Ich bin für absolute Demokratie!
Aber Demokratie und Vernunft sind manchmal unterschiedliche Dinge.
Alle Reformen der Frau Kollontai werden auf Kosten der einfachen
Russen gemacht, das Volk muß für diese 'Experimente' bitter bezahlen.
( ... ) Diese Frau Kollontai pflanzt die einfachen Büroangestellten
in die Sessel, fordert sie auf, an Sitzungen teilzunehmen.
Unmöglich! Was verstehen diese Leute denn schon
von sozialer Reform oder Ausbildungsmaßnahmen.
Die Welt steht Kopf. Das ist es![1]
Die Gräfin Panina über Alexandra Kollontai
Der lange Aufschwung der revolutionären Bewegung in Rußland, der mit dem Putschversuch der "Dekabristen" beginnt und bis zur Konsolidierung des Stalinismus reicht, ist außerordentlich reich im Hinblick auf die Beteiligung von Frauen. Diese Bewegung, die aufgrund ihrer Illegalität nach sehr strengen Regeln funktionieren mußte, wurde bis zu den Revolutionen von 1905 und 1917 von Aktivisten geführt, die zum größten Teil aus der Mitte der unterdrückenden Klassen kamen. Man kann sogar behaupten, daß es zumindest in der Endphase keine Familie in der herrschenden Klasse gab, die nicht ein oder mehrere "schwarze Schafe" unter ihren Mitgliedern gezählt hätte. Darunter befand sich in der Regel auch mindestens eine Frau, die mit dem konservativen Umfeld gebrochen hatte, um sich in ein unsicheres revolutionäres Abenteuer zu stürzen, das gleichbedeutend war mit schwieriger Arbeit im Untergrund und fast unumgänglich Gefängnis, Folterungen, Verbannung nach Sibirien oder im besten Fall das Exil in Westeuropa oder Nordamerika nach sich zog. Dort kamen die Exilanten mit der westlichen Kultur, vor allem aber mit der organisatorisch fortgeschritteneren westlichen Arbeiterbewegung in Kontakt.
In den meisten Fällen muß die Geschichte dieser Frauen noch geschrieben werden. Während ihres Aufenthaltes in Sowjet-Rußland verfasste die Gefährtin von John Reed, Louise Bryant, "Reportagen aus dem Roten Oktober",[2] in denen auch den Frauen ein breiteres Augenmerk geschenkt wird. Ihr war aufgefallen, daß die Frauen vor allem in der Februarrevolution eine wesentliche und vielleicht sogar initiierende Rolle gespielt haben. Trotzki schildert, daß noch einen Tag zuvor niemandem in den Sinn gekommen wäre, daß der "Frauentag (der 23. Februar nach dem alten Kalender) zum ersten Tag der Revolution werden sollte. Denn keine einzige Organisation hatte zu Streiks aufgerufen. "Am anderen Morgen jedoch traten den Direktiven zuwider die Textilarbeiterinnen einiger Fabriken in den Ausstand und entsandten Delegierte zu den Metallarbeitern mit der Aufforderung, den Streik zu unterstützen."[3] Die Februarrevolution hatte begonnen.
Mehr noch als die Männer benötigten die russischen Frauen eine grundlegende Veränderung. Sie waren immer die Sklavinnen der Sklaven gewesen. Noch im 20. Jahrhundert erkannte die zaristische Gesetzgebung den Männern das Recht zu, ihre Frauen zu mißhandeln. Die kulturelle Rückständigkeit, die patriarchalische Unterdrückung und die Verständnislosigkeit der revolutionären Bewegung den Frauen gegenüber bildeten den Hintergrund, weshalb die Eingliederung von Frauen in den Kampf erst spät erfolgte und sie lange eine untergeordnete Rolle spielten. In Rußland bestanden zu keiner Zeit auch nur im Ansatz demokratische Freiheitsrechte, die die Bildung von Frauenorganisationen über einen längeren Zeitraum hinweg ermöglicht hätten. So konnten sich auch kaum Kader ausbilden, die später die Kontinuität der Frauenforderungen aufrechterhalten hätten.
Die Revolutionen, der Bürgerkrieg, der Aufstieg der Bürokratie, die schwindelerregende Überstürzung der Ereignisse ließen es nicht zu, daß die großen Ideen, die von mehreren Generationen russischer revolutionärer Frauen entwickelt worden waren, angefangen von den Nihilistinnen bis zu den Bolschewikinnen, sich in stabilen Frauenorganisationen verfestigen und in der Praxis zur Anwendung kommen hätten können. Aus diesen Gründen zeichnet sich die revolutionäre Geschichte der Frauen durch große Individualistinnen aus, durch so legendäre Figuren wie die Volkstümlerinnen Maria Spiridonowa und Vera Figner, die Menschewistin Vera Sassulitsch, die Bolschewikinnen Alexandra Kollontai, Angelica Balabanoff, Larissa Reissner, Nadjeschda Krupskaia, Inessa Armand, Elena Stasowa, Eugenia Bosch und viele andere.
Über die Mehrzahl dieser Frauen gibt es wenig brauchbare Unterlagen, um ihre Geschichte genauer erzählen zu können. Wir beschränken uns hier auf die beiden Frauen, die die Theorie und Praxis der Frauenbewegung am meisten befruchtet haben.
1. Alexandra Kollontai: Von der Revolutionärin zur Diplomatin
Zweifellos hat keine der Frauen, die in der Oktoberrevolution eine führende Rolle gespielt haben, eine solche internationale Reputation erlangt wie Alexandra Kollontai. Jacques Sadoul hat sie einmal "die bolschewistische Egeria* (*Römische Göttin der Liebe und Fruchtbarkeit) der freien Liebe" genannt. Diese Popularität beruht besonders auf der großen Bedeutung ihrer feministischen Schriften, ihrer Rolle an der Spitze der nur kurze Zeit existierenden "Arbeiteropposition", vor allem aber auf der Tatsache, daß sie die qualifizierteste weibliche Repräsentantin des triumphierenden Bolschewismus (die Rechte sah sie als die "schwarze Bestie" an) war und als solche ihre Kandidatin mit dem größten Prestige. (Auf der Liste für die Konstituierende Versammlung hatte sie den dritten Platz inne.) Sie wurde die erste Ministerin der modernen Geschichte. Außerdem spiegelt sich in ihrer Karriere das Problem der Bürokratie, die sie zuerst "mit Tränen" bekämpfte, von der sie sich aber schließlich als Botschafterin ins Ausland abschieben ließ.
In einer Art schriftlichen Bilanz ihres Lebens, die sie im Alter aufschreibt, sieht sie ihr politisches Leben so:
- "Mein erster Beitrag ist natürlich das, was ich auf dem Gebiet des Kampfes für die Befreiung der werktätigen Frauen und bei der Durchsetzung ihrer Gleichberechtigung in allen Bereichen der Arbeit, der staatlichen Tätigkeit, der Wissenschaft und dergleichen mehr geleistet habe. Dabei habe ich den Kampf für die Befreiung und die Gleichberechtigung der Frau stets in untrennbarem Zusammenhang mit der zweifachen Aufgabe der Frau als Staatsbürgerin und Mutter gesehen. (...) Mein zweiter Beitrag zum Kampf für den Aufbau der neuen Gesellschaft ist meine internationale Arbeit, die Agitation und Propaganda in vielen Ländern, hauptsächlich aber während des ersten imperialistischen Krieges in den Vereinigten Staaten von Amerika, die Arbeit auf Lenins Weisung, die Loslösung der Linken von der II. Internationale und die Vorbereitung der III. Internationale. ( ... ) Mein dritter Beitrag zur Politik der Stärkung der Sowjetunion ist meine diplomatische Tätigkeit in der Zeit von 1922 bis März 1945 ."[4]
Vielleicht im Einverständnis mit Voltaire, der behauptet, daß "die Eigenliebe das ganze Leben andauert", schrieb Alexandra Kollontai ihre Geschichte gemäß den Erfordernissen der offiziellen Geschichtsschreibung um. Sie präsentierte sich nicht mehr als sexuell emanzipierte Frau oder als Nonkonformistin innerhalb des marxistischen und bolschewistischen Lagers. Aber sie erwähnt Stalin überhaupt nicht, was ungefähr auf das gleiche hinausläuft, als würde man in einer Arbeit über Athen vom Jahrhundert des Perikles sprechen, ohne diesen Mann selbst zu erwähnen. Sie stellte sich unter den Schutz Lenins, mit dem sie in vielem gleicher Meinung war, aber auch ihre scharfen Auseinandersetzungen hatte. Sie paßte schließlich ihren "Feminismus" der offiziellen Version des Staates an. Die Frau hat Bürgerin und Mutter zu sein.
Es braucht keine besondere Scharfsicht, um den tiefen Bruch zwischen der "Bolschewistin der freien Liebe" und der Diplomatin zu erkennen. Sie sagt selber dazu
- "Im Grunde habe ich nicht nur ein Leben, sondern viele Leben gelebt, so sehr unterschieden sich die einzelnen Abschnitte voneinander. Es war kein leichtes Leben, ich war nicht auf Rosen gebettet, wie man in Schweden zu sagen pflegt. In meinem Leben hat es alles gegeben Erfolge, ungeheuer viel Arbeit, Anerkennung, Beliebtheit bei den Massen, Verfolgung, Haß, Gefängnisse, Mißerfolge und mangelndes Verständnis für meine Grundidee (in der Frauenfrage und beim Problem der Ehe), viele schmerzliche Diskrepanzen mit Genossen, Meinungsverschiedenheiten mit ihnen, aber auch lange Jahre einträchtiger und harmonischer Arbeit in der Partei (unter der Führung Lenins)."***182.11.5**
Aus ihrer Autobiographie erfahren wir nichts Genaueres über die Reichweite der Konflikte, die sie erlebte, aber einiges deutet sie an. Die einzelnen Lebensabschnitte werden immer wieder durch Sprünge und Auslassungen unterbrochen. Man könnte ihr Leben in eine ganze Reihe von Abschnitten aufteilen, doch müssen zwei völlig unterschiedliche Lebensabschnitte unterschieden werden. Der erste reicht vom Beginn ihrer politischen Tätigkeit bis 1922, in den alle ihre wichtigen Beiträge zum feministischen Sozialismus und zur marxistischen Politik (und die bedeutsamen historischen Höhepunkte 1903, 1905, 1914, 1917, 1919) fallen. Der zweite wäre völlig unerheblich ohne den ersten, denn kein Historiker hätte jener unscheinbaren und einfachen Diplomatin Aufmerksamkeit geschenkt, außer vielleicht im Hinblick auf ihre Rolle bei einigen wichtigen Ereignissen (der Ausweisung Trotzkis aus Norwegen, die Verhandlungen mit den Finnen während des Zweiten Weltkriegs, die Kandidatur für den Friedensnobelpreis 1943 usw.). Vielleicht ist das einzig Besondere in dieser Zeit an ihr, daß sie eine traurige Ausnahme darstellt: Sie ist die einzige Führerin der alten bolschewistischen Garde, die Stalins 'Fegefeuer' überlebt hat, obwohl sie einer oppositionellen Gruppierung angehörte.
Alexandras Leben beginnt am 19. März 1872 in der Hauptstadt des russischen Reiches St. Petersburg. Ihre Eltern gehören zur oberen Mittelklasse, ihr Vater war Berufsoffizier und die Mutter Tochter eines begüterten Bauern. Die militärischen Verpflichtungen des Vaters führten die Familie an die verschiedensten Orte, darunter nach Bulgarien und Finnland, die damals unter dem zaristischen Joch standen. Aufgrund ihrer Reisen, ihrer Aufenthalte im Exil und auch ihrer fundierten Bildung wird Alexandra Kollontai Internationalistin und organisiert sich in der II. Internationale.
Ihre Eltern gehörten politisch eher zur liberalen Strömung in Rußland. Als konstitutionelle Demokraten identifizierten sie sich mit der Monarchie nach englischem Muster und verabscheuten die Exzesse der zaristischen Diktatur. Ihre politische Haltung war allerdings völlig passiv; sie reagierten auf die Hinrichtung Alexanders II. im Jahre 1881 mit Befriedigung, hätten aber selbst nie das Gesetz übertreten. Ihre gemäßigte Haltung zeigte sich auch in der Erziehung ihrer Tochter: Sie hatten völlig herkömmliche Ansichten und versuchten sogar, sie vor der revolutionären 'Ansteckung' in der Schule zu bewahren. Sie stellten eine Kinderfrau ein, die sie zuhause erziehen sollte. Doch diese Frau sympathisierte mit den Volkstümlern und übertrug diese Haltung auf die junge Alexandra M. Domontowitsch.
Während die Eltern eine gute, gesellschaftlich hochstehende Partie für sie aussuchten, träumte sie von der großen Leidenschaft. Deswegen lehnte sie alle vom Vater vorgestellten Heiratskandidaten ab und bestand darauf, sich den Ehemann selber auszusuchen. Ihre Wahl traf auf ihren Cousin Kollontai, der gesellschaftlich eine Stufe unter ihr stand. Der Gatte scheint zwar ein liebevoller Ehemann gewesen zu sein, aber nicht Alexandras Träumen entsprochen zu haben. Sie versuchte sich als Schriftstellerin, schrieb einen Roman und schickte ihn an Wladimir Korolenko - einem berühmten Volkstümler, dem es gefiel, jungen Talenten zu helfen und der auch den jungen Gorki betreut hatte. Sie erhielt die Antwort, der Roman sei schlecht, sie solle jedoch in ihrer Arbeit fortfahren. Herr Kollontai sah in den Versuchen seiner Frau ein nutzloses Unterfangen, das er mit Herablassung und ironischem Spott akzeptierte. Der nächste Schritt jedoch war die Lektüre von gegen die Regierung gerichtetem Propagandamaterial, was die Spannungen in der Ehe verschärfte. Nach fünf Ehejahren verließ Alexandra Kollontai 1898 schließlich ihren Mann, übergab ihr Kind den Eltern und widmete sich der politischen Tätigkeit.
Obwohl sie zuerst von den Volkstümlern beeinflußt war, nahm sie zu marxistischen Propagandakreisen Kontakt auf, die bei der aktiven Opposition schon Ende des 19. Jahrhunderts über ein beträchtliches Ansehen verfügten. ihre literarische Bildung half ihr weiter; bald schon gab sie Unterricht in Arbeiterbildungszentren und nahm an den intellektuellen Debatten teil, die in den großen Villen der liberalen Opposition stattfanden. In der Villa der Familie Elena Stassowas erfuhr sie von der Existenz einer Bewegung, die den Marxismus revidieren wollte. In Rußland sind es die Illegalen Marxisten", die davon ausgehen, daß Rußland zuerst gründlich modernisiert werden müsse, bevor an den Aufbau des Sozialismus zu denken sei. Sie neigt eher zu den Radikalen, möchte sich aber weiterbilden und geht 1898 ins Ausland.
Ihre erste Station ist die Schweiz, wo sie in Zürich ein Studium,der Wirtschaftswissenschaften beginnt. 1901 begibt sie sich wieder nach Westeuropa, reist in die Schweiz und nach Frankreich. Dort wird sie entscheidend von der Frauenbewegung und den Arbeiten Clara Zetkins beeinflußt. Sie lernt auch alle führenden Sozialdemokraten kennen, die am "Revisionismusstreit" beteiligt sind. Bernstein lehnt sie ab, sie steht zuerst Kautsky nahe und später Rosa Luxemburg. "Ich ( ... ) begeisterte mich für Kautsky und las von A bis Z die von ihm herausgegebene Zeitschrift Die neue Zeit sowie die Aufsätze von Rosa Luxemburg, namentlich ihre Broschüre Sozialreform oder Revolution, in der sie die opportunistische Theorie Bernsteins restlos widerlegte."
Als sie Ende 1899 nach Rußland zurückkehrte, trat sie in die neugegründete Sozialdemokratische Partei ein, deren Führung bald von der Polizei verhaftet wurde. Sie nahm am Kongreß von 1903 teil, auf dem die Kontroverse zwischen den Menschewiken und den Bolschewiken unter Führung Lenins ausgetragen wurde. Die Hintergründe des Gegensatzes wollten ihr nicht so recht einleuchten. Sie sympathisierte mit Lenins unnachgiebige Haltung, hatte aber gleichzeitig großen Respekt vor der alten Garde, die die andere Fraktion anführte. Es mußte erst zur "Generalprobe" von 1905 kommen, an der Alexandra selbst aktiv beteiligt war, bis sie sich klar für die von Lenin vertretene Richtung entschied.
- "Den Blutsonntag 1905 (9. Januar) erlebte ich auf der Straße. Ich war mit den Demonstranten zum Winterpalais gezogen. Das Bild des grausamen Blutbades, das unter den wehrlosen Arbeitern angerichtet wurde, hat sich mir für immer ins Gedächtnis eingeprägt: das ungewöhnlich helle Licht der Januarsonne ... Gesichter voller Vertrauen und Erwartung ... das schicksalhafte Signal der rings um den Palast angetretenen Gruppen ... Blutlachen im weißen Schnee... Das Gejohle der Gendarmen ... Tote, Verletzte, erschossene Kinder..."[6]
- "Was taten und dachten die Bolschewiki in jenen Tagen? Lenin war weit weg, im Ausland. Unter den Bolschewiki, die illegal unter den Massen arbeiteten, gab es damals keine völlige Einmütigkeit. Die einen waren der Auffassung, man müsse die Arbeiter davor bewahren, in die heimtückische Falle zu gehen, dürfe nicht zulassen, daß sich die wehrlosen Arbeitermassen abschlachten lassen, müsse die Arbeiter davon abhalten, sich von Gapon als demütige Bittsteller zum Zaren führen zu lassen. Die anderen meinten, die Arbeiterlawine sei nun einmal ins Rollen gekommen und könne nicht mehr aufgehalten werden, Opfer seien da unvermeidlich; doch wenn die Masse auf die Straße gehe, sei unser Platz in ihrer Mitte. Die erste Aktion der Arbeiter mochte so eine traurige, aber unausbleibliche Lehre auf dem Weg zur Revolution werden."
Kollontais Handlunsgweise ist die einer frauenrechtlichen Sozialistin, die versucht, die Arbeiterfrauen neben und gegen die gemäßigten liberalen Frauen zu organisieren, die die Arbeiterbewegung auf den Rahmen bürgerlicher Freiheiten beschränken wollen. Sie folgt Clara Zetkins Richtlinien und bildet eine Frauenvereinigung, die eng mit der Partei verbunden ist. Trotz anfänglich glänzender Resultate gelingt es dieser Vereinigung nicht, sich zu festigen. Sie löst sich nach den ersten Angriffen der Reaktion wieder auf.
Obwohl sie in ihren Erinnerungen behauptet, ihr "Leben lang Bolschewikin" gewesen zu sein, entschied sie sich erst 1917 endgültig für diese Strömung. Nach der Niederlage der Revolution von 1905 beteiligt sie sich auch an der Debatte über die Frage der Beteiligung an den Duma-Wahlen. Die einen wollten an diesen Wahlen teilnehmen - was gleichzusetzen war mit der Anerkennung des politischen Rückschlages und der Notwendigkeit, die Wahlen als Plattform für politische Agitation zu nutzen - die anderen sprachen sich für den Boykott aus. In dieser Auseinandersetzung entfernte sie sich wieder von den Bolschewiki und unternahm ähnlich Trotzki Versuche, die beiden Flügel der russischen Sozialdemokratie wieder zu versöhnen.
Im September 1906 nahm sie an der vierten Frauenkonferenz der SPD in Mannheim teil. Auf dem anschließend in derselben Stadt stattfindenden Parteitag der Sozialdemokratie lernte sie alle wichtigen Führer der SPD kennen. Ein Jahr später beteiligte sie sich an der Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz in Stuttgart und unterstützte Zetkins Forderungen zum allgemeinen Wahlrecht. 1908 wurde in Petersburg gegen sie Anklage wegen Zugehörigkeit zur russischen Sozialdemokratie erhoben. Besonders mißfallen hatte der Staatsmacht ihre Agitation unter den Textilarbeitern und -arbeiterinnen und ihr Buch Finnland und der Sozialismus. Schon seit 1901 hatte sie verschiedene Artikel über die finnische Frage publiziert.
Um sich der Verhaftung zu entziehen, floh sie im Dezember 1908 nach Deutschland. Ihr Exil sollte neun Jahre währen. Sie ließ sich in Berlin nieder, wurde Mitglied der SPD und schrieb für diverse Zeitungen. Schon im April ging sie in die Pfalz, um dort als politische Agitatorin für die SPD zu werben. Im Januar 1909 erschien ihr Buch Die sozialen Grundlagen der Frauenfrage. 1910 war sie auf der Sozialistischen Frauenkonferenz in Kopenhagen vertreten, auf der beschlossen wurde, den 8. März als internationalen Frauentag zu feiern. Sie selbst hielt eine Rede über Mutterschutz und wurde in die Leitung der sozialistischen Frauenbewegung gewählt. Bis zum Zweiten Weltkrieg' hielt sich die Internationalistin in verschiedenen Ländern Europas und in den Vereinigten Staaten auf. In dieser Zeit war sie mehr als eine Vertreterin dieser oder jener Tendenz des russischen Marxismus; sie vertrat eigene Standpunkte, die mal mehr oder weniger mit Menschewiken oder Bolschewiken übereinstimmen. Im Sommer und Herbst 1913 arbeitete sie im British Museum in London an ihrem Buch Gesellschaft und Mutterschaft. Bei Kriegsausbruch wieder zurück in Berlin, wurde sie umgehend verhaftet; es gelang ihr jedoch, nach Dänemark auszureisen und von dort nach Schweden überzusetzen. Dort wurde sie wegen antimilitaristischer Propaganda verhaftet, auf die Festung Malmö verbracht und nach zwei Wochen nach Dänemark ausgewiesen. Die norwegischen Sozialdemokraten boten ihr eine Bleibe in der Nähe von Oslo an.
Im Sommer 1915 schrieb sie die Broschüre Wer braucht den Krieg? Darin griff sie die imperialistischen Interessen und den bürgerlichen Patriotismus als Hauptverantwortliche für das Völkergemetzel an. Sie beteiligte sich an der Vorbereitung der Zimmerwalder Konferenz und trat in regen Briefwechsel mit Lenin. Sie teilte seine Ansichten über den imperialistischen Krieg und den Verrat der Mehrheitfraktionen der Sozialdemokratie. Auf Einladung der Sozialistischen Partei der USA, deren Führung nicht zum Sozialchauvinismus übergegangen war, reiste Alexandra Kollontai im Herbst 1915 zu einer Vortragsreise in die USA, wo sie gegen den Krieg agitierte und den amerikanischen Sozialisten die Situation der europäischen Arbeiterbewegung und die Bedeutung der Zimmerwalder Prinzipien erklärte.
Schon im März 1917 kehrt sie über Norwegen nach Rußland zurück, um an der Prawda mitzuarbeiten. Ihr erster Artikel erschien am 21. März unter dem Titel: "Die Arbeiterinnen und die Konstituierende Versammlung". Sie stellte sich hinter Lenin und damit gegen die Haltung der inneren Führung (Kamenew, Stalin), die die Partei auf eine kritische Unterstützung der provisorischen Regierung orientieren. Als Lenin im April nach Rußland zurückkehrte und in den Aprilthesen die Aktualität der sozialistischen Revolution verkündete, war sie die einzige im Zentralkomitee, die ihn unterstützte. Ihre Identifizierung mit Lenin ging soweit, daß in Petrograd ein geflügeltes Wort zirkulierte: "Was Lenin schreit, imitiert die Kollontai".
Ihre Rolle im revolutionären Kampf war bedeutsam von Anfang an. Sie wurde als erste Frau ins Petrograder Exekutivkomitee der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten gewählt und gehörte später auch dem Allrussischen Exekutivkomitee der Sowjets an. Ihre Popularität als Agitatorin erreichte kurz vor der Revolution ihren Höhepunkt, so daß sie in Abwesenheit (sie saß in Kerenskis Gefängnis) ins Zentralkomitee der Bolschewiki gewählt und auf den dritten Platz der Wahlliste zur Konstituante gesetzt wurde.
2. Die Volkskommissarin
Innerhalb weniger Tage erlangte sie weltweite Berühmtheit, als sie zur Volkskommissarin für soziale Fürsorge ernannt wurde. Die Beamten, die der Revolution feindlich gegenüberstanden, empfingen sie mit einem Streik. Sie versuchte sie zur Arbeit zu bewegen, indem sie den Beamten die allgemeine Notlage schilderte; als dies nicht wirken wollte, brach sie in Tränen aus. Insgesamt amtierte sie nur bis zum IV. Sowjetkongreß im März 1918, aber in dieser Zeit wurden mehr Veränderungen in die Wege geleitet als jede traditionelle Regierung vor ihr je angepackt hat. Alexandra Kollontai unterschrieb die Verordnungen über die Abschaffung der Gottesdienste, die Aufteilung der Ländereien der Klöster an die Bauern, die Gründung von staatlichen Kinderhorten und die Durchführung einer Kampagne zum Schutze der Mütter.
Sie sagte über diese Zeit, daß "die russische Frau mit der Revolution 1917 in gesetzlicher Hinsicht ihre Volljährigkeit erlangte. Sie konnte an allen Bereichen des öffentlichen Lebens zu gleichen Bedingungen wie die Männer teilnehmen."
In ihrer berühmten Autobiographie definierte sich Alexandra Kollontai als emanzipierte Frau und wenn wir ihre Lebensumstände bedenken, dann können wir kaum in Zweifel ziehen, daß sie das war. Während der Hälfte ihres Lebens führte sie beinahe allein - denn sie hatte keine breite Bewegung hinter sich wie Clara Zetkin - einen ständigen Kampf für die Rechte der Frau, einschließlich freier Sexualität. Dieser Kampf konkretisierte sich in ihren Aktionen als Agitatorin sowohl in Rußland als auch in vielen anderen Ländern, in denen sie lebte, in ihren Beiträgen zu verschiedenen internationalen Kongressen und Konferenzen, in ihrer Tätigkeit innerhalb des russischen Marxismus für die Stärkung der autonomen Frauenorganisationen und im revolutionären Prozeß der Sowjetunion in der Verteidigung einiger Grundsätze, die wir folgendermaßen zusammenfassen können: Aufhebung der bürgerlichen Familie, Befreiung der Sexualität, Gegenüberstellung von monogamer Ehe und Gemeinschaft, Entwicklung der "neuen Frau" auf der Grundlage einer neuen Moral im Sozialismus.
Diese Ideen waren von einer Haltung hinsichtlich der Sexualität begleitet, die selbst einigen ihrer revolutionären Genossen (incl. Lenin) zu frei war. Sie hielt sich eine beträchtliche Anzahl von Liebhabern und redete in einer Ungezwungenheit über Sexualität, die nur eine Bolschewikin akzeptierte: Inessa Armand. Die politische Reaktion sah in Kollontai immer das Exempel für die Perversität der Revolution. Als Beispiel dafür steht ein Ereignis, das sich zutrug, als sie mit einer Gruppe von Arbeitern versuchte, den- Brand in einem Haus für Mütter, das unter ihrer Amtszeit als Kommissarin gegründet worden war, zu löschen. Der Brand war von Saboteuren gelegt worden, aber die Chefin der Kinderschwestern begann hysterisch auf sie einzuschreien und behauptete:
- "Das ist sie, die Kollontai, die blutrünstige Bolschewikin! Sie hat unser Haus angesteckt. Sie wollte uns mit den Kleinen verbrennen, Christenseelen bei lebendigem Leibe umbringen. Die Kommissare sind nur erpicht auf die Rationen der Kinder. Wartet nur, Ihr Bolschewiken, wir zahlen es euch schon noch heim."[7]
Zu Beginn der Revolution fand Alexandra eine relativ breite Frauenbewegung vor. Es war dies ein einzigartiger Moment in der russischen Geschichte. In sehr kurzer Zeit wurden Maßnahmen getroffen, die noch kurz vorher als völlig unmöglich galten. Die Abtreibung wurde legalisiert und Möglichkeiten dazu wurden geschaffen. Uneheliche Kinder wurden ehelichen gleichgestellt. Die zivile Eheschließung und Scheidung wurden eingeführt; Ehescheidung war ohne kompliziertes Verfahren möglich. Auf ökonomischen Gebiet beseitigte man Hindernisse, die der Integration von Frauen in Wirtschaft und Verwaltung im Wege standen. Zahlreiche öffentliche Speisesäle und Kindergärten wurden gegründet. Alexandra Kollontai selbst zog 1925 die folgende Bilanz der ersten Periode der Sowjetmacht:
- "Während der drei Revolutionsjahre, in denen die sozio-ökonomischen Grundpfeiler der bürgerlichen Gesellschaft zertrümmert wurden und man beharrlich versuchte, so schnell wie möglich das Fundament für die kommunistische Gesellschaft zu errichten, herrschte ( ... ) eine Atmosphäre, in der überholte Traditionen mit unglaublicher Geschwindigkeit abstarben. An ihrer Stelle keimten vor unseren Augen Ansätze zu ganz neuen Formen menschlicher Gemeinschaft. Die bürgerliche Familie war nicht mehr unentbehrlich. Die Frau wurde aufgrund der gemeinsamen, obligatorischen Arbeit für die Gesellschaft und in dieser mit völlig neuen Lebensformen konfrontiert. Sie wurde gezwungen, in ihrer Arbeit nicht mehr nur ausschließlich für die eigene Familie dazusein, sondern auch für das Arbeitskollektiv. Neue Lebensbedingungen und auch neue Formen der Ehe entstanden."[8]
Selbst die bolschewistische Partei, die bis zu diesem Zeitpunkt der Frauenfrage nicht den ihr gebührenden Platz eingeräumt hatte, erklärte in ihrem Programm von 1919:
- "Aufgabe der Partei im gegenwärtigen Zeitpunkt ist vorwiegend die ideologische und erzieherische Arbeit, um die Spuren der früheren Ungleichheit oder Vorurteile, besonders unter den rückständigen Schichten des Proletariats und der Bauernschaft, vollständig zu vernichten. Die Partei, die sich nicht auf eine formelle Gleichberechtigung der Frauen beschränkt, strebt danach, diese von den materiellen Lasten der veralteten häuslichen Wirtschaftsführung dadurch zu befreien, daß sie Hauskommunen, öffentliche Speisehäuser, zentrale Waschanstalten, Kinderkrippen usw. an deren Stelle setzt."[9]
Aber das bolschewistische Projekt entwickelte sich in einem Umfeld voller materieller und politischer Schwierigkeiten. Die Revolution stand auf einer wirtschaftlich unterentwickelten Basis und hatte mit den verheerenden Folgen des Ersten Weltkrieges zu kämpfen. Der Bürgerkrieg und die bewaffnete Intervention verschiedener Länder untergruben weiterhin eine planvolle und geordnete Entwicklung. Die Arbeiterklasse und besonders ihre Avantgarde wurde aufgerieben oder mußte sich auf's Land begeben, um überleben zu können. Der Überlebenskampf der Revolution vernichtete die utopischen Energien und die Protagonisten des Oktober befanden sich in einem neuen Dilemma: Wiederherstellung der Macht der Sowjets und internationale Ausweitung der Revolution oder Konsolidierung der Macht der entstehenden Bürokratie und Suche nach einem 'modus vivendi' mit dem internationalen Kapitalismus. Stalins Sieg bedeutete, daß der zweite Weg beschritten wurde.
Zu diesen objektiven Schwierigkeiten der Revolution traten aber noch eine Reihe politischer Fehler und subjektiver Mängel hinzu. Lenin selbst sprach davon, daß sich hinter der fortschrittlichen Fassade vieler Kommunisten der traditionelle Pascha verberge. Die nun mehr und mehr die Macht usurpierende bürokratische Schicht entwickelte einen ausgeprägten 'proletarischen Antifeminismus'. Man begann zu behaupten, die Frauenfrage sei nur ein Nebenaspekt des Klassenkampfs und mit dem Sieg der Revolution werde sich die Frauenbefreiung quasi automatisch einstellen. Es gelang Frauen wie Clara Zetkin oder Alexandra Kollontai nicht, sich dieser Entwicklung entgegenzustemmen. Letztere mußte eine Reihe neuer Ungleichheiten konstatieren, nämlich
- diejenige, daß die Männer die meisten und qualifiziertesten Arbeitsplätze in der Industrie besetzten, während die Frauen auf den Dienstleistungssektor verbannt wurden;
- diejenige, daß die Aufbesserung des Familienverdienstes dazu führt, daß die nur die Männer arbeiten gehen und die Frauen weiterhin ihre traditionelle Rolle als Haussklavinnen spielen.
Die Hausfrau blieb weiterhin Hausfrau, an den Mann gebunden und vom politischen Leben abgeschnitten. Unter Stalin verlor die sowjetische Frau einen Großteil ihrer Errungenschaften.[10] Aber das ist schon eine andere Geschichte, zu der Alexandra Kollontai ohnmächtig schwieg. Zwischen jener Frau, die die Versklavung der Frauen beenden wollte, und derjenigen, die schon fest in das neue System integriert ist, das die männliche Vorherrschaft aufrechterhielt - wenn auch in modernisierter Form - liegt eine Zeitspanne, die von Niederlagen der Arbeiter- und der Frauenbewegung gekennzeichnet ist.
3. Die Arbeiteropposition
Innerhalb des Bolschewismus tendierte Alexandra Kollontai lange Zeit zum äußerst linken Flügel. Trotz ihrer vorbehaltlosen Verehrung Lenins teilte sie vor der Revolution die Standpunkte Bucharins und Piatakows, für die die Diktatur des Proletariats im Gegensatz zu den demokratischen Rechten, etwa dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, stand. Während der Diskussion um den Friedensvertrag von Brest-Litowsk befand sich Alexandra immer auf der Seite der Unnachgiebigen, die jede "revolutionäre Realpolitik" bekämpften. Als Mitglied der linken Kommunisten legte sie ihr Amt als Volkskommissarin nieder und erklärte auf dem VIII. Parteikongress: "wenn unsere Sowjetrepublik zugrundegeht, werden andere ihre Fahne weitertragen.
Sie wurde nicht wieder ins Zentralkomitee gewählt. Im Jahre 1920 hatte sie sich mit dem Altbolschewiken Schijapnikow verbündet und die Arbeiteropposition gegründet, eine Gruppierung innerhalb des Bolschewismus. Sie schrieb auch das Programm. Trotz der Heftigkeit der Debatte konnte sie ihre Standpunkte offen in der Partei und sogar in der höheren Instanz, als die man die Kommunistische Internationale damals betrachtete, vertreten. Die Arbeiteropposition vertrat die Meinung, die Bürokratie habe zu einer Verkalkung der Partei geführt. Ihrer Ansicht nach verhinderte die während des "Kriegskommunismus" aufgebaute Bürokratie jedwede persönliche oder kollektive Initiative der Arbeiter als Klasse, die ja - zumindest theoretisch an der Macht war. Die Partei habe sich von der Klasse getrennt und beginne, eine strenge wirtschaftliche und ideologische Kontrolle über sie auszuüben. In der für den X. Parteitag (1921) geschriebenen Broschüre definiert sie das Problem folgendermaßen:
- "In den leidenschaftlichen Diskussionen zwischen den Spitzen unserer Partei und der Arbeiteropposition geht der Streit darum, wem unsere Partei den Aufbau der kommunistischen Wirtschaft anvertraut: dem Obersten Volkswirtschaftsrat mit allen seinen bürokratischen Verzweigungen oder den Gewerkschaften."***182.1111***
Die Parteiführung beschuldigte ihre Gruppierung des "Anarchosyndikalismus". Gewiß gab es in ihren Vorschlägen Spuren der Konzeptionen von Daniel de Leon und den Theorien über die industrielle Demokratie, wie sie in den nordamerikanischen International Workers of the World (IWW) vertreten wurden. Die Opposition verteidigte die Arbeiterkontrolle, die auf einem vom Staat unabhängigen Gewerkschaftssystem basieren sollte und erklärte: "Um den Bürokratismus zu überwinden, der sich in den Sowjetinstitutionen eingenistet hat, muß man vor allem den Bürokratismus in der Partei überwinden."[12]
Lenin und Trotzki vertraten die Meinung, daß die Opposition die Realität im wesentlichen korrekt beschreibe, daß aber ihre Rezepturen ungeeignet seien, den Problemen Herr zu werden. Für die Errichtung der Arbeiterkontrolle fehle es an der entsprechenden Bewegung von unten. Obwohl die von Kollontai angeprangerte Korruption ein immer größeres Ausmaß annahm, erhob sie nach der Niederlage der Arbeiteropposition nicht die Fahne des Kampfes gegen sie. Nur eine Gruppe wenig bekannter Mitglieder hielt weiterhin ihr Programm hoch, bis sie in den stalinistischen "Säuberungen" der dreißiger Jahre endgültig ausgelöscht wurde.
In den Jahren, als Kollontai aufgab, gehörte der revolutionäre Feminismus in der Sowjetunion bereits der Geschichte an. In den meinungsmachenden Medien wurde er als "George-Sandismus" verunglimpft und es fehlten selbst die Ansätze einer Bewegung, die die Fackel weitertragen hätte können. Langsam richtete Alexandra sich im Schatten Stalins ein. Niemand weiß, wie es ihm gelang, daß diese nonkonformistische Dame vor der Bürokratie zu buckeln begann, doch wahrscheinlich gab es für sie nur zwei Alternativen: zu riskieren, systematisch in den Schmutz gezogen zu werden, wobei ihr Privatleben und die Meinungsverschiedenheiten mit Lenin weidlich ausgenützt worden wären, oder eine diplomatische Karriere im Dienste der herrschenden Clique - aber nicht in ihrer Nähe - zu beginnen. Kollontai entschied sich für die zweite Alternative; sie war als Diplomatin 1923-1926 in Norwegen, 1926/27 in Mexiko, 1927 bis 1930 wieder in Norwegen und ab 1930 bis 1945 in Schweden.
Ihre Unterstützung des Stalinismus war allerdings nicht sonderlich bedeutsam, ausgenommen eine Episode im Jahre 1927, als sie versuchte, die Lenin-Witwe Nadeschda Krupskaja zu jener Gruppierung hinüberzuziehen. Ihr Roman Eine große Liebe handelt, so war wenigstens spekuliert worden, von den vermuteten Beziehungen des Führers der Bolschewiki zu Inessa Armand. Hätte diese ihre militante Haltung zugunsten der Linken Opposition beibehalten, wären diese Beziehungen wahrscheinlich noch deutlicher herausgearbeitet worden.
Aber Alexandra Kollontai hatte ihr Leben schon dem Staat zu Füßen gelegt und diente ihm scheinbar ohne sichtbare Beklemmung. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß sie an den Entwicklungen in der Sowjetunion sehr litt, doch es fehlte ihr der Mut, sich mit der Opposition zu verbinden. Oder vielleicht war sie auch zu sehr desillusioniert. Sie starb am 9. März 1952. Im Gedächtnis der Menschen blieb sie lange als Diplomatin. Ihr Haus glich einem Museum, voller alter Möbel und Photographien, die an ihre jungen Jahre erinnerten. Ihre Werke erschienen sogar nach Stalins Tod nicht einmal in der an die neuen Umstände angepaßten Version. Erst als das revolutionäre Gedankengut in den sechziger Jahren eine neue Renaissance erlebte, wurde sie wiederentdeckt. Besonders ihre Werke vor 1921 fanden die Aufmerksamkeit neuer Generationen.[13]
4. Angelica Balabanoff
Als Angelica Balabanoff 1938 ihr Buch Mein Leben als Rebellin [14] veröffentlichte, das den Untertitel "Chronik meiner Mitarbeit in der internationalen Arbeiterbewegung" trägt, stellte sie ihrem Werk ein Bebel-Zitat voran:
- "Und fallen wir im Laufe dieses großen, die Menschheit befreienden Kampfes, so treten die uns Nachstrebenden für uns ein. Wir fallen in dem Bewußtsein, unsere Schuldigkeit als Mensch getan zu haben, und in der Überzeugung, daß das Ziel erreicht wird, wie immer die dem Fortschritt der Menschheit feindlichen Mächte sich dagegen wehren und sträuben mögen."[15]
Angelica Balabanoff identifizierte sich ganz und gar mit jener Vorkriegssozialdemokratie und ihrer politischen Kultur, für die Bebels Buch (zumindest in der Theorie) ein wesentlicher Bestandteil des Selbstverständnisses war. Doch als sie ihre Memoiren niederschrieb, war jene Sozialdemokratie bereits in zahlreichen europäischen Ländern vom Faschismus vernichtet worden, ohne daß sie bedeutenden Widerstand geleistet hätte. In Spanien tobte der Bürgerkrieg, in dem Sozialdemokraten und Stalinisten sich gegenseitig bei der Behinderung des revolutionären Prozeßes überboten.
Die Zeiten hatten sich grundlegend geändert: die bürgerliche Zivilisation schien mit aller Macht der Diktatur und dem Krieg zuzustreben. In der UdSSR festigte sich die stalinistische Bürokratie und versuchte, mit der Ermordung der alten Garde der Bolschewiki auch die alten Ideale des Oktober zu Grabe zu tragen. Angelica Balabanoff hatte sich seit den zwanziger Jahren enttäuscht von der sowjetischen Entwicklung abgewandt. Ihr Sozialismus blieb derjenige, der Leute wie Bebel, Jean Jaurès, Victor Adler, Plechanow, Rosa Luxemburg vereinte. Sie war sich wohl der Kluft zwischen jenen Zeiten und der traurigen Gegenwart, die für sie keine Perspektive bot, bewußt, und sie flüchtete sich in die Erinnerung.
Angelica Balabanoff teilte das Los vieler bedeutsamer Frauen der Arbeiterbewegung wie Vera Sassulitsch, Adelheid Popp, Henriette Roland-Holst, Madeleine Pelletier, Anna Kuschioloff und anderer, die während des Krieges Internationalistinnen geblieben waren und anfänglich Sympathien mit der russischen Revolution hegten, ja sogar die Gründung der Kommunistischen Internationale begrüßten, aber früher oder später zur sowjetischen Entwicklung auf Distanz gingen.
Diese Frauen, die zusammen mit Clara Zetkin, Rosa Luxemburg, Alexandra Kollontai usw. die sozialistische Frauenbewegung repräsentierten, waren angesichts der zurückgehenden Mobilisierungen nicht mehr in der Lage, eine zukunftsweisende Rolle zu spielen. Ein Nebenprodukt der mit dem Ersten Weltkrieg und in seinem Gefolge einhergehenden Umwälzungen war die Durchsetzung des Frauenwahlrechts in zahlreichen Ländern. Viele Frauen der Arbeiterbewegung besetzten nun Mandate in den Parlamenten und Verwaltungen, doch keine hatte die herausragende Bedeutung der ersten Pionierinnen.
Angelica Balabanoffs "Mitarbeit" - so nennt sie selber ihr politisches Engagement - in der Arbeiterbewegung erstreckte sich über mehr als ein halbes Jahrhundert. Ihre Sprachgewandtheit (sie sprach fließend fünf Sprachen) brachte es mit sich, daß sie ihre Aktivitäten in verschiedenen europäischen Ländern - insbesondere in Italien, der Schweiz und Rußland - entfalten konnte. Sie lernte fast alle bedeutenden Führungspersönlichkeiten der damaligen Arbeiterbewegung persönlich kennen und stand zu verschiedenen Zelten in mehr oder weniger enger Beziehung zu ihnen.
Balabanoff stammte aus einer jüdischen Grundbesitzerfamilie der Ukraine, wo sie 1878 geboren wurde. Ihr Vater starb früh und die Mutter versuchte, aus ihr eine "gute Partie" zu machen. Bald schon wurde sie als "schwarzes Schaf" angesehen, weil sie nicht ertragen konnte, wie die Dienstboten behandelt wurden und wie die Armen ihrer Umgebung leben mußten. Ihre Sympathie für die Ausgebeuteten und Unterdrückten spricht auch aus folgender Passage, in der sie von ihrer ersten öffentlichen Rede berichtet:
- "Wie kam ich nun zu meinem ersten Vortrag, den ich 1902 in einem deutsch-österreichischen Bildungsverein in St. Gallen hielt, wo ich unter den italienischen Saisonarbeitern, Maurern und Handlangern, Stickerinnen und Schokoladenarbeiterinnen tätig war? Nach Absolvierung der römischen Universität begab ich mich in die Schweiz, um mich den dort wellenden italienischen Einwanderern nützlich zu machen. Gar oft, wenn ich mit meinem Verwandten die mir verhaßten Reisen in die verschiedenen Kurorte machte, wo ich das Parasitentum der herrschenden Klasse so gründlich kennen und hassen lernte, hatten die italienischen Proletarier, die die schwersten, schmutzigsten Arbeiten verrichteten oder aber den übersättigten Kurgästen die Verdauung durch Musik erleichterten, wobei sie demütig ihre Hand nach Trinkgeldern ausstreckten, meine tiefste Sympathie und Solidarität erweckt. Diese italienischen Arbeiter, die eigentlich Emigranten waren, schienen mir nach dem russischen Volke die Erniedrigsten, Enterbtesten, Ausgebeutetsten und deshalb Hilfsbedürftigsten zu sein. Ihnen durch sozialistische Propaganda das Gefühl für persönliche und Klassenwürde beizubringen, das war das Ziel, zu dem ich mich nach St. Gallen begab. In dieser Stadt gab es eine größere Anzahl von italienischen Einwanderern, die damals nur sehr schwach organisiert waren.[16]
Wie so viele um Unabhängigkeit kämpfende Frauen wurde Angelica Balabanoff zunächst Lehrerin und verließ 1897 Rußland, um im Ausland ein Studium zu beginnen. Sie studierte in Brüssel, London, Leipzig, Berlin und schließlich in Rom. Dort wurde sie Schülerin des neben Gramsci bedeutendsten italienischen Marxisten, Antonio Labriola, schloß sich der Sozialistischen Partei an und machte sich daran, ihr "Wissen in den Dienst des Proletariats" zu stellen. Bald war die glänzende Rednerin in der italienischen Arbeiterbewegung und unter den Arbeitsimmigranten in der Schweiz weithin bekannt.
Als 1905 in Rußland die Revolution ausbrach, wurde sie zu einer der Hauptorganisatorinnen der Solidaritätsarbeit. Die Großzügigkeit der italienischen Arbeiter schildert sie in ihren Erinnerungen wie folgt:
- "Daß die Teilnahme des italienischen Volkes an der russischen Bewegung keine oberflächliche und rein platonische gewesen ist, erhellt auch daraus, daß gerade in Italien, wo die Löhne und das Lebensniveau der arbeitenden Massen kein hohes war, nicht nur relativ, sondern absolut mehr Geld für das revolutionäre Rußland gesammelt wurde als in anderen Ländern. Zu bemerken ist, daß die Beiträge nicht etwa dem Kassafonds einer Organisation entstammten, sondern den freiwilligen Beiträgen einzelner Proletarier. Ich erinnere mich, daß die Summen, die bei meinen Vorträgen und anderen Veranstaltungen in Italien gesammelt wurden, viel größer waren als die von Maxim Gorki in Amerika gesammelten. In Italien handelte es sich tatsächlich um vom Munde abgesparte Proletariergroschen."[17]
Ihr Freiheitsdurst, ihre Leidenschaftlichkeit und Impulsivität, ihr starkes ethisches Gefühl und ihre Liebe zur klassischen Kultur fanden in Italien eine neue Heimat. Sie liebte das Land und fand sich geliebt. Dem zaristischen Rußland entflohen, war ihr Italien das Land der Freiheit:
- "Um diese Vorgänge zu verstehen, muß man einem Begriff davon haben, was das damalige Italien war: zweifelsohne das freieste und demokratischste Land. Gewiß handelte es sich nicht um die von der Arbeiterklasse durch Abschaffung des Privateigentums errungene absolute soziale Freiheit. Im Gegenteil, gerade deshalb, weil die Bourgeoisie noch kein Klassenbewußtsein besaß, sich als Klasse nicht direkt vom Proletariat bedroht sah und Ausbrüche des Klassenkampfs nur für einzelne lokale Episoden hielt, herrschte im Lande eine Art Gemütlichkeit; diese unterschied sich von den als demokratisch verschrieenen Ländern, wie die Schweiz, England usw. dadurch, daß es sich um den Geist der ganzen Bevölkerung handelte, einen Geist, der das öffentliche und private Leben beherrschte. jede Freiheitsbeschränkung wurde mit Abscheu zurückgewiesen. Auch die Bürgerlichen und Kleinbürgerlichen kokettierten mit abstrakten oder persönlichen Freiheitsbegriffen."[18]
5. Der Kampf gegen den Krieg
In der Sozialistischen Partei zählte sie zum linken Flügel und betätigte sich vor allem als Vorkämpferin für den Frieden. So geißelte sie die Haltung des von Turati geführten Parteivorstandes gegenüber dem italienischen Libyen-Feldzug. Als sich die Linke 1912 durchsetzen konnte, wurde Balabanoff in den Parteivorstand gewählt; Mussolini wurde der Chefredakteur der Zeitung der Sozialisten, Avanti, doch sie übernahm die eigentliche Gestaltung des Blattes. Sie gehörte als Vertreterin der PSI dem Brüsseler Internationalen Sozialistischen Büro an. Als solche war sie auch beim Treffen vom 27. und 28. Juli 1914 anwesend, als die Kriegsfrage debattiert wurde. Wie wenig die Führer der Sozialistischen Internationale, Rosa Luxemburg eingeschlossen, den kurz bevorstehenden Ausbruch des Ersten Weltkrieges vorhersehen, schildert sie wie folgt:
- "Wie ahnungslos die Teilnehmer an der Sitzung des Bureaus waren! Als wir am nächsten Morgen nach der erwähnten Versammlung wieder zusammenkamen und das Manifest, mit dessen Entwurf Jaurès beauftragt war, angenommen wurde, nützten die Delegierten, wie gewöhnlich, die bis zur Abreise verbleibende Zeit zur Besichtigung von Sehenswürdigkeiten aus. Jaurès begab sich ins Museum. ( ... ) Erst am nächsten Morgen, als wir am Basler Bahnhof frühstückten und Grimm zwei vorbeieilende Mitglieder des deutschen Parteivorstandes - der eine war Ebert - ansprach und erfuhr, sie seien in die Schweiz gekommen, um die deutsche Parteikasse in Sicherheit zu bringen, erst dann bemächtigte sich unser das Gefühl der unmittelbar nahenden Katastrophe ..."[19]
In Italien wandte sich die Mehrheit der Sozialisten gegen einen Kriegseintritt des Landes. Nur die Gruppe um Mussolini forderte eine Kriegsbeteiligung und wurde deswegen aus der Partei ausgeschlossen. Der Verrat der meisten anderen Führungen der Sozialdemokratie an der Internationale und ihr Übergang ins Lager des Nationalchauvinismus, die in vielen Ländern ausbrechende Kriegsbegeisterung schockierten Angelica Balabanoff sehr. Sie nahm daher führend in allen Treffen der sozialistischen Kriegsgegner teil, vor allem an der Berner Frauenkonferenz und den Konferenzen von Zimmerwald" und Klental.
- "Es lag uns daran, den Beweis zu bringen, daß der Sozialismus nicht tot war und daß die Internationale, deren Organisation vorübergehend stillgelegt war, als Glaube, Überzeugung und leuchtendes Ideal weiterlebte."[21]
Sie war auch Mitglied der Internationalen Sozialistischen Kommission mit Sitz in Bern, die sich bemühte, die Internationale neu zu beleben.
6. Russische Revolution und Faschismus
Die beiden Ereignisse, die die von Balabanoff herbeigesehnte Rückkehr zu Verhältnissen in der Arbeiterbewegung, wie sie vor dem Weltkrieg bestanden hatten, endgültig verunmöglichten, waren die Russische Revolution und der Faschismus. Nach dem Ausbruch der russischen Revolution begab sie sich zunächst nach Stockkolm, nahm an der dortigen dritten Friedenskonferenz teil und reiste danach mit vielen Erwartungen nach St. Petersburg weiter. Sie wurde Sekretärin der im März 1919 gegründeten Kommunistischen Internationale und stand nun in engem Kontakt mit Lenin, den sie schon in der Schweiz kennengelernt hatte. Doch bald mißfiel ihr die bolschewistische Praxis, sie kritisierte die Politik gegenüber den Sozialrevolutionären und insbesondere die Entwicklungen des Jahres 1921 (Kronstadt). Sie warf den Bolschewiki vor, nach dem Grundsatz, der Zweck heilige die Mittel, zu verfahren und dadurch das sozialistische Ziel aus den Augen zu verlieren. Dies vertrug sich selbstredend nicht mit ihrem "ethischen Sozialismus". Als die Kreml-Führung sich entschloß, die italienische Sozialistische Partei zu spalten, legte sie ihre Funktionen nieder und ging außer Landes.
Bald mußte sie auch Italien wieder verlassen, da dort die Faschisten unter Mussolini die Macht an sich gerissen hatten. Neben Zetkin gehörte Balabanoff zu den Linken, die dieses neue Phänomen erstmals zu analysieren versuchten. Die Erfahrungen des Weltkrieges waren für sie ausschlaggebend für die Herausbildung des Typus des Faschisten:
- "So mancher erblickte auch in dem Kampfe gegen die Mittelmächte - gegen das klerikale Österreich und gegen den preußischen Militarismus - einen Kampf gegen die Autorität im allgemeinen, deren Zerschmetterung, ihnen eine Schlaraffenexistenz das Ideal entwurzelter Elemente - gewähren sollte. Als sie aber von der Front heimkehrten, fanden sie statt der Verwirklichung ihrer Träume ein Vaterland vor, in dem auf Kosten der Kriegsteilnehmer der Überfluß der wohlhabenden Schichten verstärkt war und eine neue "Oberschicht" sich gebildet hatte. Während es den Arbeitern und Bauern dank ihrer Organisation möglich war, wenigstens ihre Rechte geltend zu machen und ihre wirtschaftliche Lage zu bessern, hatte für diese Deklassierten das Vaterland keine Verwendung mehr. Sie standen abseits, sie, die sich als Haupthelden und Hauptopfer des Krieges fühlten. Am 23. März 1919 schloß sich ein Teil von ihnen zum "Fascio di Combattimento" zusammen; schon die Benennung weist darauf hin, daß es sich um Kämpfer im Kriege wie auch um Elemente handelte, die den Kampf um die Anerkennung und die Vergeltung der Dienste, die sie dem Vaterland erwiesen hatten, weiterführen wollten."[22]
Was diesen Elementen den Sieg sicherte, war ihrer Analyse nach nicht so sehr ihre Stärke und ihr Radikalismus, als vielmehr die Unterstützung durch breite Teile der Staatsorgane Polizei, Beamte und Armee - und die beinahe schrankenlose Straflosigkeit, die man ihnen gewährte.
- "Die Niederlage (der Arbeiterklasse, pbk) war von Anfang an dadurch vorausbestimmt, daß sich auf Initiative der Agrarier und der Industriellen, die die Faschisten aushielten, ausrüsteten und unter den Schutz der Regierung stellten, ein Block aller nichtproletarischen Bevölkerungsschichten gegen das Proletariat gebildet hatte."[23]
Nun folgte eine lange Odyssee, die sie in die Schweiz und nach Österreich, nach Paris und New York und nach dem Zweiten Weltkrieg zurück nach Rom führte, wo sie am 25. November 1965 starb.