Zum Ausgangspunkt nehme ich, was gemeinhin »weltgeschichtliche Entwicklung des Sozialismus« genannt wird. Das 20. Jahrhundert hat uns einerseits unmißverständlich gezeigt, daß wir in weltgeschichtlichen Dimensionen denken müssen. Nicht nur die zwei Weltkriege, auch die eindrucksvolle Entwicklung einer interagierenden Weltwirtschaft und die beispiellose Entwicklung weltweiter Kommunikationssysteme machen diese Perspektive notwendig. Andererseits sind die Rede vom »weltgeschichtlichen Prozeß« und die darin artikulierten Denkformen in vielerlei Hinsicht hinderlich gewesen, eben diese Prozesse zu analysieren.
Der Hauptgrund dafür ist, daß der »weltgeschichtliche Prozeß« und die entsprechenden Formen sozialistischen Denkens unilinear und Singular gewesen sind. Wie diese Denkweise der »Universalgeschichte« des 18. Jahrhunderts, des Fortschritts von der »Barbarei« zur »Zivilisation« und den vorgenetischen Evolutionstheorien nachgebildet war, so war dieser Prozeß häufig bloß dem Anschein nach weltgeschichtlich. Man hat grob verallgemeinert und relativ gleichförmig Entwicklungsstadien schematisch umrissen und ein unterstelltes Endstadium »Sozialismus« oder »Kommunismus« genannt. Diese starre Denkform liegt dem zugrunde, was allgemein als »Krise des Sozialismus« beschrieben wird. Doch die Weltgeschichte hat die Unangemessenheit des singulären und unilinearen Modells gezeigt.
Das wird an drei Punkten deutlich. Erstens war das Modell wie sein Vorläufer im 18. Jahrhundert stark eurozentrisch. Die grundlegenden kulturellen Unterschiede in der Welt, die innerhalb des einfachen Modells schlimmstenfalls auf der alten Skala zwischen Barbarei und Zivilisation abgetragen und bestenfalls auf marginale oder Überbauelemente reduziert wurden, erwiesen sich in der realen Weltgeschichte — immer in Wechselwirkung mit ökonomischen Vorgängen — als Hauptfaktoren der geschichtlichen Entwicklung. Zweitens wurden zeitweise ausschließlich die Formen des europäischen Industrieproletariats, wie sie einer ganz bestimmten (und heute sich radikal verändernden) Stufe der industriellen Produktionsweisen entsprachen, die in Wirklichkeit auf dem Imperialismus basierten, als Hauptakteur des Übergangs zum Sozialismus bestimmt. In der realen Weltgeschichte sind die Akteure komplexer und verschiedenartiger gewesen, sie umfaßten sowohl nationale als auch ländliche Formationen. Der einfältige Entwurf eines universellen Industrieproletariats hat sich wiederholt als falsch erwiesen. Drittens wurden die wesentlichen Komponenten des Sozialismus schematisch definiert als eine Verbindung von ökonomischer Rationalität und öffentlichem Interesse der Mehrheit(sklasse). Gleich in mehrfacher Hinsicht stimmte dies mit der realen Weltgeschichte nicht überein. Zwar gibt es im Kapitalismus eine grundsätzliche Irrationalität; auf der Ebene der instrumenteilen Vernunft jedoch war und bleibt er ein gefährlicher Konkurrent. Der simple Begriff eines Mehrheitsinteresses steht nicht nur gegen die Komplexität und Vielfalt der realen gesellschaftlichen Klassen, sondern auch gegen die Tatsache, daß es widersprüchliche Interessen nicht nur zwischen den weiterbestehenden Klassen, sondern auch innerhalb der Arbeiterklasse gibt, zwischen den verschiedenen Arbeitsbereichen und insbesondere zwischen industriellen und ländlichen Produzenten. Das Regime, das die Klassen-und Volksinteressen ausdrücken sollte, wurde zudem primär aus einem vorher existierenden Entwicklungsmodell heraus entworfen, unter Vernachlässigung seiner eigenen möglichen Formen und der breiten Vielfalt an ererbten Staatsformen und Institutionen, die es hätten beeinflussen und in einigen Fällen in Schach halten können.
Einen Standpunkt, von dem aus die Erneuerung des Sozialismus bereits angegangen wurde, finden wir in diesem Schluß: Da es viele Völker und Kulturen gibt, wird es viele Sozialismen geben. Hier besteht jedoch die komplementäre Gefahr, daß Sozialismus zu dem werden kann oder schon geworden ist, was irgendeine herrschende Gruppe oder Richtung so nennen möchte. In der Tat ist dies eine Hauptquelle des Widerstands der Anhänger des alten Modells, die alle anderen Revisionisten nennen können; sie sind kaum zu überzeugen, daß ihre eigenen Versionen selbst Revisionen und Reduktionen der langen Kämpfe und Bestrebungen der Arbeiter-, der demokratischen und nationalen Befreiungsbewegungen sind. Gleichwohl ist das einzig Annehmbare an dieser Position ihre Vorsicht gegenüber den heute so reichhaltigen Neubenennungen und -etikettierungen.
Ich möchte drei Probleme diskutieren: Erstens das Problem der allge-menen Beziehungen zwischen sozialistischer Planung und Selbstverwaltung; zweitens den Zusammenhang von fortgeschrittenem Kapitalismus mit Liberalismus und sozialer Demokratie und drittens die Frage des Antikapi talismus heute, der häufig zwar nicht spezifisch sozialistisch ist, aber eine stärker werdende gesellschaftliche und intellektuelle Kraft darstellt.
Planung und Selbstverwaltung
Zur Frage der Beziehungen zwischen Planung und Selbstverwaltung habe ich drei Punkte anzumerken, jeweils in der Perspektive, über das singulare und unilineare Modell hinauszukommen: 1. die rationaler Planung innewohnende Vielfalt, 2. die verschiedenen Bedeutungen von »Markt« und 3. die materiellen und praktischen Ungleichheiten der Arbeitsprozesse, die sowohl innerhalb der sozialen Klassen als auch über sie hinaus zu komplexen Problemen des Transfers führen.
1. Es ist befremdlich, wenn wir gegen Ende des 20. Jahrhunderts immer noch argumentieren müssen, daß jede vernünftige Planung vielfältig sein muß. Das bedeutet natürlich nicht, daß keine Entscheidungen gefällt und keine Prioritäten gesetzt zu werden brauchen. Den stärksten Einfluß aber hatte das singulare Modell auf den singulären Plan. Dieser leitet sich davon ab, daß man eine evidente Rationalität der Entwicklung und ein selbstevidentes Allgemeininteresse ungeprüft voraussetzt. Aber nicht nur die Erfahrungen der sozialistischen Ökonomien, auch das Zeugnis der Kapitalgesellschaften und der Reformen bürgerlicher Regierungen zwingen uns, die Unhaltbarkeit dieser Annahmen einzusehen. Denn selbst wenn — was selten genug der Fall ist — der Plan einer allgemeinen Diskussion und sogar der Möglichkeit, ihn zu verändern, ausgesetzt wird, gibt es wenig Raum für die Analyse seiner Grundlagen, in denen für gewöhnlich bereits die gewünschte weitere Entwicklung festgelegt ist.
Das zeigt sich an einigen spektakulären Fällen: an der Entscheidung, der Metallindustrie gegenüber der Nahrungsmittelproduktion Vorrang zu geben; an der Entscheidung, die industrielle Produktion am Exportmarkt auszurichten; an der Entscheidung, die Energieversorgung stärker auf Öl als auf Kohle zu stützen. Ich habe diese Beispiele absichtlich verschiedenen Gesellschaften und Plänen entnommen. In jedem dieser Fälle (in der Sowjetunion, in Italien, Polen oder Großbritannien) gab es zwar Bedürfnisse und Zwänge, an denen diese Planungen ausgerichtet waren; aber es war in jedem Falle ein Fehler, daß es auf der Ebene der entscheidenden Voraussetzungen nur eine unzulängliche Diskussion, keine eigentliche Planung gab.
Es geht folglich um mehr als um das Sammeln von Beispielen mangelhafter Pläne. Die genuinen sozialen und materiellen Probleme aller Gesellschaften machen das bloße Katalogisieren von Fehlern hilflos und zynisch. In jeder Analyse der Ressourcen und deren Verwendungsmöglichkeiten steckt die vielfältige wissenschaftliche Arbeit von vielen. Nur vom Standpunkt der intellektuellen Voraussetzungen des singulären Modells muß der Planungsvorgang singulär sein. In jeder Ökonomie, aber besonders in einer sozialistischen, ist die Notwendigkeit variierender und alternativer Pläne in den ersten und grundlegenden Stadien der Planung offensichtlich. Kapitalistische Planung enthält Momente von Wettbewerb zwischen alternativen Plänen, wenngleich diese von technisch vergleichbaren Gruppen realisiert werden. Die Konkurrenz schlägt im Nachhinein durch, wenn einzelne Unternehmen erfolgreich sind oder scheitern. Der Nutzen oder Schaden für die betroffenen Menschen und Regionen ist meist zufällig. Ähnlich gibt es in kapitalistischen Ökonomien unter der Bedingung freier Wahlen Elemente von Konkurrenz zwischen alternativen Plänen und Plantypen.
Es ist eine besondere Schwäche der Vorstellung von sozialistischer Planung, die ja die Rücksichtslosigkeit, Willkür und die verwirrenden Schwankungen der bürgerlichen Ökonomien überwinden soll, daß man meint, die »Konkurrenz« von Plänen sei durch das singulare Modell aufgehoben. Häufig wird fälschlicherweise argumentiert, die grundsätzlichen Alternativen in der Planung seien nichts als der Ausdruck konfligierender Klasseninteressen; zweifelsohne ist das häufig der Fall, zugleich aber gibt es auch materielle und soziale Variablen, die für fast jede Situation nach wirklich alternativen sozialistischen Plänen verlangen. In der Tat würde sich das Antlitz des Sozialismus entscheidend verändern, wenn es in jedem sozialistischen Land und in jeder sozialistischen Partei öffentlich anerkannte alternative Planungsgruppen geben würde, die ihre Analysen und Vorschläge frühzeitig der demokratischen Diskussion und Entscheidung aussetzen könnten. Daran ist nichts Utopisches, denn letztlich zeigen sich die Alternativen in der wirklichen Welt, und es ist wichtiger, ihre Bedingungen zu analysieren, als sie in die innerparteilichen Fraktionskämpfe abzudrängen oder, noch schlimmer, sie wieder und wieder zu leugnen.
2. Diese Frage ist verschränkt mit den wechselnden Bedeutungen »des Marktes«. Gewisse grobe und alternativlose Planungen versagten in einer besonders schädlichen Hinsicht: daß sie ohne jeden ernsthaften Versuch erstellt wurden, herauszufinden, was das Volk, in dessen Namen sie verkündet wurden, tatsächlich brauchte und wollte. Sehr viel antisozialisti-j sehe Stimmung hat sich aufgrund dieser Versäumnisse verfestigt, die von jenen leicht ausgebeutet werden konnte, die als letzte den Erfolg von Planung wünschten. Es ist aber theoretisch gefährlich, aus den Fehlern die Lehre zu ziehen, man müsse sich einem — unbegriffenen — »Markt« zuwenden. Wer den Markt in seiner kapitalistischen Spielart wirklich erfahren hat, bestimmt durch die vorgängige Macht des Kapitals und die hoch entwickelten Formen der Überredung, sollte wissen, wie verheerend jede unreflektierte Hinwendung zu den »Marktkräften« wäre. Das Reaktionsvermögen eines offenen Marktes in seiner einfachsten Form — direkte Versorgung mit vielerlei Lebensmitteln, Kleidung und hundert Dingen und Diensten des persönlichen Bedarfs —, der Konkurrenz einschließt, aber nicht darauf beschränkt ist, dies ist offenbar ein Faktor von Effizienz. Und das nicht nur, wie im Kapitalismus, bei der Befriedigung des »Konsumenten«, jener merkwürdigen Konstruktion, sondern im Sinne eines notwendigen Informationsflusses im Bereich nützlicher Produktion. Besonders hier hat er offenkundige Vorteile gegenüber dem aufgezwungenen Plan.
Auf der anderen Seite bringt der korporative Kapitalismus eine Art Markt hervor, die — selbst in diesem Bereich und mit noch größeren Bedenken im Falle von langlebigen Gütern und massenhaften Dienstleistungen — allenfalls analog oder wegen der ideologischen Koinzidenz der Namen direkt genannt werden kann. Die tiefgreifenden Verzerrungen durch die Werbung, welche die Information vom Produkt oder Dienst auf eine relativ willkürliche und irreführende Assoziation mit einem anderen Objekt der Begierde verschiebt — das sind nur die sichtbarsten Effekte. Denn die Werbung stützt sich auf eine ideologische Form der Marktforschung, in der die »freie Wahl« durch bestimmende Unternehmensinteressen vorstrukturiert wird.
Man müßte die Marktforschung im Interesse des Volkes statt im Unternehmensinteresse verändern. Deren Resultate würden nicht nur als Elemente der Planungsentscheidungen offengelegt werden; als besondere Instanz einer höheren Form der sozialistischen Gesellschaft wäre die vollständige Information ein Hauptinput, wie es auch in jeder wirklichen Forschung der Fall ist. Man stelle sich einmal die Veränderungen in der Erforschung der Präferenzen im Bereich der Nahrungsmittel vor, wenn gleichzeitig die eigentlich diätetischen Informationen zugänglich gemacht würden. Das ist nur ein relativ einfaches Beispiel einer vollständigen und zusammenhängenden Informationsversorgung, die eine sozialistische Gesellschaft praktisch leisten könnte. Ebenso große, wenn auch weniger offensichtliche Bedürfnisse gibt es am anderen Ende der Produktenskala, im Bereich der neuen Technik von personal machines. In dieser wie auch in vielen anderen Hinsichten, kann der Sozialismus des 20. Jahrhunderts die scheinbaren Vorteile des fortgeschrittenen Kapitalismus überholen und in reale Vorteile verwandeln.
3. Diese Bewegungsrichtung, vom Plan im unterstellten öffentlichen Interesse zur komplexen partizipatorischen Planung, markiert den anstehenden Wechsel: Von der Vorstellung des Sozialismus als rational vereinfachter Ökonomie zur Vorstellung einer komplexen politischen Ökonomie, die erst wirklich Rationalität erreichen kann. Mit der Ausbeutung ist zwar eine Hauptquelle der Ungleichheit beseitigt, aber selbst im idealsten Falle bleiben substanzielle Ungleichheiten aus handfesten materiellen Gründen bestehen. Die Erde selbst ist ungleich ausgestattet. Die praktischen Ungleichheiten schreiben sich jenseits der Klassen ein — wo gibt es Öl und wo Kohle, wo Ackerland, Fisch, Wald, wo kann man sich auf den Regen verlassen? Darüber hinaus und in komplexer Wechselwirkung mit den Klassen besteht nicht notwendigerweise Übereinstimmung zwischen den offenkundigen Bedürfnissen nach bestimmten Arten von Arbeit (und den daraus resultierenden Einkommen) und den längerfristigen und weniger offensichtlichen Bedürfnissen. Der fortgeschrittene Kapitalismus, mit seiner überwiegenden Ausrichtung auf augenfällige kurzfristige Bedürfnisse, erschüttert bereits seine reicheren Gesellschaften und fügt den ärmeren größten Schaden zu.
Wenn wir diese beiden Tatsachen zusammenbringen — die materiellen Verschiedenheiten und Ungleichheiten der Erde; die komplexe Skala menschlicher Bedürfnisse — sollte klar sein, weshalb es auf den singulären Plan keine einfache Antwort geben kann, weder in Richtung »Markt« noch in Richtung der sozialistischen Selbstverwaltungsidee. Die materiell reich ausgestatteten und die großen Lieferländer haben mit der Idee der Selbstverwaltung keine Schwierigkeiten; sie ist eine ungeheuer attraktive Alternative zum Kapitalismus, in kleinem Maßstab gibt es sie bereits innerhalb der kapitalistischen Ökonomien in Kooperativen und ähnlichen Unternehmen. Für Sozialisten ist das aber nur eine Teillösung. Die radikalen Ungleichheiten, die dadurch bestehen bleiben oder gar sanktioniert werden können, bringen jede Gesellschaft durcheinander und stellen eine Hauptquelle politischer Konflikte und — wie häufig in der Geschichte zwischen Gesellschaften — von Kriegen dar.
Die Sozialismen des 21. Jahrhunderts werden deshalb eine Reihe sehr komplexer Systeme bilden müssen, die, auf der Grundlage größtmöglicher Selbstverwaltung der Betriebe, Institutionen zur Durchführung der notwendigen sozialen und ökonomischen Transfers und zum Schutz der weniger offensichtlichen Bedürfnisse einschließen. Das ist nicht nur ein institutionelles, sondern auch ein politisches Problem, da die Bildung solcher Institutionen der Punkt ist, an dem der Kampf für den Sozialismus über nationale, Klassen- und sektorale Interessen hinausführt und ein allgemeines menschliches Interesse zu begründen und zu verkörpern sich anschickt. Der einfache Anspruch, das Proletariat werde, indem es sich befreit, alle anderen mitbefreien, hat immer noch rhetorische Kraft. Aber die Rhetorik wird trügerisch und kontraproduktiv, wenn es nicht praktisch in einigen entscheidenden Bereichen wirksame und offene Einrichtungen gibt, die auf Transfer und Fairneß ausgerichtet sind — u.a. in bezug auf die ungleiche Stellung der Frau, die Entbehrungen der Länder mit weniger fruchtbarem Grund und Boden, die Ungleichheiten zwischen »entwickelten« und »unterentwickelten« Ökonomien, die Ungleichheiten der Regionen innerhalb eines Landes, die Unterschiede zwischen attraktiver oder profitabler Arbeit und Dreck- oder langweiliger, aber notwendiger Arbeit.
Entwickelter Kapitalismus, Liberalismus und soziale Demokratie
Eines der Hauptprobleme in unserer Zeit ist, daß der ideologische Gegensatz zwischen Sozialismus und Demokratie nicht auf ideologische Komponenten reduziert werden kann. Gewiß, zur »freien Welt« gehören in Wirklichkeit Militärdiktaturen und andere repressive, nicht-gewählte Regimes, vorausgesetzt, ihre Ökonomien sind kapitalistisch oder für den Kapitalismus offen. Freiheit ist dort mehr eine Größe des kapitalistischen Handels als eine demokratisch-politische. Außerdem — doch hier betreten wir schwierigeres Gelände — wird »Demokratie« im Gegensatz zu »real existierendem Sozialismus« selbst in ernstzunehmenden Varianten ohne Grund auf bestimmte Formen beschränkt, hauptsächlich auf »repräsentative« Regierung. Tatsache ist, daß die Rede und die Idee von der »repräsentativen Demokratie« im späten 18. Jahrhundert als Alternative der herrschenden Klasse zur direkten Volksdemokratie eingeführt wurde. Es gibt andere Institutionen als Parlamente und Nationalversammlungen, in denen Demokratie praktiziert werden kann, und es ist kennzeichnend, daß es in der gegenwärtigen Krise des Spätkapitalismus zugleich Tendenzen gibt, die Kompetenzen der lokalen Parlamente zu zersetzen oder zu begrenzen und die effektive Macht von den — zunehmend nur noch nominellen — Parlamenten auf die Staatsadministrationen zu verlagern. Zudem sind die Mittel der Demokratie — Zugang zu öffentlicher Information und Bürgerrechte — selbst in Gesellschaften mit langen liberalen Traditionen direkt und indirekt starkem Druck ausgesetzt.
Das sind aber noch keine Antworten auf die wirklichen Probleme. Die zentrale historische Tatsache ist, daß die meisten sozialistischen Revolutionen in Gesellschaften stattfanden, die keine lange und tiefgehende Erfahrung mit bürgerlicher Demokratie hatten, mit dem Ergebnis, daß die Komplexität der bürgerlichen Demokratie — argumentativ oder apologetisch, von der simplen Lügenpropaganda zu schweigen — vereinfacht wurde zu bloßer Erscheinung und Täuschung. Paradoxerweise schwächt dies in Wirklichkeit die sozialistische Sache gegenüber der bürgerlichen Demokratie, der es gelingt, die lange liberale und sozialdemokratische Erfahrung mit ihren Errungenschaften im Kampf gegen bürgerlichen Staat und ökonomische Macht, als Teil der unhinterfragten Sache des Kapitalismus zu integrieren. Schlimm genug, wenn eine autoritäre Regierung sagt, sie repräsentiere die Demokratie, während sie durch ein Minderheitsvotum an die Macht kam und mit ausländischem Kapital und militärischen Einrichtungen paktiert. Aber noch schlimmer ist, wenn irgendein real existierendes sozialistisches Land, in dem unbestreitbar die allgemeinen Bürgerrechte verletzt werden, von den eingestandenen Fällen schlimmster Repressionen ganz zu schweigen, dieselbe alte Reduktion von »bürgerlicher Demokratie« auf deren kapitalistische Komponenten und Schranken vornimmt. Damit ist der Punkt erreicht, an dem es in Ländern mit langer liberaler und sozialdemokratischer Tradition für — egal welchen — Sozialismus keine Chance gibt, wenn nicht praktisch gezeigt werden kann, daß die sozialistische Demokratie gegenüber der bürgerlichen einen Fortschritt bedeuten würde.
In der Perspektive des 21. Jahrhunderts ist es entscheidend, das Bündnis zwischen Kapitalismus und liberaler Demokratie aufzubrechen, indem beide überholt werden. Auf Grundlage dieses Bündnisses werden heute die machtvollen ökonomischen, politischen und militärischen Hindernisse für den Sozialismus errichtet. Aber dies Bündnis kann nur aufgebrochen werden, wenn das, was an der liberalen Demokratie dran ist, in der sozialistischen Theorie und Praxis endlich ernst genommen wird. — Weder gilt die Idee der Pressefreiheit nur für die kapitalistische Presse. Noch bedeutet die Tatsache des kapitalistischen Eigentums eine Entwertung von offener und öffentlicher Diskussion. Weder ist politische Demokratie nur der Konkurrenzkampf bürgerlicher Parteien. Noch stellt dieser eine bloße Illusion von öffentlicher Wahlmöglichkeit dar. In hundert derartigen Fragen müssen wir solche vereinfachenden Dichotomien zu überwinden suchen.
Das singulare unilineare Sozialismusmodell, das sich auf eine bestimmte historische Klasse und einen bestimmten ökonomischen Entwicklungsstand stützt, ist in Sachen öffentlicher Information und Diskussion ganz besonders entstellend. Selbst dort, wo die Klasse nicht durch eine Partei und dann durch eine Staatsmaschine ersetzt worden ist, erzwingt die Tiefenstruktur des Modells eine bestimmte Argumentationsweise: für oder wider diese Klasse. In der Theorie existieren daher nur die Klasse und ihre Feinde. In der Praxis findet dies darin Bestätigung, daß beide nach wie vor existieren. Viele Leute jedoch gehören nicht zu dieser Klasse, ohne deshalb irgendwie von vornherein ihre Feinde zu sein. Das ist evident im Falle der geschlechtlichen Arbeitsteilung, die heute weithin abgelehnt wird. Ebenso im Falle der Älteren und Alten, der Auszubildenden und der Studenten. Außerdem gibt es bedeutende Interessenspaltungen innerhalb der Klasse selbst. Ganz abgesehen von der Zunahme der Facharbeit, der wissenschaftlichen und Erziehungsarbeit, wo die unmittelbaren Interessen häufig von denen der unmittelbaren Produzenten abweichen, gibt es den größten Zuwachs im Bereich der Dienstleistungen, der immer noch fälschlicherweise als tertiär eingestuft wird. (Das ist deshalb falsch, weil dieser Bereich in sich verschieden ist und weil das, was in solchen Bereichen wie Gesundheit und Erholung »produziert« wird — im Unterschied zur kapitalistischen Beschränkung der Produktion auf Warenproduktion —, in sozialistischer Sicht wirkliche Produktion ist, und zwar Produktion von Menschen und deren Wohlergehen.)
Gewiß, die Interessenkonflikte müssen gelöst und in schwierigen Lagen müssen Prioritäten gesetzt werden. Aber nichts ist gewonnen, wenn eine rückständige Art von politischem Monopolanspruch so rücksichtslos durchgesetzt wird, daß den anderen nichts bleibt als der Abgang in die Splittergruppe oder Feindschaft oder, was ebenso schädlich ist, Apathie und Zynismus.
Hier ist die Erfahrung liberaler Demokratie relevant. In der Praxis stützen sich die gegnerischen Parteien des bürgerlichen Wahlsystems auf Bereiche derselben allgemeinen Klasse. Sozialdemokratische Parteien mit einer anderen klassenmäßigen Ausgangsbasis werden zu einem Teil immer in die beschränkten Formen dieses innerklassistischen Streits gezogen. In ihren besten Zeiten gingen sie zwar darüber hinaus, aber nur um immer
wieder durch die relative Rigidität der offiziellen Parteiformationen zurückgeworfen zu werden. Die Partei ist folglich eine typische Vereinfachung einer Komplexität von Interessen. Außerdem wird sie in bürgerlichen Demokratien immer mehr bestimmt durch äußerst allgemein gehaltene Wahlkämpfe, häufig ohne substanzielle Alternativen, bis hin zu dem Punkt, wo das Parteiensystem die verschiedenen wichtigen Leute und Interessen nicht mehr einbeziehen und repräsentieren kann.
Aber das ist nur die negative Seite der liberalen Demokratie. Ihre positive Seite — in vielen frühen Stadien und in der kontinuierlichen Bildung neuer politischer Gruppen — besteht in der wirklichen Vielfalt und den alternativen Antworten auf eine allgemeinere Lage, wovon der Sozialismus des 21. Jahrhunderts lernen kann.
In manchen Perioden muß man zu Entscheidungen in großem Maßstab kommen. Das ist die Stärke des singulären unilinearen Modells. Aber in anderen Belangen und Perioden kann oder sollte das Ziel des sozialistischen Prozesses nicht in einer einzigen Lösung bestehen. In dieser Hinsicht haben uns Phrasen wie »Den Sozialismus aufbauen« und »Den neuen sozialistischen Menschen schaffen« oft irregeführt. In Tausenden von Alltagsangelegenheiten, und nicht bloß in einem gewissen folkloristischen Spielraum, ist für jede wirklich menschliche Befreiung eine Vielfalt von Lösungen notwendig. Wie weit diese innerhalb der Sozialismen gehen mag, können wir noch nicht sagen. Demokratie im Sozialismus des 21. Jahrhunderts muß über die ehrenhaften Parolen »Macht für das Volk« oder gar »Die Macht dem Volke« hinausgehen. Er wird zur praktischen alltäglichen Erfahrung der Ausübung von Macht durch die Menschen. Selbst der alte Traum einer direkten, einer Demokratie von Angesicht zu Angesicht, den man auf sehr kleine Gemeinschaften begrenzt wähnte, kann auf neue Weise durch den Einsatz der neuen interaktiven Kommunikations- und Informationstechnologien in größeren Gesellschaften verwirklicht werden.
Die Frage des Antikapitalismus
Im singulären und unilinearen Sozialismusmodell hatte man sich angewöhnt, »Antikapitalismus« herablassend als eine unausgegorene und romantische Etappe zu behandeln, die durch eine wissenschaftlich-sozialistische Theorie und Praxis ergänzt und erhärtet werden muß. Die Kritik ging zeitweise so weit, die ganze Richtung als eine Form kleinbürgerlicher Sentimentalität abzutun. Heute ist der Antikapitalismus ein Hauptmoment der Schwierigkeit wie der Möglichkeit einer Erneuerung der sozialistischen Perspektive.
Antikapitalismus ist dasjenige Element in der Kritik einer bürgerlichen industriellen Gesellschaftsordnung, das sich nicht auf die Befürwortung einer vorbürgerlichen und vorindustriellen Gesellschaftsordnung beschränkt. Allerdings gibt es viele scharfe Ablehnungen des Kapitalismus, die keine andere gesellschaftliche Perspektive haben als die Rückkehr zu einer idealisierten früheren Ordnung: bezeichnenderweise zur klassisch griechischen oder mittelalterlich europäischen oder vorindustriellen. Aber diese Perspektiven können bestenfalls literarisch Fuß fassen und in der einfachsten Form sind sie auch explizit antisozialistisch. Tatsächlich wird der Sozialismus in einer breiten antikapitalistischen Strömung als eine der entfremdeten, instrumentellen und inhumanen Formen betrachtet: als mechanisch-industrielle Ordnung, durchlöchert von kultureller Degeneration, mit einer manipulierten Massendemokratie.
Heute muß man begreifen, wie sich diese früheren mit sehr aktiven zeitgenössischen Positionen überlappen: in der Ökologiebewegung, in der Kritik der industriellen Arbeit, bei der neuen Betonung von persönlichen
und insbesondere sexuellen Beziehungen, in bestimmten Formen des Widerstands gegen Atomwaffen und den computerisierten Krieg. Man kannimmer noch sagen, daß diese Tendenzen hauptsächlich auf die Jugend,
insbesondere die Mittelklassenjugendlichen beschränkt sind; selbst wenn man diese unvollständige Beobachtung teilt, muß man hinzufügen, daß sie in den kapitalistischen Gesellschaften zusammengenommen die aktivste und effektivste Opposition bilden. Es ist nicht nur eine Frage, wie sich diese Bewegungen zu den sozialistischen Organisationen der Arbeiterbewegungen verhalten, sondern auch, wie sie sich auf das zugrundeliegende sozialistische Modell auswirken.
Ein Großteil der früheren sozialistischen Kapitalismus-Kritik betonte dessen Unfähigkeit, die Produktion so auszudehnen, daß alle menschlichen Bedürfnisse befriedigt werden können. In Krisen- und Depressionsperioden des Kapitalismus war dies der zentrale Gehalt des sozialistischen Projekts: neue Produktivkräfte freizusetzen, um die Armut zu beseitigen. Diese Position stellte immer eine Reduktion der sozialistischen Theorie dar. Es ging nie bloß um Produktionssteigerung im geläufigen kapitalistischen Sinne, sondern um gesellschaftliche statt kapitalistischer Kontrolle über das, was produziert wird; und es ging um veränderte Verteilungsverhältnisse. Es überrascht dann nicht, daß alte sozialistische Fragen — welche Dinge zu welchen Zwecken und mit welchem Effekt produziert werden sollen — häufig den Bewegungen überlassen wurden, die nicht nur nicht vom Sozialismus ausgingen, sondern die sozialistische Praxis zu weiten Teilen als einen ähnlichen Irrweg ansahen. Diese Fragen erhielten noch größere Bedeutung durch die meßbaren, objektiven Auswirkungen bestimmter Produktionsformen: starke Umweltverschmutzung und Zerstörung der stofflichen Umwelt, neue Formen der Belastung und körperlichen Schädigung der Arbeiter bei bestimmten Arbeiten und in produktionsnahen Wohngebieten. In kapitalistischen Gesellschaften wurde besonders deutlich, daß diese rücksichtslose und heute objektiv vorhersagbare Zerstörung von den großen Industriebetrieben und der Agrarindu-strie verursacht wird, die auch hart daran gearbeitet haben, die notwendigen gesellschaftlichen Kontrollen zu mindern oder zu umgehen. So mußten die wichtigsten Gegenkampagnen antikapitalistisch werden. Aber würden sie auch sozialistisch werden?
Gute sozialistische Gründe zu liefern, bedeutet hier wieder, das singulare und unilineare Modell zu überwinden. Die Frage der Produktion muß wieder auf die grundlegenden Elemente des sozialistischen Projekts bezogen werden. Der historische Materialismus erlaubt, die neuen Entwicklungen am klarsten zu verstehen, weil er das Gewicht auf die sich verändernden Formen der Arbeit in einer stofflichen Umwelt legt, die man nicht wegdiskutieren kann. Die verschiedenen Ideologien, die sich über diese Gewichtung hinweggesetzt haben — vgl. die Reduktion der stofflichen Welt und der menschlichen Physis auf Rohstoff, Kapital und verfügbare Arbeit; und die triumphalistische Feier der maximalen Ausbeutung aller drei oder jeweils von zweien davon —, sind sozialismusfeindlich, welche Namen sie sich auch immer geben. In der Arbeiterbewegung wußte man immer, daß die erbarmungslose Ausbeutung von Rohstoffen auch die Ausbeutung der Arbeiter als bloßem menschlichem Rohstoff beinhaltet. Dies kann auch bei veränderten Eigentumsverhältnissen gelten, wenn die Stoßrichtung der Produktion beibehalten wird. Es ist eine Sache, angesichts absoluter oder relativer Armut zu ihrer Überwindung alle menschlichen und stofflichen Ressourcen zu mobilisieren. Eine ganz andere Sache ist es, dies als abstrakte Produktion zu verdinglichen oder zu meinen, man habe das Verhältnis allein durch die Elirninierung des Profits schon reformiert. Eine Neubestimmung der Produktion muß die zentrale Perspektive des Sozialismus des 21. Jahrhunderts eröffnen.
Denn ein sich selbst überlassener Antikapitalismus kann — selbst in seiner humansten Form — nicht den Herausforderungen gerecht werden, Ausbeutung und Armut zu beseitigen. Bestimmte Spielarten des Vorschlags eines »Nullwachstums« und fast alle Vorschläge, die industrielle Produktion einzustellen und zu handwerklicher Produktion und Subsi-stenzproduktion in der Landwirtschaft zurückzukehren, sind nicht nur Fantasien; sie könnten sich als grausame Irrtümer erweisen, vollständig eingepaßt in den »postindustriellen« Kapitalismus, der weiterhin nur auf der Grundlage der imperialistischen und neokolonialen Ausbeutung der übrigen, nicht-sozialistischen Welt existieren kann.
Der Sozialismus muß nicht nur den Warencharakter der Arbeitskraft beseitigen, sondern muß Schluß machen mit der Vernutzung der Erde als bloßem Rohstoff für Waren. Das bedeutet auch, die kapitalistische Terminologie von »Produkt« und »Nebenprodukt« zu ersetzen durch eine Auffassung, wonach beide aus Produktion hervorgehen und die Wirkungen von Produkten und Arbeiten auf Menschen und Umwelt Bestandteile des gesamten gesellschaftlichen und materiellen Prozesses sind. Auf diese Weise können Sozialisten die »Rohstoffkrise« neu definieren, denn sie kann niemals nur eine Frage der Quantität sein. Die groben Antworten darauf, wie »Nullwachstum« oder »Schluß mit der industriellen Produktion«, können dann ersetzt werden durch kritisch unterscheidendes Abwägen und Überwachen der Prozesse, die nach wie vor Eingriffe des Menschen in eine unteilbare stoffliche Welt darstellen: Eingriffe, die zugleich die gesellschaftliche und die stoffliche Welt verändern.
Die Eingriffe werden von den allgemeinen menschlichen Bedürfnissen ausgehen; aber die verschiedenen Bedürfnisse werden selbst gesellschaftlich und materiell erzeugt; die Befriedigung von Bedürfnissen schafft neue Situationen und Verhältnisse; eine sozialistische Gesellschaft ist daher eine Ordnung, die ständig beobachtet, reflektiert und neu einschätzt, im Unterschied zum kapitalistischen Antrieb zur profitablen Produktionssteigerung und im Unterschied zum allgemeineren Antrieb in der Industrie, zu produzieren, als sei das eine spezialisierte und isolierbare Tätigkeit. Es wird ein entscheidendes Zeichen für eine fortgeschrittene sozialistische Gesellschaft sein, daß sie die heute noch getrennten Wissenschaften Ökonomie und Ökologie im Rahmen einer materialen Gesellschaftswissenschaft integriert hat.
Auch in der Auffassung von menschlicher Arbeit wird es Veränderungen geben. Denn während der langen Herrschaft kapitalistischer Produktions- und Arbeitsweisen sind große Bereiche der menschlichen Arbeit praktisch ausgeschlossen worden. Die Ausbeutung von Frauen ist eine besondere Form davon. Frauen, die gegen diese grundlegende Ausbeutung kämpfen, können nicht glauben, daß das herrschende sozialistische Modell ganz auf ihrer Seite ist. Zugleich verändern sich einfache Produktionsprozesse dergestalt, daß bei erheblich reduzierter Arbeit und Arbeitszeit eine Produktionssteigerung möglich ist. Im Ergebnis steht weit mehr Energie zur Verfügung für diejenigen Arten der gesellschaftlichen Produktion — bei der Versorgung von Menschen —, die auf Frauen zugeschnitten und arroganterweise aus der »produktiven Arbeit« und von sozialer und materieller Anerkennung und Achtung ausgeschlossen waren. Das wird weder die einzige oder auch nur ausreichende Veränderung des Verhältnisses von Männern und Frauen sein, noch wird eine sozialistische Gesellschaft nach einheitlichen Lösungen dieser Probleme suchen. Wenn es eine wirkliche Befreiung sein soll, dann wird es hier eine radikale Vielfalt in den Gesellschaften und zwischen ihnen geben.
Eine weitere Perspektive des Sozialismus des 21. Jahrhunderts wird eine Erneuerung seines Verständnisses und seiner Praxis in Kultur und Kommunikation sein. Zunächst muß man Schluß machen mit der beengenden Orthodoxie, die fortgesetzt ihre »richtigen« Definitionen von kultureller Produktion und Kommunikation erzeugt. Hier ist die Sache des Antikapi-talismus besonders kompliziert, weil er in dynamische Formen des Kapitalismus eingedrungen und in einigen Bereichen von ihm absorbiert worden ist. Die lebendigste Kultur des 20. Jahrhunderts wurde von unterdrückten Teilen des Volkes oder von kleinen und relativ isolierten oppositionellen oder marginalen Gruppen produziert. Der Kapitalismus hat natürlich mit beiden seine Geschäfte gemacht, so daß sich verändert hat, was einmal als »bürgerliche Kultur« galt, als Werk von dieser oder für diese Klasse. Gerade hier hat der Sozialismus wenig Alternativen geboten. Ironischerweise hat er mehr Erfolg als der Kapitalismus, traditionelle Werke zu bewahren und zu achten, und er hat in der Flut neuer kultureller Produktion dem widerstanden, was wirklich inhuman und selbstzerstörerisch ist — das sind treffendere sozialistische Ausdrücke als »dekadent«. Aber solange er nur seine »richtigen« Entwürfe aus dem singulären Modell dagegenstellt oder bestenfalls die älteren, traditionellen und populären Formen unterstützt, ist das nicht nur unbrauchbar für jede allgemeine Befreiung, häufig bietet der Sozialismus auch gegenüber der rücksichtslosen Dynamik der kapitalistischen Ausbeutung nur eine Kontrolle der Kultur an.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird sich der ganze Komplex der kulturellen und Kommunikationsverhältnisse verändert haben. Die neue Technologie wird mehr individuellen und selbstgewählten Zugang und vielfältigere Verbreitung und Produktionsmöglichkeiten bieten. In seinen negativen Aspekten ist das für den Sozialismus bereits eine Gefahr. Die internationale kapitalistische Produktion jeglicher, auch intelligenter Mischung von Unterhaltung, Sport und Propaganda strebt nach Modelung des Bewußtseins nach ihren Vorstellungen und erzielt dabei große Erfolge. Rein defensive Verbotspolitik kann dem nicht widerstehzn. Nur die positive Entdeckung, Entwicklung und der offene und erforschende Gebrauch der neuen Formen und Technologien durch konkrete Gesellschaften für ihre eigenen, unterschiedlichen Zwecke, kann neue sozialistische Kulturen schaffen. Sozialisten müssen deshalb überall die Forderung einer neuen internationalen Informationsordnung jenseits der Kontrollen und Einflüsse des westlichen Kapitals unterstützen.
Kultur und Kommunikation sind kein »Überbaubereich« wie im alten Modell. Im Gegenteil, was heute im Bereich der Kultur und der Kommu-nikationsnetze passiert und passieren kann, ist grundsätzlich nicht zu trennen von ökonomischen, politischen und insbesondere militärischen Problemen. Die Steuerungssysteme, die bereits die Kriegsführung noch fundamentaler verändert haben als die Atomwaffen, haben ihr technisch damit zusammenhängendes Gegenstück in der beispiellosen Auslieferung der meisten der heutigen Gesellschaften an die Kultur anderer Gesellschaften und Völker. In diesem Bereich der Information, der Ideen und Bilder wird heute der Kampf für den Sozialismus genauso intensiv geführt, wie in unmittelbar politischer, ökonomischer und militärischer Hinsicht. — Die Bedingung jedes Sozialismus im 21. Jahrhundert, jeder Zivilisation, ist, daß
ein Krieg verhindert und die Verschwendung von Ressourcen für seine Vorbereitung zurückgedrängt wird. Teile der Friedensbewegung, die zu Recht die modernen Militärsysteme als der demokratischen Kontrolle grundsätzlich enthoben kennzeichnen, sehen hier keinen Unterschied mehr zwischen kapitalistischen und sozialistischen Systemen. Diese Position kann man nicht dadurch zurückweisen, daß man nachdrücklich den wesentlich friedlichen Charakter des Sozialismus behauptet oder das kapitalistische System und den imperialistischen Angriff gegen die sozialistischen Gesellschaften und gegen die Volks- und Revolutionsbewegungen als Kriegsursachen identifiziert. Diese richtigen Argumente treffen nicht die tieferliegenden Probleme: daß die hochentwickelten Militärsysteme selbst unvereinbar sind mit jeder entwickelten Demokratie, so daß nur ihre Abschaffung neue Kräfte der Befreiung entfesseln kann; und daß realexistierende sozialistische Gesellschaften in ihrer heutigen Defensive und unter gewaltigem Druck nicht nur vom explizitem Militarismus betroffen sind, sondern in einigen tragischen Fällen noch nicht einmal untereinander Frieden halten konnten. Deshalb ist der rhetorische Einsatz von »Sozialismus« zur Bannung der Kriegsgefahr nicht überzeugend. Der wirkliche sozialistische Standpunkt ff
zeigt sich in einer umfassenden Analyse, die — obzwar sie die komplexen ty»
Ursachen des Krieges in den Krisen der imperialistischen und kapitalistischen Systeme ansiedelt — offen und undogmatisch genug ist, um drei Widersprüche im Verhältnis von Sozialismus und Frieden zu erkennen:
- 1. die Tatsache, daß der Widerstand des Imperialismus gegen Volks-Revolutionsbewegungen und seine Versuche der Destabilisierung der sozialistischen Gesellschaften, viele sozialistische und nationale Befreiungsbewegungen nicht nur dazu gebracht hat, bewaffnete Kämpfe zu akzeptieren, sondern sie oftmals zu initiieren
- 2. insbesondere in nachkolonialen, aber auch in anderen Gesellschaften, hat die Geschichte der (imperialistischen) Fremdherrschaft ein Durcheinander an Völkern und willkürliche Grenzen hinterlassen, die Auseinandersetzungen hervorrufen müssen und in manchen Fällen zu Kriegen zwischen befreiten und/oder sozialistischen Ländern und Völkern führen können;
- 3. die langwährende Verteidigungsstellung gegen Aggression und Destabilisierung in vielen sozialistischen und befreiten Gesellschaften hat eine Reihe von Formationen um Militär- und Sicherheitskräfte herum gebildet, die immer zum Sozialismus in Widerspruch stehen, seine gesellschaftliche und ökonomische Ausbildung beeinträchtigen und im schlimmsten Fall zu seiner Verhinderung oder Unterdrückung führen.
Es ist von zentraler Wichtigkeit, daß diese Probleme in der internationalen sozialistischen Gemeinschaft offen diskutiert werden.
Aus dem Englischen von Thomas Weber