte passender von Indo-Latino-Kommunismus sprechen, denn es waren zuerst indonesische und indische Parteien sowie eine ganze Reihe von lateinamerikanischen Parteien, die jene reformistische Politik angefangen haben, die dann eurokommunistisch genannt wurde. Im Pakt von Mancloa hat die Kommunistische Partei Spaniens die Austeritätspolitik der späteren Suarez-Regierung nicht nur unterstützt, sondern gefordert. Die KPI, und der Gewerkschaftsvertreter Luigi Longo als erster, schlug die Austeritätspolitik vor (die Beseitigung der scala mobile). Die KPI wurde auch zum ersten und eifrigsten Verteidiger des italienischen Staates und der Ausweitung des repressiven Staatsapparates gegen Arbeiter und gegen andere als politischer Reflex der Anpassung an die neuen Umstände. Die französische KP (in den Farben Frankreichs) wurde ultranationalistisch. Sie suchte die Verantwortung für die Austeritätspolitik von sich durch Sabotage der Linksunion abzuwälzen. So wurden die Eurokommunisten weder zu Kommunisten noch zu Europäern. Sie offenbarten nur in der kommunistischen Bewegung, was auf der anderen Seite mit den Sozialdemokraten passierte. Es waren Carter und Callaghan, die demokratischen und Labour Parteien, die als erste den Keynesianismus verließen und zu den Reaganomics übergingen, noch bevor Reagan gewählt wurde. Die mone-taristische und »angebotsorientierte« Politik kann die Flut der Wirtschaftskrise nicht aufhalten, sie schiebt nur die Last von den Reichen auf die Armen. Das zeigt sich besonders dramatisch in der Dritten Welt.

Ost-West als Ideologie des Nord-Süd-Konflikts

Die letzte Depression und der letzte Krieg öffneten die Bühne für die De-kolonisierung der Welt. Aber die Dekolonisierung führte nirgendwo zu der erwarteten Befreiung, sondern zu Neokolonialismus in vielen Teilen der Dritten Welt. — Washington wie Moskau zählen fünfzehn Länder der Dritten Welt, die seit 1974 sozialistisch wurden oder, wie es die Sowjetunion nennt, »Länder mit soziaUstischer Orientierung« bzw. von denen die USA sagen, sie seien unter die Sowjetherrschaft gefallen. Die Sowjetunion versucht, diesen Prozeß zu fördern, die USA, ihn zu verhindern. Der Bericht der Kissinger-Kommission über Mittelamerika verdeutlicht in erschreckender Weise, daß es sich in den Augen der Reagan-Regierung nicht um ein Nord-Süd-Problem dreht oder um innere Reaktionen auf innere Probleme, sondern um ein Ost-West-Problem.
Ironischerweise fördert gerade die amerikanische Politik in Mittelamerika und besonders in Nicaragua die Beziehungen und eine gewisse Verbindung zwischen den Sandinistas und der Sowjetunion, die sonst nicht bestehen würde. Dasselbe geschah, als Vietnam nach 1975 sofort eine »Normalisierung« der Beziehungen zu den USA wollte — diplomatische Beziehungen, Wirtschaftshilfe und Investitionen, besonders in Erdöl. Amerika sagte »Nein«, teils aus eigenem Antrieb, teils weil sie von China erpreßt wurden. Die Chinesen sagten 1975 zu den USA: »Ihr müßt zwischen Peking und Hanoi wählen.« Die USA entschieden sich für Peking und überließen Vietnam der sowjetischen Umarmung.
Die übereinstimmende Auffassung von Washington und Moskau über das angeblich prosowjetisch-sozialistische bzw. antiamerikanisch-imperialistische Voranschreiten des Totalitarismus/der Befreiung wird von den Tatsachen Lügen gestraft. Die folgenden fünfzehn Fälle sind bekannt: Vietnam, Laos und Kambodscha; in Afrika die ehemaligen portugiesischen Kolonien Angola, Mozambique, Guinea-Bissao, Kap Verde auf Säo Tome sowie Zimbabwe und Äthiopien; in Westasien Südjemen, Iran und Afghanistan; und in der Karibik und in Mittelamerika Nicaragua und Grenada. Zunächst einmal sind es nicht viele Länder, die sozialistisch geworden sind, und ihr Sozialismus war alles in allem etwas enttäuschend für Volk und Führung sowie für viele, die anderswo den nationalen Befreiungskampf unterstützt hatten. Keines der von der Sowjetunion als sozialistisch orientiert bezeichneten Länder hat seine ökonomischen und politischen Beziehungen zum Westen abgebrochen. Diejenigen Länder, die in den siebziger Jahren ein kleines Stück diesen Weg gegangen sind, hielten in den achtziger Jahren an und machten kehrt. Ein hervorstechendes Beispiel ist Mozambique, das unter großem ökonomischem, politischem und militärischem Druck sowie wegen der Dürre einen Vertrag mit Südafrika unterzeichnete. Auch mit Angola gibt es eine gewisse Vereinbarung über die Truppen aus Namibia. David Rockefeller war drei Tage in Mozambique, um sich nach Investitionsmöglichkeiten umzusehen. Rockefeiler hat schon vor einiger Zeit gesagt, vor allem mit Blick auf Angola, daß viele Länder, die sich marxistisch nennen, gar nicht so seien, und selbst wenn — könne man doch mit ihnen handeln. Der Hauptexport von Angola besteht aus dem Öl aus Cabinda, das dort von kubanischen Truppen bewacht wird. Ein Großteil des Öls, Angolas Diamanten, Kaffee etc. werden in den Westen exportiert. Selbst die Sowjetunion hat immer wieder darauf bestanden, daß Angola seine Beziehungen zum Westen nicht abbricht — was Angola auch gar nicht versuchte —, denn die Sowjetunion will dort kein zweites Kuba. All diese Regime sind auf dem Weg in den Neokolonialismus nach dem Modell von Kenia oder Elfenbeinküste, wenngleich wahrscheinlich ohne den relativen Erfolg, den diese Länder vor der heutigen Krise hatten.
Auch erwähnt niemand, was auf der anderen Seite der Bilanz geschehen ist: die chinesisch-sowjetische Spaltung, die Entmaoisierung Chinas und die Achse Washington - Peking - Tokio. Ägypten, Somalia und Grenada haben die Seiten gewechselt. In Grenada erfolgte dies durch militärische Intervention der USA, aber die Ermordung Bishops lieferte dabei sicherlich nur den Vorwand, jedenfalls nach Fidel Castro.
Diese Überlegungen verweisen darauf, daß große Teile des Ost-West-Konflikts nur einen Rauchvorhang vor dem Nord-Süd-Konflikt darstellen. Der Ost-West-Konflikt wird von Moskau wie von Washington häufig benutzt, um die Verhandlungsposition gegenüber den jeweiligen Verbündeten zu verbessern bzw. diese sogar zu erpressen. Das gilt besonders für die Nord-Süd-Beziehungen. Der Ost-West-Konflikt bietet ebenso einen willkommenen, wenn nicht sogar notwendigen Vorwand für direkte Interventionen der USA und der UdSSR zur Absicherung ihrer Interessen im Nord-Süd-Konflikt. Der entlarvendste Aspekt ist in diesem Zusammenhang, daß der sowjetisch-kommunistische Popanz in Washington dazu benutzt wird, um die Unterstützung des Kongresses und der Öffentlichkeit für immer größere Militärausgaben zusammenzutrommeln, deren größter Teil nicht für Atomwaffen oder andere Waffen gegen die Sowjetunion bestimmt ist, sondern für konventionelle Waffen gegen die Dritte Welt.
Ist das im Osten anders? Vielleicht. Es gibt jedoch keinen Zweifel, daß die Verbündeten der Sowjetunion auch unter Druck stehen, deren Außenpolitik in der Dritten Welt im Namen der Bekämpfung des gemeinsamen imperialistischen Feindes zu akzeptieren. Auch war die sowjetische Intervention in Afghanistan ein klarer Fall von Verteidigung oder Durchsetzung von Interessen der Sowjetunion bzw. ihrer russischen herrschenden Klassen gegen die Bedrohung durch eine islamische Bewegung, die auf die islamischen Gebiete innerhalb der UdSSR übergreifen könnte. Diese Bedrohung aber wurde vom imperialistischen Feind, den USA und dem CIA, unterstützt, gegen die eine sowjetische Intervention angeblich notwendig ist. Sowjetische Hilfe und sowjetischer Handel in der Dritten Welt, deren Bedingungen meist nicht besser und mitunter schlechter sind als die des Westens, wird auch mit Bezug auf den imperialistischen Feind gerechtfertigt. Die gesellschaftliche Kontrolle durch die Sowjetunion und ihre Verbündeten im Innern und international wird, wie kürzlich in Polen, natürlich unter Verweis auf die Verteidigung gegen die imperialistische Subversion verstärkt. Der Ost-West-Konflikt wird benutzt, um nordöstliche Interessen im Süden zu vertreten und den Status quo im Osten zu verteidigen.

Perspektiven der neuen Bewegungen

Eine politische Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise stellt das Wiedererwachen nationalistischer, ethnischer und religiöser Bewegungen dar. Das sind heute die wichtigsten und mächtigsten sozialen Bewegungen. Auch wenn diese Bewegungen häufig mit dem Klassenkampf zusammenhängen, mit dem sie zunehmend in Konflikt geraten, sind sie sehr viel mächtiger als die Klassenbewegungen und der Kampf zwischen unmittelbaren Produzenten und Eigentümern/Managern der Produktionsmittel. Das gilt nicht nur für den industriellen und kapitalistischen Westen, sondern auch für die Dritte Welt — und auch für den »sozialistischen« Osten.
Die neuen nationalistischen und ethnischen Bewegungen expandieren um den Brennpunkt von »National«-Staaten (in denen oft keine Nation existiert, sondern eher der Versuch, eine zu bilden). Sie erheben sich auch gegen Staaten, in denen ethnische Minoritäten nach größerer Autonomie bzw. Unabhängigkeit streben. Ironischerweise scheint die Kombination von nationalen/ethnischen/religiösen/kulturellen und ökonomischen/ sozialen Mißständen Forderungen und Bewegungen die Grundstruktur und Funktionsweise des ökonomischen und politischen Weltsystems immer weniger in Frage zu stellen und noch weniger etwas wie eine sozialistische Alternative im traditionellen Sinn des Wortes zu befördern.
Nationalistische und sozialistische Bewegungen waren vielleicht strategische oder zumindest taktische Verbündete, als die nationalen Befreiungsbewegungen den Kolonialismus zu besiegen suchten. Die Nationalisten wollten die Sozialisten für ihre Ziele einspannen und umgekehrt. Heute erleben wir zunehmend eine Rückkehr zur Lage vor dem Ersten Weltkrieg, insofern Nationalismus und Sozialismus gar keine Verbündeten sind, sondern wieder Konkurrenten werden; und wenn sie miteinander konkurrieren, sind die Nationalisten stärker. Diese Tendenz zeigt sich am deutlichsten in den sozialistischen Ländern selbst, etwa in der chinesisch-sowjetischen Spaltung, im Konflikt zwischen China und Vietnam, zwischen Vietnam und einigen Kampucheanern. Eine ähnliche Tendenz zeigt sich in der Dritten Welt, in Südasien, Westasien und in Afrika. Das gilt sicherlich für die islamischen/regionalistischen Bewegungen in Mindanau auf den Philippinen; die Kachins in Burma, die Tamilen in Sri Lanka; Tamil Nadu, Assam und die Sikhs in Indien; die Baluchis und viele anderen in Pakistan und Afghanistan; alle nationalen und ethnischen Bewegungen — einschließlich der Palästinenser — im Nahen Osten, besonders in Iran, Irak, Israel, Jordanien, Syrien und im Libanon; die Somalis, Äthiopier, Eriträ-er, Nord- und Südsudanesen und andere am Hörn von Afrika (von denen einige offenbar ohne Schwierigkeiten im Ost-West-Konflikt die Seiten wechselten); Südafrika und ganz Westafrika.
Einige dieser populistischen Bewegungen versprechen ihren Anhängern, sie von der Weltwirtschaft »abzukoppeln« — »halt' die Welt an, ich will aussteigen« —, selbstgenügsam zu sein und nur auf die eigenen Kräfte zu bauen. Diese Politik war in der Vergangenheit nicht besonders erfolgreich — in Tansania, Mozambique und anderswo. Abkopplung und Self-Re-liance könnten in Zukunft erfolgreicher werden. Das aufregendste Beispiel ist bisher Chomeinis Verschmelzung von Religion und Nationalismus mit einer populistischen Wirtschaftspolitik, unterstützt durch die politische Mobilisierung der am meisten unterprivilegierten Schichten der Gesellschaft. Daß solche Bewegungen sich ausbreiten und stärker werden, stellt eine reale Möglichkeit dar. Für diese Bewegungen wird wohl gelten, was P.V. Obeng, inoffizieller Premierminister und Sekretär des Provisorischen Nationalen Verteidigungsrats von Ghana, formulierte: »Die proklamierte Philosophie ist die eines nationalen demokratischen Kampfes ohne Bezug auf Sozialismus, Kommunismus oder Kapitalismus. Die Auslegung dieser Absicht wird zur Ausarbeitung einer Ideologie führen ...« (zit. n. South, Juli 1984, 26)
Es gibt, häufig in Verbindung mit diesen ethnischen Bewegungen, eine breite Wiederbelebung der Religion in vielen Teilen der Welt. Am spektakulärsten und sichtbarsten sind vielleicht die weltweite Aufnahme der beispiellosen Pastoralreisen Papst Johannes Paul II um die Welt, die Ausbreitung von religiösem Evangelismus und religiösen Kulten im Westen, das Wiederaufleben der Religion in den sozialistischen Ländern weit über Polen hinaus und natürlich die Erneuerung des Islam. Letzterer dehnt sich überall im Nahen Osten, in Pakistan, Indonesien und Malaysia aus. Gerade die jungen Leute gehen in die islamischen Bewegungen, vielfach die gebildeten wie die ungebildeten. Daß die Studenten in Malaysia und anderswo Prediger der islamischen Erweckungsbewegung werden, ist ein weiterer Beweis dafür, daß die Modernisierungstheorie nicht stimmt, was Kissinger schon bemerkte, als der Schah in Iran gestürzt wurde.
Eine damit zusammenhängende Tendenz stellen die ökologischen/grünen, feministischen und Friedensbewegungen dar bzw. verschiedene Verbindungen dieser mit nationalistischen/ethnischen oder religiösen Bewegungen. Diese Bewegungen haben sich im Westen unter den Mittelklassen stärker ausgebreitet als in der Dritten Welt, wo Klassen- bzw. ethnische Bewegungen am stärksten bleiben. Die neuen sozialen Bewegungen reagieren in hohem Maße auf eine wachsende Desülusionierung über Parteipolitik als Instrument zur Veränderung staatlicher Politik (die noch überall für die Ereignisse verantwortlich gemacht wird, auch wenn diese, jenseits der Kontrolle der meisten Staaten, von der Weltwirtschaft herrühren) bzw. auf die Unglaubwürdigkeit des Zieles, die Staatsmacht zu erobern oder sie zu benutzen, um die größten gesellschaftlichen Mängel zu beseitigen. Viele enthusiastische Mitglieder dieser sozialen Bewegungen setzen natürlich große Hoffnungen in sie als alternatives Mittel, eine Gesellschaftspolitik zu formulieren und die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern. Vielleicht aber sind diese insofern unrealistisch überoptimistisch, als dieselbe Krise, die sie antreibt, zugleich ihre Wirkung untergräbt, weil der Fortschritt der einen Bewegung den einer rivalisierenden beendet, und weil die sozialen Bewegungen nicht mehr fähig sein könnten, der Struktur und Funktionsweise besonders der ökonomischen Kräfte zu widerstehen oder sie zu verändern, die in der gegenwärtigen Phase des Weltsystems bestimmend sind.
Die Bürgerrechtsbewegung und die Frauenbewegung in den USA und anderswo z.B. haben enorme Fortschritte erzielt; aber viele ihrer Erfolge wurden durch die Wirtschaftskrise zunichte gemacht. Sie rennen immer schneller, bleiben aber noch nicht einmal auf demselben Platz stehen. Während sie schneller rannten, bewegte sich die ökonomische Tretmühle unter ihren Füßen in die entgegengesetzte Richtung. Die Anhängerschaft dieser Bewegungen erlitt schwere ökonomische und soziale Verluste. Die Wirtschaftskrise hat die Beschäftigungslage und das Einkommen der Schwarzen, der spanischen Bevölkerung, der Frauen und anderer Minderheiten besonders schwer getroffen. Sie übt enormen Druck aus, Frauen und andere »nach Hause zu schicken, wo sie hingehören«. (Die »Minderheit der Frauen« ist eine Mehrheit, alle Minderheiten zusammengenommen sind natürlich eine riesige Mehrheit. Sie werden aber nach wie vor Minderheiten und Minderheitenbewegungen genannt.)
Die nationalistischen und religiösen Bewegungen sind ebenfalls wichtige soziale Kräfte, werden aber wahrscheinlich die Erfolge der Frauenbewegung tief untergraben. Alle großen Weltreligionen wurden benutzt, wenn nicht gar entwickelt, um das Patriarchat zu stützen und die Frauen »an ihren Platz zu stellen«. Die Verteidigung der »christlichen Familie« und »traditioneller Werte der Familie« durch die religiösen Bewegungen, ebenso im Islam, kann nur dazu dienen, die Frauenunterdrückung zu verstärken. Nationalistische Bewegungen neigen nationalistischen Idealen zu, die sich zugleich als männliche Ideale erweisen. Die Männer schufen den Nationalismus, nicht die Frauen. Sie argumentieren, wir säßen alle in einem Boot und müßten für das nationale Wohl Opfer bringen. Das erste, was geopfert werden muß, sind die Frauen. So war es in vielen nationalen Befreiungsbewegungen, in denen Frauen aktiv waren. — Die Friedensbewegung dagegen ist anscheinend auf der anderen Seite. Nicht nur stärken die Frauen die Friedensbewegung, die Friedensbewegung scheint auch den Frauen Kraft zuzuführen. Greenham Common in England ist ein Beispiel oder Symbol, und es gibt viele andere Beispiele, in denen die Friedensbewegung mit einigem Erfolg auch feministische oder Geschlechterfragen vertritt. Das wird aber wohl den Schaden für die Frauen durch religiöse und nationalistische Bewegungen nicht aufwiegen.
Die Führer und Anhänger der religiösen und nationalistischen Bewegungen werden sich selbst ihre relativen Erfolge zuschreiben wollen. Diese werden aber weniger mit der Stärke dieser Bewegungen zusammenhängen als mit dem möglichen Zusammenbruch der Weltwirtschaft im Falle eines Finanzkrachs als Folge der Explosion der Schuldenbombe. Auch ohne einen Krach ächzt die Weltwirtschaft immer lauter unter dem sogenannten »financial crunch« (Finanzknirschen, d.Übers.), das die Fortsetzung des Welthandels, wie wir ihn aus der Nachkriegszeit und noch aus den siebziger Jahren kennen, zunehmend unmöglich macht. Die letzte zu erwähnende Ironie ist also, daß genau in dem Augenblick, in dem das Schicksal fast jedes Menschen auf der Welt von internationalen ökonomischen Kräften bestimmt wird, die er nicht kontrolliert, immer mehr Leute davon nichts wissen wollen und sagen: »Wir machen unsere Sache jetzt, wie wir wollen.« Eine Blüte lokaler Gemeinschaften, ethnische und nationalistische Bewegungen, die wohl »small is beautiful« und lokale Lösungen für globale Probleme anbieten werden, florieren in der ganzen Welt — wir werden sehen, mit welchem Erfolg.
All diese Ironien stellen schwere Probleme für »bürgerliche« wie »marxistische« Theorie dar. Beide haben kläglich dabei versagt, die wichtigsten politischen und ökonomischen — aber auch sozialen und kulturellen — Entwicklungen in der Welt vorauszusagen oder zu erklären. Die Theorie hat nicht einmal minimale Orientierungen für die Formulierung von Politik geliefert, sei es der herrschenden, sei es der beherrschten Klassen.
Die Entwicklung einer besseren Theorie, um Ereignisse vorauszusagen oder zu erklären, verlangt eine historische politische Ökonomie im Weltmaßstab. Eine solche welthistorische politische Ökonomie ist nicht nur nötig, um unser Begreifen der weltweiten Entwicklungen und der Veränderungen in den »internationalen« Beziehungen zu vergrößern, sondern diese beiden sind wiederum nötig, um eine auch nur minimal wirksame Politik zu ermöglichen.
Aus dem Englischen von Wieland Elfferding

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