Kapitalismus — was dann?

Die traditionelle marxistische Antwort lautet natürlich »Sozialismus«. Und das Wesen des Sozialismus, das sich wie ein roter Faden durch alle Schriften von Marx und Engels zieht, ist die Ersetzung der Bourgeoisie als herrschende Klasse durch das Proletariat, der Ausbeuter durch die Ausgebeuteten. Wie Marx und Engels im Manifest schrieben, ist »der erste Schritt in der Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie (...). Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.« (MEW 4, 481)
Später wurde dann diese Etappe der Revolution Diktatur des Proletariats genannt, die (in Marx' berühmtem Brief an Weydemeyer vom 5. März 1852) genau bestimmt war als der »Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft« (MEW 28, 508).
In keiner der zahlreichen »sozialistischen« Revolutionen des zwanzigsten Jahrhunderts ist es so gekommen. In keinem der betreffenden Länder, angefangen bei der Sowjetunion selbst, war das Proletariat, d.h. die Lohnarbeiterklasse, zahlenmäßig groß genug oder politisch und kulturell entwickelt genug, um als hegemoniale Klasse zu wirken. Vielmehr wurden die Arbeiterklassen und ihre traditionellen Organisationen im Verlaufe und im Chaos des revolutionären Prozesses und der ihn begleitenden Bürgerkriege zu sehr erschüttert und zerrissen, als daß eine rasche Neuzusammensetzung und Erholung möglich gewesen wäre. In allen Fällen kamen Regime an die Macht, die sich auf straff organisierte revolutionäre Parteien stützten, mit Mitgliedern aus verschiedenen oppositionellen Schichten der Bevölkerung und unter überwiegend nicht-proletarischer Führung. Diese Regime haben tatsächlich — in den oben zitierten Worten von Marx und Engels — ihre politische Überlegenheit dazu benutzt, »der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats zu zentralisieren«. Aber der Staat ist nicht, wie die Autoren des Manifest dachten, das als herrschende Klasse organisierte Proletariat.
Diese Gesellschaften können daher nicht zu Recht sozialistisch genannt werden in der ursprünglichen marxistischen Bedeutung des Terminus. Und das wirft dann die Frage auf, die weit über das rein terminologische Problem hinausgeht, für welche Art von Gesellschaften moderne Marxisten nach mehr als einem dreiviertel Jahrhundert eben jene halten. Nach meiner Einschätzung der einschlägigen Literatur gibt es folgende Haupttypen von Antworten auf diese Frage: Da sind erstens die Leute in der trotzkistischen Tradition, die sagen, daß der entscheidende Schritt im Übergang zum Sozialismus die Expropriation der Bourgeoisie und die Zentralisierung der Produktionsmittel in den Händen des Staates sei. Dies entspreche an sich den Interessen des Proletariats; und ein Regime, das dies ausführt, vertrete — auch wenn es nicht aus der Arbeiterklasse hervorgehe — gleichwohl ein System, dessen Nutznießer letztlich die Arbeiterklasse sei. Das Regime erhält, mit anderen Worten, die Position einer Art Treuhänder der Arbeiterklasse; und obwohl es diese Position mißbrauchen und alle möglichen kostspieligen Fehler begehen mag, hängt doch sein eigenes Überleben davon ab, daß es das neue System zu verteidigen fortfährt. Früher oder später wird die Arbeiterklasse, wenn sie sich entwickelt und reifer wird, die Dinge selber in die Hand nehmen und den Übergang zum Sozialismus vollenden. Die einzige Möglichkeit, diesen Prozeß umzukehren, ist eine Konterrevolution, die das Privateigentum an den Produktionsmitteln wiederherstellt. — Diese Position hatte eine gewisse Plausibilität in den Jahren unmittelbar nach der Russischen Revolution, sie scheint mir aber durch die historischen Erfahrungen des letzten halben Jahrhunderts obsolet geworden zu sein und ich werde mich bei ihr im folgenden nicht aufhalten.
Eine zweite Antwort betrachtet die Gesellschaft, die aus der typischen Revolution des zwanzigsten Jahrhunderts entsteht, als im Kern kapitalistisch. Nach dieser Ansicht ist das Regime an der Macht nicht nur nicht das als herrschende Klasse organisierte Proletariat; es repräsentiert auch in keinem vernünftigen Sinn das Proletariat (das weiterhin aus eigentumslosen Lohnabhängigen besteht), noch liegt es irgendwie in der Logik des Staatseigentums an den Produktionsmitteln, daß das Regime dazu verpflichtet wäre, den langfristigen Interessen des Proletariats gemäß zu handeln. Das bestimmende Merkmal des Kapitalismus ist das Kapital-Arbeit-Verhältnis, das sich in seiner klassischen Form in Westeuropa in den vier Jahrhunderten ungefähr seit 1500 entwickelt hat. Dieses Verhältnis stellt das Eigentum und die Kontrolle über die Produktionsmittel durch private Kapitalisten, unterstützt durch die volle Gewalt der Staatsmacht, gegen eine eigentumslose Arbeiterklasse. Es ändert im Kern nichts — so läuft die Argumentation —, wenn der Staat die privaten Kapitalisten enteignet und die Kontrollfunktion direkt ausübt. Folglich ist Staatskapitalismus nur eine besondere Form von Kapitalismus, der historisch entwickelten Produktionsweise, in der das gesellschaftliche Mehrprodukt aus einer Lohnarbeiterklasse in der Form von Mehrwert herausgepumpt wird.
Die dritte Antwort stimmt in wichtigen Punkten mit der zweiten überein. Keine der Revolutionen des zwanzigsten Jahrhunderts hat das Kapital-Arbeit-Verhältnis grundlegend verändert, geschweige denn abgeschafft.
Das gesellschaftliche Mehrprodukt — oder zumindest ein beachtlicher Teil davon [1] — wird weiterhin von eigentumslosen Lohnabhängigen produziert, die — wenn überhaupt — wenig Einfluß auf seine Zusammensetzung und Verteilung haben. Im Unterschied zur vorigen Auffassung gilt hier, daß das Kapital-Arbeit-Verhältnis, wiewohl ein grundlegendes und notwendiges Merkmal des Kapitalismus, an sich nicht genügt, um das kapitalistische System in seiner historisch voll entwickelten Form zu bestimmen. Für eine solche Bestimmung muß man hinzufügen, daß das Kapital nicht als eine einzelne Einheit gegenüber einer eigentumslosen Arbeiterklasse existiert, sondern als viele Kapitale, die getrennt organisiert sind und unabhängig voneinander handeln.
Meiner Meinung nach kann man die Bedeutung dieses Merkmals des Kapitalismus für ein Verständnis der Gesellschaften, die aus den Revolutionen des zwanzigsten Jahrhunderts hervorgegangen sind, gar nicht übertreiben. All die »Gesetze« des Kapitalismus, die die Hauptbeschäftigung der politischen Ökonomie darstellten — der klassischen, der Marxschen wie der neoklassischen —, beruhten in entscheidender Weise auf der Existenz des gesellschaftlichen Kapitals in der Form von vielen privaten Kapitalen. Der Druck dieser Kapitale aufeinander, der seinen formalen Ausdruck im Begriff der Konkurrenz findet, sorgt für die bedeutsame Tatsache, die Sozialphilosophen immer wieder verwundert hat, daß das für die Existenz der Gesellschaft Nötige produziert, reproduziert und verteilt wird, ohne daß irgendjemand irgendwann die Verantwortung dafür übernehmen müßte.
In einer solchen Gesellschaft wird die Ökonomie, im Unterschied zu vorkapitalistischen Systemen, von anderen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens (Politik, Religion etc.) radikal getrennt, sie wird zu einem eigenen Moment und entwickelt eine eigene Logik. Nach und nach erlangt sie durch evolutionäre und revolutionäre Prozesse eine umfassende Dominanz, die in früheren Gesellschaftsformationen unvorstellbar war. Die »Bewegungsgesetze« der kapitalistischen Ökonomie wirken, wie Marx, der Pionierarbeit der klassischen Ökonomen folgend, so überzeugend gezeigt hat, in einer umfassenden Dynamik der Kapitalakkumulation zusammen, die einen Prozeß der Polarisierung der (immer mehr weltweiten) Gesellschaft hervorbringt zwischen Reichtum auf dem einen Extrem und Armut auf dem anderen. Macht kommt von Reichtum und ist, da sich die Widersprüche auf dem anderen Pol vervielfachen und die Opposition wächst, zunehmend damit beschäftigt, die Grundlagen zu erhalten, die das System und seine Funktionsweise stützen.
Genau aus diesem Saatbeet sprossen und wuchsen, wie Marx es vorhergesehen hat, die Revolutionen des zwanzigsten Jahrhunderts. Aus Gründen jedoch, die er nicht vorhergesehen hat (die aber keineswegs unvereinbar mit seiner Theorie sind), haben diese Revolutionen nicht das als herrschende Klasse organisierte Proletariat an die Macht gebracht. Was sie an die Macht brachten, sind streng organisierte revolutionäre Parteien, rekrutiert aus Elementen verschiedener Bereiche der Gesellschaft. Diese Parteien waren zum größten Teil von marxistischen Denkweisen durchdrungen und dem revolutionären Programm verpflichtet, das im Manifest so klar umrissen war, d.h. die »politische Herrschaft dazu zu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats (...) zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren«.
Diese Enteignung der herrschenden Bourgeoisie schaffte nicht das Kapital-Arbeit-Verhältnis als solches ab: sie setzte nur den Staat an die Stelle der Privatkapitalisten als denjenigen, die Arbeit anwenden. Dabei faßte sie aber notwendigerweise die vielen Kapitale zusammen, die im Verlaufe der kapitalistischen Geschichte unabhängig voneinander gewachsen waren. Das bedeutet natürlich nicht, daß alle Kapitaleinheiten unter eine Leitung gestellt wurden, nur daß einzelne Leitungen derselben höchsten Autorität unterstellt wurden, die nun — im Kampf, wenn nicht durch bewußte Entscheidung — die Macht über Leben und Tod an sich zog, die zuvor durch die unpersönlichen Kräfte des Marktes ausgeübt worden war.
Bewußtheit über diese Situation zeigt, was sich als ein wichtiges und bisher ungelöstes Problem herausgestellt hat. Historisch hat der Kapitalismus die beiden Merkmale, die wir erörtert haben: das Kapital-Arbeit-Verhältnis, das Form und Inhalt der dem System zugrundeliegenden Ausbeutungsstruktur verbindet; und die Aufteilung des Kapitals in viele Einheiten, die Funktionsweise und Bewegungsgesetze des Systems bestimmt. Die nachrevolutionären Gesellschaften unserer Zeit behalten das erste Merkmal bei, aber schaffen das zweite ab. Sollen wir sie weiter kapitalistisch nennen? Wenn nicht, wie sollten wir sie nennen?
Man könnte sagen, daß dies nur eine Frage der Terminologie ist, daß zwei Menschen in ihrer Analyse dieser Gesellschaften übereinstimmen und doch darin uneinig sein können, wie sie sie bezeichnen sollen. Daraus folgt aber nicht, daß es gleichgültig ist, wie wir sie bezeichnen.
Wir wissen eine Menge darüber, was ich hier einmal klassischen Kapitalismus nennen möchte, d.h. Kapitalismus, der gekennzeichnet ist durch das Kapital-Arbeit-Verhältnis sowie durch die Teilung des gesellschaftlichen Kapitals in viele einzelne Einheiten. Wenn wir die nachrevolutionären Gesellschaften unserer Zeit kapitalistisch nennen, dann führen wir in unsere Analyse unweigerlich Vorannahmen, Erwartungen und Vorurteile ein, die notwendigerweise unsere Ergebnisse beeinflussen und die Quelle von viel Verwirrung sein können. Z.B. tritt Charles Bettelheim in seiner sehr wichtigen vierbändigen Untersuchung Klassenkämpfe in der UdSSR [2] für die Auffassung ein (stärker in den letzten beiden als in den ersten Bänden), daß die Sowjetunion eine kapitalistische Gesellschaft ist. Er spezifiziert das gelegentlich und nennt sie eine besondere Form von Kapitalismus, Kapitalismus neuen Typs etc., aber es treibt ihn durchweg dazu, Ähnlichkeiten zwischen der sowjetischen Gesellschaft und dem von ihm so genannten Westlichen Kapitalismus aufzudecken und zu betonen. Bettelheim ist natürlich viel zu versiert in der Marxschen ökonomischen Theorie, um die Rolle zu ignorieren, die der Wettbewerb — den er ausdrücklich als »ein Verhältnis des Kampfes zwischen verschiedenen Teilen des gesellschaftlichen Kapitals« bezeichnet — bei der Hervorbringung der Bewegungsgesetze des Kapitalismus spielt. Da er glaubt, daß diese Gesetze auch in der Sowjetunion vorherrschend sind, muß er die veränderte Form erklären, die Wettbewerb unter den Bedingungen der sowjetischen Ökonomie annimmt. Um seiner Behandlung dieser entscheidend wichtigen Frage Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, bringe ich die vier Punkte, die seiner Meinung nach »unterstrichen werden müssen«, in seinen eigenen Worten:

  • »1. Das Verhältnis des Kampfes zwischen den verschiedenen Bruchstücken des gesellschaftlichen Gesamtkapitals liegt in seiner Existenz selbst begründet — es stellt sich immer in der Form einzelner Kapitale dar. Diese Trennung der verschiedenen Bruchstücke des Kapitals voneinander ergibt sich notwendig aus dem Lohnverhältnis, aus der grundlegenden Trennung der unmittelbaren Produzenten von ihren Produktionsmitteln. Diese Trennung schließt die Trennung der verschiedenen Produktionsprozesse ein, durch die sich das gesellschaftliche Kapital reproduziert und die Form der Reproduktion vieler, miteinander im Kampf liegender Kapitale annimmt. (...)
  • 2. Der Kampf unter den verschiedenen Bruchstücken des Gesamtkapitals ist im Kern ein Kampf um die Aneignung und Akkumulation des größtmöglichen Teils vom Mehrwert. In der Sowjetökonomie zeigt sich das besonders in den Forderungen nach Investitionskrediten und nach Allokation von Produktionsmitteln, wie sie laufend von den 'sowjetischen' Betrieben und Trusts gestellt werden. Die Akkumulation dieser Forderungen führt zur ständigen Korrektur des Plans und trägt zur Inflationierung seiner Ziele bei.
  • 3. Der Kampf unter den verschiedenen Bruchstücken des Gesamtkapitals (die Konkurrenz) ist nichts anderes als was Marx 'die Beziehung des Kapitals auf sich selbst als ein andres Kapital' genannt hat (Grundrisse, 543).
  • 4. In abstrakten Begriffen ist die Konkurrenz nur ein inneres Verhältnis des Kapitals, das die Form eines äußeren Verhältnisses annimmt. Eben die Formen dieses äußeren Verhältnisses verändern sich durch die Modifikationen der konkreten Beziehungen unter den verschiedenen Bruchstücken des Kapitals: Diese Modifikationen führen zu verschiedenen Figuren wie 'freie Konkurrenz', Monopole, Staatsintervention, Wirtschaftsplanung usw. Die Herausbildung dieser Figuren beleben eine Reihe von Illusionen, die sich als 'Evidenzen' aufdrängen.« (Bettelheim, Bd. 3, 300f.)

Ich habe diese Passage vollständig zitiert, weil ich zum einen glaube, daß sie absolut entscheidend ist für die Plausibilität von Bettelheims Bestimmung der Sowjetunion als kapitalistisch; und zweitens weil, meiner Meinung nach, kein anderer Marxist besser versteht als Bettelheim, was eine solche Gleichsetzung einschließt. Ich gruppiere meine Kommentare um seine vier Punkte:

1. Ich glaube nicht, daß die Aufsplitterung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals, wie wir sie vom klasssischen Kapitalismus kennen, notwendig aus dem Lohnverhältnis und/oder aus der Trennung der Arbeiter von ihren Produktionsmitteln herrührt. Es ist zweifellos wahr, daß die wirklichen Produktionsprozesse, durch die das Gesamtkapital reproduziert wird, voneinander getrennt sind, aber das ist so in allen Produktionsweisen — außer den primitivsten — und hängt in keiner Weise von der Existenz oder Nichtexistenz des Lohnarbeitsverhältnisses ab. Produktionseinheiten sind nicht dasselbe wie Kapitaleinheiten, wie die ganze Geschichte des Kapitalismus beredt zeigt. Sogar die Idee, die von Hilferding und anderen Marxisten vor dem ersten Weltkrieg geäußert worden ist, die Idee einer vollständigen Vereinigung des Kapitals in einem großen Trust war nicht unvernünftig; was sie hoffnungslos unrealistisch machte und macht, ist daß die zentralisierende Tendenz des Kapitals immer von Gegentendenzen begleitet und wirksam durchkreuzt worden ist (die Aufspaltung von bestehenden Kapitaleinheiten und die andauernde Bildung von neuen).
2. Es braucht nicht diskutiert zu werden, daß im Kapitalismus das Einzelkapital »um die Aneignung und Akkumulation des größtmöglichen Teils vom Mehrwert« kämpft. In einem ökonomischen Sinn ist das ein Kampf auf Leben und Tod: das siegreiche Kapital floriert und saugt kleinere und weniger erfolgreiche auf; das besiegte Kapital erleidet Bankrott und verschwindet. Bettelheim setzt diesen Prozeß mit den Anstrengungen der sowjetischen Betriebe gleich, längerfristige Kredite und Zuteilungen von Produktionsmitteln durch die Institutionen (Staatsbank und zentrale Plankommission) zu bekommen, die für die Durchführung der Politik verantwortlich sind, wonach Finanzmittel und Ausrüstungen in bestimmter Höhe an die verschiedenen Interessenten verteilt werden. Wenn dieser Vergleich wirklich zutreffend wäre, würde Bettelheims Argumentation sehr stark für die wirkliche (und nicht nur formale) Gleichheit der Wettbewerbsprozesse in klassisch kapitalistischen und sowjetischen Gesellschaften sprechen. Tatsächlich aber ist der Vergleich völlig unzutreffend. Leitungen von sowjetischen Betrieben sind keine getrennten Einheiten, die ums Überleben kämpfen und sich im Dschungel des kapitalistischen Marktplatzes voranarbeiten; sie sind Beauftragte in einer politisch-bürokratischen Struktur, was etwas völlig anderes ist. Wenn jemand einen zutreffenden Vergleich mit dem Kapitalismus will, dann läge er zwischen den sowjetischen Managern und den Managern untergeordneter Einheiten großer Kapitalgesellschaften wie Exxon oder General Motors. Beide Gruppen konkurrieren natürlich in sich selbst, und Individuen können Vorteile gewinnen oder entlassen werden. Das hat aber überhaupt nichts zu tun mit dem Überleben und/oder Wachstum der größeren Einheiten, von denen sie abhängen. Indem Bettelheim behauptet, daß diese größeren Einheiten im kapitalistischen und im Sowjetsystem durch dieselben »Gesetze« regiert werden, blockt er in Wirklichkeit die Untersuchung ab, worin genau die grundlegenden Unterschiede zwischen den beiden Systemen bestehen.
3. und 4. Hier wiederholt Bettelheim in abstrakter und (wenigstens scheint es mir so) etwas verwirrender Form Aussagen über Wettbewerb, die schon lange Teil der marxistischen Theorie über den Kapitalismus sind. Er tut das jedoch auf eine Weise, die implizit unterstellt, daß diese Aussagen auch auf das sowjetische System anwendbar seien. Ich habe schon unter Punkt 2 gezeigt, daß diese Voraussetzung nicht stimmt. Wenn man das akzeptiert, muß man schließen, daß Bettelheims zweiter und dritter Punkt nichts zu unserem Verständnis des hier betrachteten Problems hinzufügen.

Bevor ich dieses Thema verlasse, mag eine weitere Bemerkung von Nutzen sein. In der Sowjetideologie wird der Unterschied zwischen Kapitalismus und Sowjetsystem häufig in Begriffen von Markt versus Plan verpackt, wobei der Plan als die gesellschaftlich aufgeklärte Methode dargestellt wird, die durch die kapitalistische Anarchie erzeugten Probleme zu lösen. Unterstellt wird, daß die sowjetische Planung es fertigbringt, eine wirksame Kontrolle über die gesamte Ökonomie auszuüben und diese dazu zu benutzen, die im Plan proklamierten Ziele zu verwirklichen. Bettelheim weist, meiner Meinung nach völlig zu Recht, diese Unterstellung zurück. Die Überlegenheit des Plans kann nicht vorausgesetzt, sie muß bewiesen werden. Und bisher hat es noch niemand fertiggebracht, diesen Beweis anzutreten, ganz im Gegenteil. Bettelheim deutet dies als Beleg dafür, daß Planung nur eine weitere ideologische Rationalisierung ist, in dieser Hinsicht der orthodoxen bürgerlichen ökonomischen Theorie gleich. Er glaubt, daß beide die zugrundeliegende kapitalistische Realität falsch abbilden und dadurch verbergen. Dieser Schluß stimmt aber nicht. Sowjetische und bürgerliche Theorien sind in diesem Sinne Ideologien, aber die Realitäten, die sie falsch abbilden und rationalisieren, sind nicht dieselben. Ich denke, wenn man dies einsieht, wird die Identifikation des Sowjetsystems als kapitalistisch nicht nur problematisch, sondern direkt konterproduktiv. Sie schließt die Anwendbarkeit von Theorien ein, die einer anderen Realität entsprechen und lenkt die Aufmerksamkeit von neuen Problemen ab, die dringend der Untersuchung bedürfen.
Oben ist gezeigt worden, daß die Revolutionen des zwanzigsten Jahrhunderts herrschende Klassen gestürzt haben, ohne eine neue herrschende Klasse an die Macht zu bringen. Bedeutet das, daß die nachrevolutionären Gesellschaften sich weiterhin unter Parteiregimen entwickelt haben, die keinen klaren Klassencharakter haben? Mir scheint, es wäre falsch, diese Frage allgemein beantworten zu wollen zu einer Zeit, wo sich die betreffenden Gesellschaften auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen befinden und einige der jüngeren sich offenbar in einer Periode stürmischen Übergangs befinden. Aber ich glaube, daß eine Antwort für die Sowjetunion möglich ist, die älteste dieser Gesellschaften, und daß diese Antwort ohne große Änderungen für diejenigen Länder zutrifft, die mehr oder weniger
bewußt die Sowjetunion als Modell wählen. Es ist im wesentlichen richtig, die Bolschewistische Partei, die die Oktoberrevolution anführte, als repräsentativ für das Proletariat in den stärker industrialisierten Städten der
westlichen Teile Rußlands zu bestimmen. Mit der Dezimierung und Zersetzung dieser Klasse in den Jahren des Bürgerkriegs wurde jedoch das angestammte Verhältnis zwischen Klasse und Partei weitgehend aufgelöst, und während der nächsten beiden Jahrzehnte, also in den 20er und 30er Jahren, herrschte die Partei durch ihre Kontrolle über den Sicherheitsapparat und das Militär ohne eine klare oder feste Klassenbasis. Meine These ist, daß eben in diesen Jahren der Wirren und der Auseinandersetzungen eine neue Klasse geboren wurde und allmählich Kontrolle über die Kommunistische Partei gewann, die alte bolschewistische Führung liquidierte und den Status einer herrschenden Klasse in der vollen Bedeutung des Begriffs erlangte. Große Teile der vier Bände von Bettelheims Klassenkämpfe in der UdSSR sind der Beschreibung und Analyse dieser Prozesse gewidmet, durch die diese Transformation des Sowjetregimes bewirkt wurde. Bettelheim nennt die neue herrschende Klasse eine Parteibourgeoisie (bourgeoisie de parti), was — im Hinblick auf die Organisationsform und die Funktionsweise — angemessen erscheint, auch wenn die historischen Konnotationen des Begriffs »Bourgeoisie« etwas irreführend sein mögen.
Wenn er dazu übergeht, die Dynamik der Klassenherrschaft zu erklären, kommt es mir jedoch so vor, als verfiele Bettelheim demselben Grundirrtum, den ich weiter oben untersucht habe, nämlich zu unterstellen, daß unter allen äußeren Erscheinungen letztlich die Normen des Kapitalismus das sowjetische System kontrollieren. Das innere Ziel des Sowjetherrschers soll die Akkumulation um der Akkumulation willen sein, das äußere die Weltherrschaft. Das ist allerdings das Spiegelbild des westlichen Imperialismus — das beste Beispiel dafür bieten die USA heute.
Nach der Marxschen Theorie folgt der Imperativ zu akkumulieren aus bestimmten Grundmerkmalen des Systems. In Marx' Worten:

»Die Akkumlation ist Eroberung der Welt des gesellschaftlichen Reichtums. Sie dehnt mit der Masse des exploitierten Menschenmaterials zugleich die direkte und indirekte Herrschaft des Kapitalisten aus.« (MEW 23, 619)

Die erfolgreichsten Kapitalisten sind diejenigen, die die neuesten und fortgeschrittensten Produktionsmethoden benutzen. Daher »macht die Entwicklung der kapitalistischen Produktion eine fortwährende Steigerung des in einem industriellen Unternehmen angelegten Kapitals zur Notwendigkeit, und die Konkurrenz herrscht jedem individuellen Kapitalisten die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise als äußere Zwangsgesetze auf. Sie zwingt ihn, sein Kapital fortwährend auszudehnen, um es zu erhalten, und ausdehnen kann er es nur vermittelst progressiver Akkumulation.« (Ebd., 618)
Die sowjetische Ausgangslage ist völlig anders. Es gibt keine individuellen Kapitalisten, und (wie oben bemerkt) Bettelheims Versuch, die sowjetischen Betriebsdirektoren so zu schildern, als spielten sie dieselbe Rolle, entbehrt jeglicher Grundlage in den strukturellen Bedingungen des sowjetischen Systems. Macht, Prestige und Privilegien der sowjetischen Herrschenden stammen nicht vom Eigentum an privatem Reichtum, sondern eher von unmittelbarer Kontrolle über den Staatsapparat und daher über das gesellschaftliche Gesamtkapital (ein Begriff, der weiter Bedeutung hat, solange das Lohnverhältnis besteht). Es könnte immer noch sein, daß es im sowjetischen System verborgene Mechanismen gibt, die die Herrschenden dazu treiben, um der Akkumulation willen zu akkumulieren; aber wenn dem so ist, dann sind sie sicherlich verschieden von den im Kapitalismus wirkenden, und bisher hat, so weit ich sehe, niemand ihre Existenz bewiesen. Angesichts dessen sind wir, glaube ich, gut beraten, die Behauptung beiseite zu lassen, die Sowjetherrscher seien durch einen Zwang getrieben, um der Akkumulation willen zu akkumulieren, und anderswo nach Erklärungen zu suchen für ihr Verhalten in inneren und äußeren Angelegenheiten.
Dies ist nicht der Ort für eine solche Untersuchung, und ich wäre auch nicht kompetent dafür, sie durchzuführen. Im folgenden beschränke ich mich daher auf einige Bemerkungen und Hypothesen, die ich für weiterer Untersuchung wert halte.
Wenn es richtig ist, daß es im Sowjetsystem keine dem Kapitalismus vergleichbaren ökonomischen Bewegungsgesetze gibt, so folgt daraus, daß der herrschenden Klasse ein struktureller Rahmen fehlt, in dem sie ihre selbstauferlegte Verantwortung ausüben würde, das gesellschaftliche Gesamtkapital zu leiten. Sie muß ihre eigenen Ziele hervorbringen, weil sie nicht einfach die Ziele einer zugrundeliegenden autonom funktionierenden Ökonomie internalisieren und sich von ihnen leiten lassen kann. Oberflächlich betrachtet, scheint das den sowjetischen Herrschenden ein ziemlich weites Feld der Wahl einzuräumen. Sie könnten für eine Politik der Akkumulation um der Akkumulation willen à la Bettelheim optieren, wenngleich kaum zu sehen ist, warum sie das wollen sollten. Ebenso könnten sie sich für eine genuin sozialistische Politik im ursprünglichen marxistischen Sinne entscheiden, d.h. für eine Politik, die dazu bestimmt ist, einen Übergang zu einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft zu erleichtern. Aber wiederum ist schwer zu sehen, warum sie das wollen könnten, wo es doch bedeuten würde, für die schließliche Beseitigung ihrer privilegierten Klassenposition zu arbeiten.
Wenn wir unterstellen, wie ich es tue, daß dies zuletzt genannte Ziel wirklich die vorwiegende Motivation der herrschenden Klasse der Sowjetunion ist, müßten zwei Konsequenzen folgen. Erstens muß das Kapital-Arbeit-Verhältnis d.h. das grundlegende Klassenverhältnis der Ausbeutung, aufrechterhalten werden. Das erfordert eine Politik gegenüber dem sowjetischen Proletariat, die darauf zielt, es machtlos und gefügig zu halten. Also einerseits rigorose Unterdrückung jeglicher unabhängiger Organisierung der Arbeiterklasse, andererseits Besorgung eines allmählich steigenden Lebensstandards (einschließlich vernünftiger Vollbeschäftigung, Bildungsmöglichkeiten, Gesundheitsfürsorge, Ruhestandspensionen usw.). Zweitens mußten die Sowjetführer, um ihre Position zu halten und zu stärken, die ganze nachrevolutionäre Geschichte hindurch das Land gegen die unablässige Feindseligkeit und die zahlreichen offenen Angriffe der kapitalistischen Welt verteidigen. Diese Geschichte ist wohlbekannt und braucht hier nicht wiederholt zu werden.[3] Was von unserem heutigen Standpunkt aus besonders wichtig ist: daß dieser Kampf ums Überleben angesichts eines ökonomisch überlegenen Feindes der alles beherrschende Faktor gewesen ist, der Verhalten und Ideologie der sowjetischen herrschenden Klasse geformt hat. Vor allem erklärt dies die Merkmale der Sowjetgesellschaft, die Bettelheim aus dem kapitalistischen Charakter der Gesellschaft entstehen sieht und sie ihm vollständig zuschreiben möchte: die einseitige Aufmerksamkeit für die Kapitalakkumulation; die opportunistische Bereitschaft, Abmachungen zu treffen (wie den Hitler-Stalin-Pakt) und damit auf die Spaltung der kapitalistischen Front zu kalkulieren; die Einrichtung und militärische Unterstützung von willfährigen Regimen in benachbarten Ländern usw.
Wenn diese Argumentation richtig ist, dann bedeutet das, daß es in der sowjetischen Politik sehr viel weniger Determiniertheit und daher mehr potentielle Flexibilität gibt als in der Politik der kapitalistischen Länder. Letztere sind eng gebunden an den Imperativ der Akkumulation,[4] der unter allen Umständen und ohne Rücksicht auf die äußere Umgebung wirkt. Der einzige vergleichbare Imperativ in der sowjetischen Situation ist, das grundlegende Kapital-Arbeit-Verhältnis aufrechtzuerhalten. Es gibt keinen inneren Imperativ der Akkumulation; in Wirklichkeit tendiert eine extrem hohe Akkumulationsrate, als Reaktion auf äußere Gefahr, dazu, die Politik zu unterminieren, die für die Aufrechterhaltung des Kapital-Arbeit-Verhältnisses notwendig ist. Daraus folgt — und das ist vielleicht das wichtigste Ergebnis unserer Analyse —, daß in dem Augenblick, wo die äußere Gefahr für das Sowjetsystem drastisch reduziert würde, das ureigenste Klasseninteresse der Sowjetführer sofort das Problem aufwerfen würde, wie innere und internationale Politik am besten angepaßt werden können.
Ob sie auf eine solche Herausforderung wirklich reagieren würden, kann man natürlich nicht sagen, noch ist es überhaupt wahrscheinlich, daß es bald einen praktischen Test geben wird, um die Antwort zu bekommen. Unter den gegenwärtigen Umständen gibt es keine Aussicht, daß der kapitalistische Druck auf die Sowjetunion (und auf andere nachrevolutionäre Gesellschaften ähnlicher Art) nachlassen wird; und solange das so ist, wird die Sowjetunion es zweifellos notwendig finden, den Kurs fortzusetzen, den sie mehr als ein halbes Jahrhundert verfolgt hat. Und doch ist die Einsicht, daß die Sowjetunion nicht denselben Zwängen unterliegt wie der Kapitalismus, daß ihre Führer unter bestimmten Umständen den Kurs in ganz grundlegender Weise ändern könnten, ohne ihre Klasseninteressen zu verletzen — ja, mit günstiger Wirkung für ihre Klasseninteressen —, eine sehr wichtige Sache für diejenigen unter uns, die die enormen Gefahren im gegenwärtigen Zustand der internationalen Beziehungen sehen und die etwas Wirksames tun wollen, um eine Änderung zum Besseren zu erreichen.
Dieses Wissen sagt uns, daß der Gegenstand unseres Kampfes in dieser historischen Phase die von den USA angeführte weltweite konterrevolutionäre Wende des Kapitalismus sein muß. Die Sowjetunion, auch wenn sie nicht die sozialistische Gesellschaft ist, die sie zu sein behauptet, ist jedenfalls nicht der Feind. Es ist eine Klassengesellschaft, wie alle Gesellschaften seit dem Anbruch der menschlichen Zivilisation, ihre fehlt aber der innere Zwang zu expandieren und zu dominieren, was das Kennzeichen des Kapitalismus ist. Befreit von dem erstickenden Druck, dem sie von Anfang ihres Bestehens an ausgesetzt war, hätte sie zumindest die Möglichkeit zu zeigen, was die nachrevolutionären Gesellschaften unserer Zeit leisten könnten, wenn sie eine vernünftige Chance dazu hätten.
Aus dem Amerikanischen von Wieland Elfferding

Autor(en)