Kein Sozialismus ohne Selbstverwaltung

1. Was ist der Sozialismus?

Der Sozialismus bezeichnet in der Tradition von Marx und Engels eine Gesellschaft assoziierter Produzenten — die erste Vorstufe der kommunistischen Gesellschaft —, gekennzeichnet durch kollektives Eigentum an den Produktionsmitteln, unmittelbare Gesellschaftlichkeit der Arbeit und geplante Produktion zur Befriedigung der Bedürfnisse (Produktion einfacher Gebrauchswerte statt Warenproduktion). Es handelt sich um eine Gesellschaft ohne Klassen und Staat, d.h. ohne spezielle, von der Masse der Bürger getrennte Apparate oder Organe zum Zwecke der Verwaltung, Leitung und Mitbestimmung.
Eine derartige Gesellschaft kann nur eine auf Selbstverwaltung der Produzenten und der Bürger (daher auch der Konsumenten) begründete Gesellschaft sein, der es gelungen ist, ihr Schicksal zu meistern, und die sich ebenso von der Tyrannei der »Marktgesetze« (des Wertgesetzes) emanzipiert hat wie von der despotischer Autoritäten und der des Staates. Sie entscheidet frei und bewußt über die Prioritäten in der Verwendung ihrer materiellen Ressourcen und ihrer für die gesellschaftliche Arbeit verfügbaren Zeit, auf der Grundlage einer Wahl zwischen strukturierten und kohärenten Alternatiworschlägen. Sie beruft sich deshalb auf den politischen Pluralismus — in dem es keine Einheitspartei, keinen Apparat zur einheitlichen »Fernsteuerung« gibt — im starken Sinne des Wortes, nämlich im Sinne von kohärenten nationalen (und internationalen) Alternativen von Prioritäten. Dies schließt keineswegs zahlreiche Mechanismen der Dezentralisierung aus (auf regionaler oder lokaler Ebene, auf der Ebene des Stadtteils oder des Zweiges ökonomischer oder sozialer Tätigkeit), in denen die Wahl zwischen Alternativen durch basisdemokratische Organe stattfinden kann.
Mit dem Aufbau einer derartigen sozialistischen Gesellschaft kann, in Anbetracht der ungleichen Entwicklung der sozio-politischen Kräfteverhältnisse im internationalen Maßstab, auf nationaler Ebene begonnen werden. Aber sie kann nur weltweit, d.h. unter Einschluß der wichtigsten Länder, vollständig verwirklicht werden.
Der so definierte Sozialismus ist weder das Paradies auf Erden noch die Verwirklichung millenaristischer Träume, und er stellt auch keine vollendete Harmonie her zwischen dem Individuum und der Gesellschaft oder zwischen der Gesellschaft und der Natur. Er ist weder »das Ende der Geschichte« noch das Ende der Widersprüche, von denen die menschliche Existenz geprägt ist. Das Ziel, das die Parteigänger des Sozialismus verfolgen, ist bescheidener, nämlich die Lösung der sechs oder sieben Widersprüche, die im Verlauf der vergangenen und gegenwärtigen Jahrhunderte die Quelle der hauptsächlichen menschlichen Leiden gewesen sind: die Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen; der Krieg und die brutale Gewalt zwischen menschlichen Wesen; die ein für allemal zu bannenden Leiden des Hungers, der Ungleichheit und der NichtBefriedigung von Grundbedürfnissen ganzer Teile der Gesellschaft; die institutionalisierte und systematische Diskriminierung der Frauen, der vorgeblich »niederen« Rassen oder Ethnien, der nationalen oder religiösen Minderheiten etc.; die ökonomischen Krisen; die ökologischen Krisen.
Mit der Überwindung dieser Widersprüche geht das menschliche Drama keineswegs zu Ende. Man könnte sogar sagen, daß es jetzt erst beginnen würde. Denn tatsächlich ist das Drama, das die Menschheit gelebt hat und bis heute lebt, ein unmenschliches, vormenschliches Drama. Wie auch immer: der globale Einsatz ist es wert, in seinem ganzen Ausmaß bedacht zu werden. Denn er ist nur die eine Seite der Alternative, mit der die Menschheit konfrontiert ist.
Wir Sozialisten sind überzeugt, daß die Lösung der sechs oder sieben genannten Widersprüche ein gewaltiger Sprung nach vorn wäre, für den Fortschritt und die Emanzipation ebenso der Gattung wie der Individuen, aus denen sie besteht, ein ebensolcher Fortschritt wie die Abschaffung des Kannibalismus und der Sklaverei. Wir sind überzeugt, daß dieser Fortschritt nur möglich ist durch das Absterben des Privateigentums, der Ware und des Geldes, als Bedingung für das Absterben der gesellschaftlichen Klassen und des Staates. Wir sind aber in gleicher Weise überzeugt, daß ohne dieses Absterben, d.h. ohne das Kommen einer Sozialistischen Weltföderation, der gegenwärtige Status quo nicht bestehen bleiben würde. Es droht eine Auslöschung der menschlichen Zivilisation, ja sogar das Aussterben der menschlichen Gattung, als Ergebnis der immer zügelloseren Konkurrenzkämpfe, der immer gewaltsameren Konflikte, die immer unverhüllter zum Ausdruck kommen werden.

2. Der Sozialismus ist notwendig

Der Sozialismus im von uns definierten Sinne ist notwendig, sonst läuft die Menschheit auf die Katastrophe zu. Die Skepsis in bezug auf die Notwendigkeit des Sozialismus verbirgt eine Unterschätzung der selbstzerstörerischen Tendenzen der menschlichen Gattung, akkumuliert von einer bürgerlichen Gesellschaft, die sich heute in einer offenen Krise befindet. Die Bereiche, in denen diese selbstzerstörerischen Tendenzen am deutlichsten zutage treten, sind das Wettrüsten (atomare, biologische und chemische Waffen) und die Bedrohung des Ökologischen Gleichgewichts. Es ist nicht nötig, hier die unzähligen wissenschaftlichen Quellen zu zitieren, die nachweisen, welche Gefahren für die Auslöschung menschlichen Lebens auf der Erde die gegenwärtigen weltweiten Tendenzen mit sich bringen. Die Alternative ist nicht mehr nur die zwischen Sozialismus oder Barbarei, die Alternative ist: Sozialismus oder Tod.
Kaum weniger bedrohlich sind die Gefahren der Verelendung und des Hungers in den ärmsten Gebieten der »Dritten Welt«, ebenso wie die Gefahr, daß ein beträchtlicher Bevölkerungsteil der imperialistischen Metropolen in marginalisierte oder halbmarginalisierte Schichten verwandelt wird. Wenn die Hypothese realistisch ist, daß es in den Jahren 1985-1987 40 Millionen Menschen in den imperialistischen Ländern geben wird, die keinerlei Arbeit haben, so erhalten wir, zusammen mit den Angehörigen dieser Arbeitslosen, den Teilarbeitslosen, den Frauen, die »aus dem Arbeitsmarkt herausgedrängt« wurden, und den Jugendlichen, die nie einen Zugang zu ihm hatten,[1] einige 100 Millionen von Einwohnern und Einwohnerinnen der sogenannten »reichen« Länder, die bereits in das materielle, geistige und moralische Elend gestoßen sind. Und dies ist nur eine erste Phase der Krise, die ihren Höhepunkt noch längst nicht erreicht hat. Das bürgerliche Projekt einer »dualen Gesellschaft« muß zu einer doppelt so hohen Zahl führen, wenn nicht zu einer noch höheren.
Man muß die Illusion zurückweisen, daß all dies nur embryonale Tendenzen sind, und daß man ihre unheilvollen Wirkungen auf einem für den Fortbestand der materiellen Zivilisation und der menschlichen Kultur erträglichen Niveau halten kann, ohne die gesellschaftliche Struktur grundlegend zu verändern. Das Gegenteil ist richtig. Die zerstörerischen Effekte der oben beschriebenen Tendenzen sind bereits mehr und mehr kumulativ: man denke nur an die Folgewirkungen der Kosten der ökologischen Krise auf die gegenwärtige ökonomische Krise. Sie werden es morgen in noch höherem Maße sein.
Die Illusion, es könnte noch längere Zeit ohne allzu katastrophale Folgen so weitergehen, beruht auf der Annahme einer vorgeblich unbegrenzten Anpassungsfähigkeit des kapitalistischen Systems, einer angeblich bemerkenswerten Flexibilität der Marktwirtschaft und einer Allmacht ihrer »Selbststeuerungsmechanismen«, die sich das ganze 20. Jahrhundert hindurch erwiesen hätte. Diese Illusion wird gewiß dadurch genährt, daß die Krisen, Kriege und Katastrophen den laufenden Betrieb des business as usual nicht ersetzen, sondern nur periodisch unterbrechen. Man muß aber blind sein, sich einer ganz und gar selektiven Lektüre der Geschichte dieses Jahrhunderts schuldig machen, um nicht zu bemerken, daß die periodischen Störungen des Gleichgewichts in jedem Jahrzehnt weitreichender und schwerwiegender werden.
Der Erste Weltkrieg kostete 10 Millionen Tote. Der Zweite hat 80 Millionen gekostet. Wieviele würde ein dritter kosten? Zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg hat es um die zwanzig »lokale Kriege« gegeben. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben wir bereits 50 solcher Kriege erlebt; diese Zahl steigt von Jahr zu Jahr, ja sogar halbjährlich weiter an.
Zwischen den beiden Kriegen starben in Asien und Afrika an die 30 Millionen Menschen an Hunger. Für die Zeit nach 1940 laßt sich diese Zahl leicht um das Zehnfache vergrößern, was vielleicht noch zu niedrig ist. Wie die Tragödie Äthiopiens zeigt, fangen die wirklichen Katastrophen in dieser Region erst an. In der Zwischenkriegszeit dehnte sich die Plage nach und nach auf zwanzig Länder aus; heute ist sie in mindestens 60, 70 oder mehr Ländern endemisch, wenn nicht sogar eine ständige Einrichtung. Der einzige »Lichtblick«: es hat seit 1945 kein neues Auschwitz oder Hiroshima gegeben. Aber wer wagt zu garantieren, daß diese Feststellung auch für die nächsten zwanzig Jahre noch gelten wird?
In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts waren die tödliche Verwüstung und Verschmutzung der Gewässer und der Atmosphäre nur marginale Erscheinungen, die lediglich in einigen Regionen unseres Planeten deutlicher hervortraten. Heute erleben wir plötzlich, daß, neben der Katastrophe in der Sahelzone und im Amazonasgebiet, mit einem Mal die Hälfte des deutschen Waldes stirbt. Genauso verantwortungslos wie die Unterschätzung der sich anhäufenden Gefahren erscheint währenddessen die Schlußfolgerung, daß es schon zu spät ist, daß die Katastrophe bereits da, oder — was auf dasselbe hinausläuft — daß der Marsch in die Katastrophe inzwischen unumkehrbar geworden ist. Diese pessimistische These ist nur die Rationalisierung der Angst und Enttäuschung, der lähmenden Entmutigung. Sie gründet sich auf keinerlei wissenschaftlichen Nachweis. Sie ähnelt fatal einer freiwilligen Abdankung der Vernunft.
Hinter der These vom irreversiblen Marsch in den Abgrund steckt eine falsche Diagnose der Gründe für die drohende Apokalypse. Die Selbstzerstörungstendenzen unserer Gattung rühren weder von unserem »Erbe« noch von einem »Geburtsfehler« her (der, auch wenn er in biologischen Begriffen formuliert wird, eine seltsame Ähnlichkeit hat mit der Erbsünde), weder von der »männlichen Aggressivität« noch von den fatalen Folgen von Wissenschaft und Technologie (was wieder einmal fatale Ähnlichkeit hat mit dem biblischen Satz, es sei besser, nicht die verbotene Frucht der Erkenntnis zu essen). Die uns bedrohenden Katastrophen entspringen nicht einem Zuviel an Vernunft, sondern einem Zuwenig an Vernunft, nicht einem Zuviel an Wissenschaft, sondern einem Zuwenig an Wissenschaft, nicht einem Zuwenig an instinktiven Reaktionen, sondern einem Zuviel an Instinkt und einem Zuwenig an Bewußtsein.
Wenn die gegenwärtige Technik bestimmte Katastrophen verursacht hat, so deshalb, weil einige ihrer Folgeprodukte unbekannt blieben.[2] Die Vermehrung der Erkenntnisse, ein neuer Sprung nach vorn in den Naturwissenschaften würde bedeuten, die Chancen für die Vermeidung der Katastrophen zu vergrößern, statt sie zu vermindern.
Aber der tiefere Grund des Problems liegt woanders. Der Fortschritt der Naturwissenschaften, der höhere Grad an menschlicher Naturbeherrschung [3]waren begleitet — gerechterweise müßte man sagen: wurden bezahlt, ermöglicht — durch ein fast völliges Fehlen einer Beherrschung ihrer »zweiten Natur« durch die Menschheit, d.h. einer Beherrschung ihrer gesellschaftlichen Umwelt, der Entwicklung ihres sozialen Verhaltens. Dies ist die wirkliche Quelle der uns bedrohenden Katastrophen.
Eine der großen Errungenschaften des Marxismus, die zunehmend auch zum Allgemeingut von nicht-marxistischen Wissenschaftlern wird, ist das Sichtbarmachen der gesellschaftlichen Bestimmtheit von Technik und Wissenschaft. Die Technik- und Wissenschaftsgeschichte folgt gewiß ihrer eigenen Logik. Sie hat ihre eigenen Notwendigkeiten, die jeder besonderen Disziplin eigentümlich sind, oft in enger Korrelation mit denen »benachbarter« Disziplinen. Aber ihre wichtigen Wendungen spiegeln eine gesamtgesellschaftliche Logik wider, entspringen neuen Fragestellungen, neuen Bewußtseinsstrukturen, die ihrerseits spezifischen gesellschaftlichen Bedürfnissen und Interessen entsprechen.
So gesehen, ist der Marsch in den Atomkrieg nicht zwangsläufiges Resultat der Quantenphysik. Die Verschmutzung der Ozeane folgt nicht schicksalhaft aus den Fortschritten der synthetischen Chemie. Die Verwüstung der Umwelt ist keine unabwendbare Folge der Anstrengungen zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität. Die aufgezählten Gefahren und Desaster resultieren daher, daß die Entwicklung dieser Techniken und der Wissenschaft unter der Tyrannei des Kapitals erfolgte, d.h. der Jagd nach dem von jeder Firma einzeln kalkulierten und versilberten Profit unterworfen, beherrscht durch die unerbittlichen Imperative der Konkurrenz und der Kapitalakkumulation — was auch immer die langfristigen Konsequenzen sein mögen für die Arbeitskraft, für die Gesellschaft insgesamt oder für das ökologische Gleichgewicht.[4]
Nicht die unvermeidliche Zersplitterung der Erkenntnisse produziert die ökonomischen, ökologischen oder politischen Katastrophen. Es ist vielmehr die Bestimmung der Investitionsentscheidungen durch kurz- oder mittelfristige zersplitterte Interessen — unabhängig von ihren globalen und langfristigen Auswirkungen —, die zu den Krisen und Kriegen führt. Hier, und sonst nirgends, sind die Ursprünge dieser immer explosiveren Verbindung von partieller Rationalität und globaler Irrationalität zu suchen, die die Entwicklungstendenzen der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt kennzeichnet.
Hier sind wir im Kern des Problems. Der Sozialismus ist notwendig, weil die Logik der bürgerlichen Gesellschaft, die Logik des Privateigentums und der Marktwirtschaft, die Logik des privaten Bereicherungsstre-bens und vor allem die Mechanismen allgemeiner Konkurrenz, die diese Logik in allen Bereichen des individuellen und gesellschaftlichen Verhaltens stimuliert, eine höllische Dynamik anheizen, die in die Katastrophe führt. Es wird, egal wo, egal wie, investiert, selbst für den Preis von sieben Billionen Dollar Schulden oder von einigen hundert Millionen Arbeitslosen (in den Metropolen und der »Dritten Welt« zusammengenommen). Es wird, egal was, fabriziert, egal zu welchem Preis der Zerstörung natürlicher Ressourcen. Es werden Atombomben gebaut, die alle menschlichen Wesen zehnmal, zwanzigmal, vierzigmal töten können (oder wie auch immer die monströse Absurdität des Overkill genau aussieht).
Diese Dynamik ist in der heutigen Welt immer weniger zu kontrollieren, ob in dem rein kapitalistischen Teil der Welt oder in dem Teil, der in »zwei Lager« gespalten ist (die aber unglücklicherweise ein geographisches und biologisches Ganzes bilden). Sie kann noch blockiert, gestoppt, umgekehrt oder überwunden werden durch den Sieg des internationalen Sozialismus. Es ist für die menschliche Gattung eine Frage auf Leben und Tod geworden, die Herrschaft über ihre materielle, ökonomische, soziale und politische Existenz zu erringen. Diese muß dasselbe Niveau erreichen wie die Herrschaft über die Naturkräfte. Nur in dem Maße, wie es nicht gelingt, die erste zu etablieren, wird die zweite zur tödlichen Gefahr. Je mehr die erste befestigt werden kann, desto mehr kann die zweite kontrolliert werden im Dienste des Lebens und des Glücks der ungeheuren Mehrheit der Bewohner und Bewohnerinnen dieses Planeten.
Keine rein mechanische Kraft, keine »schicksalhafte Verkettung von Umständen« kann 750 Millionen assoziierter Produzenten weltweit daran hindern, von heute auf morgen zu beschließen, die Produktion aller atomaren, biologischen, chemischen oder sogar aller schweren Waffen ein für allemal zu stoppen, alle existierenden Bestände dieser Waffen zu zerstören und Kontroll- und Zwangsmechanismen zu installieren, die diesen Entscheidungen Respekt verschaffen. Es genügt, daß sie die Herren ihrer Fabriken sind und diese kollektiv führen. Kein »objektives ökonomisches Gesetz«, keine »eherne Notwendigkeit« kann dieselben 750 Millionen Lohnabhängigen, transformiert in assoziierte Produzenten, daran hindern, die Gesamtmenge der notwendigen Arbeitsstunden, die erforderlich sind zur Produktion der Güter und Dienstleistungen für die Befriedigung vernünftiger Bedürfnisse, unter gleichen Bedingungen auf alle Produzenten aufzuteilen — sich die Freiheit zu nehmen, sofort die 25- oder 20-Stunden-Woche einzuführen, statt die Menschheit in zwei Hälften zu teilen: diejenigen, die sich 48 oder 56 Stunden pro Woche abrackern, und diejenigen, die keine gesellschaftlich anerkannte Arbeit mehr leisten oder dies nur in einem marginalen Umfang tun, wofür sie auf immer jämmerlichere Weise entschädigt werden.
Die Männer und Frauen selbst sind es, die sich als fähig oder unfähig erweisen werden, diese Entscheidungen zu treffen. Kein von ihrem Willen unabhängiger »Automatismus« hindert sie, den Weg der Vernunft und der menschlichen Solidarität zu wählen. Das Interesse der ungeheuren Mehrheit verlangt, daß sie den sozialistischen Ausweg wählen, statt sich in die beschriebenen Katastrophen hineinziehen zu lassen.

3. Der Sozialismus ist möglich

Die selbstverwaltete Gesellschaft assoziierter Produzenten, die ihr Schicksal selbst meistert, ist möglich, vor allem deshalb, weil die heute erreichte Entwicklungsstufe der Produktivkräfte die materiellen Vorbedingungen schafft für ein weltweites Absterben des Mangels und der Warenproduktion. Gewiß verlangt dies eine radikale Umverteilung der Ressourcen, die ihre Verwendung für Zwecke der Vergeudung und des Raubbaus (Waffenproduktion, gesundheitsschädliche Produkte etc.) beseitigt. Dies erfordert ebenfalls eine Neuordnung der Investitionen, die der Befriedigung von Grundbedürfnissen den Vorrang einräumt, und zwar nicht auf der Basis eines willkürlichen oder technokratischen Diktats, sondern auf der Basis von Präferenzen, die von den Produzenten-Konsumenten selbst auf demokratische Weise aufgestellt werden.
Wir sind aber überzeugt, daß die heute existierenden Ressourcen es erlauben, diese Probleme in einer vernünftigen Zeitspanne zu lösen, und daß es keinen Grund gibt, anzunehmen, daß der Mangel an Gütern und Dienstleistungen zur Deckung der Grundbedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Wohnung mit einem Minimum an Komfort, Gesundheit, Erziehung, Kultur und Freizeit, öffentliche Verkehrsmittel) weltweit unabwendbar ist. Das Absterben der Warenproduktion ist keine Utopie. Es ist nämlich möglich, alle Bewohner und Bewohnerinnen des Planeten zu ernähren, ohne Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts, im Rahmen eines weltweit kontrollierbaren demographischen Wachstums, das auch tatsächlich inzwischen unter Kontrolle kommt. Was die Angst vor einer unabwendbaren Erschöpfung der Energie- oder Mineralressourcen betrifft, so erweist sich diese auf der Basis der heutigen wissenschaftlichen Fakten als unbegründet.[5]
Die weltweite Umverteilung der Ressourcen und Nettoprodukte, die zur Beseitigung des Hungers und der Armut notwendig sind, impliziert keineswegs die Notwendigkeit einer Senkung des Lebensstandards des Produzenten der nördlichen Hemisphäre. Sie läßt sich im wesentlichen durch die Verwendung der heute vergeudeten Ressourcen verwirklichen, die zu diesem Lebensstandard gar nichts beitragen. Um die enormen Reserven deutlich zu machen, über die die Menschheit für diese Zwecke verfügt, genügt es, zwei Zahlen zu nennen.
Die Gesamtsumme der weltweiten Militärausgaben erreicht ohne weiteres 700 Milliarden Dollar pro Jahr. Der Gesamtumfang der nicht in der Industrie und Landwirtschaft der imperialistischen und halbindustrialisierten Länder genutzten Produktionskapazität erreicht im Durchschnitt der letzten zehn Jahre 20 %. In der UdSSR und Osteuropa muß man zumindest denselben Prozentsatz ansetzen für die Anzahl der in der laufenden Produktion nicht genutzten Arbeitsstunden, d.h. für die Anzahl der Stunden, in denen die vorhandenen Produktionseinrichtungen und die Lohnarbeiter nichts produzieren, wenn man einen Arbeitstag von 8 Stunden als »normal« annimmt (Andropow hatte eine Zahl von jährlich vergeudeten Arbeitsstunden genannt, die bis zu 33 % der Gesamtarbeitszeit in der Industrie erreichen würde). Die Addition dieser Zahlen erlaubt eine Vorstellung davon, was heute möglich ist bezüglich der Befriedigung der Grundbedürfnisse der gesamten Menschheit — auch mit der notwendigen Vorsicht im Hinblick auf die Verwendung von natürlichen Ressourcen, die auf der Basis unserer aktuellen Kenntnisse als nicht erneuerbar angesehen werden.
Das Absterben der Warenproduktion kann sich ganz offensichtlich nicht mit einem Schlag vollziehen, auch nicht auf Anordnung irgendeiner Autorität, sei diese auch von einer breiten Mehrheit getragen und demokratisch bestätigt durch Wahlen, die frei sind, pluralistisch etc. Die assoziierten, ihre Produktionsmittel beherrschenden Produzenten haben ein vorrangiges Interesse an maximaler Ökonomie ihrer Produktionsanstrengungen. Die Verbindung dieses Interesses mit dem der Ausweitung des Konsums auf die Befriedigung anderer als der Grundbedürfnisse erzeugt sozio-ökonomische Spannungen, deren optimale (wir sagen: optimale, nicht einzig mögliche) Lösung das Weiterbestehen eines Sektors der Waren- und Geldwirtschaft erforderlich macht, vor allem im Bereich des »Überflüssigen« — neben einem nicht-waren- und geldwirtschaftlichen Sektor, in dem das Prinzip der Verteilung zur Befriedigung der Bedürfnisse Anwendung findet. Die Koexistenz dieser beiden Sektoren macht, daß man nicht mit einem Schlag aus der Ökonomie, wie sie heute sowohl in den kapitalistischen wie in den sogenannten sozialistischen Ländern organisiert ist, in eine wirklich sozialistische Ökonomie im Sinne von Marx und Engels hineinspringen kann. Dazwischen schiebt sich eine Übergangsperiode ein, die in den sogenannten sozialistischen Ländern bereits begonnen hat, aber dort noch längst nicht vollendet ist.
Die historische Logik dieser Übergangsperiode liegt darin, daß sie für ein graduelles Absterben sowohl der Warenproduktion wie aller Bestim-mungs- und Verteilungsformen des gesellschaftlichen Mehrprodukts sorgt, die nicht dem freien, demokratisch hergestellten Willen der Mehrheit der Produzenten entspringen. Gleichzeitig handelt es sich darum, für das Absterben der sozialen Ungleichheit und aller materiellen Grundlagen der Teilung der Gesellschaft in Regierende und Regierte zu sorgen (zu diesen materiellen Bedingungen gehören vor allem die Länge des Arbeitstags und die Formen des Zugangs zu den Informationen und Kenntnissen, die allein es einem Teil der Gesellschaft erlauben, zu führen, und die den anderen Teil in die laufende Produktion verbannen). Auf diese Weise verbindet sich das Absterben der Warenproduktion mit dem Absterben der gesellschaftlichen Klassen und des Staates.
Die Hauptaspekte der dritten technischen Revolution, deren Phase der »Vermassung« und progressiven Verallgemeinerung wir derzeit erleben, verstärken die materielle Möglichkeit all dieser radikalen Wandlungen. In dem Maße, wie die Halbautomation sich zu einer Roboterisierung und vollständigen Automation entfaltet, bedeutet die Einführung des Halb-Arbeitstages keinerlei Verringerung der materiellen Produktion insgesamt. Die Mikroelektronik erlaubt heute den demokratischsten Zugang aller Bürger und Bürgerinnen zu allen Informationen und Kenntnissen. Das ist technisch möglich und sogar relativ leicht zu verwirklichen. Das Problem ist gar kein technisches, sondern ein politisches und soziales: wie kann man dafür sorgen, daß diese gewaltigen Möglichkeiten der heutigen Technik nicht zu neuen Katastrophen, zu neuen Mißbräuchen, zu neuen Privilegien und zu neuen Monopolen führen, von denen Minderheiten profitieren? Die Antwort kann nur sein: indem die Masse der Produzenten/Konsumenten sie, kollektiv organisiert, selbst in die Hand nimmt, um demokratisch die so etablierte Kontrolle und transparente Macht auszuüben.
Wir sprechen aber von einer spezifischen Verbindung eines Sektors der Nicht-Warenproduktion und eines Sektors der Warenproduktion, die in Richtung auf die fortschreitende Margjnalisierung, d.h. das Absterben des letzteren geht. Es handelt sich dabei nicht um eine doktrinäre Parteinahme (»weil für Marx und Engels der vollständig verwirklichte Sozialismus das Fehlen von Warenproduktion bedeuten würde«). Es handelt sich um die unvermeidliche Schlußfolgerung aus der marxistischen, d.h. wissenschaftlichen Analyse der nicht allein ökonomischen, sondern vor allem sozialen und psychologischen Konsequenzen des Weiterbestehens der Warenproduktion.
Im Lichte der historischen Erfahrung, einschließlich derjenigen der sogenannten sozialistischen Länder, ist es unstreitig, daß das Weiterbestehen der Warenwirtschaft — außer auf einem absolut marginalen Niveau — unvermeidlich das Weiterbestehen der Konkurrenz um den Zugang zu den Konsumtions- und Tauschmitteln (und zumindest zu gewissen Produktionsmitteln) bedeutet, das Weiterleben der Neigung zu privater Aneignung und Bereicherung und folglich das Weiterleben von sozioökonomi-schen Handlungsmotivationen, auf denen diese Verhaltensweisen beruhen. Diese Motivationen, die alles andere als »der Menschheit angeboren« sind, fehlten über Hunderttausende von Jahren hinweg im menschhchen Verhalten. Bis vor ganz kurzer Zeit fehlten sie noch weitgehend in den meisten Dorf- und Stammesgemeinschaften, in denen die gewaltige Mehrheit der Menschheit lebte. Sobald aber die Warenproduktion sich ausbreitet (oder, was auf dasselbe hinausläuft, sobald ihre Abschaffung nur auf einen Teil der sozioökonomischen Aktivität beschränkt ist), konterkariert ihre Verallgemeinerung jedwede »sozialstische Propaganda«, jede »Erziehung«, jede »totalitäre« Indoktrination. Wie verkündete es der Volksmund in der UdSSR, in der gleichwohl blutigsten Epoche des stalinistischen Terrors: blat (Schmiergeld) ist stärker als Stalin.
Der Sozialismus wird erst dann zu einem neuen, endgültig konsolidierten Gesellschaftssystem, das sich automatisch und ohne äußere Zwänge — einschließlich des staatlichen Zwangs — von selbst reproduziert, sobald die Motivation zur Kooperation und Solidarität zwischen allen Produzenten/Konsumenten —, die in der primitiven Gesellschaft hegemonial ist, jedoch auf kleiner Stufenleiter, und die sich heute fortschreitend auf die gesamte Menschheit verallgemeinern muß — die egoistische Motivation der Selbstbereicherung allgemein ersetzt. Die Substitution der letzteren durch die erstere ist nicht utopisch, da beide anthropologische Wurzeln haben. Das Aufhören des Mangels und des von ihm erzeugten »Kampfs ums Überleben« schafft die materielle Basis dieser Substitution.
Aber der Wechsel des sozialen Klimas und die für diese Substitution notwendige psychologische Revolution erfordern mehr als einen bloßen Aufschwung der Produktivkräfte, mehr als eine bloße »Implosion« von materiellem Reichtum und Wohlstand. Sie erfordern eine Revolution der Produktions- und Tauschverhältnisse, damit sie gerade die Kooperation und Solidarität der Masse der Produzenten und Konsumenten untereinander in Motoren jeder laufenden ökonomischen Tätigkeit verwandeln. Dies muß sich übrigens im jedermann und jederfrau sichtbaren Alltagsleben widerspiegeln im Verschwinden materieller und sozialer Privilegien. All dies ist nicht zu verwirklichen ohne das Absterben der Warenproduktion und der auf ihr begründeten Konkurrenz.
Wir haben nicht die Absicht, hier die sukzessiven Etappen zu beschreiben, in denen dieses Absterben vor sich geht — in der Welt, so wie sie morgen hervorgehen wird aus der verallgemeinerten Umwälzung des Kapitalismus und der von den sogenannten sozialistischen Ländern erreichten gesellschaftlichen Entwicklungsstufe. Wir stellen nicht einmal die Frage, ob derartige »allgemeine« Etappen existieren, oder ob wir uns nicht, beim gegenwärtigen Stand unserer Erkenntnisse, besser damit begnügen sollten, pragmatisch die zu lösenden Hauptprobleme demokratischer und selbstverwalteter Planung zu analysieren, so wie sie entstanden und fortschreitend im Entstehen begriffen sind in den wirklichen Prozessen sozialistischer Revolutionen und allen bürokratischen Deformationen, mit denen diese Revolutionen bisher befleckt sind. Wir haben die Absicht, das Problem in allgemeinster Form zu stellen, in historischem Maßstab, in Anbetracht der entscheidenden Bedeutung, die es in unseren Augen für die Problematik des Sozialismus selbst annimmt.

4. Welche sozio-politischen Kräfte können den Sozialismus einführen?

Der wissenschaftliche Sozialismus ist auf der These begründet, daß die klassenlose Gesellschaft nicht durch bloße »Aufklärung« herbeizuführen ist — durch Erziehung und Propaganda, geleitet von »der Vernunft«, »der Wissenschaft«, »dem Willen zur Emanzipation« oder von edlen (wenn man will: ethischen) Motiven, das Beste für die größtmögliche Zahl menschlicher Wesen zu verwirklichen. Gewiß findet man alle diese Motive bei den sozialistischen Kämpfern, beginnend mit Marx und Engels selbst. Sie sind sogar unabdingbar für jede gefestigte und dauerhafte sozialistische Aktivität. Ohne sozialistische Theorie (Engels hat sogar ausdrücklich von »sozialistischer Wissenschaft« gesprochen) und ohne tiefen Willen zur Emanzipation erscheint das Kommen einer sozialistischen Gesellschaft als unrealisierbar.
Aber diese notwendigen Motive und Antriebe genügen nicht, um den Sieg des Sozialismus zu sichern. Dieser erfordert darüber hinaus die Existenz einer gesellschaftlichen Kraft, deren materielle Interessen zusammenfallen mit dem Projekt der Abschaffung der gesellschaftlichen Klassenspaltung. Er erfordert eine wirkliche gesellschaftliche Aktion dieser Klasse, die, in Abhängigkeit von diesen materiellen Interessen, auf diese Abschaffung gerichtet ist. Sie kann nur Ergebnis der wirklichen Bewegung einer wirklichen Klasse sein,[6] die sich faktisch über alle Hindernisse hinwegsetzt, die das bürgerliche System und die noch bestehenden Reste vorbürgerlicher Systeme auf dem Wege zur Realisierung einer klassenlosen Gesellschaft errichtet haben. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln ist dabei das Haupthindernis, aber keineswegs das einzige.
Diese materialistische Verankerung des alten sozialistischen Projekts ist der Hauptbeitrag von Marx zur Sache des Sozialismus, zum Emanzipationskampf der Produzenten und allgemein der menschlichen Gattung — wobei aber das sozialistische Projekt selbst ebenso alt ist wie die Teilung der Gesellschaft in Klassen, die von der Menschheit niemals als unwiderruflich hingenommen wurde, und gegen die sie sich zu allen Zeiten immer wieder aufgelehnt hat, unabhängig von den relativen Erfolgen oder Mißerfolgen dieser Revolten. Der Beitrag von Marx ermöglichte eine fortschreitende Fusion der wirksamen, bewußt eingegangenen Organisation der Arbeiterklasse (die viel älter ist als der Marxismus) mit dem sozialistischen Projekt; eine Fusion, die ihren Höhepunkt im ersten Drittel dieses Jahrhunderts, in der Periode von 1905-1932, erreicht hat. Seitdem befindet sie sich in einer latenten Krise. Diese Krise äußert sich bisweilen explosiv oder katastrophisch in der Form historischer Niederlagen (Hitler, Stalin). Die Frage ist, ob es sich dabei um konjunkturelle, d.h. historisch vorübergehende Krisen handelt, die von der wirklichen Bewegung der Klasse zu überwinden sind, oder ob es sich um eine strukturelle, historisch irreversible Krise handelt. Politisch-strategisch drückt sich dies in der Frage aus: haben wir die Höhepunkte der proletarischen Revolution, wie Marx und Engels sie auf Grundlage der historischen Analyse des Klassenkampfs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entworfen haben, vor uns oder hinter uns? Dieses Problem unterteilt sich im wesentlichen in folgende Fragen:

  • 1) Verfügt das Proletariat tatsächlich, innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft, die eine bestimmte Schwelle der Industrialisierung überschritten hat, über die ökonomischen, sozialen, psychologischen und moralischen Ressourcen, die für einen siegreichen Kampf gegen die Bourgeoisie nötig sind, und die es gleichzeitig in die Lage versetzen, den Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft mit einem Minimum an Erfolgschancen in Angriff zu nehmen?
  • 2) Erhalten sich diese Ressourcen in demselben Maße, wie der Kapitalismus den Höhepunkt seines weltweiten Aufblühens überschreitet und die Krise des Systems sich entwickelt? Oder beginnen diese Ressourcen ihrerseits, als Begleiterscheinung der fortschreitenden Auflösung der kapitalistischen »Zivilisation«, zu zerfallen?
  • 3) Sind wir konfrontiert mit einer außerordentlichen historischen Sackgasse, charakterisiert durch die Tatsache, daß das Proletariat ökonomisch (materiell) noch fähig ist, die Welt zum Sozialismus zu führen, daß aber die sozialen, psychologischen und moralischen, d.h. subjektiven Hindernisse auf diesem Weg sich zunehmend als unüberwindlich herausstellen?

Zu diesen Hindernissen, die natürlich alle auf der politischen Ebene zum Ausdruck kommen, gehört vor allem die Spaltung des Proletariats (seine Unfähigkeit, die Partikularität der Interessen auf beruflicher, betrieblicher, regionaler, nationaler oder ethnischer Ebene zu überwinden, die durch die Segmentierung des »Arbeitsmarkts« unter dem Kapitalismus kräftig stimuliert werden und in manchmal sehr hohe Lohnunterschiede einmünden). Dazu gehört auch die relative Autonomie des Faktors »Führung«, die ihrerseits die Diskontinuität der politischen Aktivität verschiedener Schichten des Proletariats, ihre unterschiedlichen Ebenen von Bewußtsein und Organisation widerspiegelt: Das Aufkommen von Funktionärsapparaten innerhalb der Arbeiterorganisationen, ihre relative Autonomie im Verhältnis zur Masse (ihre Bürokratisierung), die Aneignung materieller Privilegien durch diese Apparate, all das erzeugt die Tendenz, die Verteidigung dieser Privilegien und des sie begründenden Monopols organisatorischer und politischer Macht dem Interesse der Klasse insgesamt zu substituieren.

Die Antwort auf die erste Frage ist, im Lichte der empirischen Gegebenheiten, die einfachste. Die Geschichte des Wachstums und der Ausdehnung des Kapitalismus im internationalen Maßstab seit der industriellen Revolution oder seit dem Zeitpunkt, wo Marx und Engels das Kommunistische Manifest verfaßten, ist gleichzeitig die Geschichte des Wachstums und der Ausdehnung der Arbeiterklasse, der Selbstorganisation und des Klassenkampfes der Arbeiter, die den Kapitalismus unvermeidlich begleiten. Von allen Voraussagen von Marx ist diese historisch am eklatantesten bestätigt worden. In den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gab es in der Welt nicht mehr als 100 oder 200 000 Gewerkschaftsmitglieder; heute sind es über 200 Millionen. Keine entlegene Insel im Pazifik, kein noch so abgelegenes Dorf im Amazonasgebiet oder in den tropischen Wäldern Afrikas mit einem vom Kapital angelegten Hafen, einer Montagewerkstatt, einer Handelsniederlassung oder einer Bank, wo nicht früher oder später die so zusammengebrachten Lohnarbeiter sich kollektiv zusammenschließen und mit den Bürgern um die Aufteilung des Nettoprodukts auf Löhne und Profit streiten.
Allen Kassandrarufen zum Trotz hat diese Masse städtischer Lohnabhängiger (in die man natürlich die der sogenannten sozialistischen Länder einschließen muß) keineswegs aufgehört, im Weltmaßstab anzuwachsen. Ihre Zahl erreicht heute, mitten in der Krise, den absoluten Höchststand von 750 Millionen, bei weitem mehr als 1914, 1940 oder 1968 (wenn man die Landarbeiter hinzunimmt, kommt man über 1 Milliarde). Sie nimmt weiterhin zu, sowohl absolut wie in ihrem Anteil an der aktiven Bevölkerung insgesamt. In Ländern wie den USA, Schweden oder Großbritannien übersteigt der Anteil der Lohnabhängigen bereits 90% der aktiven Bevölkerung; die Zahl dieser Länder steigt tendenziell an. Mehr denn je ist diese ungeheure Masse objektiv in der Lage, die Produktions- und Tauschmittel selbst in die Hand zu nehmen, die sie tagtäglich in Bewegung setzt, und sie in Abhängigkeit von bewußt und frei gewählten Kriterien und Prioritäten zu verwalten.
Wenn wir von »bewußt und frei gewählten Kriterien und Prioritäten« sprechen, betonen wir damit eine außerordentliche Dimension der sozialistischen Revolution und des Aufbaus des Sozialismus, die diese Revolution von allen früheren sozialen Revolutionen in der Geschichte unterscheidet: die Schlüsselrolle des subjektiven Faktors, des Faktors »Bewußtsein« und folglich des Faktors Politik für das Beginnen des Sozialismus. Aus diesem Grunde verweist die erste Frage zum Teil auf die dritte. Oder genauer: dies ist der Grund, warum man die objektiven, ökonomisch-sozialen Vorbedingungen des Sozialismus unterscheiden muß von seinen subjektiven, politisch-sozialen Vorbedingungen. Die erste Frage muß deshalb reformuliert werden. Der Sozialismus ist kein automatisches, schicksalhaftes Resultat der Blüte und anschließenden Krise des Kapitalismus und der dadurch erzeugten Klassenkämpfe. Er ist nur eines von zwei möglichen Resultaten, wobei das andere, wie Engels es im Vergleich mit dem durch die antike Sklavenhaltergesellschaft bekannten Schicksal präzisiert hat, der parallele Zerfall der beiden Grundklassen der Gesellschaft ist.
Die erste Frage lautet dann, korrekt formuliert: Haben die Entwicklung und die anschließende Krise des Kapitalismus ein revolutionäres Potential des Proletariats schaffen und aufrechterhalten können, das es ihm erlaubt, den Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft periodisch (wenn die subjektiven Hindernisse momentan überwindbar sind) durch seine wirkliche Bewegung auf die Tagesordnung zu setzen?
Die Geschichte hat diese Frage positiv beantwortet; sie beantwortet sie weiterhin positiv. Es genügt, als letzte hervorstechende Äußerungen der »wirklichen Bewegung der Klasse« in diese Richtung an den Mai 1968 in Frankreich, den »heißen Sommer« 1969 in Italien, die portugiesische Revolution von 1974-75 und an den Aufschwung der Solidamosc 1980-81 in Polen zu erinnern, um die Beständigkeit dieses historischen Potentials zu unterstreichen — trotz der manifesten Krise der organisierten Arbeiterbewegung seit einem halben Jahrhundert (eine im Weltmaßstab evidente Krise, die aber nationale Siege nicht verhindert hat — wie den Sieg der jugoslawischen Revolution, der durch die Bewegung zur Arbeiterselbstverwaltung gestärkt wurde. Diese Siege bleiben indessen partiell, beschränkt und widersprüchlich, und zwar genau im Rahmen dieser allgemeinen Krise).
Die Antwort auf die zweite Frage ist umstrittener, aber nach unserer Auffassung nicht weniger klar, da sie nicht auf einem dogmatischen »Glauben« fußt, sondern auf solidem Studium der Tatsachen in ihrer Gesamtheit. Sie hängt weitgehend ab von der Definition des Proletariats und der Art seines »revolutionären Potentials«, d.h. von seiner Fähigkeit zur Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft, die in dieser Definition enthalten ist.
Das »revolutionäre Potential« des modernen Proletariats beruht im wesentlichen auf den objektiven Bedingungen der Konzentration, Vergesellschaftung und Kooperation, die sich aus der Arbeit ergeben, und auf demTransfer dieser schlagkräftigen Organisations- und Kooperationsfähigkeiten durch handelnde, freiwillige und bewußte Solidarität in die Sphäre der Selbstemanzipation, d.h. in die Organisationen und Kämpfe, die das Proletariat zur Verteidigung seiner Interessen entwickelt. Es hat die objektive Macht desselben Proletariats zur Folge, den ökonomischen und sozialen Gesamtmechanismus der gegenwärtigen Welt lahmzulegen und anschließend unter seiner eigenen Leitung und zu seinen eigenen Zwecken wieder in Gang zu setzen.
Eine Analyse dieser Bedingungen zeigt schnell, daß dabei nichts eng und ausschließlich abhängt von der besonderen Eigenschaft des Handarbeiters in der großen Industrie (ohne deswegen zu leugnen, daß die industrielle Konzentration offensichtlich die günstigsten Bedingungen für die Entwicklung der oben genannten Fähigkeiten schafft). Die wesentliche Eigenschaft ist dagegen die der Lohnabhängigkeit, d.h., in der klassischen marxistischen Definition, der ökonomische Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft, dem das Individuum sich unterworfen sieht (die Gesamtheit der Individuen, die die proletarische Klasse bilden).
Die Reproduktion des ökonomischen Zwangs hat nichts damit zu tun, ob die Löhne hoch oder niedrig sind (d.h. daß die Löhne nie ein Niveau erreichen, das es möglich macht, einen größeren Teil davon zu sparen und Produktionsmittel zu erwerben, oder sogar ein Kapital zu akkumulieren). Sie hat ebenso wenig zu tun mit der Art der Arbeit — mit Hand- oder Kopfarbeit, für den Mehrwert »produktiver« oder »unproduktiver« Arbeit —, insofern die historische Tendenz in Richtung Konzentration geht (Beispiel dafür ist die stark zunehmende gewerkschaftliche Organisation der Beschäftigten von Warenhäusern, Versicherungsgesellschaften etc.). Was die Fähigkeit angeht, die bürgerliche Gesellschaft lahmzulegen, so ist diese bei den Arbeitern in der Energiewirtschaft, dem Fernmeldewesen oder den Banken nicht weniger vorhanden als bei den Arbeitern in der Stahl- oder Automobilindustrie.
Wie groß auch, weltweit betrachtet, das Gewicht des industriellen Handarbeiter-Proletariats sein mag (ob relativ zu- oder abnehmend, ist zur Zeit keineswegs entschieden) — das Gewicht des Proletariats insgesamt, wie wir es definiert haben, nimmt unbestreitbar zu, trotz der lang anhaltenden Depression und gerade auf Grund der von ihr stimulierten Umwälzungen. Wir erleben nicht den Beginn der »nachindustriellen Gesellschaft«. Vielmehr erleben wir, besonders auf dem Wege der Mikroelektronik und der Informatik, die fortschreitende Industrialisierung und Mechanisierung der Dienstleistungen und der Industriearbeit. Der Vorstellung, daß dies in eine ungeheure Dekonzentration der Arbeit münden wird (sogar der Arbeit und des Kapitals, indem der kleine Familienbetrieb in großem Maßstab wieder auftaucht), widersprechen alle langfristigen Statistiken. Diese Dekonzentration ist in denjenigen Sektoren, die eine Vorreiterrolle spielen, ein klassisches Übergangsphänomen, wenn man berücksichtigt, daß der Kleinbetrieb und der einzelne Unternehmer die Rolle der Innovation und des Experiments spielen. Sobald aber der Erfolg gewährleistet ist, setzt sich die Konzentration durch. Der Heimcomputer-Sektor hat dies gerade, in den USA wie in Großbritannien und Japan, zu spüren bekommen.
Die kapitalistische Krise ruft also zur Zeit keineswegs den Zerfall des Proletariats hervor (sie verdeutUcht die Gefahren seiner Aufspaltung in diejenigen, die weiterhin eine Beschäftigung haben, und diejenigen, die arbeitslos sind; das ist aber so alt wie der Kapitalismus, und die Arbeiterbewegung kann und muß darauf antworten mit dem Kampf für eine neue, radikale Arbeitszeitverkürzung). Das Proletariat bleibt das »antikapitalistische Subjekt«, das »sozialistische Subjekt« par excellence. Die Geschichte reproduziert innerhalb der »neuen« Schichten des Proletariats, bisweilen mit beunruhigendem Tempo, genau die gleichen, es dem Sozialismus »verfügbar« machenden Eigenschaften, wie Marx sie im ersten Band des Kapital dargelegt hatte.
Nicht zufällig konzentriert sich daher die wirkliche Problematik in der dritten Frage. Die Herstellung der subjektiven Bedingungen für den Beginn des Sozialismus, vor wie nach der Umwälzung des Kapitalismus, erweist sich als das, was bei weitem am schwierigsten zu verwirklichen ist.
Diese Feststellung hat als solche nichts Überraschendes. Die proletarische soziale Revolution ist die erste in der Geschichte, die das Schicksal der Gesellschaft in die Hände einer Klasse legen muß, die bis zum Tag ihres Sieges (wenn nicht noch für eine erkleckliche Zeit nach diesem Tag) eine ökonomisch und kulturell abhängige und ausgebeutete (unterdrückte) Klasse bleiben wird. Wenn alle vorhergehenden sozialen Revolutionen die Machtübertragung an eine Klasse möglich machten, die bereits die ökonomische und die daraus resultierende ideologische Hegemonie erobert hatte, so ist es eine gänzlich utopische Annahme, das Proletariat könne die ökonomische Vorherrschaft innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft erobern. Noch utopischer ist es, anzunehmen, es könne die ideologische Hegemonie erobern, solange es vom ökonomischen Standpunkt weiterhin ausgebeutet und abhängig ist.
Infolgedessen beschränken die Folgen seiner ökonomischen und ideologischen Abhängigkeit fortwährend das Potential der Selbstorganisation, Kooperation und Klassensolidarität, die übrigens Ergebnis derselben Existenzbedingungen des Proletariats innerhalb der bürgerüchen Gesellschaft sind. Das Aufeinanderstoßen beider Tendenzen ergibt einesteils die Alltagsroutine des proletarischen Lebens, mit der Tendenz zur Anpassung, zum tagtäglichen »Realismus« und zum Reformismus, andererseits den periodischen Durchbruch zu den großen Klassenauseinandersetzungen (Massenstreiks, Generalstreiks, politische Krisen, vorrevolutionäre Krisen, revolutionäre Situationen), in denen plötzlich der Umsturz des Kapitalismus kurzfristig möglich wird. Auf dieser Dialektik, die selbst noch grundlegender bedingt ist durch eine Dialektik des »objektiven und des subjektiven geschichtlichen Faktors«, wurzeln die großen Zyklen des proletarischen Klassenkampfs seit dem Ende des 19. Jahrhunderts (oder, wenn man will, seit den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts), die je nach Weltregion, ja sogar von Land zu Land, verschieden sind, die sich aber gleichwohl in großen historischen Tendenzen zusammenfassen lassen.
Eine erste allgemeine Aufstiegstendenz mündet in die Revolution von 1848 und ihre Niederlage, der ein langer Niedergang und dann ein langsamer Wiederanstieg folgt, unterbrochen durch den Sieg und die anschließende Niederlage der Pariser Kommune. Ein zweiter allgemeiner Aufstieg seit den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts hat den Sieg der russischen Revolution von 1917 zum Höhepunkt, dem die Niederlage der Revolution von 1919-1923 in Mitteleuropa folgt, wobei diese Niederlage das Schicksal der ersten Revolution »überdeterminiert«. Dieser zweite Aufstieg führt zu einem Rückgang und dann zu einer Serie immer schwererer Niederlagen (Japan, Deutschland, Spanien), die einmündet in den Zweiten Weltkrieg und die Ausbreitung des Faschismus auf fast den gesamten europäischen Kontinent, von Gibraltar bis zu den Toren von Leningrad, Moskau und Stalingrad. Dann setzt, durch den antifaschistischen Widerstand und den Wiederaufstieg des revolutionären Kampfes, eine neue Welle ein, die ihren Höhepunkt mit dem Sieg der jugoslawischen und chinesischen Revolution erreicht, die aber geprägt ist durch schwere Niederlagen in Westeuropa, den USA und Japan (Stabilisierung des Kapitalismus, McCarthyismus, Kalter Krieg). Der Niedergang ist dieses Mal nicht allgemein, denn, gespeist von der anti-imperialistischen Befreiungsbewegung, breitet sich die Revolution weiter aus nach Indochina, Kuba, Nicaragua. Aber in der nördlichen Hemisphäre ist er zumindest während zweier Jahrzehnte ein wirklicher Rückgang, um dann einzumünden in ein Wiederaufleben der Welle seit 1968, aber ohne revolutionäre Siege — was sich nachteilig auf die Kräfteverhältnisse im Weltmaßstab auswirkt, ebenso wie die lange Passivität des amerikanischen und sowjetischen Proletariats sich darin bemerkbar macht.
Diese Dialektik von Alltagsroutine und periodischem revolutionären Durchbruch verweist aber ihrerseits auf die Dialektik »Massen/Führungskader« oder, genauer gesagt, auf die Dialektik »wirkliche Bewegung der Klasse/politischer Ausdruck derselben«. Und das Faktum der Erkenntnis, daß das Proletariat in der Lage ist, periodisch die subjektiven Hindernisse auf dem Wege des Sozialismus zu überwinden, mindert in keiner Weise die Wichtigkeit der Erkenntnis, daß die Krise der Praxis der organisierten Arbeiterbewegung (ihrer sozialdemokratischen Abzweigung nicht weniger als ihrer stalinistischen) eine der markanten Tatsachen der Geschichte der letzten 50 Jahre ist. Sie lastet schwer auf der Möglichkeit, den weltweiten Sieg des Sozialismus am Ende des 20. Jahrhunderts zu sichern.
Dies um so mehr, als diese Krise sich zunehmend verbindet mit einer Krise der Praxis des sogenannten »sozialistischen Aufbaus« in den Ländern, die den Kapitalismus abgeschafft haben — genauer gesagt, mit einer Krise der ökonomischen, politischen, kulturellen, sozialen Leitungsmodelle, die in diesen Ländern aufgetaucht sind. Diese Krise überlagert sich mit der des Kapitalismus und derjenigen der Praxis der organisierten Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Ländern, insofern, als sie objektiv Zweifel, Skepsis und Demoralisierung bei den Ausgebeuteten und Unterdrückten sät, nicht nur was die »Sozialismusmodelle« betrifft, sondern vor allem, was die historische Fähigkeit der Lohnabhängigen zur Selbstemanzi-pation betrifft. Diese neuen Hindernisse können nur durch das Leben, durch neue geschichtliche Erfahrungen überwunden werden (obwohl die theoretischen Beiträge entscheidend bleiben, um diese vorzubereiten).
Zum Glück tauchen neue »Modelle« unvermeidlich aus der »wirklichen Bewegung« auf, wie im Falle des Mai 1968 und der Solidarnosc. Und diese »neuen Modelle« fügen sich immer ein in die gleiche historische Tendenz der Selbstorganisation und Selbstverwaltung.
In dem Maße, wie ihre Kräfte und Erfahrungen im Alltagsleben weiterhin zunehmen (ökonomische Streiks, Wahlen, Kämpfe für demokratische Reformen), mündet die wirkliche Bewegung der Klasse weiterhin periodisch in explosive Krisen der bürgerlichen Gesellschaft und Chancen zu radikalen Durchbrüchen, auf die sich die Sozialisten vorbereiten müssen und auf die sie die Massen vorbereiten müssen, indem sie bei diesen Gelegenheiten die Kühnheit und die entscheidende Rolle der revolutionären Initiative zeigen, die Marx und Engels unermüdlich hervorgehoben haben. Im weltweiten Maßstab ist all das mehr denn je möglich, ja sogar, zumindest in seinen anfänglichen Phasen, unvermeidlich. Die glauben, daß der »Revolutionszyklus« abgeschlossen ist, werden von der Geschichte die Widerlegung erhalten, die sie verdienen. Unter demselben Zeichen, unter dem das 20. Jahrhundert 1905 begonnen hatte, als das Jahrhundert der Revolutionen und Konterrevolutionen, wird das 20. Jahrhundert enden und das 21. Jahrhundert beginnen.
Das Proletariat kann sich dabei weltweit auf zwei große Verbündete stützen: auf die übermäßig ausgebeutete Bauernschaft der »Dritten Welt« — das Arbeiter- und Bauernbündnis war die treibende Kraft für den Sieg der jugoslawischen, chinesischen, indochinesischen, kubanischen, nicaraguanischen Revolution —, die oftmals durch eine mächtige anti-imperialistische Bewegung der nationalen Befreiung angespornt wird; und auf die neuen sozialen Bewegungen, entstanden aus einem massenhaften Aufbegehren gegen uns bedrohende (atomare, ökologische) Katastrophen oder gegen Situationen verschärfter Unterdrückung (Frauenbewegung), die weitere Schichten umfassen als das eigentliche Proletariat. Diese Bewegungen weisen ein äußerst machtvolles und vorwärtstreibendes antikapitalistisches Potential auf, das sich aus der Analyse der Bedingungen ergibt, die die Alternative »Sozialismus oder Tod« wirklich machen. Dieses Potential wird aber nur freigesetzt werden, soweit es der Arbeiterbewegung gelingt, alle diese Bewegungen um klare antikapitalistische Ziele herum zu vereinheitlichen — ohne den Versuch, sie zu kastrieren, ohne ihnen ihre Autonomie zu nehmen, ohne sie in Stützpunkte einer Politik zu verwandeln, die einen bloßen Druck zur »Anpassung« auf den Kapitalismus ausübt.
Der Sozialismus wird weder durch einen Weltkrieg triumphieren (eine monströse Absurdität) noch als Folge einer eklatanten ökonomischen Überlegenheit des »sozialistischen Lagers« über das »kapitalistische Lager« (eine in naher Zukunft schwer vorstellbare Eventualität). Er wird auf die Weise triumphieren, die Marx und Engels vorhergesehen hatten: durch das übergreifende Anwachsen der »wirklichen Bewegung« der Emanzipation der Lohnabhängigen der wichtigsten Länder der Welt in Richtung auf die Eroberung der politischen Macht, die zusammenfällt mit der Übernahme der Produktions- und Tauschmittel durch die assoziierten Produzenten, unter einer Regierungsform des politischen Pluralismus und der demokratisch geplanten Selbstverwaltung. Dieses übergreifende Wachstum wird Ergebnis einer Abfolge (und Verbindung) von ökonomischen, sozialen, politischen Krisen sein, die die bürgerliche Gesellschaft selbst produziert. Sie wird sich verknüpfen mit dem Aufleben der Emanzipationsbewegung der Produzenten in den sogenannten sozialistischen Ländern, die in Richtung auf die wirkliche Arbeiterselbstverwaltung (eine von den Arbeitern kontrollierte und geleitete Planung und Verteilung des Sozialprodukts) und den politischen Pluralismus geht, d.h. auf die Ausübung der demokratischen politischen Macht durch die Masse der Produzenten selbst, ohne welche die Arbeiterselbstverwaltung zum großen Teil ihres Inhalts entleert bleibt. Das heißt, daß die Chancen des Sozialismus unvermindert bleiben. Der Einsatz ist gewaltig. Die Schwierigkeiten dürfen nicht unterschätzt werden. Aber mehr als jemals bleibt es die einzige unserer Gattung würdige Bestrebung, sein Leben der Emanzipation aller Ausgebeuteten und aller Unterdrückten zu widmen, der Schaffung einer Gesellschaft ohne Klassen und ohne staatlichen Zwang.
Aus dem Französischen von Thomas Laugstien

Autor(en)